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Weltrevolution Nr. 54

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Diskussionsveranstaltung: Ist der Kommunismus möglich?

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 Am 25. Mai 1992 lud die IKS erneut zu einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung nach Köln ein. Dieses Mal lautete das Thema: "Ist der Kommunismus möglich oder nicht?". Obwohl es sicherlich keine Massenveranstaltung war, zeugte die Tat­sache, daß relativ viele Leute aus den ver­schiedensten Orten dafür von weit her an­gereist waren, davon, daß bei ihnen die bürgerliche Lüge, derzufolge im zusam­mengebrochenen Osten der Kommunismus Schiffbruch erlitten habe, trotzdem nicht ankommt. Der Versuch, jeglichen Ansatz einer marxistischen Diskussion über eine klassenlose Gesellschaft zu überstimmen, gelingt bei ihnen nicht.

WARUM DER KOMMUNISMUS MÖGLICH IST

Das Einleitungsre­ferat der IKS zeigte auf, daß der Kommu­nismus keine Erfindung von Marx ist, sondern als Idee so alt ist wie die Klassen­gesellschaft selbst. Aber die Träume der ausgebeuteten Klassen von einer Welt ohne Ausbeutung waren nicht realisierbar, weil jahrtausendelang die wirtschaftliche Vorbedingung dafür, d.h. die Produktivität der menschlichen Arbeit, nicht aus­reichte. Wie der Marxismus aufzeigt, kann die Klassengesellschaft nur dadurch über­wunden werden, indem der Kampf ums Dasein durch die Überwindung des Man­gels und die Herstellung eines Überflusses an den lebensnotwendigen Dingen über­flüssig wird. Damit hat paradoxerweise erst der Kapitalismus die Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen. Dies sind vornehmlich zwei:

- die revolutionäre Steigerung der Produk­tivität

- sowie das Entstehen einer revolutio­nären, zugleich ausgebeuteten Klasse, das Proletariat - und dies auf Weltebene.

Erst der Kapitalismus schuf die Vorausset­zung einer kommunistischen Weltgesell­schaft, indem sie eine gegenseitige Abhän­gigkeit aller Weltteile voneinander herbei­führte. Und deshalb gehört es zu den er­sten Prinzipien des Marxismus, daß die kommunistische Revolution nur auf Weltebene siegen kann. Deshalb führte trotz der Machtergreifung der Arbeiter­klasse 1917 in Rußland vor allem die Nie­derlage der Weltrevolution (insbesondere das Scheitern der Ausdehnung nach Deutschland) notwendigerweise zur bür­gerlichen Konterrevolution innerhalb Rußlands und später auch international. Die Tatsache, daß diese Konterrevolution nicht von "Außen" kam (die gegen das Proletariat in Rußland einfallenden weißen Armeen wurden zurückgeworfen), sondern durch eine Entartung von Innen, unter Beibehaltung des Namens und der Sprache der Revolution, gibt der herrschenden Klasse heute die Möglichkeit, den Zu­sammenbruch des Stalinismus als das Scheitern des Kommunismus und des Marxismus schlechthin zu verkaufen. In Wirklichkeit war der Stalinismus der Hen­ker der kommunistischen Revolution. Und sein aufgrund der Isolation Rußlands un­vermeidbarer Sieg bestätigte in Wirklich­keit die These des Marxismus, daß die Revolution nur weltweit siegen kann. Heute, so wurde am Ende des Referates betont, gehört von daher die Verteidigung der Perspektive des Kommunismus gegen die Verleumdungen der Herrschenden zu den vorrangigsten Aufgaben der Marxi­sten.

In der anschließenden Diskussion be­merkte einer der Teilnehmer geradeheraus, er sei erstaunt darüber, daß man es heute überhaupt noch wagt, in der Öffentlichkeit über dieses Thema zu reden. Und er zwei­felte an dem Nutzen einer solchen Diskussion. Denn selbst wenn es stimmt, daß das Fiasko des Stalinismus den Kommunismus nicht trifft, so ist diese Gleichsetzung von Stalinismus und Kommunismus in den Köpfen fast aller Arbeiter der Welt heute so vollständig, daß diese Perspektive auf ewig abgeschrieben erscheint.

SOZIALISMUS ODER BARBAREI

Die Erwiderungen darauf bestritten kei­neswegs die gegenwärtigen Auswirkungen dieser antikommunistischen Kampagne in den Köpfen der Arbeiter. Es wurde aber entschieden bestritten, daß dadurch der Kommunismus und der Marxismus auf alle Ewigkeit hin erledigt seien. Zum einen wurde darauf hingewiesen, daß durch den Zusammenbruch des Ostens und dem da­mit verbundenen ideologischen Sieg des Kapitals der Klassenkampf keineswegs be­seitigt worden ist. Im Gegenteil: der Klas­senkampf besteht weiterhin als unaus­löschbarer Ausdruck des Gespaltenseins dieser Gesellschaft in einander feindlich gegenüberstehende Klassen. Mit der ge­genwärtigen Verschärfung der Krise des Kapitalismus können diese Klassengegen­sätze nur zunehmen. Damit wäre es aber mehr als verfrüht, den Marxismus endgül­tig abschreiben zu wollen. Denn der Mar­xismus ist die Theorie des Klassen­kampfes vom Standpunkt des Proletariats aus gesehen. Und der Kommunismus sei­nerseits als gesellschaftliches Ziel ist das Resultat der Existenz der Arbeiterklasse als eigenständige Klasse mit Interessen, welche innerhalb des Kapitalismus nicht erfüllt werden können. Zudem: egal wie die Arbeiter heute darüber denken, und egal ob sie den Stalinismus für ein Kind des Marxismus halten oder nicht, wird der Kapitalismus in seiner westlichen Spielart sich als ebenso bankrottes Gesellschaftssy­stem erweisen. Millionen von Arbeiter werden in den kommenden Jahren wahr­nehmen und begreifen müssen, daß der Kapitalismus gerade in seiner "klassischen" marktwirtschaftlichen Form nicht nur unfähig ist, die Probleme der Menschheit zu lösen, sondern nicht mal imstande ist, das Überleben der Mensch­heit zu sichern, sondern es immer mehr bedroht. Sobald diese Tatsache für die Masse der Arbeiter offensichtlich wird, wird auch die Notwendigkeit, Lösungen außerhalb des Systems zu suchen, zur Massenfrage. In Wahrheit ist es die Situa­tion des Kapitalismus selbst, welche die Frage des Kommunismus stellt, und nicht etwa eine Handvoll "ewig gestriger Marxi­sten". Die Frage nach einer Gesellschaft, die diese Barbarei überwindet, also eine neue Gesellschaft, d.h. der Kommunis­mus, ist das aktuellste und brennendste Thema der Menschheit überhaupt. Dies bleibt auch dann der Fall, wenn die mei­sten Arbeiter dies noch nicht erkannt ha­ben. Wie ein Teilnehmer anmerkte, geht es heute für die Menschheit um die Alter­native "Sozialismus oder Barbarei", "Weltrevolution oder Niedergang". Es gibt keine dritte Alternative.

NUR DER KOMMUNISMUS KANN DIE HEUTIGEN PROBLEME DER MENSCHHEIT LÖSEN

Bei einem anderen Teil der Diskussion ging es darum aufzuzeigen, daß der Kom­munismus nicht nur eine Notwendigkeit darstellt, sondern auch möglich ist. Das alte Argument, der Kommunismus sei nicht möglich, weil die Menschen "schlecht" und die Gesellschaft "zu kom­pliziert geworden" ist, feiert heute neue Triumphe. Auch hier stellt man gerne Strohpuppen auf, d.h. Argumente, die mit dem Marxismus nichts zu tun haben, um sie dann triumphierend umzuwerfen. Der Marxismus ist nämlich niemals davon aus­gegangen, daß die Menschen "von Grund auf gut" sind. Der Marxismus weiß sehr wohl, den Menschen in seiner Wider­sprüchlichkeit zu sehen. Und er weiß aus der Geschichte nur allzu gut, zu welchen Grausamkeiten die Gattung Mensch im­stande ist. Es war gerade das Verdienst von Marx, darauf hinzuweisen, daß es unmöglich ist, eine klassenlose Gesell­schaft durch Appelle an menschliche Güte herbeizuführen. Der Kommunismus kann nur dann zur Möglichkeit werden, wenn der Existenzkampf durch die Befreiung der Produktivkräfte von den Fesseln des Ka­pitalismus überflüssig und hinfällig wird. Ebenso wenig läßt der Marxismus die Komplexität der heutigen Gesellschaft au­ßer Acht. Und er will nicht diese Komple­xität abschaffen, sondern die Anarchie der kapitalistischen Marktgesetze. Als Beispiel für die Möglichkeit des Kommunismus heute wurde unter anderem das Beispiel Widerspruch zwischen Stadt und Land aufgeführt. Die Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land ist eine der am frühesten in der Menschheitsgeschichte entstandenen Teilung. In der vorkapitalistischen Gesell­schaft war die Stadt der Herrschaft des Landes und der Agrarwirtschaft unterwor­fen. Erst der Kapitalismus hat dieses Ver­hältnis völlig umgekehrt. Durch die Zen­tralisierung der Produktion und durch die Konzentration der Produktionsmittel in Riesenfabriken und der Reichtümer der Gesellschaft in akkumulierendes Privatka­pital entstand die hochzentralisierte Welt von heute. Die Rohstoffe, Transportmittel, die Arbeitskräfte usw., alles wurde dort zusammengeballt, wo die kapitalistische Produktion stattfand. Aber dieser Fort­schritt hat neue, im Rahmen des Kapita­lismus schier unlösbare Probleme und Wi­dersprüche herbeigeführt. Dies sind unter anderem die Entstehung der Megastädte, der Massenverarmung auf dem Lande und die damit verbundene Landflucht, sowie die Entwicklung eines weltweit gespann­ten, aber immer anarchischer, auf die Umwelt sich verheerend auswirkendes Transportsystem.

Auf der Umweltmesse zur Umweltkonfe­renz von Rio werden gegenwärtig biologi­sche und ökologische Technik und Wis­senschaft vorgestellt, die es auf modernste Weise ermöglichen, auf höchster Produk­tivitätsstufe alle Bedürfnisse der Mensch­heit im Agrarbereich wieder direkt von Bauern, wie im Mittelalter, herstellen zu lassen. Dadurch kann nicht nur die Menschheit ohne Zerstörung der Umwelt ausreichend ernährt werden, sondern der Gegensatz zwischen Stadt und Land mit all seinen verheerenden Folgen aufgehoben werden. Aber wie diese Unternehmer sel­ber beklagen: sie kommen nicht zum Zuge, weil diese Umwandlung der Gesell­schaft von den mächtigen Kapitalinteressen abgewürgt wird. Während früher gerne die These von Marx, daß im Kommunismus der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben werden muß, als schlagendster Beweis benutzt wurde, um zu behaupten, der "Mann sei ein wirklichkeitsfremder Träumer", stellt sich jetzt unleugbar her­aus, wer die wirklichen Utopisten sind. Es sind nämlich diejenigen, die diese und alle anderen brennenden Probleme der Menschheit INNERHALB des Kapitalis­mus glauben zu lösen können.

KOMMUNISMUS KANN NUR DAS WERK DER ARBEITERKLASSE SEIN

Gegen Ende des Treffens wurde folgende Frage "provokativ" an uns gerichtet: "Wenn ihr die Lösung habt, warum habt ihr dann keine größere Anhängerschaft?" Nun, die Kommunisten sind keine bürger­lichen Marktschreier, die nur zu verkün­den brauchen: "Wählt uns, damit wir eure Probleme für euch lösen können". Im Ge­genteil. Die Kommunisten verkünden sehr unbequeme Wahrheiten, welche die mei­sten nicht gerne hören möchten und viel­leicht gar erst mal abschrecken. Wir sa­gen: es gibt unmittelbar hier und heute keine Lösungen für die Probleme der Menschheit. Diese Probleme können in­nerhalb des bestehenden Systems über­haupt nicht gelöst werden. Kein einziges dieser Probleme kann im nationalen Rah­men gelöst werden. Mehr noch: die Kom­munisten haben zwar eine Perspektive zu verteidigen, aber sie haben keine Lösun­gen. Denn nur die Arbeiterklasse kann diese gigantische Aufgabe der Umwand­lung der Gesellschaft in Angriff nehmen. Und weil die Arbeiterklasse keine wirt­schaftliche Macht innerhalb dieser Gesell­schaft besitzt, kann die Lösung der Pro­bleme auch nur beginnen durch die welt­weite Machtergreifung durch die Arbeiter­räte. Der wissenschaftliche Sozialismus, im Gegensatz zum vormarxistischen utopi­schen Sozialismus hält überhaupt nichts von ausgetüftelten Projekten, wie die Zu­kunftsgesellschaft auszusehen habe. Der Kommunismus, wie Engels sagte, ist die "Lehre von der Befreiung des Proleta­riats". Deshalb waren wir auch nicht ein­verstanden mit einem in der Diskussion aufgekommenen Vorschlag, daß wir uns zuerst darauf zu einigen haben, wie diese Zukunftsgesellschaft auszusehen hat. Richtig an dieser Sorge war natürlich die Vorrangigkeit, inhaltliche Fragen zu klä­ren. Aber das Ziel des Kommunismus können wir nur in den groben Zügen, so­zusagen negativ definieren. D.h. als Ab­grenzung gegenüber dem, was es nicht ist, oder keinesfalls sein darf - z.B. der Stali­nismus, d.h. Staatskapitalismus wie in der ehemaligen UdSSR. Aber der Kommunis­mus kann nur das Werk der Arbeitermas­sen sein. Er kann nur entstehen durch die Kreativität und kollektive Mitarbeit von Millionen und Abermillionen. Von daher - wie auch bei dieser Veranstaltung - ist die Frage des Kommunismus untrennbar mit einem anderen Grundsatz des Marxismus verbunden, daß die Arbeiterklasse heute noch die revolutionäre Kraft in dieser Ge­sellschaft darstellt.

DIE AUFGABEN DER KOMMUNISTEN

Am Ende wurde auch die Frage nach dem Zweck dieser Diskussion gestellt. Und wofür müssen es denn überhaupt Kommu­nisten geben? Wie oben aufgezeigt, wird notwendigerweise durch den Zusammen­bruch des Kapitalismus die Frage nach ei­nem Ausweg sich stellen müssen, welche über den Kapitalismus hinausführt. Aber diese Frage bedeutet keineswegs, daß automatisch auch eine Antwort darauf ge­funden werden könne. Es besteht die Ge­fahr, daß die Arbeiterklasse im entschei­denden Augenblick nicht in der Lage sein mag, eine Alternative zum Kapitalismus finden zu können. Und ein solches Versa­gen müßte aufs engste damit zusammen­hängen, daß die Perspektive des Kommu­nismus und des Marxismus durch die bür­gerliche Gleichsetzung mit dem Stalinis­mus zu stark in Mißkredit geraten ist. Von daher wird es für die Menschheit lebens­notwendig sein, daß es in einer solchen Situation Marxisten gibt, die gegenüber dem Suchen der Millionen von Arbeitern in der Lage sein werden, die Perspektive des Kommunismus deutlich und überzeu­gend verteidigen zu können. Um uns auf diese Aufgabe vorzubereiten, dazu dienen Auseinandersetzungen wie bei dieser Dis­kussionsveranstaltung.

Was ist der historische Materialismus

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 WIEDERVERÖFFENTLICHUNG

Wie kann man das, was in der Welt vor sich geht, analysieren und begreifen? Ist die Methode, die uns die bürgerliche "Wissenschaft" lehrt, dazu hilfreich? Gehört der Marxismus auf den Misthaufen der Geschichte, wie uns eingeflößt werden soll? In unserer Zeitung wollen wir unsere Leser mit den Grundbegriffen des Marxismus und der Arbeiterbewegung vertraut machen, um aufzuzeigen, daß sie ein unabdingbares Instrument für die Analyse der Welt bleiben. Nachfolgend bringen wir einen Text in unveränderter Form, der 1909 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, und der unserer Meinung nach einen wertvollen Beitrag zum Begreifen der Geschichte liefert.

WAS IST DER HISTORISCHE MA­TERIALISMUS?

von Hermann Gorter

Für jeden, der das gesellschaftliche Leben um sich herum beobachtet, ist es klar, daß die Mitglieder der Gesellschaft in be­stimmten Verhältnissen zueinander leben. Gesellschaftlich sind sie zu einander nicht gleich, sondern sie stehen auf höherer und niederer Stufe und in Gruppen und Klas­sen einander gegenüber. Der oberflächli­che Zuschauer könnte meinen, daß diese Verhältnisse nur Eigentumsverhältnisse seien: die einen besitzen Grund und Bo­den, die anderen Fabriken oder Produkti­onsmittel oder zum Verkauf bestimmte Waren, andere besitzen nichts. Der ober­flächliche Zuschauer könnte auch meinen, daß der Unterschied hauptsächlich ein po­litischer sei; einige Gruppen verfügen über die Staatsgewalt, andere haben dar­auf keinen oder fast keinen Einfluß. Wer aber tiefer blickt, bemerkt, daß hinter den Eigentums- und politischen Verhältnissen Produktionsverhältnisse stecken, das heißt, Verhältnisse, worin die Menschen zueinander stehen beim Produzieren des­sen, was die Gesellschaft braucht.

Arbeiter, Unternehmer, Reeder, Rentiers, Großgrundbesitzer, Pächter, Großhändler und Krämer, sie sind es, was sie sind, durch den Platz, den sie im Produktions­prozeß, in der Bearbeitung und der Zir­kulation der Produkte einnehmen. Dieser Unterschied ist noch tiefer als der, daß der eine Geld hat oder der andere keins. Die Verarbeitung der Naturschätze ist ja die Grundlage der Gesellschaft. Wir ste­hen zueinander in Arbeits-, in Produkti­onsverhältnissen.

Worauf stützen sich nun diese Arbeitsver­hältnisse? Schweben die Menschen als Kapitalisten und Arbeiter, Großgrundbe­sitzer, Pächter und Tagelöhner, und wie all die anderen Arten von Mitgliedern der Gesellschaft sonst noch heißen mögen, nur so in der Luft? Nein, sie stützen sich auf die Technik, auf die Werkzeuge, wo­mit sie in der Erde, in der Natur arbeiten. Die Industriellen und die Proletarier stüt­zen sich auf die Maschine, sind von der Maschine abhängig. Wenn es keine Ma­schinen gäbe, so gäbe es auch keine Indu­striellen und keine Proletarier, jedenfalls nicht solche, wie jetzt. Der einfache Web­stuhl erzeugte die Arbeit im Hause durch die eigene Familie, der zugesetzte höl­zerne Webstuhl erzeugte eine Gesellschaft mit kleinen Meistern und Gesellen, die große durch Dampf oder Elektrizität ge­triebene eiserne Webmaschine eine Ge­sellschaft mit Großindustriellen, Aktio­nären, Direktoren, Bankiers und Lohnar­beitern. Die Produktionsverhältnisse schweben nicht wie Rauch - oder Dunst­streifen in der Luft, sie bilden feste Rah­men, worin die Menschen gefaßt sind. Der Produktionsprozeß ist ein materieller Prozeß, die Werkzeuge sind wie die Eck- und Stützpunkte der Rahmen, worin wir stehen.

Die Technik, die Werkzeuge, die Produk­tivkräfte sind der Unterbau der Gesell­schaft, die eigentliche Grundlage, worauf sich der ganze riesenhafte und so verwic­kelte Organismus der Gesellschaft erhebt. Die nämlichen Menschen jedoch, die ihre gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihrer materiellen Produktionsweise bilden, bil­den auch nach diesen Verhältnissen ihre Ideen, ihre Vorstellungen, ihre Anschau­ungen, ihre Grundsätze. Die Kapitalisten, die Arbeiter und die anderen Klassen, die durch die Technik der Gesellschaft, worin sie leben, gezwungen werden, in be­stimmten Verhältnissen- als Meister oder Knecht, Eigentümer und Besitzloser, Grundbesitzer, Pächter, Tagelöhner - zu­einander stehen die nämlichen Kapitalisten und Arbeiter usw. denken auch als Kapi­talisten, Arbeiter usw. Sie bilden ihre Ideen, ihre Vorstellungen nicht als ab­strakte Wesen, sondern als die sehr kon­kreten, wirklichen lebendigen Menschen, die sie sind, als gesellschaftliche, in einer bestimmten Gesellschaft lebende Men­schen. Also nicht nur unsere materiellen Verhältnisse hängen von der Technik ab, stützen sich auf die Arbeiter, auf die Pro­duktivkräfte, sondern da wir innerhalb unserer materiellen Verhältnisse und unter diesen Verhältnissen denken, hängen auch unsere Gedanken unmittelbar von diesen Verhältnissen und also mittelbar von den Produktivkräften ab.

Das moderne gesellschaftliche Sein des modernen Proletariers ist von der Ma­schine geschaffen worden. Seine gesell­schaftlichen Gedanken, die dem Verhält­nis entspringen, worin er als Proletarier steht, stützen sich also mittelbar auf das moderne Maschinenwesen, hängen direkt davon ab. Und so ist es mit allen Klassen der Gesellschaft. Denn die Verhältnisse, worin einzelne Menschen zueinander ste­hen, gelten nicht für sie allein. Gesell­schaftlich steht der Mensch nicht in einer besonderen, nur ihm eigenen Beziehung zu anderen; er hat viele seinesgleichen, die in genau demselben Verhältnis zu an­deren stehen. Ein Arbeiter- um bei diesem Beispiele zu bleiben - steht nicht allein als Lohnarbeiter anderen Menschen gegen­über, er ist einer von vielen, er ist Mit­glieder einer Klasse von Millionen, die sich als Lohnarbeiter in der nämlichen Lage befinden wie er. Und so ist es mit jedem Menschen in der zivilisierten Welt. Jeder gehört zu einer Gruppe, einer Klasse, deren Mitglieder sich zum Pro­duktionsprozeß in der nämlichen Weise verhalten. Es ist also nicht nur wahr, daß ein Arbeiter, ein Kapitalist, ein Bauer usw. gesellschaftlich so denken wird, wie die Arbeitsverhältnisse ihn denken ma­chen, sondern seine Anschauungen, seine Ideen, seine Vorstellungen werden in all­gemeinen Zügen übereinstimmen mit denen von Hunderttausenden anderer, die sich in derselben Lage wie er befinden. Es gibt ein Klassendenken, wie es auch eine Klassenstellung im Arbeitsprozeß gibt.

Die Form, worin die Arbeitsverhältnisse der verschiedenen Klassen, der Kapitali­sten, der Unternehmer, der Arbeiter usw. ans Licht treten, ist in der kapitalistischen und im allgemeinen in der in Klassen ge­spaltenen Gesellschaft zugleich ein Ei­gentumsverhältnis. Kapitalisten, Kauf­leute, Lohnarbeiter, Bauern habe nicht nur in der Produktion eine ihnen eigen­tümliche Stellung inne, sondern auch in dem Besitz, in dem Eigentum. Der divi­dendeneinstreichende Aktionär spielt im Produktionsprozeß nicht nur die Rolle des Geldleihers und des Schmarotzers, son­dern er ist auch Miteigentümer der Unter­nehmung, der Produktionsmittel, des Grundstücks, der Werkzeuge, der Roh­stoffe, der Produkte. Der Kaufmann ist nicht nur Austauscher, Zwischenperson, sondern auch Besitzer der Kaufwaren und des Handelsgewinns. Der Arbeiter ist nicht nur der Verfertiger von Gütern, sondern auch Besitzer seiner jedesmal von ihm verkauften Arbeitskraft und des dafür erhaltenen Preises. Mit anderen Worten, Arbeitsverhältnisse sind in einer Gesell­schaft, die in Klassen geteilt ist, zugleich Eigentumsverhältnisse.

Nicht immer war das so. In der primitiven kommunistischen Gesellschaft waren Grund und Boden, das gemeinschaftlich gebaute Hause, die Viehherden, kurz, die hauptsächlichsten Produktionsmittel, ge­meinschaftliches Eigentum. Man verrich­tete die hauptsächlichsten gesellschaftli­chen Arbeiten zusammen; man war, abge­sehen von dem Unterschied in Geschlecht und Alter, im Produktionsprozeß einander gleich, und im Eigentum gab es keinen oder nur einen geringen Unterschied. Nachdem aber die Arbeitsteilung so groß geworden war, daß besondere Berufsarten entstanden, und nachdem durch bessere Technik und Arbeitsteilung ein Überschuß über das für das Leben direkt Notwendige produziert wurde, wußten einige durch Wissen oder Streitbarkeit hervorragende Berufe, wie Priester oder Krieger, sich diesen Überschuß und schließlich auch die Produktionsmittel anzueignen. So sind die Klassen entstanden und ist das Privatei­gentum die Form geworden, worin die Arbeitsverhältnisse ans Licht treten.

Durch die Entwicklung der Technik und durch die Teilung der Arbeit sind also die Klassen entstanden, Klassenverhältnisse und Eigentumsverhältnisse beruhen auf der Arbeit. Durch die Entwicklung der Technik, die einige Berufe in den Stand setzte, sich der Produktionsmittel zu be­mächtigen, entstanden Besitzende und Be­sitzlose und wurde die große Menge des Volkes zu Sklaven, Leibeigenen, Lohnar­beitern. Und der Überschuß, den die Technik, die Arbeit über das unmittelbar Notwendige hinaus erzeugt, ist immer größer geworden und immer schroffer wurde also der Klassengegensatz zu den Besitzlosen. In gleichem Maße wuchs also auch der Klassenkampf, der Kampf, den die Klassen um den Besitz der Produkte und der Produktionsmittel führen, und so wurde es zur allgemeinen Form des Kampfes ums Dasein der Menschen in der Gesellschaft. Die Arbeitsverhältnisse sind Eigentumsverhältnisse, und Eigentums­verhältnisse sind Verhältnisse der mitein­ander kämpfenden Klassen: und alle zu­sammen beruhen sie auf der Entwicklung der Arbeit, gehen sie hervor aus dem Ar­beitsprozeß aus der Technik.

Aber die Technik steht nicht still. Sie ist in einer rascheren oder langsameren Ent­wicklung und Bewegung begriffen, die Produktivkräfte wachsen, die Produkti­onsweise ändert sich. Und wenn die Pro­duktionsweise sich ändert, müssen sich notwendig auch die Verhältnisse ändern, worin die Menschen im Arbeitsprozeß zu­einander stehen. Das Verhältnis der frühe­ren kleinen Meister zueinander und zu ih­ren Gesellen ist ein ganz anderes, als jetzt das Verhältnis der großen Unternehmer zueinander und zu dem Lohnproletariat. Die maschinenmäßige Produktion hat eine Änderung der alten Verhältnisse bewirkt. Und da in einer Klassengesellschaft Pro­duktionsverhältnisse zugleich Eigentums­verhältnisse sind, werden mit den ersten auch die zweiten umgewälzt. Und da die Anschauungen, Vorstellungen, Ideen, usw. sich bilden innerhalb der Verhält­nisse und nach den Verhältnissen, worin die Menschen leben, ändert sich ihr Be­wußtsein auch, wenn die Arbeit, die Pro­duktion und das Eigentum sich ändern: Arbeit und Denken sind in fortwährender Änderung und Entwicklung begriffen: "Der Menschen verändert, indem er durch seine Arbeit die Natur verändert, zugleich seine eigene Natur". Die Produktions­weise des materiellen Lebens bedingt das ganze gesellschaftliche Leben. "Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesell­schaftliches Sein, das ihr Bewußtsein be­stimmt".

Aber auf einer gewissen Stufe ihrer Ent­wicklung geraten die materiellen Produk­tivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktions- und Eigentumsverhältnissen. Innerhalb der alten Verhältnisse können sich die neuen Produktivkräfte nicht entwickeln, sich nicht ausleben. Dann erhebt sich ein Kampf zwischen denen, die an den alten Produktions- und Eigentumsverhältnissen interessiert sind, und denen, die ein Inter­esse an der Entwicklung der neuen Pro­duktivkräfte haben. Es tritt eine Epoche sozialer Revolution ein, bis die neuen Produktivkräfte den Sieg erringen und die neuen Produktions- und Eigentumsver­hältnisse entstanden sind, innerhalb deren sie blühen können. Und durch diese Re­volution ändert sich auch das Denken der Menschen, es ändert sich mit ihr und in ihr.

Dies ist kurzgefaßt der Inhalt unserer Lehre. In anschaulicher Darstellung kann man sie in folgender Weise noch einmal übersehen:

1) Die Technik, die Produktivkräfte bil­den die Basis der Gesellschaft. Die Pro­duktivkräfte bestimmten die Produktions­verhältnisse, die Verhältnisse, worin die Menschen im Produktionsprozeß einander gegenüberstehen. Die Produktionsverhält­nisse sind zugleich Eigentumsverhältnisse. Die Produktions- und Eigentumsverhält­nisse sind nicht nur Verhältnisse von Per­sonen, sondern von Klassen. Diese Klas­sen-, Eigentums- und Produktionsverhält­nisse (mit anderen Worten das gesell­schaftliche Sein) bestimmen das Bewußt­sein der Menschen, d.h. ihre Anschauun­gen über das Recht, Politik, Moral, Reli­gion, Philosophie, Kunst. usw.

2) Die Technik entwickelt sich fortwäh­rend. Die Produktivkräfte, die Produkti­onsweise, die Produktionsverhältnisse, die Eigentums-, die Klassenverhältnisse än­dern sich demnach ununterbrochen. Das Bewußtsein der Menschen, ihre Anschau­ungen und Vorstellungen über Recht, Po­litik, Moral, Religion usw. ändern sich also auch mit den Produktionsverhältnis­sen mit den Produktivkräften.

3) Die neue Technik gerät auf einer ge­wissen Stufe ihrer Entwicklung in Wider­spruch mit den alten Produktions- und Ei­gentumsverhältnissen.

Schließlich siegt die neue Technik. Der ökonomische Kampf zwischen den kon­servativen Schichten, die an den alten Formen, und den fortschrittlichen Schichten, die an den neuen Kräften inter­essiert sind, kommt ihnen in juristischen, politischen, religiösen, philosophischen und künstlerischen Formen zum Bewußt­sein.

(aus Gorter, Der historische Materialis­mus, Berlin 1909).



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