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Internationale Revue Nr. 11

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Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft

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Der Kapitalismus steckt in einer Sackgasse. Jeden Tag erleben wir aufs Neue das Bild einer Gesellschaft, die auf ihre eigene Zerstörung zurast. Seit dem Holocaust des 2. Weltkriegs hat es ununterbrochen Kriege und Massaker in der kapitalistischen Peripherie gegeben. Die Barbarei dieses kapitalistischen Systems, dessen fortgesetzter Todeskampf nur eine Welle von Zerstörun­gen hervorrufen kann, wird jeden Tag offensichtlicher. Die jüngste Serie von "natürlichen" Katastrophen und Unfällen, die Zunahme des Bandenunwesens, des Terroris­mus, des Drogenkonsums und -handels sind alles Ausdrücke dieses allgemeinen Geschwürs, das sich welt­weit immer tiefer in den Körper des Kapitalismus frißt.
Obgleich der Eintritt des Kapitalismus in den Zeitraum seiner Dekadenz die Vorbedingung für seine Zerstörung durch die proletarische Revolution ist, ist die Fortdauer dieser Dekadenz nicht ohne Gefahr für die Arbeiterklasse. Die Ausbreitung der Fäulniserscheinungen des Kapitalismus auf alle  Gesellschaftsschichten droht auch die einzige Klasse zu kontaminieren, die in sich die Zukunft der Menschheit trägt. Da der Kapitalismus am lebendigen Leib verfault, obliegt es nicht den Revolutionären, die Arbeiterklasse in ihrem Elend und Leid zu trösten, indem sie den Schrecken dieser im Zerfall befindlichen Gesellschaft verbergen; im Ge­genteil, sie müssen sein ganzes Ausmaß hervorkehren und die Arbeiter vor dieser täglichen Gefahr der Kontamination warnen.
Die Nachricht von Katastrophen, hervorgerufen durch "Naturphänomene" oder durch Unfälle, die eine Vielzahl von Menschen töten oder verstümmeln, ist Alltag geworden. In den letzten Mona­ten ist kaum eine Woche vergangen, in der nicht die Medien apokalyptische Bilder von Katastrophen veröf­fentlichten, die an einem Tag die unterentwickelten Länder und am nächsten die großen Industrieme­tropolen der westlichen Welt treffen. Solche Ereignisse sind mittlerweile banal geworden; sie betreffen den ganzen Erdball. Nicht nur verschlimmern sie die allgemeine Unsicherheit der Ar­beiterklasse und der Bevölkerung insgesamt; sie werden immer mehr als eine Gefahr empfunden, die die ganze Welt auf ziemlich die gleiche Weise wie ein Nuklearkrieg zu verschlingen droht.


Der Sturz in die Dekadenz: noch mehr Zerstörung durch den Kapitalismus

Sintflutartige Regenfälle in Bangladesch, die im September 1988 mehr als 30 Millionen Menschen in Mitleidenschaft zogen; Dürrekatastrophen im Sahel, die in den letzten Jahren bislang nie ge­kannte Hungersnöte verursacht haben; Hurrikane in der Karibik oder auf der Insel La Reunion, die die Häuser der örtlichen Bevölkerung platt walzten; Erdbeben in Armenien, wo ganze Städte innerhalb weniger Minuten in Schutt und Asche fielen und Zehntausende von Menschen in den Ruinen lebendig begraben wurden - all diese gigantischen Katastrophen, die in den letzten Monaten unterentwickelte Länder verwüstet haben, beschränkten sich je­doch nicht auf die Dritte Welt oder auf den Ostblock.
Sie tendieren dazu, sich auf die höchst industrialisier­ten Regionen der Welt auszudehnen, wie uns die entsetzliche Serie von Zug- und Flugzeugunfällen zeigt, die Hunderte von Opfern im Zentrum der großen städti­schen Zusammenballungen in Westeuropa gefordert ha­ben.
Im Gegensatz zu dem, was die Bourgeoisie uns glauben machen möchte, ist keine dieser Zerstörungen, keiner dieser Verluste an Menschenleben Schicksal, auf irgendein "Gesetz der Serie" oder auf die "unkontrollierbaren Kräfte der Natur" zurückzuführen. Das einzige Ziel dieser "Erklärungen", die der herrschenden Klasse so gut in den Kram passen, ist, ihr System von jeglicher Verantwortung freizusprechen, seine ganze Fäulnis und Barbarei zu verbergen. Denn die wirkliche Ursache hinter all diesen Tragödien, diesem unbeschreiblichen menschli­chen Leid ist der Kapitalismus selbst, und diese entsetzliche Serie von "natürlichen" oder "zufälli­gen" Katastrophen ist nur der spektakulärste Ausdruck einer todgeweihten Gesellschaft, die sich selbst in alle Einzelteile zerlegt.
Diese Tragödien enthüllen vor aller Augen den totalen Zusammen­bruch der kapitalistischen Produktionsweise, die seit dem 1. Weltkrieg in ihre Dekadenz eingetreten ist. Diese Dekadenz bedeutet, daß nach einer Epoche der Prosperität, in der das Kapital in der Lage war, die Produktivkräfte und den gesellschaftlichen Reichtum bis zu einem enormen Ausmaß zu entwickeln, indem der Weltmarkt geschaffen und vereinigt wurde, indem es seine Produktionsweise über den ganzen Planeten ausdehnte, Anfang des 20. Jahrhundert der Kapitalismus seine eigenen historischen Grenzen erreicht hat. Dieser Niedergang des Kapitalismus äußert sich heute da­rin, daß er von nun an immer mehr Zerstörungen und Barbarei, Hungersnöte und Massaker auf der ganzen Welt erzeugt.
Diese Dekadenz erklärt insbesondere, warum die Länder der "Dritten Welt" sich nicht haben entwickeln können: sie sind zu spät auf einem Weltmarkt angekommen, der schon gebildet, aufgeteilt und gesättigt war (siehe unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapita­lismus") . Sie verdammt diese Länder, trotz allen heuchlerischen Geredes über ihre "Entwicklung", dazu, die ersten Opfer der äußersten Barbarei eines sterbenden Kapitalismus zu sein. Sie sind gewissermaßen zum Schauplatz des absoluten Horrors geworden.
Je länger sein Todeskampf dauert, desto schrecklicher treten die hervorstechendsten Merkmale des Kapitalismus in Erscheinung, weil die unlösbaren, inneren Wi­dersprüche des Systems offen zutage treten.
Sicher kann man dem Kapitalismus nicht vorwerfen, für Erdbeben, Hurrikanes oder Dürre verantwortlich zu sein. Er ist jedoch verantwortlich für die Tatsache, daß solche natürlichen Phänomene zu einer gewaltigen gesellschaftlichen Katastrophe, zu einer gigantischen menschlichen Tragödie werden.
Der Kapitalismus besitzt die technischen Fähigkeiten, Menschen auf den Mond zu schicken, monströse Waffen zu entwickeln, die den Planeten mehrfach vernichten können; gleichzeitig ist er nicht in der Lage, die Bevölkerung vor Naturkatastrophen zu schützen, indem Deiche gegen die Auswirkungen von Hurrikanen, erdbebensichere Häuser gebaut oder Wasserläufe geändert werden.
Schlimmer noch, nicht nur kann der Kapitalismus nichts unternehmen, um diese Katastrophen zu verhindern, er ist auch unfähig, ihre verheerenden Auswirkungen abzuschwächen. Was die herrschende Klasse "internatio­nale Hilfe" für die betroffenen Bevölkerungen nennt, ist eine widerwärtige Lüge. Jeder Staat und jede Regie­rung der herrschenden Klasse ist direkt verantwortlich für das Leid von Hunderten von Millionen von Men­schen, die jeden Tag wie die Fliegen sterben, sei es als Opfer von Cholera, Ruhr oder Hunger.
Während Millionen Kinder vom Hungertod bedroht sind, werden in den großen Industriezentren des Kapitalismus alljährlich Millionen Tonnen von Milch vernichtet, um den Zusammenbruch der Marktpreise zu verhindern. In den von Monsunen oder Hurrikanen betroffenen Ländern ist die Bevölkerung dazu verurteilt, um magere Getreiderationen zu kämpfen, wäh­rend die Regierungen der EG-Länder planen, 20 Prozent des nutzbaren Bodens brachzulegen, um die Überpro­duktion zu bekämpfen!
Die entsetzliche Barbarei des dekadenten Kapi­talismus drückt sich nicht nur in seiner Unfähigkeit aus, das Leid der Opfer dieser Naturkatastrophen gegenüber diesen Phänomenen zu lindern. Die permanente, un­lösbare Krise dieses Systems ist selbst eine ge­waltige Katastrophe für die ganze Menschheit, wie wir an der wachsenden Verarmung von Millionen von Menschen sehen können, die auf den Zustand des verzweifelten Elends herabgedrückt werden. Die Unfähigkeit des Kapitalismus, die gewaltigen Massen der Arbeitslosen in den Produktionsprozeß einzugliedern, beschränkt sich nicht nur auf die Länder der "Dritten Welt". Im Zentrum der höchstindustrialisierten Nationen enthüllt die Verarmung, in die Millionen von Proletarier gestürzt werden, die ganze Fäulnis dieses Systems. Das wird nicht nur an der Entwicklung der Massenarbeitslosigkeit deutlich, die keine "Wirtschaftspolitik" überwinden kann, sondern auch an der Ausbreitung der Verarmung, die immer mehr Arbeiter trifft, die noch eine Arbeit haben. Im reichsten Land der Welt, den USA, werden Millionen Arbeiter, die zumeist noch eine Vollzeitbeschäftigung haben (und die 15 Prozent der Bevölkerung repräsentieren), zu Obdachlosen gemacht und gezwungen, auf den Bürgersteigen, in Pornokinos (die als einzige Kinos die ganze Nacht aufbleiben) oder in Autos zu schlafen, weil sie sich keine Wohnung leisten können.
Je mehr der Kapitalismus an seiner allgemeinen Überproduktionskrise erstickt, desto weniger ist er der Lage, seinen Ausgebeuteten das Lebensnotwendige sicherzustellen oder den Hunger zu überwinden, der heute in Ländern wie Äthiopien oder im Sudan die Form eines  Völkermordes annimmt. Je weiter er in der Beherrschung von Technik voranschreitet, desto weniger benutzt er sie im Dienste der Sicherheit der Bevölkerung.
Was nützen da vor dem Hintergrund dieser entsetzlichen Wirklichkeit all die "humanitären" Kampagnen für die "Hilfe der Opfer und/oder Hungernden", die von den großen westlichen "Demokratien" inszeniert werden, all die "Solidaritätsappelle" von "Berühmtheiten" aller Art? Wie "wirksam" sind all diese karitativen Unternehmen, die in den fortgeschrittenen Ländern Suppenküchen oder Notunterkünfte für die Obdachlosen betreiben? Welche Bedeutung haben all die jämmerlichen "Unterstützungen", die einige Staaten jenen zukommen lassen, die mittellos sind? Bestenfalls sind all diese Hilfen zusammen genommen nur ein Tropfen auf den heißen Stein von Armut und Hunger. In der Dritten Welt verzögern sie allenfalls die tragischen Konsequenzen für die betroffen Bevölkerungen um einige Wochen. Und wenn sie in die fortgeschrittenen Länder gehen, reichen sie gerade aus, um zu verhindern, daß diese Länder allzu sehr den unterentwickelten gleichen. Tatsächlich sind diese "Hilfen", diese "Solidaritätskampagnen" nichts anderes als ausgemachte Maskeraden, ein schmutzig und zynisches Geschäft, dessen tatsächliche "Wirksamkeit" darin besteht, sich ein "gutes Gewissen" zu erkaufen, die Absurdität und Barbarei der heutigen Welt vergessen zu machen.
Das gute Gefühl und der bürgerliche Humanismus haben jedoch ihre Grenzen. Trotz der Krokodilstränen der Pfaffen und anderer Wohltätigkeitsapostel, trotz der "Hilfsbereitschaft" der Regierungen werden diese Grenzen von der Tatsache diktiert, daß die Bourgeoisie nicht den Gesetzen ihres  Systems entkommen kann. Und dies ist heute um so offensichtlicher, wo doch nach mehr als 70 Jahren Dekadenz diese Gesetze ihrer Kontrolle vollständig entgleiten, wie heute eine Reihe von katastrophalen Unfällen in den Industrieländer beweist.
In den letzten Monaten hat die Häufung von Zugunglücken, insbesondere in den städtischen Ballungsgebieten der höchstentwickelten Länder wie Frankreich oder Großbritannien gezeigt, daß diese Unsicherheit nicht nur die Bevölkerung der unterentwickelten Länder bedroht, sondern überall auf der Welt, in jedem Aspekt des Alltagslebens droht. Und im Gegensatz zu den niederträchtigen Lügen der Bourgeoisie war nicht das Versagen dieses oder jenes Lokführers für die Eisenbahnunglücke wie im Gare de Lyon von Paris im Juni 1988 oder in Clapham Junction in London im Dezember 1988 verantwortlich. Der heruntergekommene Zustand der Produktions- und Verkehrsmittel, durch den täglich Hunderte von Menschen in den höchstentwickelten Ländern getötet oder verstümmelt werden, ist nicht auf schlechtes Wirtschaftsmanagement zurückzuführen.
Diese Kaskade von Unfällen ist nichts anderes als das verheerende Ergebnis der Politik eines jeden Staats, die Produktion zu "rationalisieren".  Bei ihrem uner­sättlichen Streben nach Profit und Konkurrenzfähigkeit angesichts einer sich zuspitzenden Weltwirtschaftskrise kann keine Einsparung, die auf Kosten der Sicherheit der Arbeiter und der Bevölkerung im allgemeinen vorgenommen wird, zu klein sein, um lohnenswert zu sein, was immer es auch an Menschenleben kosten mag. Diese "Rationali­sierung", die im Namen der Produktivität eine immer größere Zerstörung der Produktivkräfte bewirkt, ist tatsächlich vollkommen irrational. Arbeitskraft wird zerstört, nicht nur durch Arbeitslosigkeit, sondern auch durch den Tod und die Verletzungen, die durch die Katastrophen und Arbeitsunfälle verursacht werden, die alle durch dieselbe "Rationalisierung" hervorgerufen werden. Technische Ressourcen werden durch das Schließen von Fabriken zerstört, aber auch durch den materiellen Schaden, der durch all diese "Unfälle" entsteht.
So sind die Zerstörungen, die die Ökologiebewegung auf den "technischen Fortschritt" zurückführt - die zu­nehmende Verpestung von Luft und Wasser, "Unfälle" in Chemiefabriken wie in Seveso (Italien) oder Bophal (Indien), mit mehr als 2.500 Tote im letztegenannten, Ato­munfälle wie in Three Miles Island oder Tschernobyl, die Ölteppiche, die regelmäßig die Flora und Fauna der Küstengebiete zerstören und damit die ozanische Nahrungskette über Jahrzehnte hinaus bedrohen (wie man kürzlich in der Antarktis sehen konnte), die Zerstörung der Ozon­schicht, die jegliches Lebewesen vor der ultravioletten Strahlung schützt, durch FCKW, der Raub­bau am Regenwald des Amazonas, der Hauptsauerstof­fquelle für die Erde - all dies sind Ausdrücke der ir­rationalen, selbstmörderischen Logik des dekadenten Kapitalismus, seiner vollkommenen Unfähigkeit, die Produktivkräfte zu beherrschen, die er in Bewegung gesetzt hat und die jetzt drohen, in den kommenden Jahrhunderten, wenn nicht für immer das ökologische Gleichgewicht auf der Erde umzukippen, das für das Überleben der menschlichen Gattung erforderlich ist.
Und diese selbstmörderische Logik, diese tödliche Ma­schinerie des Kapitalismus, nimmt mit der Massenproduktion von immer ausgeklügelteren Tötungsmaschinen noch verheerendere Ausmaße an. Die fortschrittlichste Technologie ist heute auf die Rüstungsproduktion orientiert, mit der Perspektive noch größerer, umfassenderer Mas­saker als jene, die heute schon - in "Friedenszeiten" - in den sog. unterentwickelten Ländern stattfinden. Es gibt keine Grenzen für den Horror dieses blutigen Monsters, das der dekadente Kapitalismus ist.
Aber all die Zerstörungen, die dieses dahinsiechende System hervorbringt, sind nur die Spitze des Eisbergs. Sie sind nur die grotesken Ausdrücke ei­nes allgemeineren Phänomens, das auf alle Aspekte der ka­pitalistischen Gesellschaft einwirkt. Sie spiegeln nichts anderes wider als die Realität einer auseinanderbrechenden Welt.

Der ideologische Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft

Dieser Zerfall beschränkt sich nicht nur auf die Tat­sache, daß der Kapitalismus ungeachtet all der technologischen Ent­wicklungen immer noch den Gesetzen der Natur unterworfen ist, daß er unfähig ist, die Mittel zu kontrollieren, die er selbst für seine eigene Entwicklung in Bewegung gesetzt hat. Der Zerfall betrifft nicht nur die wirtschaftlichen Grundlagen des Sy­stems. Er schlägt sich auch in all den Aspekten des ge­sellschaftlichen Lebens nieder, und zwar in Form eines ideologischen Zerfalls der Werte der herrschenden Klasse, die bei ihrem Kollaps alle Werte mit sich reißt, welche ein Leben in der Gesellschaft erst möglich machen, und insbesondere durch eine wachsende Atomisierung des Individuums.
Dieser Zerfall der bürgerlichen Werte ist kein neues Phänomen. Er trat schon Ende der 60er Jahre mit dem Auftauchen von Randerscheinungen auf, die damals noch die Illusion verbreiten konnten, daß es möglich sei, kleine Oasen einer anderen Gesellschaft, die auf anderen gesellschaftlichen Verhält­nissen beruht, inmitten des Kapitalismus zu bilden.
Dieser Zerfall der Werte der herrschenden Klasse äußerte sich im Aufkommen von Ideologien wie die der "Kommune" - das Ergebnis der Revolte der kleinbürgerlichen Schichten, die von der Krise und insbesondere vom Zerfall der Gesellschaft betroffen waren - und der Hippiebewegung in den 60er und frühen 70er Jahren, sowie durch eine ganze Reihe von Strömungen, die "eine Rückkehr zur Natur", zum "Leben in der Natur" usw. propagierten. Ihre Existenz auf eine angeblich "radikale" Kritik", eine Infragestellung der Lohnarbeit, der Warenwirtschaft, des Geldes, des Privateigentums, der Familie, der "Konsumgesellschaft" usw. gründend, stellten sich all diese Gemeinschaften als "alternative" oder "revolutionäre" Lösung angesichts des Zusammenbruchs der bürgerlichen Werte und der Atomisierung des Einzelnen dar. Alle rechtfertigten sich mit der Begründung, daß eine bessere Welt geschaffen werden könne, indem man einfach "die Geisteshaltung ändert" und die Gemeinschaftsexperimente verbreitet. Jedoch gingen diese Minderheitsideologien - die auf Sand gebaut waren, da sie von gesellschaftlichen Schichten in die Welt gesetzt wurden, die, anders als das Proletariat, keine historische Zukunft haben - nicht nur damit hausieren, was sich seither angesichts des anschließenden Zusammenbruchs als bloße Illusion erwiesen hat. Ihre Projekte waren in Wirklichkeit nur eine groteske Parodie des primitiven Kommunismus. Diese Nostalgie, diese Sehnsucht nach einer Rückkehr zu einem archaischen und seit Jahrtausen­den überholten Gesellschaftstyp spiegelte nichts an­deres als eine vollkommen reaktionäre Ideologie wi­der, deren im Kern religiöser Charakter zudem durch die Tatsache deut­lich geworden ist, daß all diese "Reinigungsmotive" fast wortgetreu von mystischen Sekten wie die Moon-Sekte, Hare Krishna , den "Kindern Gottes" u.ä. aufgegriffen wor­den, die seither aus den Ruinen dieser Gemeinschaften aufgestiegen sind.
Heute sind die Gemeinschaften der 60er und 70er Jahre entwe­der durch religiöse Sekten (von denen die meisten durch den kapitalistischen Staat und die Geheimdienste der Großmächte ausgenutzt, wenn nicht gar direkt manipuliert werden) oder durch viel kurzlebigere Phänomene abgelöst worden, wie die riesigen Versammlungen auf Rockkonzerten, die von bürgerlichen Institutionen wie "SOS Racisme" in Frankreich, "Band Aid" oder Amnesty International im Namen der großen humanitären Fragen - dem Hunger in der Welt oder dem Kampf gegen die Apartheid - organisiert werden und die den neuen Generationen nur ein Surrogat der Gemeinschaft und der menschlichen Solidarität anbieten können.
Doch seit einigen Jahren hat sich in den großen Industrieländern der ideologische Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft  in der Entwicklung nihilistischer Ideologien wie die Abart der "Punks" widergespiegelt, die die Leere zum Ausdruck bringen, in welche die Gesellschaft zunehmend gestoßen wird.
Heute erzeugt die wirtschaftliche Sackgasse, in die das kapitalistische System geraten ist, solch ein Elend, solch eine Barbarei, so daß sich einem der Eindruck einer Welt ohne Zukunft, am Rande des Zusammenbruchs aufdrängt; ein Eindruck, der sich in der ganzen Gesellschaft durchzusetzen scheint. Seitdem es seit Anfang der 80er Jahre offensichtlich geworden ist, daß die Menschheit in einer Sackgasse steckt, haben sich all die "alternativen Lösungen" des letz­ten Jahrzehnts in Luft aufgelöst. Der Utopie des "Peace and Love" der Hippie-Gemeinschaften folgte das "No Future" der Punks, der "Hooligans" und der Skinheadbanden, die in den Zentren der Großstädte die Bevölkerung terrorisieren. Nicht mehr die Liebe, der Pazifismus und die verzückte Gewaltlosigkeit der Aussteiger-Ideologien der damaligen Zeit, sondern der Haß, die Gewalt, die Lust, alles kaputtzumachen, treibt nun diese Randgruppen der Jugend an, die einer Welt ohne Hoffnung ausgeliefert sind, einer Welt, die ihnen nichts anderes anzubieten hat als die Perspektive der Arbeitslosigkeit, des Elends und einer wachsenden Barbarei.
Das gesamte gesellschaftliche Leben erstickt heute am widerlichen Verwesungsgeruch dieses Zerfalls herrschender Werte. Die Herrschaft der Gewalt, der "individuellen Cleverness", des "Jeder für sich" hat die gesamte Gesellschaft und besonders die ärmsten Schich­ten mit ihrem Alltagslos der Hoffnungslosigkeit und der Zerstörung befallen: Arbeitslose, die Selbstmord begehen, um dem Elend zu entkommen; Kinder, die vergewaltigt und getötet werden; Rentner, die wegen Kleingeld gefol­tert und umgebracht werden... Die Unsicherheit, die ständige Angst, das Gesetz des Dschungels, der Terrorismus, die sich in den großen industriellen Konzentrationen ausbreiten, sind eine himmelschreiende Manifestation des fortgeschrittenen Stadiums des Zerfalls dieser Gesellschaft.
Was die Medien angeht, so reflektieren und propagieren sie diesen Zerfall. Im Fernsehen, im Kino, die Gewalt ist allgegenwärtig, Blut und Schrecken beflecken tagtäglich die Bildschirme, selbst in den Filmen, die für Kinder bestimmt sind. Auf systematische, obsessive Weise beteiligt sich die gesamte Medienwelt an dem gigantischen Unterfangen der Volksverdummung und besonders der Verdummung der Arbeiter. Dabei sind alle Mittel recht: von der allgemeinen Inbesitznahme des Fernsehbildschirms durch sportliche Spektakel, wo sich mit Anabolika vollgepumpte "Helden" miteinander messen, bis hin zur Aufforderung, an allen möglichen Lotterien und anderen Glücksspielen teilzunehmen, mit Hilfe derer man im Austausch für die Illusion auf ein besseres Leben jenen Menschen Woche für Woche oder gar Tag für Tag Geld aus der Tasche zieht, die vom Elend erdrückt werden. Im Grunde bringt die gesamte "Kulturproduktion" heute die Fäulnis der Gesellschaft zum Ausdruck. Nicht nur das Fernsehen und das Kino, sondern auch die Literatur, die Musik, die Malerei und die Architektur wissen heute nicht weiter, als die Angst, die Verzweiflung, die Zersplitterung des Denkens, die Leere zum Ausdruck zu bringen und zu generieren.
Eine der offenkundigsten Manifestationen dieses Zerfalls heute ist die immer massenhaftere Verbreitung von Drogen. Ihr Konsum hat heute eine ganz neue Dimension angenommen, drückt er doch nicht mehr die Flucht in irgendwelche Hirngespinste aus, wie das in den 60er und 70er Jahren der Fall war, sondern eine wilde Flucht in den Wahnsinn oder in den Selbstmord. Es geht nicht mehr darum, kollektiv den Marihuana-"Joint" kreisen zu lassen und in höheren Regionen zu schweben, wenn dieser Teil der Jugend bei den härteren Drogen hängebleibt, sondern darum, sich prima zu "amüsieren", "sich einen reinzuziehen".
Und jetzt ist die ganze Gesellschaft von diesem Krebs erfaßt, nicht nur die Drogenkonsumenten. Insbe­sondere die Staatsapparate selbst sind heute von innen her von diesem Geschwür zerfressen. Nicht nur die Staaten der "Dritten Welt" wie Bolivien, Kolumbien, Peru, wo der Drogen­export heute zum wichtigsten Wirtschaftszweig geworden ist, sondern auch in den USA, die heute einer der Hauptproduzenten von Cannabis sind, mit einer Ausbeute, die nach Mais und Soja die ihrem Wert nach die drittgrößte Ernteeinnahmen generiert.
Hier erneut stößt der Kapitalismus auf einen unüber­windbaren Widerspruch. Einerseits kann das System den massenhaften Konsum von Drogen nicht tolerieren (allein der Verbrauch in den USA beträgt ca. 250 Mrd. Dollar, d.h. das Äquivalent des US-Verteidigungsetats), da er, Kriminalität, Geisteskrankheiten und Epidemien wie Aids begünstigend, vom strikt ökonomischen Standpunkt aus eine wahre Katastrophe ist. Andererseits ist der Handel mit dieser Ware eine der Hauptstützen des Staats nicht nur in den unterentwickelten Ländern wie Paraguay oder Surinam, sondern gleichermaßen des mächtigsten "demokratischen" Staates der Welt, den USA.
So werden die amerikanischen Geheimdienste zu einem beträchtlichen Teil aus den Cannabis-Exporten finanziert, was soweit geht, daß George Bush, der heute "den Kampf gegen den Drogenmißbrauch" anführt, als ehemaliger CIA-Chef direkt darin verwickelt war. Und diese Korruption, die mit dem Drogengeschäft verknüpft ist, diese Fäulnis, von der heute der kapitalistische Staat mittels der Gangstermethoden seiner Führer lebt, ist keine Besonderheit der drogenproduzierenden Länder. Alle Staaten sind heute direkt damit kontaminiert, wie erst jüngst der Skandal der Geldwäsche der "Narco-Dollars" gezeigt hat, in dem der Ehemann der Ex-Justizministerin eines so "sauberen" Landes wie der Schweiz verwickelt war.
Die Korruption des politischen Apparates der Bourgeoisie entwickelt sich übrigens nicht nur rund um die Drogen: der Fäulnisprozeß schreitet in allen Bereichen voran. Heute vergeht überall auf der Welt kein Tag, keine Woche, kein Monat, an dem nicht ein neuer "Skandal" unter Beteiligung höchster Würdenträger des Staates aufge­deckt wird (und wie üblich enthüllen diese Skandale nur einen kleinen Teil der Wirklichkeit). Beispielsweise haben wir zur Zeit in Japan eine Situation, in der praktisch alle Regierungsmitglieder, der Pre­mierminister eingeschlossen, in einer riesigen Bestechungsaffäre verwickelt sind. Die Fäulnis ist dergestalt, daß die Bourgeoisie größte Mühe hat, "repräsentable" Politiker zu finden, um die zurückgetretenen Minister zu ersetzen, und wenn sie glaubt, solch "seltenen Vogel" gefunden zu haben, einen "wirklich Unbestechlichen", dann nur, um kurze Zeit später festzustellen, daß er zu den ersten gehörte, die sich großzügig "schmieren" ließen.
Und natürlich ist Japan nicht das einzige hochentwickelte Land, das solche Ereignisse produziert. In einem Land wie Frankreich steht die Sozialistische Partei, deren Wahlkampfthemen traditionell die "großen Geldgeber" angreifen, im Mittelpunkt eines "Insidergeschäfts" (Verwendung geheimer Informationen aus der Umge­bung der Minister, um sich innerhalb weniger Stunden zu bereichern), und es ist ein enger, durch seine Kritik an den "Bestechungsgeldern" bekannt gewordener Freund des Präsi­denten, der zu denen gehört, die am meisten Geld gescheffelt haben. Übrigens ist die Börsenspekulation, die als Mittel für diese Bereicherung dient, selbst ein treibender Faktor im Fäulnisprozeß der kapitalistischen Gesellschaft, steckt doch die Bour­geoisie einen Großteil ihres Kapitals nicht in produk­tive Investitionen, sondern in "Glücksspiele", die dazu gedacht sind, eine schnelle und reiche Rendite abzuwerfen. Immer mehr gleichen die Börsen den Spielhallen von Las Vegas.
Nachdem der Kapitalismus bislang die extremsten Aus­wirkungen seiner eigenen Dekadenz auf die Länder der Peripherie (die unterentwickelten Län­der) abwälzen konnte, schlägt dieser Zerfall jetzt wie ein Bumerang in das Herz des Kapitalismus ein. Und dieser Zerfall, der heute in den großen Industrie­zentren seinen Einzug hält, spart keine gesellschaft­liche Klasse aus, keine Altersgruppe, nicht einmal die Kinder.
Bislang kannte man die Kriminalität und die Kinderkriminalität aus den "Drittwelt"-Ländern, in denen die chronische Wirtschaftsflaute seit Jahrzehnten die Be­völkerung in eine grauenhafte Verarmung und ein allgemeines Chaos stürzt. Heute sind die Kinderprostitution auf den Straßen von Manila oder die Bandenbräuche der Kinder von Bogota keine entfernten und exotischen Geißeln mehr. Selbst im Herzen der er­sten Weltmacht, im höchst entwickelten Bundesstaat der USA, in Kalifornien, tritt vor den Toren von Silicon Valley, einer Region, wo sich die fortgeschrittenste Technologie der Welt sich konzentriert, dieses Phänomen in Erscheinung. Kein anderes Bild kann die unlösbaren Widersprüche des dekadenten Kapitalismus besser verdeutlichen. Einer­seits eine gigantische Anhäufung von Reichtümern, an­dererseits eine furchtbare Verarmung, durch die heute Kinderbanden in ein selbstmörderischen Lebenswandel getrieben werden: junge Mädchen, die gerade erst die Pubertät hinter sich haben, flüchten sich in die Prostitution, wenn sie nicht auf der Suche nach einem Lebensinhalt Mütter werden, Flucht in den Drogenhandel und -konsum, wo acht- bis zehnjährige Kinder in diesen Teu­felskreis des Bandenwesens, des organisierten Tötens getrieben werden (allein in Los Angeles sind nicht weniger als 100.000 Kin­der - Bandenmitglieder, die allein im Jahr 1987 für 387 Morde verantwortlich sind - am Drogenkleinhandel beteiligt).
Aber nicht nur in den USA verbreitet der verwesende Kapitalismus jeden Tag mehr Verzweiflung und den Tod unter der jun­gen Generation. In den großen Industriezentren Westeuropas konnte man in der letzten zehn Jahren neben dem un­geheuren Anwachsen der Jugendkriminalität und der Drogenabhängigkeit bei Jugendlichen ein An­steigen der Selbstmordrate unter Jugendlichen feststellen, die katastrophale Ausmaße anhenommen hat. So ist Frankreich neben Belgien und der BRD eines der Länder, wo die Selbstmordrate bei Jugendlichen zwischen 15-24 Jahren am höchsten ist. Mit einen offiziellen Durchschnitt von 1.000 Selbstmorden pro Jahr, was 13 Prozent der Todesursachen in dieser Altersgruppe entspricht (während sie in der Gesamtbevölkerung nur 2.5 Prozent ausmachen), haben sich diese Zahlen zwischen 1960 und 1985 verdreifacht. Ohne dabei die fehlgeschlagenen Selbst­mordversuche zu zählen, die in dieser Altersgruppe 10 mal höher sind.
All diese Manifestationen des Zerfalls dieser Gesellschaft, die zuschaut, wie ihre Kinder getötet werden, spiegeln so das atembraubende Bild einer Welt wider, die in ihr eigenes Verderben versinkt. Der Kapitalismus ähnelt einem Organismus, der völlig am Ende ist und dessen künstliche Aufrechterhaltung nur über die Fäulnis seiner Organe möglich ist.

Nur das Proletariat kann die Gesellschaft aus dieser Sackgasse führen

Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft ist kein neues Phänomen. Alle dekadenten Gesellschaften der Vergan­genheit haben dieses Phänomen gekannt. Aber verglichen mit den früheren Produktionsweisen nehmen die Fäulnismanifestationen dieser Gesellschaft das Ausmaß einer in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesenen Barbarei an. Zudem ist der Kapitalismus im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften, in denen mehrere Produktionsweisen gleichzeitig in den verschiedensten Teilen der Welt bestehen konn­ten, ein weltweit bestehendes System geworden, das die ganze Welt seinen eigenen Gesetzen unterworfen hat. Daher verbreiten sich Katastrophen, die den einen oder anderen Teil des Planeten erfassen, unweigerlich auch auf die übrigen Teile, wie zum Beispiel die Ausbreitung von Krankheiten wie AIDS auf allen Kontinenten bezeugt. So droht zum ersten Mal in der Ge­schichte die gesamte Menschheit durch die Manifestierung dieses Zerfallsphänomen verschlungen zu werden. Darüber hinaus ist diese Bar­barei mit der Tatsache verbunden, daß es innerhalb des Kapitalismus keine Möglichkeit für die Entstehung der Fundamente einer neuen Gesellschaft gibt. Während in der Vergangenheit die Gesellschaftsverhältnisse wie auch die Produktionsverhältnisse einer in der Entstehung begriffenen, neuen Gesellschaft sich schon innerhalb der alten, zusammenbrechenden Gesellschaft entfalten konnten (wie dies beim Kapitalismus selbst der Fall war, der sich innerhalb der zerfallenden feudalen Gesellschaft einrichten konnte), ist dies heute nicht möglich. Die einzig mögliche Alternative ist heute der Bau einer neuen Gesellschaft - den Kommunismus - AUF DEN RUINEN DER ALTEN GESELLSCHAFT. Nur der Kommunismus kann die Be­dürfnisse der Menschheit vollkommen befriedigen, und dies dank der Reifung und Beherrschung dieser Produktivkräfte, die durch die Ge­setze des Kapitalismus unmöglich geworden sind. Und die erste Etappe dieser Erneuerung des gesell­schaftlichen Lebens kann nur der Sturz der Macht der Bourgeoisie durch die einzige Klasse sein, die heute der Menschheit eine Zukunft anbieten kann, nämlich das Weltproletariat:
"Weil die Abstraktion von aller Menschlichkeit, selbst von dem Schein der Menschlichkeit, im ausgebildeten Proletariat praktisch vollendet ist, weil in den Le­bensbedingungen des Proletariats alle Lebensbedingun­gen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlich­sten Spitze zusammengefaßt sind, weil der Mensch in ihm sich selbst verloren, aber zugleich nicht nur das theoretische Bewußtsein dieses Verlustes gewonnen hat, sondern auch unmittelbar durch die nicht mehr abzuwei­sende, nicht mehr zu beschönigende, absolut gebieteri­sche Not - den praktischen Ausdruck der Notwendigkeit - zur Empörung gegen diese Unmenschlichkeit gezwungen ist, darum kann und muß das Proletariat sich selbst befreien. Es kann sich aber nicht selbst befreien, ohne seine eigenen Lebensbedingungen aufzuheben. Es kann seine eigenen Lebensbedingungen nicht aufheben, ohne alle unmenschlichen Lebensbedingungen der heuti­gen Gesellschaft, die sich in seiner Situation zusam­menfassen, aufzuheben." (K.Marx, „Die heilige Familie“, IV. Kapitel, MEW Bd. S. 389)
Was Marx schon im vorigen Jahrhundert schrieb, in einer Epoche, als der Kapitalismus noch ein blühendes System war, trifft heute umso mehr zu. Angesichts dieses Zerfalls, der das Überleben des Menschen bedroht, kann nur das Proletariat aufgrund seiner Stellung in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen die Menschheit aus ihrer Vorge­schichte herausführen und eine wahrhaft menschliche Ge­meinschaft aufbauen.
Bislang waren die Kämpfe der Klasse, die sich seit den letzten 20 Jahren auf allen Kontinenten entwickelt hatten, in der Lage gewesen, den dekadenten Kapitalismus daran zu hindern, seine Antwort auf die Sackgasse seiner Wirtschaft durch­zusetzen: die Entfesselung der ultimativen Form seiner Barbarei, einen neuen Weltkrieg. Dennoch ist die Arbei­terklasse noch nicht in der Lage, durch revolutionäre Kämpfe ihre eigene Perspektive durchzusetzen und dem Rest der Menschheit diese Zu­kunft zu verdeutlichen, die sie in sich trägt.
Gerade diese gegenwärtige Pattsituation, in der im Augen­blick weder die bürgerliche noch die proletarische Al­ternative sich offen durchsetzen kann, liegt an der Wurzel dieses Phänomens einer kapitalistischen Gesellschaft, die stehenden Fußes verfault, und erklärt das besondere Ausmaß der Barbarei der Dekadenz dieses Systems. Und diese Fäulnis wird sich mit der unerbittlichen Verschärfung der Wirtschaftskrise weiter verschärfen.
Je stärker der Kapitalismus in seiner eigenen Dekadenz versinkt, desto heftiger wird sein Todeskampf, desto weniger wird die Arbeiterklasse der zentra­len Länder des Kapitalismus von all den zerstöreri­schen Auswirkungen der Verwesung dieses Systems verschont werden.
Insbesondere die neuen Arbeitergenerationen sind heute direkt von der Gefahr der Kontamination bedroht, die alle Schichten der Gesellschaft befällt. Die bis zum Selbstmord führende Verzweiflung, die Atomisierung und das "Jeder-für-­sich", die Drogen, die Kriminalität und alle ande­ren Erscheinungsweisen der Marginalisierung - wie die Verlumpung junger Arbeiter, die nie in den Produk­tionsprozeß integriert wurden - sind ebenfalls Geißeln, die einen Druck auf das Proletariat bis hin zur seiner Auflösung, seinem Zerfall ausüben und folglich seine Fähigkeit beeinträchtigen, wenn nicht gar in Frage stellen können, seiner historischen Aufgabe, der Sturz des Kapitalismus, gerecht zu werden.
Der ganze Zerfall, der immer mehr die jungen Genera­tionen infiziert, kann also zum tödlichen Schlag gegen die einzige Kraft werden, die die Zukunft für die Menschheit in ihren Händen hält. Auf dieselbe Weise wie die Entfesselung des ersten imperialistischen Weltkriegs im Herzen der "zivilisierten" Welt "die Frucht jahrzehntelanger Opfer und Mühen von Generationen (...) in wenigen Wochen vernichtet(e), die Kerntruppen des internationalen Proletariats (...) an der Lebenswurzel ergriff" (R. Luxemburg, Junius-Broschüre, 1915, Ges. Werke, Bd. 4, S. 163), kann der verfaulende Kapitalismus in den nächsten Jahren die "junge Blume" des Proletariats, die unsere einzige Stärke, unsere einzige Hoffnung darstellt, niedermähen.
In Anbetracht der Tragweite der Einsätze, die in dieser Lage eines Kapitalismus, der am lebendigen Leib verfault, auf dem Spiel stehen, müssen die Revolutionäre heute das Proletariat  vor der Gefahr der Erschöpfung warnen, von der es bedroht ist. Sie müssen in ihrer Intervention die Arbeiterklasse dazu aufrufen, daß sie in all diesem Zerfall, den sie tagtäglich neben all den ökonomischen Angriffen gegen ihre Lebensbe­dingungen erleidet, einen zusätzlichen Antrieb, eine noch größere Entschlossenheit findet, ihre Kämpfe zu entwickeln und die Einheit ihrer Klasse zu schmieden. Sie muß ebenfalls begreifen, daß ihre Kämpfe gegen das Elend und die Ausbeutung die Wurzel für die Abschaffung der kriegerischen Barbarei in sich tragen, und muß sich bewußt werden, daß die Weiterentwicklung, die Vereinigung ihrer Kämpfe der einzige Weg ist, um die Menschheit aus der kapitalistischen Hölle zu befreien, aus diesem kollektiven Selbstmord, in den der Zerfall dieser al­ten Welt die ganze Gesellschaft zerrt.
Die gegenwärtigen Kämpfe des Weltproletariats um seine Einheit und Klassensolidarität, insbesondere in den großen Industriekonzentrationen Westeuropas, sind der einzige Hoffnungsschimmer inmitten dieser ver­wesenden Welt. Sie allein sind in der Lage, in gewisser Weise eine Ahnung von der menschlichen Gemeinschaft zu verschaffen. Es ist die internationale Generalisierung dieser Kämpfe, die letzendlich die Keime einer neuen Welt zum Erblühen, neue gesellschaftliche Werte zur Geltung bringen kann. Und diese Werte werden sich erst dann auf die ganze Menschheit ausbreiten, wenn die Arbeiterklasse eine Welt geschaffen hat, die sich der Krisen, Kriege, Ausbeutung und all der Zer­fallserscheinungen entledigt hat. Die verzweifelte Lage, der all die nicht-ausbeutenden Teile der Gesellschaft anheimgefallen sind, kann nur dann überwunden werden, wenn die Arbeiterklasse BEWUßT für diese Per­spektive kämpft.
Und das konzentrierteste, erfahrenste Proletariat - das Proletariat Westeuropas - trägt die historische Verantwortung dafür, die Vorreiterrolle in der Weltarbeiterklasse auf ihrem Weg zu diesem Ziel zu übernehmen. Nur der Funke, der aus diesen Kämpfen hervorgehen wird, kann die Flamme der proletarischen Revolution entzünden.

Avril, 22.2.89
 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir/11/1989_zerfall [1]

Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen (Teil 2)

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Die politischen Konsequenzen der Dekadenz
des Kapitalismus

Gewerkschaftskampf, Parlamentarismus, Massenparteien, der Kampf um soziale Reformen, die Unterstützung der Kämpfe um die Bildung neuer Nationalstaaten - all dies sind keine wirksamen Kampfformen der Arbeiterklasse mehr. Die Realität der offenen Krise, von welcher der Kapitalismus erschüttert wird, die Erfahrung der sozialen Kämpfe, die von ihr erzeugt werden, lassen dies Hunderten von Millionen Proletariern auf der ganzen Welt immer deutlicher werden.
Aber wie konnten diese Kampfformen, die im vorigen Jahrhundert für die Arbeiterbewegung so wichtig gewesen waren, in das umgewandelt werden, was sie heute sind?
Es reicht nicht aus, "dagegen" zu sein. Um dauerhaft im Klassenkampf zu intervenieren, um in der Lage zu sein, die Desorientierung durch die bürgerliche Ideologie zu bekämpfen, muß man auch wissen, warum man gegen etwas ist.
Heute versuchen, entweder aus Ignoranz oder um sich das Leben leichter zu machen, einige Gruppen, die zur Schlußfolgerung gelangt sind, daß Gewerkschaftskampf, Parlamentarismus, etc. bürgerlich sind, auf dieses Problem zu antworten, indem sie Zuflucht suchen in anarchistischen oder utopischen Konzepten, die in einer marxistischen Sprache formuliert sind, um sie seriöser zu machen. Eine dieser Gruppen ist die Groupe Communiste Internationaliste (GCI).(1)
Aus der Sicht der GCI hat der Kapitalismus sich seit seinen Anfängen nicht verändert, die Kampfformen des Proletariats ebenso wenig. Warum also sollte das von revolutionären Organisationen formulierte Programm geändert werden? Dies ist die Theorie der "Invarianz" (Unveränderlichkeit).
Für diese Vorsänger der "ewigen Revolte" war der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf, der Kampf um Reformen seit jeher das, was er heute ist - Methoden, um das Proletariat in den Kapitalismus zu integrieren. Die Analyse der Existenz zweier Phasen in der Geschichte des Kapitalismus, denen unterschiedliche Kampfformen entsprechen, sei nichts anderes als eine Erfindung aus den 1930er Jahren, deren Zweck es gewesen sei, das "historische Programm zu verraten", ein Programm, das in einer quasi ewigen Wahrheit zusammengefaßt werden könne: "gewaltsame und weltweite Revolution".
Sie formulieren dies folgendermaßen:
"Diese Theoretisierung über die Eröffnung einer neuen kapitalistischen Phase, die Niedergangsphase, macht es so im Nachhinein möglich, eine formale Kohärenz aufrechtzuerhalten zwischen den 'Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts' (es handelt sich hier natürlich um bürgerliche 'Errungenschaften' der Sozialdemokratie: Gewerkschaften, Parlamentarismus, Nationalismus, Pazifismus, 'der Kampf um Reformen', der Kampf um die Eroberung des Staats, die Ablehnung der revolutionären Aktion...) und, in Anbetracht des 'Epochenwechsels' (eine klassische Argumentationsweise, um all die Revisionen-Verrätereien am historischen Programm zu rechtfertigen), dem Auftreten 'neuer Taktiken', die dieser 'neuen Phase' eigen seien und von der Verteidigung des 'sozialistischen Vaterlandes' durch die Stalinisten über das 'Übergangsprogramm' Trotzkis bis hin zur Ablehnung der gewerkschaftlichen Form des Kampfes zugunsten der 'ultra-linken' Räte (siehe Pannekoek, Die Arbeiterräte) reichten. Alle betrachten die Vergangenheit auf unkritische Weise, insbesondere den sozialdemokratischen Reformismus, der im Handumdrehen gerechtfertigt wird, da er 'in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus' stattgefunden habe...
Was die Kommunisten angeht, so sind sie abermals die 'Iguanodone der Geschichte'(2), jene, für die sich nichts grundsätzlich geändert hat, jene, für die die 'alten Methoden' des direkten Kampfes, Klasse gegen Klasse, der gewaltsamen und weltweiten Revolution, des Internationalismus und der Diktatur des Proletariats gültig bleiben - gestern, heute und morgen."
(LE COMMUNISME, Nr. 23)
Die GCI präzisiert:
"Der Ursprung der Dekadenztheorien (Theorien des 'Epochenwechsels' und der 'Eröffnung einer neuen kapitalistischen Phase', nämlich die ihres 'Niedergangs'...) befindet sich 'eigenartigerweise' in den 1930er Jahren, als Stalinisten (Varga), Trotzkisten (Trotzki selbst), gewisse Sozialdemokraten (Hilferding, Sternberg...) und Akademiker (Grossmann) Theorien darüber formulierten. Nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 begannen einige Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution, Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen." (ebenda)
Es ist schon eine Kunst, soviel Absurditäten in so wenigen Zeilen auszudrücken. Lassen wir zunächst dieses Potpourri beiseite, auf das die GCI sich so häufig bezieht und das überhaupt nichts zur Debatte beiträgt, sondern nur die Oberflächlichkeit ihrer eigenen Argumentationsweise aufdeckt. Die internationale kommunistische Linke (Pannekoek) und die Stalinisten (Varga) in einen Sack zu stecken, weil sie von der Dekadenz des Kapitalismus sprachen, ist ebenso Unfug, wie die Revolution und die Konterrevolution gleichzustellen, nur weil die beiden Begriffe den Klassenkampf behandeln.


Die Ursprünge der Dekadenztheorie

Fangen wir zunächst mit dem an, was eine platte Lüge ist oder im besten Fall Ausdruck der gröbsten Unkenntnis der Arbeiterbewegung: der GCI zufolge war in den 1930er Jahren "im Nachhinein" und auf "eigenartige" Weise die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus entwickelt worden. Wer ein wenig die Geschichte der Arbeiterbewegung und insbesondere des Kampfes gegen den Reformismus kennt, der von der revolutionären Linken in der Sozialdemokratie und in der Zweiten Internationalen geführt wurde, weiß, daß das nicht stimmt.
In dem Artikel "Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen" haben wir ausführlich aufgezeigt, wie die Idee des Vorhandenseins zweier Phasen - einer "aufsteigenden" Phase, in der die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die wirtschaftliche und globale Entwicklung der Gesellschaft anregen, und einer "dekadenten" Phase, wo diese Verhältnisse zu einer "Fessel" für diese Entwicklung werden und eine "Epoche der Revolution" eröffnet wird - im Mittelpunkt der materialistischen Betrachtungsweise der Geschichte steht, wie sie von Marx und Engels von 1847 an im Kommunistischen Manifest und danach definiert wurde. Wir haben darauf hingewiesen, daß die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus einen Kampf gegen all die utopistischen, anarchistischen Strömungen führten, die bewußt eine solche Unterscheidung der historischen Phasen außer Acht ließen und in der kommunistischen Revolution ein ewig gültiges Ideal sahen, das jederzeit verwirklicht werden könne, und nicht eine Umwälzung, die allein durch die Entwicklung der Produktivkräfte und ihrem Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen historisch notwendig und möglich wird.
Aber Marx und Engels mußten vor allem jene bekämpfen, die nicht sahen, daß der Kapitalismus sich noch in seiner aufsteigenden Phase befand. Gegen Ende des Jahrhunderts mußte sich die die Linke der Sozialdemokratie - insbesondere durch die Stimme Rosa Luxemburgs - mit der gegenläufigen Tendenz der Reformisten auseinandersetzen, die beharrlich leugneten, daß sich der Kapitalismus der Phase seiner Dekadenz näherte. So schrieb Rosa Luxemburg 1898 in "Reform oder Revolution":
"Hat die Entwicklung der Industrie ihren Höhepunkt erreicht und beginnt für das Kapital auf dem Weltmarkt der 'absteigende Ast', dann wird der gewerkschaftliche Kampf doppelt schwierig: Erstens verschlimmern sich die objektiven Konturen des Marktes für die Arbeitskraft, indem die Nachfrage langsamer, das Angebot aber rascher steigt, als es jetzt der Fall ist; zweitens greift das Kapital selbst, um sich für die Verluste auf dem Weltmarkt zu entschädigen, auf die dem Arbeiter zukommende Portion des Produktes zurück (...) England bietet uns bereits das Bild des beginnenden zweiten Stadiums in der gewerkschaftlichen Bewegung. Sie reduziert sich aber notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, und auch diese wird immer schwieriger." ("Sozialreform oder Revolution", R. Luxemburg, 1899, Ges. Werke, Bd. 1/1, S. 391)
Diese Zeilen wurden nicht "im Nachhinein" - wie es die GCI behauptet - geschrieben, und auch nicht nachdem der Erste imperialistische Weltkrieg den unwiderlegbaren Beweis gebracht hatte, daß der Kapitalismus endgültig in die dekadente Epoche eingetreten war. Diese Zeilen wurden fünfzehn Jahre zuvor verfaßt. Und Rosa Luxemburg begann eindeutig die politischen Konsequenzen - hier in Bezug auf die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Arbeit - zu erkennen, die solch ein "Epochenwechsel" für die Arbeiterbewegung zur Folge hat.
Die GCI behauptet, daß "nach der Niederlage der revolutionären Welle von 1917-23 (...) einige Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution (begannen), Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen".
Die GCI ist sich offensichtlich nicht im Klaren darüber, daß inmitten dieser revolutionären Welle die III. Internationale gegründet wurde, deren Grundlage die Analyse des Eintritts des Kapitalismus in seine neue Phase war:
"Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats." (Manifest der Kommunistischen Internationalen) Und innerhalb dieser Kommunistischen Internationalen führte die kommunistische Linke ihrerseits den Kampf gegen die Mehrheitstendenzen, die nicht alle politischen Konsequenzen für die Kampfformen des Proletariats in dieser neuen historischen Epoche verstanden hatten.
Die deutsche kommunistische Linke, die KAPD, nahm beispielsweise auf dem Dritten Kongreß der KI 1921 folgendermaßen dazu Stellung:
„Das Proletariat dazu aufzufordern, sich im Zeitalter der kapitalistischen Dekadenz an den Wahlen zu beteiligen, heißt innerhalb des Proletariats die Illusion verstärken, dass die Krise durch parlamentarische Mittel überwunden werden könnte."
In den 1930er Jahren waren es nicht nur die "Ausgeburten des Sieges der Konterrevolution", sondern auch die proletarische Avantgarde, die sich bemühte, die Lehren aus der vergangenen revolutionären Welle zu ziehen, und "Theorien über eine lange Periode 'Stagnation' und des 'Niedergangs' aufzustellen". So schrieb die Zeitschrift BILAN, hinter der sich Elemente der kommunistischen Linken Italiens, Belgiens und Frankreichs zusammengetan hatten:
"Die kapitalistische Gesellschaft kann infolge des Wesens der ihrer Produktionsform innewohnenden Widersprüche ihre historische Aufgabe nicht mehr erfüllen: die Produktivkräfte entwickeln und die Produktivität der menschlichen Arbeit kontinuierlich und fortschreitend weiterzuentwickeln. Der Zusammenprall zwischen den Produktivkräften und ihrer privaten Aneignung, der zuvor nur sporadisch war, ist permanent geworden; der Kapitalismus ist in seine allgemeine Zerfallskrise eingetreten." (Mitchell, BILAN, Nr. 11, Sept. 1934)(3)
Die GCI ignoriert oder verfälscht die Geschichte der revolutionären Bewegung. In beiden Fällen beweisen ihre Behauptungen über den "Ursprung der Dekadenztheorien" die Bodenlosigkeit ihrer Argumentation und die Unseriosität ihrer Methode.


Die Invarianz des Programms oder: "Der Marxismus der Dinosaurier"

Befassen wir uns mit dem Argument der GCI, demzufolge es "Verrat am historischen Programm" bedeutet, wenn man einer Änderung der Kampfmethoden des Proletariats das Wort redet.
Das Programm einer politischen Bewegung fußt auf der Definition einer Gesamtheit von Mitteln und Zielen, die diese Bewegung vorschlägt. In diesem Sinn beinhaltet das kommunistische Programm Elemente, die tatsächlich seit dem "Kommunistischen Manifest" ständig vorhanden waren, dessen Abfassung den Revolutionen von 1848 entsprach, in denen das Proletariat zum ersten Mal als eigenständige politische Kraft auf der Bühne der Geschichte trat. Das Gleiche trifft auf die Definition des allgemeinen Ziels - die kommunistische Weltrevolution - oder des Hauptmittels zur Erreichung dieses Ziels - der Klassenkampf und die Diktatur des Proletariats - zu.
Aber das kommunistische Programm ist nicht nur dies. Es beinhaltet ebenso die unmittelbaren Ziele und die konkreten Mittel zu ihrer Durchsetzung, die Organisationsformen, die Kampfformen, die notwendig sind, um das Endziel zu erreichen.
Diese konkreten Elemente werden direkt durch die konkrete historische Situation vorbestimmt, innerhalb derer der Klassenkampf stattfindet.
"Ist unser Programm einmal die Formulierung der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus, dann muß es offenbar auch alle Übergangsphasen dieser Entwicklung formulieren, in sich in den Grundzügen enthalten, also auch das entsprechende Verhalten im Sinne der Annäherung zum Sozialismus in jedem Moment anweisen können. Daraus folgt, daß es überhaupt für das Proletariat KEINEN AUGENBLICK geben kann, in dem es gezwungen wäre, sein Programm im Stiche zu lassen, oder wo es von diesem Programm im Stiche gelassen werden könnte." ("Sozialreform oder Revolution", Luxemburg, Bd. 1/1, S. 433)
Aus der Sicht der GCI läßt das kommunistische Programm dies alles außer Acht; es beschränkt sich allein auf den Kampfruf:"Man muß die Weltrevolution immer und überall machen". Darauf beschränkt, könnte das Programm als unabänderlich aufgefaßt werden; aber in diesem Fall wäre es nicht mehr ein Programm, sondern eine Absichtserklärung.
Was die praktische Anwendung angeht, falls dieses "Programm" eine hätte, ließe sie sich darin zusammenfassen, daß die Proletarier in die Endschlachten geschickt werden, unabhängig von den jeweiligen historischen Bedingungen und Kräfteverhältnissen. Mit anderen Worten: es ist der Weg ins Massaker.
Marx hatte diese Art von Tendenzen schon innerhalb des Bundes der Kommunisten bekämpft:
„Während wir den Arbeitern sagen: Ihr habt 15,20,50 Jahre Bürgerkriege und Völkerkämpfe durchzumachen, nicht nur um die Verhältnisse zu ändern, sondern um euch selbst zu ändern und zur politischen Herrschaft zu befähigen, sagt ihr im Gegenteil: Wir müssen gleich zur Herrschaft kommen oder wir können uns schlafen legen." (15.09.1850).
Ein Programm, das nicht versucht, die Besonderheiten einer jeden historischen Situation und die entsprechenden proletarischen Verhaltensweisen zu definieren, ist nichts wert.
Außerdem wird das kommunistische Programm ständig durch die Praxis des Klassenkampfes bereichert. Entscheidende Fragen wie die Unmöglichkeit für das Proletariat, den bürgerlichen Staat zu seinem Gunsten zu erobern, oder die Kampf- und Organisationsformen des Proletariats für die Revolution haben infolge von Erfahrungen, wie die Pariser Kommune 1871 oder die Russische Revolution von 1905, Änderungen im kommunistischen Programm zur Folge gehabt.
Die Verweigerung jeglicher Modifikationen am Programm, der ständigen Bereicherung, bezogen auf die Evolution der objektiven Bedingungen, und der praktischen Erfahrungen der Klasse bedeutet nicht, dem Programm "treu zu bleiben", sondern es zu zerstören und in Gesetzestafeln zu verwandeln. Die Kommunisten sind keine Dinosaurier, und ihr Programm ist kein Fossil.
Das kommunistische Programm zu bereichern, es zu modifzieren, wie es die konsequentesten Revolutionäre stets gemacht haben, um sich in die Lage zu versetzen, auf jede allgemeine historische Situation eine Antwort zu haben, um die Ergebnisse der revolutionären Praxis zu integrieren, heißt nicht, das "Programm zu verraten", sondern ist die einzig konsequente Haltung, um aus ihm ein wirkliches Werkzeug für die Klasse zu machen.(4)


Der idealistische Standpunkt des Anarchismus und die marxistische Methode

Für die GCI besteht das schlimmste Verbrechen der "Dekadentisten" darin, "aus einer formellen Kohärenz mit den 'Errungenschaften der Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts' eine Theorie zu machen." Und die GCI präzisiert: "Es handelt sich hier wohlgemerkt um bürgerliche 'Errungenschaften' der Sozialdemokratie". Die Hauptgefahr der Dekadenztheorie bestehe darin, "die vergangene Geschichte und hauptsächlich den sozialdemokratischen Reformismus unkritisch zu gutzuheißen, der im Handumdrehen gerechtfertigt wird, indem er in der 'aufsteigenden Phase des Kapitalismus' lokalisiert wird".
Die GCI sagt: "Die historische Funktion der Sozialdemokratie ist es nicht, den Kampf für die Zerstörung des Systems zu organisieren (was das invariante Programm der Kommunisten ist), sondern die durch die Konterrevolution atomisierten Arbeitermassen zu organisieren und zu erziehen, damit sie bestmöglich am System der Lohnsklaverei teilnehmen." (LE COMMUNIST, Nr. 23, S. 18)
Wir werden in einem zukünftigen Artikel eingehender auf die Klassennatur der Sozialdemokratie und der II. Internationalen um die Jahrhundertwende zurückkommen. Um aber darüber sprechen zu können, muß man zunächst auf die absurde Simplifizierung der GCI antworten, derzufolge sich für den Arbeiterkampf seit seinen Anfängen "nichts geändert habe".
Die GCI wirft der Soziademokratie tatsächlich vor, nicht "den Kampf für die Zerstörung des Systems (was das invariante Programm der Kommunisten ist)" organisiert zu haben, sondern den gewerkschaftlichen, parlamentarischen Kampf für Reformen, der nie etwas anderes gewesen sei als ein Mittel, um die Arbeiter zur Mitwirkung im System zu bewegen.
Aber die gewerkschaftliche Arbeit oder den Parlamentarismus abzulehnen, weil es sich um Kampfformen handelte, die nicht sofort zur "Zerstörung des Systems" führen, ist eine rein idealistische Vorgehensweise, die sich nur auf ewige Ideale stützt und nicht auf die konkrete Wirklichkeit der objektiven Bedingungen des Klassenkampfes. So faßt man die Arbeiterklasse nur als "revolutionäre" Klasse auf und vergißt dabei, daß sie im Gegensatz zu allen anderen Klassen der Vergangenheit auch eine ausgebeutete Klasse ist.
Der Kampf für unmittelbare Forderungen und der revolutionäre Kampf sind zwei Momente ein und desselben Kampfes der Arbeiterklasse gegen das Kapital; der Kampf um die Zerstörung des Kapitalismus ist nichts anderes als die konsequente Durchführung des Kampfs für unmittelbare Forderungen gegen die Angriffe des Kapitals bis zu seiner letzten Konsequenz. Diese beiden Aspekte des Kampfes sind jedoch nicht identisch. Und man kann nur zu einer vollkommen hohlen Auffassung des Arbeiterkampfes kommen, wenn man diesen doppelten Charakter außer Acht läßt.
Jene, die, wie die Reformisten, in der Arbeiterklasse lediglich ihren Charakter als ausgebeutete Klasse sehen und ihren Kampf nur als Kampf um unmittelbare Forderungen betrachten, haben eine statische, unhistorische, bornierte Auffassung. Doch jene, die in der Arbeiterklasse nur eine revolutionäre Klasse sehen, dabei ihren Charakter als Ausgebeutete und folglich den unmittelbaren Charakter des gesamten Arbeiterkampfes ignorierend, sprechen von einem Phantom.
Als die marxistischen Revolutionäre die Form des gewerkschaftlichen oder parlamentarischen Kampfes in der Vergangenheit verwarfen, geschah dies niemals im Namen dieses hohlen und klassenlosen Radikalismus, der den Anarchisten zueigen ist und der Bakunin 1869 dazu veranlasste, im "Revolutionären Katechismus" zu schreiben, daß die Organisation "alle ihre Mittel und ihre ganze Kraft darauf lenken (muß), die Not und die Leiden des Volkes zu steigern und zu intensivieren, bis schließlich seine Geduld erschöpft ist und es zu einem allgemeinen Aufstand getrieben wird".
Der Anarchismus stützt sich auf den Standpunkt eines Ideals der abstrakten "Revolte". Für die Tageskämpfe der Arbeiterklasse hat er nur eine "souveräne Verachtung" übrig, wie Marx in "Das Elend der Philosophie" über Proudhon schrieb. Der Marxismus geht vom Standpunkt einer Klasse und ihrer Interessen, sowohl der historischen wie der unmittelbaren, aus. Wenn die revolutionären Marxisten zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Gewerkschaftsarbeit, der Parlamentarismus, der Kampf um Reformen nicht mehr gültig sind, dann geschieht das nicht, weil sie damit den Kampf um Forderungen aufgegeben hätten, sondern weil sie wissen, daß dieser Kampf nicht mehr erfolgreich und wirksam sein kann, wenn er sich der alten Formen bedient.
Dies war die allgemeine Herangehensweise Rosa Luxemburgs, als sie davon ausging, daß mit dem Eintritt des Kapitalismus in seine "dekadente Phase" der Gewerkschaftskampf "doppelt schwierig" werden würde, als sie feststellte, daß die Gewerkschaftsbewegung im fortgeschrittensten Land in dieser Epoche, Großbritannien, „sich dabei notgedrungen immer mehr auf die bloße Verteidigung des bereits Errungenen, auch diese wird immer schwieriger, reduziert" (Sozialreform oder Revolution, S. 392).
Dies war auch die Vorgehensweise der KAPD, als sie die Teilnahme an den Wahlen ablehnte, nicht weil "Wahlen schmutzig sind", sondern weil die Mittel des Parlamentarismus nicht mehr dazu dienten, den Auswirkungen der Krise des Kapitalismus, d.h. dem Elend der Arbeiterklasse, zu trotzen.
Solange die Entwicklung des Kapitalismus mit einer dauerhaften Verbesserung der Existenzbedingungen der Arbeiterklasse einherging, solange der Staat keine totalitäre Macht über das gesellschaftliche Leben ausübte, konnten und mußten die Tageskämpfe gewerkschaftliche und parlamentarische Formen annehmen. Die objektiven Bedingungen, als der Kapitalismus seinen historischen Höhepunkt erreichte, schufen eine Art wirtschaftliches und politisches Terrain, auf dem die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse mit den Bedürfnissen der Entwicklung eines Kapitals zusammenfielen, das weltweit expandierte und einen reellen Profit erzielte.
Es ist illusorisch zu glauben, daß solch eine Situation endlos andauern würde, was Grundlage für die Entwicklung des "Reformismus" ist - diese bürgerliche Ideologie innerhalb der Arbeiterbewegung, derzufolge die kommunistische Revolution unmöglich und nur eine fortschrittliche Reform des Kapitalismus zugunsten der Arbeiterklasse durchführbar sei.
Vom marxistischen Standpunkt aus hat die Ablehnung des Kampfes für Reformen im Kapitalismus - letztendlich - stets auf der Unmöglichkeit derselben gestützt. Rosa Luxemburg formulierte dies 1898 mit den folgenden Worten:
„Der Arbeiterschutz z.B. liegt ebenso im unmittelbaren Interesse der Kapitalisten als Klasse wie der Gesellschaft im ganzen. Aber diese Harmonie dauert nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung. Hat die Entwicklung einen bestimmten Höhepunkt erreicht, dann fangen an die Interessen der Bourgeoisie als Klasse und die der ökonomischen Evolution auch im kapitalistischen Sinne auseinanderzugehen." ("Reform oder Revolution", ebenda, S. 395).
Was sich mit dem Eintritt des Kapitalismus in die Phase seiner Dekadenz geändert hat, das ist die Unmöglichkeit, echte, dauerhafte Verbesserungen zu erlangen. Aber dies fand nicht isoliert statt. Die Dekadenz des Kapitalismus ist auch ein Synonym für den Staatskapitalismus, für das Aufblähen des Staatsapparats, der die Existenzbedingungen der Arbeiterklasse völlig umgewälzt hat.
Wir können hier nicht all die Aspekte der Umwälzung aufgreifen, die der Eintritt des Kapitalismus in eine neue historische Phase für das gesellschaftliche Leben im allgemeinen und für den Klassenkampf im besonderen beinhaltete. Wir verweisen den Leser auf den Artikel "Der Kampf des Proletariats im dekadenten Kapitalismus" (in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 8).
Was uns als wichtig zu betonen erscheint, ist die Tatsache, daß für die Marxisten die Formen des Kampfes der Arbeiterklasse von den objektiven Bedingungen abhängen, unter denen dieser stattfindet, und nicht von abstrakten Prinzipien der ewigen Revolte.
Nur indem man sich auf die objektive Analyse des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen stützt, das in seiner historischen Dynamik erfaßt werden muß, kann man die Richtigkeit einer Strategie, einer Kampfform überprüfen. Außerhalb dieser materiellen Basis bewegt sich jede Stellungnahme zu den Mitteln des proletarischen Kampfes auf dünnem Eis; es öffnet die Tür zur Orientierungslosigkeit, sobald die oberflächlichen Formen der "ewigen Revolte" - die Gewalt, die Anti-Legalität - in Erscheinung treten.
Die GCI ist dafür eine offenkundige Manifestation. Wenn man nicht versteht, warum bestimmte Kampfformen im aufsteigenden Kapitalismus gültig waren, begreift man auch nicht, warum sie es nicht mehr im dekadenten Kapitalismus sind. Dadurch, daß sich ihre politischen Maßstäbe nur auf ein "Gegen-alles-sein-was-an-die-Sozialdemokratie-erinnert" stützten, dadurch, daß sie glaubt, daß die "Anti-Demokratie" ein ausreichender Maßstab ist, meint die GCI zu der Einschätzung zu kommen, daß eine Organisation wie die stalinistischen nationalistischen Guerillas Perus, der "Leuchtende Pfad", aufgrund ihrer Bewaffnung und ihrer Weigerung, sich an den Wahlen zu beteiligen, "zunehmend als die einzige Struktur erscheint, die den immer mehr zunehmenden direkten Aktionen des Proletariat in den Städten und auf dem Land eine Kohärenz verschafft, während all die anderen Gruppen der Linken sich objektiv gegen all die Interessen der Arbeiter im Namen der Verurteilung des Terrorismus im allgemeinen und der Verteidigung der Demokratie insbesondere vereinigen" (LE COMMUNISME, Nr. 25, S. 48-49).
Die GCI konstatiert, daß "all die Dokumente, die der Leuchtende Pfad veröffentlicht hat, auf striktester stalinistisch-maoistischer Grundlage fußen" und daß dieser meint, der Kampf in Peru finde in dem "gegenwärtigen Zeitraum des Anti-Imperialismus und anti-feudalen Kampfes statt". Aber dies hält die GCI nicht von der Schlußfolgerung ab: "Wir haben keine Anlaß, um den Leuchtenden Pfad (oder die PCP, wie er sich selbst beschreibt) als eine bürgerliche Organisation im Dienste der Konterrevolution zu betrachten." (ebenda)
Was der GCI zur Einschätzung des Klassencharakters einer politischen Organisation oder jeder anderen Wirklichkeit des Klassenkampfes fehlt, sind nicht "Anlässe", sondern die marxistische Methode, die materialistische Geschichtsauffassung -, in der die Vorstellung von historischen Phasen eines Systems (aufsteigende und niedergehende) ein unverzichtbarer Bestandteil ist.

RV

Fußnoten:
(1) Siehe Artikel in INTERNATIONALE REVUE, Nr.10 „Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen".
(2)Iguanodon: fossiles Dinosaurierreptil, das in der Kreidezeit lebte.
(3) Die GCI erkennt in einer kurzen Notiz in dem erwähnten Artikel an, dass Luxemburg, Lenin und Bukharin in der Tat „Dekadenztheorien" vertreten haben. Aber sie behauptet, dass es ihnen nicht darum ging, „eine Phase von mehr als 70 Jahren zu definieren". Das ist wiederum eine Verfälschung: aus der Sicht der Linken in der 2. Internationale, die auch die 3. Internationale gründete, war das Stadium, in das der Kapitalismus eingetreten war, nicht mehr ein weiteres unter vielen, dem neue, aufsteigende folgen würden. Für sie alle war die neue Epoche eine „letzte Phase", die „höchste Stufe" des Kapitalismus, aus der es keinen anderen Ausweg für die Gesellschaft mehr geben würde als Barbarei oder Sozialismus.
(4) Gegen all die religiösen Einstellungen gegenüber dem lebendigen Instrument einer lebendigen Klasse berufen wir uns auf die Einstellung von Marx und Engels, die nach der Pariser Kommune erklärten, dass ein Teil des Kommunistischen Manifests überholt sei; auf die von Lenin, der 1917 in den Aprilthesen darauf bestand, dass ein Teil des Programms der Partei neu gefasst werden müsste.


Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir11/1989_poldekadenz [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/1356/internationale-revue-nr-11

Links
[1] https://de.internationalism.org/ir/11/1989_zerfall [2] https://de.internationalism.org/ir11/1989_poldekadenz [3] https://de.internationalism.org/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus