Veröffentlicht auf Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Startseite > Weltrevolution - 2010s > Weltrevolution - 2012 > Weltrevolution Nr. 170

Weltrevolution Nr. 170

  • 2345 Aufrufe

Der Kapitalismus ist bankrott Wir müssen ihn überwinden !

  • 2414 Aufrufe

Vor gar nicht allzu langer Zeit stießen die Revolutionäre nur auf Skepsis oder man machte sich lustig über sie, wenn sie behaupteten, dass das kapitalistische System sich auf den Abgrund zubewege. Heute müssen die innigsten Verfechter des Kapitalismus eingestehen, « Wir stecken mitten drin im Chaos » (Jacques Attali, ehemaliger enger Mitarbeiter des verstorbenen französischen Präsidenten Mitterand und gegenwärtiger Berater von Präsident Sarkozy). « Vielleicht sind Sie sich nicht dessen bewusst, dass dieses System innerhalb von ein paar Tagen oder Wochen zusammenbrechen könnte. Es wäre der Weltuntergang. Wir bewegen uns auf eine soziale Revolution zu. » (Jean-Pierre Mustier, Bankdirektor bei der französischen Großbank Société Générale). Diese Verteidiger des Kapitalismus kostet es Überwindung zu bekennen, dass die von ihnen so verherrlichte Gesellschaft auf dem Sterbebett liegt. Sie sind natürlich bestürzt darüber und dies umso mehr, da sie feststellen müssen, dass deren Rettungsversuche des Systems erfolglos sind. Die Verteidiger dieses Systems haben keine Lösung anzubieten.

Natürlich können die Leute, die trotz ihres schonungslosen Eingeständnisses hinsichtlich der Perspektiven des Systems meinen, es könne kein anderes System geben, nicht mit einer wirklichen Lösung der Katastrophe aufwarten, vor der heute die Menschheit steht. Denn für die Widersprüche des Kapitalismus gibt es keine Lösung innerhalb des Systems. Die Widersprüche, vor denen dieses Systems steht, sind nicht auf « Misswirtschaft » durch diese oder jene Regierung oder durch die Finanzwirtschaft zurückzuführen, sondern auf die Gesetze des Systems selbst. Nur indem wir den Rahmen dieser Gesetze überwinden, den Kapitalismus durch eine andere Gesellschaft ersetzen, kann die Menschheit der Katastrophe entgehen, in welche sie immer mehr versinkt.

Die einzige Lösung: die Menschheit von der Geißel des Kapitalismus befreien

Genauso wie alle vorhergehenden Gesellschaften wie die Sklavenwirtschaft und der Feudalismus ist der Kapitalismus kein ewig bestehendes System. Die Sklavenwirtschaft herrschte in der Antike, weil sie dem damaligen Niveau der landwirtschaftlichen Produktionstechnik entsprach. Als diese sich weiter entwickelte und von den Produzenten eine größere Aufmerksamkeit erforderlich wurde, geriet die Gesellschaft in eine tiefgreifende Krise (zum Beispiel die römische Dekadenz). An deren Stelle trat der Feudalismus, wo der Leibeigene an seine Scholle gefesselt wurde und seinem Grundbesitzer zu dienen und einen Teil seiner Ernte abzuliefern hatte. Am Ende des Mittelalters war dieses System wiederum veraltet; es stürzte die Gesellschaft in eine neue historische Krise. An deren Stelle trat der Kapitalismus, der  nicht auf der kleinen landwirtschaftlichen Produktion fußte, sondern auf Handel, assoziierter Arbeit und der Großindustrie, die wiederum erst möglich wurden dank des Fortschritts der Technik (z.B. der Dampfmaschine). Heute ist der Kapitalismus im Gegenzug aufgrund seiner ihm eigenen Gesetze historisch überholt. Und er muss ebenso ersetzt werden.

Aber welche Gesellschaft soll an dessen Stelle treten? Dies ist DIE sehr beängstigende Frage, welche sich eine immer größere Zahl von Leuten stellt, die sich dessen bewusst werden, dass das gegenwärtige System keine Zukunft mehr hat und die Menschheit in den Abgrund der Verarmung und der Barbarei treibt. Niemand kann genau vorhersehen, wie im Einzelnen diese zukünftige Gesellschaft aussehen könnte, aber eins ist sicher: Sie muss an erster Stelle die Produktion für einen Markt abschaffen; stattdessen muss die Produktion mit dem alleinigen Ziel der Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse erfolgen. Heute werden wir mit dieser Absurdität konfrontiert, dass überall auf der Welt die absolute Verarmung zunimmt, die Mehrheit der Bevölkerung gezwungen ist, immer mehr Verzicht zu leisten, nicht weil das System nicht ausreichend produzieren würde, sondern im Gegenteil – es wird zu viel produziert. Man zahlt den Bauern Entschädigungen, damit sie ihre Produktion reduzieren, man schließt Betriebe, schmeißt massenhaft Beschäftigte auf die Straße, sehr viele Jugendliche werden zur Arbeitslosigkeit verdammt, selbst wenn sie lange Studien- und Ausbildungszeiten hinter sich haben, und gleichzeitig zwingt man die Ausgebeuteten immer mehr dazu, den Gürtel enger zu schnallen. Not und Elend sind nicht die Folge eines Mangels an Arbeitskräften oder an Produktionsmitteln. Nein, sie sind die Auswirkungen einer Produktionsweise, die zu einer Kalamität für die ganze Menschheit geworden ist. Nur indem radikal die Produktion für den Markt überwunden wird, nur indem der Markt überhaupt abgeschafft wird, kann die Produktionsform, die den Kapitalismus ersetzen muss, verwirklicht werden: Jeder nach seinen Möglichkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.

Aber wie kann solch eine Gesellschaft aufgebaut werden? Welche Kraft in der Gesellschaft ist in der Lage, solch eine Umwälzung des Lebens der ganzen Menschheit in Angriff zu nehmen?

Es liegt auf der Hand, dass solch eine Umwälzung nicht durch die Kapitalisten und die bestehenden Regierungen angestoßen werden kann, weil diese ALLE – unabhängig von ihrer politischen Couleur – dieses System und die damit für sie gegebenen Privilegien verteidigen. Nur die ausgebeutete Klasse im Kapitalismus, die Klasse der Lohnabhängigen, die Arbeiterklasse, kann solch eine Umwälzung bewerkstelligen. Diese Klasse ist nicht die einzige, die unter Armut, Ausbeutung und Unterdrückung leidet. Überall auf der Welt gibt es unzählige kleine Bauern, die ebenso ausgebeutet werden und oft unter noch größerer Armut leben als die ArbeiterInnen in dem jeweiligen Land. Aber deren Stellung in der Gesellschaft ermöglicht es ihnen nicht, den Aufbau der neuen Gesellschaft in Angriff zu nehmen, obwohl sie auch an solch einer Umwälzung interessiert wären. Zunehmend durch dieses System in den Ruin getrieben, neigen diese kleinen Produzenten dazu, das Rad der Geschichte zurückdrehen, zu den ‘gesegneten’ Zeiten zurückkehren zu wollen, als sie noch von ihrer eigenen Arbeit leben konnten, und als die großen Agrar- und Lebensmittelmultis ihnen noch nicht den Hals zudrehten. Bei den lohnabhängig Produzierenden des modernen Kapitalismus verhält es sich anders. Die Wurzel ihrer Ausbeutung und ihrer Misere ist die Lohnarbeit, d.h. die Tatsache, dass sich die Produktionsmittel in den Händen der Kapitalisten (egal ob im Privat- oder Staatsbesitz) befinden, und das einzige Mittel zum Broterwerb und um ein Dach über dem Kopf zu haben darin besteht, ihre Arbeitskraft den Kapitalisten zu verkaufen. Die Abschaffung der Ausbeutung verlangt somit die Überwindung der Lohnarbeit, d.h. der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft. Mit anderen Worten es gibt eine tiefgreifende Bestrebung der Klasse der lohnabhängigen Produzenten – obwohl sich die Mehrheit der ArbeiterInnen dessen noch nicht bewusst ist – zur Überwindung dieser Trennung zwischen Produzenten und Produktionsmitteln, die den Kapitalismus auszeichnet, und die Warenbeziehungen, durch welche sie ausgebeutet werden,  abzuschaffen, und die immer wieder als Rechtfertigung für all die Angriffe auf ihre Lebensbedingungen benutzt werden, weil man den Kapitalisten zufolge « wettbewerbsfähig » sein müsse. Die Arbeiterklasse muss also die Kapitalisten enteignen, gemeinsam die Produktion auf der ganzen Welt in die eigene Hand nehmen, um die Bedürfnisse der Menschheit tatsächlich zu befriedigen. Dies wäre eine wirkliche Revolution. Dabei wird diese aber unvermeidbar mit all den Organen zusammenstoßen, die der Kapitalismus zu seinem Schutz und zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft geschaffen hat, in erster Linie die Staaten, die Repressionskräfte, aber auch den gesamten ideologischen Apparat, der den Ausgebeuteten jeden Tag eintrichtern soll, es gebe keine Alternative gegenüber dem Kapitalismus. Die herrschende Klasse ist fest entschlossen, mit allen Mitteln diese große gesellschaftliche Revolution zu verhindern, vor denen die Herrschenden alle Heidenangst haben.

Die Aufgabe ist zugegebenermaßen gewaltig. Die Kämpfe der jüngsten Zeit gegen die Zuspitzung der Armut in Ländern wie Griechenland oder Spanien sind nur die erste Etappe, die notwendig ist für die Vorbereitung des Proletariats zur Überwindung des Kapitalismus. In ihren Kämpfen, in ihrer Solidarität, in ihrer Vereinigung, in ihrer Bewusstwerdung über die Notwendigkeit und Möglichkeit der Überwindung eines immer bankrotteren Systems, werden die Ausgebeuteten die notwendigen Waffen schmieden für die Überwindung des Kapitalismus und den Aufbau einer von Ausbeutung, Armut , Hunger und Kriegen befreiten Gesellschaft.

Der Weg ist lang und schwierig, aber es gibt keinen anderen. Die wirtschaftliche Katastrophe, deren Ausmaße wir jetzt deutlicher sehen, und die in den Reihen der Herrschenden solche großen Sorgen auslöst, wird für all die Ausgebeuteten auf der ganzen Welt eine schreckliche Verschlechterung ihrer Existenzbedingungen mit sich bringen. Aber die Krise wird die Ausgebeuteten auch dazu zwingen den Weg zur Revolution und der Befreiung der Menschheit einzuschlagen.  Fabienne, Dez. 2011

Aktuelles und Laufendes: 

  • Staatsbankrott [1]
  • Eurokrise [2]
  • Kapitalismus bankrott [3]
  • Alternative zum Kapitalismus [4]

Occupy Zürich: Wenn Erschöpfung in eine Bewegung einzieht

  • 1890 Aufrufe
Als Reaktion auf die ökonomische Krise und die Turbulenzen um die grossen Finanzinstitute fanden sich auch in der Schweiz beherzte und empörte Menschen am 15. Oktober 2011 zur ersten Vollversammlung der Occupy-Bewegung zusammen. Die darauf wöchentlich stattfindenden Versammlungen vor den grossen Banken auf dem Paradeplatz und andere Aktivitäten waren inspiriert durch die zahlenmässig viel grösseren internationalen Bewegungen der Indignados in Spanien oder Occupy Wall Street in den USA. Die enorm heterogene Occupy-Bewegung ist in ihrem Kern Teil eines beginnenden internationalen Nachdenkens und Aufbegehrens gegenüber der Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft. Trotz der internationalen Gemeinsamkeit einer (oft allzu eingeschränkten) Fokussierung auf die „Finanzwelt“ werden in den verschiedenen Ländern auch ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die international ausgetauscht werden sollten. Dies gerade jetzt, wo überall deutlich Durststrecken und Ernüchterungen in der Occupy-Bewegung sichtbar werden. Wir wollen hier einige Erfahrungen aufgrund unserer Beteiligung an den Aktivitäten von Occupy weitergeben.

„Macht Vorschläge für einen gerechteren Kapitalismus“ – Stolpersteine der Demokratie

Wie in New York und anderen Städten in den USA wurde am 15. Oktober der Paradeplatz in Zürich zu einem mit Zelten besetzten Camp, das aber unter Räumungsandrohung durch die Polizei nach 2 Tagen in den zentral gelegenen Lindenhof-Park umgesiedelt wurde. Die Occupy-Bewegung in Zürich war von Beginn weg nicht mit direkter Repression konfrontiert, wie wir sie in Spanien erlebten, aber umso mehr mit der Politik der versuchten Integration, wie sie typisch ist für die herrschende Klasse in der Schweiz, die mittels der „direkten Demokratie“ jeglichen Widerstand gegen den Kapitalismus abzufedern versucht. Gerade in der Schweiz hat die herrschende Klasse aus den Ereignissen zu Beginn der 80er Jahren gelernt, dass sie nicht allein mit Brutalität soziale Bewegungen unterdrücken kann, sondern vor allem mit Angeboten zur Beteiligung am System.

Die Chefs der Banken und die Regierung gaben sich scheinheilig verständnisvoll für die Anliegen der Occupy-Bewegung. Occupy-Aktivisten wurden sofort in eine der wichtigsten politischen Fernsehsendungen eingeladen, um dort zusammen mit führenden Bankern und Professoren über mögliche Wege zur Verbesserung des Finanzsystems nachzudenken, denn selbst die Herrschenden können sich heute nicht ausschliesslich in eine arrogante Haltung kleiden, dass „alles gut laufe“. Die Angriffe der bürgerlichen Presse gegenüber Occupy beschränkten sich in dieser Anfangsphase vor allem auf das angebliche Fehlen „konkreter“ politischer Vorschläge.

Wenn die Occupy-Bewegung im Enthusiasmus des Beginns auf Angebote wie die des staatlichen Fernsehens eingegangen ist, dann vor allem in der Hoffnung auf mehr Popularität. Die Vollversammlungen gegen Ende Oktober schafften es dennoch meist, diese Falle der „konkreten Forderungen“ zur Verbesserung des kapitalistischen Finanzsystems zu durchschauen und sich nicht ins Räderwerk der klassischen demokratischen Mitsprache einbinden zu lassen. Es war unübersehbar, dass in den Reihen der Bewegung durch Individuen geäusserte Illusionen in demokratische Reformen die Runde machten, wie es bei allen sozialen Bewegungen und auch bei Arbeitskämpfen der Lohabhängigen Normalität ist. Da Occupy aber vor allem eine Bewegung des kollektiven Nachdenkens und Verstehens ist, die durch die kapitalistische Finanzmisere entzündet wurde; weil sie mit unglaublich komplexen und globalen politischen Fragen konfrontiert ist, auf die es auch keine schnellen Lösungen anzubieten gibt; weil sie nicht wie andere soziale Bewegungen in der Vergangenheit auf den Wunsch nach Freiräumen fixiert ist - aus diesen Gründen überlebte bis Mitte Dezember 2011 innerhalb der Occupy-Bewegung in der Schweiz die Sichtweise, dass wir uns durch die bürgerliche Politik nicht zu etwas drängen lassen sollen, auf das wir keine Antwort haben.

Für die herrschende Klasse schien es gängiger, die Bewegung als Ganzes erst einmal zu tolerieren und auf ihre Erschöpfung zu warten, als sie sofort ins demokratische Spiel integrieren zu können oder niederzuknüppeln. Nebst der fast neuartig solidarischen Diskussionskultur, die versuchte, alle zu Wort kommen zu lassen, war es in der Anfangsphase der Monate Oktober und November sicher eine grosse Stärke der Bewegung, sich die Prämisse zu setzen: „Nehmen wir uns Zeit für unsere Diskussionen und lassen wir uns nicht drängen!“

Das Camp – die Bewegung als Ganzes – Ausweitung?

Das Zeltcamp auf dem Lindenhof, gut organisiert und einladend für alle, die sich beteiligen wollten, wurde (neben den samstäglichen Vollversammlungen auf dem Paradeplatz) in Kürze organisch zum eigentlichen Zentrum der Diskussionen der Occupy-Bewegung. Wie in der Bewegung der Indignados in Spanien erlaubte die kollektive Besetzung von öffentlichem Raum einen Rahmen, in dem sich die Bewegung treffen konnte. Sehr schnell wurden aber trotz der offenen Haltung der direkt im Camp lebenden Aktivisten zwei Dynamiken sichtbar: 1. Das Entstehen einer eigenständigen Camp-Gemeinschaft, an der sich nur Personen beteiligen konnten, welche genügend Zeit und Durchhaltevermögen hatten, ihr Leben an diesen Ort zu verlagern – für die meisten Leute mit Familie und Lohnarbeit kaum möglich. 2. Die Dominanz der alltäglichen Sorgen rund um die Aufrechterhaltung und Organisierung des Camps, über den Freiraum zur politischen Diskussion – den eigentlichen Ursprung der Occupy-Bewegung. Diese Situation wurde von den Besetzern nicht frei gewählt und kann ihnen auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie wurde ihnen durch die objektive Schwierigkeit, eine lebenswerte Camp-Infrastruktur zu gewährleisten, aufgezwungen, vor allem aber auch durch die permanent drohende Räumung durch den Repressionsapparat der Polizei. Im Gegensatz zum Zuccotti Park in New York ging die Bewegung in Zürich als Ganzes nicht so weit, in die Dynamik eines nach innen gerichteten Park-Fetischs zu verfallen, sie machte sich in Vollversammlungen intensiv Gedanken darüber, wie die Bewegung auf den Rest der „99%“ zugehen kann.

Ausdruck dieses Bestrebens nach Ausweitung war unter anderem eine Vollversammlung am Abend des 3. November, welche den Innenhof der Universität für eine kollektive Diskussion besetzte, um auch die StudentInnen direkt einzuladen. Befreit von den Alltagssorgen des Camps wurden die wöchentlichen Vollversammlungen an der Universität während 5 Wochen zu ermutigenden kollektiven Momenten des Nachdenkens über allgemeine politische Fragen. Dem Auftauchen von Positionen, die sich der Bewegung absurd als „Führung“ anboten oder sie fatalistisch als „illusionär“ bezeichneten, waren die Plenarversammlungen fähig, ihren selbstorganisierten Gemeinschaftsgeist entgegenzuhalten. Doch die Empörung und Kampfbereitschaft unter den StudentInnen war nicht genug hoch, um eine Verbindung der Anliegen der Occupy-Bewegung mit ihren eigenen Sorgen auszulösen. Selbst wenn die erhoffte grosse Beteiligung der Studierenden ausblieb (2009 war an der Universität in Zürich eine Bewegung ausgebrochen), bildeten diese als „Inhalts-Vollversammlungen“ bezeichneten Abende, an denen auch neue Gesichter auftauchten, eine Bereicherung, die klar machte, dass die Occupy-Bewegung nicht direkt mit dem Camp gleichgesetzt werden kann. Occupy hatte versucht, konkrete Schritte zur Ausbreitung der Bewegung zu machen.

In Zukunft sollte eine Bewegung es aber gerade aufgrund des positiven Momentes solcher „Inhalts-Vollversammlungen“ vermeiden, die grundlegenden politischen Diskussionen aus der allgemeinen Vollversammlung an die „Inhalts-Vollversammlungen“ zu delegieren - genauso wie das politische Leben auch nicht ausschliesslich in die Arbeitsgruppen verlegt werden darf. Im Gegenteil sollte sich die allgemeine Vollversammlung die Zeit nehmen, gemeinsam und in Ruhe Raum für die Klärung grundlegender politischer Fragen der Bewegung zu bleiben. Occupy Zürich, stark vom Aktivismus geprägt, rutschte ab Dezember aber immer mehr ins Problem ab, allgemeine Vollversammlung abzuhalten, die ein ermüdendes Durchpauken zahlreicher organisatorischer Detailfragen wurden.

Aufbruchsgeist – Ernüchterung - Individualisierung

Der Aufbruchsgeist, den die ersten grossen Mobilisierungen im Oktober und November auf dem Zürcher Paradeplatz manifestierten, hat sich gelegt. Occupy ist nicht tot, wie die schmierige bürgerliche Boulevardpresse Ende Dezember mit dem Slogan „Bye Bye Occupy“ den Protest gegen die Krise und die Finanzinstitute beerdigen wollte. Aber die Beteiligung an den Vollversammlungen hatte im Dezember rapide abgenommen. Das Zelt-Camp war zudem von der Polizei schon am 15. November geräumt und den Aktivisten waren Moral zermürbende Geldstrafen auferlegt worden. In der ersten Vollversammlung 2012, am 4. Januar, an der sich rund 70 Personen beteiligten, wurde von mehreren Teilnehmern festgestellt, dass „wir immer weniger geworden sind“. Occupy hatte sich innerhalb eines Monates deutlich aus einer spontanen, zahlreiche Leute mobilisierenden Bewegung zu einem Kern von Aktivisten zurück entwickelt, der versucht, mit allen Kräften fast tägliche Aktivitäten aufrecht zu erhalten.

Es war auch ein deutlich anderer Wind in die Diskussionskultur der Vollversammlung eingezogen: Die ursprünglich beeindruckende gegenseitige Geduld und das Zuhören innerhalb der Bewegung litten nun unter Ermüdung, Ungeduld, Spannungen und dem Gefühl, bei Entscheiden übergangen zu werden. Es entwickelte sich eine Dynamik, welche die zunehmende Isolation durch einen Aktivismus zu kompensieren versuchte, der sich aber immer deutlicher nur auf die individuellen Kapazitäten und den guten Willen einzelner Aktivisten abstützte, und nicht auf eine tragende kollektiven Perspektive. Occupy Zürich klammerte sich an die zahlreichen Aktivitäten, die aber mit schwindenden Kräften kaum mehr aufrecht erhalten werden können, wie es in der Vollversammlung die Diskussion über den Informationsstand auf einem öffentlichen Platz am Stauffacher zeigte. Zwar ehrlich gemeinte, aber fast verzweifelte Appelle an die Disziplin - auf der eine soziale Bewegung, die sich das Ziel der Emanzipation der Menschheit setzt, nicht basieren kann, weil dies schlussendlich der individualisierten Moral der kapitalistischen Gesellschaft gleichkommt - führten lediglich zu Spannungen.        

Es ist ein bekanntes Phänomen von sozialen Bewegungen, dass Höhenflüge des Beginns schnell in Frustration umschlagen können, wenn eine Bewegung vom Rest der ArbeiterInnenklasse isoliert bleibt. Die Frage der Isolation bildet einen Kernpunkt in solchen Bewegungen. Der ersichtliche Park-Fetisch im New Yorker Zuccotti-Park war aber nicht Grund einer beginnenden Isolation von Occupy Wall Street, sondern vielmehr Ausdruck davon. Es gibt keine „Rezepte für das Überleben“ einer Bewegung wie Occupy, denn wie andere soziale Bewegungen entspringt sie nicht einer aktivistischen Machbarkeit, sondern einer politischen Gärung innerhalb der Gesellschaft aufgrund der objektiven Lebensbedingungen. Doch um Enttäuschungen über die eingetretene Durststrecke zu begrenzen, ist es für die Vollversammlungen wichtig, sich die internationale Dynamik von Occupy zum Thema zu machen und die Situation in anderen Städten und Ländern zu besprechen – eine Diskussion, die Occupy Zürich bisher allzu sehr unterschätzt hat.

Eine andere Dynamik wurde an der Vollversammlung vom 4. Januar ebenfalls sichtbar: Es hatten sich in den vergangenen 10 Wochen auch unterschiedlichste Vorstellungen und v.a. Wünsche herausgeschält, was Occupy sein soll - an sich kein Wunder in einer sozialen Bewegung, die so offen ist. Diese Heterogenität über Inhalt und Perspektiven einer Bewegung ist in der Phase des Anwachsens oft ein stimulierender Faktor, da er interessante Diskussion auslöst. Doch in einer Phase der Ernüchterung, aber vor allem dann, wenn es zusätzlich nicht gelingt, gemeinsam die gemachten Erfahrungen zu bilanzieren, droht die Gefahr eines unreflektierten aktivistischen Auseinandergehens in verschiedenste Richtungen. Die Vollversammlung vom 4. Januar hatte stark den Charakter einer Präsentation und Absegnung von Aktions-Projekten, in die sich Aktivisten zum Teil sehr individuell gestürzt hatten. In einem solchen Moment ist es ergiebiger, sich die Fragen zu stellen wie: „Was wollen wir?“, „Was sind unsere gemeinsamen Kräfte?“, „Was sind die Gründe für den Rückgang der Bewegung?“

Debattenkultur – eine „permanente“ Bewegung? – Bündnisse als Rettungsanker?

Die Notwendigkeit für die Engagierten in Occupy Zürich, sich aufgrund der Ermüdung und des Zusammenschrumpfens auf einen Kern von Aktivisten ganz grundsätzliche Fragen zu stellen, zeigte sich auch deutlich in den ersten zwei Januarwochen 2012 anhand der Frage der Häufigkeit von Vollversammlungen. Die Sorge eines sehr engagierten Aktivisten trotz Ermüdungserscheinungen, die Zahl der Vollversammlungen nicht auf einmal pro Woche zu reduzieren, konnte unbefriedigend diskutiert werden. Was sich in dieser Diskussion zeigte, war ein Widerspruch, der in einer sozialen Bewegung in einer Phase des Rückgangs kaum gelöst werden kann: das Aufrechterhalten häufiger Vollversammlungen als Herzstück der Bewegung einerseits und die fehlende Kraft und Beteiligung an der Bewegung andererseits. In der Vollversammlung am 4. Januar wurde diese Frage schlicht anhand des „Ermüdungsbarometers“ entschieden (ab sofort nur einmal pro Woche Vollversammlung), was nur realistisch und vernünftig erschien. Aber es war absolut korrekt, dass ein Engagierter am folgenden Tag der Vollversammlung gegenüber eine schriftliche Kritik formulierte: „Der Konsensentscheid Vollversammlungen nur noch einmal in der Woche durchzuführen war kein Konsensentscheid sondern ein Mehrheitsentscheid. Ich hatte mich von Anfang an klar dagegen ausgesprochen, die Häufigkeit der Vollversammlungen weiter zu reduzieren, jedoch wurde auf meine Argumente kaum eingegangen und meine Bedenken ignoriert. In einer Runde, in der jeder im Kreis seine Meinung sagte, stellte sich heraus, dass eine Mehrheit dafür war, weniger Vollversammlungen abzuhalten, was schlussendlich dazu geführt hatte, dass ich, als ich meine Position weiter vertreten wollte, von allen niedergeschrien worden bin. Leider wurden zwei Kompromissvorschläge ohne Diskussion verworfen. Ich muss mich an dieser Stelle bei denjenigen, die die Kompromissvorschläge gemacht haben entschuldigen, ich hatte in dieser Situation, von allen Seiten unter Druck gesetzt, die Vorschläge nicht ohne meine Emotionen zu kontrollieren überdacht und sie deshalb voreingenommen abgelehnt. Das tut mir Leid. Im Nachhinein denke ich dass beide Potential gehabt hätten, hätte man sie ausführlich diskutieren können.“  Was er hier verteidigt, ist nicht die blinde Losung eines hohen Rhythmus von Vollversammlungen, ungeachtet der Dynamik der Bewegung, sondern die Aufrechterhaltung der Diskussionskultur. Die Konsens-Methode der Occupy-Bewegung, auch wenn sie die latente Schwäche hat, oft verfrüht nur den kleinsten gemeinsamen Nenner als Resultat einer Diskussion auszuloten, und damit oft auch notwenige Polarisierungen verdrängt, hatte es zumindest in der Anfangsphase einladend erlaubt, allen Meinungen Platz einzuräumen. Es ist klar, dass manchmal konkrete Entscheide gefällt werden müssen, auch wenn nicht alle einverstanden sind. Doch wenn Mehrheitsentscheide gefällt werden, soll diese nicht grundsätzlich das Ende einer Diskussion darüber bedeuten. An der Vollversammlung vom 11. Januar fand leider das Anliegen des oben zitierten Engagierten unter der erdrückenden Menge von Informationen und Aktionspunkten ebenfalls keinen Platz, obwohl er mit seiner Kritik an der veränderten Debattenkultur den Kern des Problems ansprach.             

Es ist schwer zu sagen, wohin Occupy geht. Doch die Vollversammlung vom 11. Januar hatte deutlich eine Tendenz enthalten, sich von einer Bewegung hin zu einer politischen Gruppierung zu wandeln, welche aber die Auffassung der Möglichkeit einer „permanenten Bewegung“ in sich trägt. Gleich wie Kämpfe um Arbeitsbedingungen und gegen Lohnabbau im heutigen Kapitalismus keinen permanenten Charakter haben können, ohne in gewerkschaftliche Suche nach faulen Kompromissen und Stellvertreterpolitik abzugleiten, lauern auch auf Occupy ähnliche Gefahren. Die Vollversammlung vom 11. Januar zeigte dies deutlich: Aufgrund der momentan verlorenen eigenen Stärke und Dynamik wurden Stimmen für Bündnisse mit linken Gruppierungen wie den Jungsozialisten oder Greenpeace lauter, wohl in der Hoffnung, damit wieder stärker zu werden. Als Beispiel dafür liess sich die Vollversammlung von einem an sich unbedeutenden Angebot zur punktuellen Zusammenarbeit mit einer spirtuell-politischen Gruppe richtiggehend jagen. Anstelle auf die Autonomie der eigenen Bewegung zu bauen und die Fragen, die wirklich anstehen, zu besprechen, liess sich die Vollversammlung zu einer Diskussion zwingen, heute und sofort zu einem Entscheid über ihr Verhältnis gegenüber dieser Gruppe, und zu religiösen Gruppen im Allgemeinen, zu gelangen. Eine Diskussion, die an sich interessant sein, in solcher von aussen auferlegter Hast aber nie geführt und geklärt werden kann, und die schon den Vorgeschmack wohlbekannter linksbürgerlicher Politik erahnen liess. Die zu Beginn der Bewegung mit einem gesunden Reflex zurückgewiesene Erpressung von Seiten der herrschenden Klasse, sich zu „konkreten Forderungen“ zur Verbesserung des Finanzsystems durchzuringen, also der Druck zu einer Positionierung im Rahmen der bürgerlichen Politik, schleicht sich so unbemerkt durch die Hintertür wieder in die Bewegung hinein.

Wenn Occupy nicht aufgesplittert und verloren gehen will in bürgerlichen parlamentarischen Vorstössen zur „Offenlegung der Finanzierung der politischen Parteien“ oder demokratiegläubigen Initiativen gegen die Lebensmittelspekulation, so wie es an der Vollversammlung von einzelnen Teilnehmern als ihre politischen Projekte angekündigt wurde, dann sollte sie sich wieder auf die Frage des Beginns zurückbesinnen: Weshalb diese Krise im Kapitalismus? Sie sollte sich die Frage stellen, ob all diese Probleme, die von den Engagierten in der Occupy-Bewegung mit beeindruckender Sensibilität wahrgenommen werden, innerhalb des Kapitalismus eine Lösung finden – oder ob es an der Zeit ist, diese Produktionsweise als Ganzes zu überwinden. Da es keine sozialen Bewegungen gibt, die permanent bestehen, und auch Occupy nicht die letzte sein wird, ist es wichtig, all die positiven Erfahrungen von Occupy in die Zukunft anderer sozialer Bewegungen mitzunehmen, falls Occupy keinen frischen Wind mehr bekommen sollte. Die Sackgasse des Kapitalismus, der Auslöser von Occupy, wird sicher nicht verschwinden. Versuche des Zusammengehens mit den Anliegen von Lohnabhängigen, wie es ansatzweise mit den Beschäftigten der Elektrizitätswerke in London oder deutlicher in Oakland der Fall war, werden für die Zukunft wohl die besten „Bündnispartner“ und eine wirkliche Verstärkung sein.  Mario 16.1.2012

Aktuelles und Laufendes: 

  • Occupy Zürich [5]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/2227/weltrevolution-nr-170

Links
[1] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/staatsbankrott [2] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/eurokrise [3] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/kapitalismus-bankrott [4] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/alternative-zum-kapitalismus [5] https://de.internationalism.org/tag/aktuelles-und-laufendes/occupy-zurich