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September 2007

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17. Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage

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Resolution zur internationalen Lage

1. Einer der wichtigsten Faktoren, die das derzeitige Leben der kapitalistischen Gesellschaft prägen, ist ihr Eintritt in die Zerfallsphase. Die IKS hat bereits seit dem Ende der achtziger Jahre auf die Ursachen und Wesenszüge dieser Zersetzungsphase der Gesellschaft hingewiesen. Sie hat insbesondere die folgenden Tatsachen hervorgehoben:

a) Die Phase des Zerfalls des Kapitalismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Dekadenzperiode dieses Systems, die mit dem Ersten Weltkrieg eröffnet wurde (wie dies die große Mehrheit der Revolutionäre zu jenem Zeitpunkt erkannt hatte). In diesem Zusammenhang behält sie die Haupteigenschaften bei, die der Dekadenz des Kapitalismus eigen sind, wobei aber neue, bislang unbekannte Merkmale im gesellschaftlichen Leben hinzukommen.

b) Sie stellt die letzte Phase dieses Niedergangs dar, in der sich nicht nur die verhängnisvollsten Erscheinungen der vorhergehenden Phasen häufen, sondern das gesamte gesellschaftliche Gebäude am lebendigen Leib verfault.

c) Praktisch alle Aspekte der menschlichen Gesellschaft sind durch den Zerfall betroffen, auch und besonders jene, die für ihr Schicksal entscheidend sind, wie die imperialistischen Konflikte und der Klassenkampf. In diesem Sinn und vor dem Hintergrund der Zerfallsphase mit all ihren Begleiterscheinungen ist die gegenwärtige internationale Lage unter ihren hauptsächlichen Gesichtspunkten zu untersuchen, nämlich unter den Gesichtspunkten der wirtschaftlichen Krise des kapitalistischen Systems, der Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse insbesondere auf der imperialistischen Bühne und schließlich unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zwischen den zwei wesentlichen Gesellschaftsklassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat.

2. Paradoxerweise ist die wirtschaftliche Lage des Kapitalismus am geringfügigsten vom Zerfall beeinträchtigt. Dies verhält sich hauptsächlich deshalb so, weil es gerade diese wirtschaftliche Lage ist, die in letzter Instanz die anderen Aspekte des Lebens dieses Systems bestimmt, einschließlich jener, die sich aus dem Zerfall ergeben. Ähnlich wie schon die Produktionsweisen, die dem Kapitalismus vorausgegangen waren, ist auch die kapitalistische Produktionsweise nach der Epoche ihres Aufstiegs, die Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Epoche ihres Niedergangs eingetreten. Die eigentlichen Ursachen dieser Dekadenz sind, wie auch bei den früheren Wirtschaftsordnungen, die wachsenden Spannungen zwischen den sich entwickelnden Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Was konkret den Kapitalismus angeht, dessen Entwicklung durch die Eroberung außerkapitalistischer Märkte bedingt ist, so war der Erste Weltkrieg das erste bedeutende Anzeichen seiner Dekadenz. Als die koloniale und wirtschaftliche Eroberung der Welt durch die kapitalistischen Metropolen abgeschlossen war, waren diese dazu gedrängt, sich um die bereits verteilten Märkte zu streiten. In der Folge trat der Kapitalismus in eine neue Periode seiner Geschichte ein, die 1919 von der Kommunistischen Internationale als Ära der Kriege und der Revolutionen bezeichnet wurde. Das Scheitern der revolutionären Welle, die aus dem Ersten Weltkrieg entstanden war, ebnete so den Weg zu wachsenden Erschütterungen der kapitalistischen Gesellschaft: die große Rezession der dreißiger Jahre und ihre Folge, der Zweite Weltkrieg, der noch viel mörderischer und barbarischer war als der Erste Weltkrieg. Die darauffolgende Phase, von einigen bürgerlichen "Experten" als die "glorreichen Dreißig" bezeichnet, ließ die Illusion aufkommenen, dass der Kapitalismus seine zerstörerischen Widersprüche überwunden habe, eine Illusion, der selbst Strömungen erlegen waren, die sich auf die kommunistische Revolution beriefen. Ende der 1960er Jahre folgte auf dieser "Wohlstandsära", die sowohl auf zufälligen Umständen als auch auf spezifischen Gegenmaßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise beruhte, erneut die offene Krise der kapitalistischen Produktionsweise, die sich Mitte der 70er Jahre noch verschärfte. Diese offene Krise des Kapitalismus deutete wieder auf die Alternative, die schon von der Kommunistischen Internationale angekündigt worden war: Weltkrieg oder Entwicklung der Arbeiterkämpfe mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus. Der Weltkrieg ist im Gegensatz zu dem, was bestimmte Gruppen der Kommunistischen Linken denken, keineswegs eine "Lösung" der Krise, die es dem Kapitalismus erlauben würde, "sich zu regenerieren" und dynamisch einen neuen Zyklus zu beginnen. Die Sackgasse, in der sich dieses System befindet, die Zuspitzung der Spannungen zwischen den nationalen Sektoren des Kapitalismus führt auf der militärischen Ebene unweigerlich in die Flucht nach vorn, an deren Ende der Weltkrieg steht. Tatsächlich haben sich infolge der wachsenden wirtschaftlichen Zwänge des Kapitalismus die imperialistischen Spannungen ab den 1970er Jahren zugespitzt. Aber sie konnten nicht in dem Weltkrieg münden, da sich die Arbeiterklasse 1968 von ihrer historischen Niederlage wieder erholt hatte und sich gegen die ersten krisenbedingten Angriffe zur Wehr setzte. Trotz ihrer Fähigkeit, die einzig mögliche Perspektive (sofern man hier von "Perspektive" sprechen kann) der Bourgeoisie zu vereiteln, und trotz einer seit Jahrzehnten ungekannten Kampfbereitschaft, konnte aber auch die Arbeiterklasse ihre eigene Perspektive, die kommunistische Revolution, nicht in Angriff nehmen. Genau diese Konstellation, in der keine der beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft ihre Perspektive durchsetzen kann, in der sich die herrschende Klasse darauf beschränken muss, tagtäglich und sukzessiv das Versinken ihrer Wirtschaft in einer unüberwindbaren Krise zu "verwalten", ist die Ursache für den Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase.

3. Eines der deutlichsten Anzeichen der fehlenden historischen Perspektive ist die Entwicklung des "Jeder-für-sich", das alle Ebenen der Gesellschaft, vom Individuum bis zu den Staaten, betrifft. Doch wäre es falsch zu meinen, dass es seit dem Beginn der Zerfallsphase im wirtschaftlichen Leben des Kapitalismus eine prinzipielle Änderung gegeben habe. Denn das "Jeder-für-sich", die Konkurrenz aller gegen alle gehört seit eh und je zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise Mit Eintritt in seine Dekadenzphase konnte der Kapitalismus diese Eigenschaften nur durch eine massive Intervention des Staates in die Wirtschaft bändigen; solche Staatsinterventionen begannen im Ersten Weltkrieg und wurden in den 1930er Jahren insbesondere mit den faschistischen und keynesianischen Programmen reaktiviert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieser Staatsinterventionismus durch die Etablierung von internationalen Organisationen wie den IWF, die Weltbank und die OECD ergänzt, denen später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgte (die Vorläuferin der heutigen Europäischen Union). Zweck dieser Institutionen war es, zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Widersprüche in einer allgemeinen Auflösung münden, wie dies nach dem "Schwarzen Donnerstag" von 1929 der Fall gewesen war. Trotz aller Reden über den "Triumph des Liberalismus" und das "Gesetz des freien Marktes" verzichten die Staaten heute weder auf Interventionen in die Wirtschaft noch auf Strukturen, die die Aufgabe haben, die internationalen Beziehungen wenigstens ansatzweise zu regulieren. Im Gegenteil: in der Zwischenzeit sind weitere Institutionen geschaffen worden, wie beispielsweise die Welthandelsorganisation. Doch weder jene Programme noch diese Organisationen haben es erlaubt, die Krise des Kapitalismus zu überwinden, auch wenn sie das Tempo derselben beträchtlich gebremst hatten. Trotz ihrer Reden über die "historischen" Wachstumsraten der Weltwirtschaft und die außergewöhnlichen Leistungssteigerungen der beiden asiatischen Riesen, Indien und insbesondere China, ist es der Bourgeoisie nicht gelungen, mit der Krise fertig zu werden. In Tat und Wahrheit ist Letztere keineswegs Auswuchs eines "schlechten" Kapitalismus, der seine Verantwortung dafür "vergessen" habe, in wirklich produktive Sektoren zu investieren. Wie Marx schon im 19. Jahrhundert festgestellt hat, ist die Spekulation eine Folge der Tatsache, dass die Kapitalbesitzer angesichts des Mangels an zahlungskräftigen Absatzmärkten für ihre produktiven Investitionen es vorziehen, ihr Kapital zwecks Gewinnmaximierung kurzfristig in eine gigantische Lotterie zu stecken, eine Lotterie, die heute den Kapitalismus in ein weltumspannendes Kasino verwandelt hat. Der Wunsch, dass der Kapitalismus heutzutage auf die Spekulation verzichtet, ist so realistisch wie der Wunsch, dass aus Tigern Vegetarier werden. Darüber hinaus stellt die extreme Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft einen empfindlichen Punkt im Falle eines Nachfragerückgangs dar, eines Rückgangs, der unweigerlich kommen wird, insbesondere wenn die amerikanische Wirtschaft gezwungen wird, etwas Ordnung in die schwindelerregende Schuldenwirtschaft zu bringen, die es ihr momentan erlaubt, die Rolle der "Lokomotive" der weltweiten Nachfrage zu spielen. So wie das "Wunder" der asiatischen "Tiger" und "Drachen", die durch zweistellige Wachstumsraten geglänzt hatten, 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige "chinesische Wunder", auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentlich ernsthaftere Trümpfe verfügt, früher oder später unweigerlich in der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise landen. .

4. Die Gründe für die Wachstumsraten im weltweiten Bruttosozialprodukt im Laufe der letzten Jahre, welche die Bourgeois und ihre intellektuellen Lakaien in Euphorie versetzen, sind grundsätzlich nicht neu. Es sind dieselben wie jene, die verhindert haben, dass die Sättigung der Märkte, die den Ausbruch der Krise Ende der 1960er Jahre bewirkte, die weltweite Wirtschaft vollständig erdrosselt hatte; sie lassen sich unter dem Begriff der wachsenden Verschuldung subsummieren. Gegenwärtig stellt die gewaltige Verschuldung der amerikanischen Wirtschaft - sowohl in ihrem Staatsbudget als auch in ihrer Handelsbilanz - die wichtigste "Lokomotive" für den weltweiten Wachstum dar. Effektiv handelt es sich dabei um eine Flucht nach vorn, die weit entfernt davon ist, die Widersprüche des Kapitalismus zu lösen und uns nur eine noch schmerzhaftere Zukunft beschert, mit einer brutalen Verlangsamung des Wachstums, wie dies seit mehr als dreißig Jahren immer wieder der Fall gewesen war. Schon jetzt lösen die Gewitterwolken, die sich im Immobiliensektor in den Vereinigten Staaten - einer wichtigen Triebkraft der nationalen Ökonomie - mit der Gefahr von katastrophalen Bankenpleiten zusammenbrauen, große Sorgen in den maßgeblichen Wirtschaftskreisen aus. Diese Sorgen werden verstärkt durch die Aussicht auf andere Pleiten, die von "Hedgefonds" (spekulative Fonds) ausgehen, wie das Beispiel von Amaranth im Oktober 2006 veranschaulicht hat. Die Bedrohungslage ist um so ernsthafter, als diese Gebilde, deren Zweck darin besteht, kurzfristig große Profite zu machen, indem mit den Kursänderungen bei den Währungen oder den Rohstoffen spekuliert wird, keineswegs Heckenschützen des internationalen Finanzsystems sind. Vielmehr platzieren die "seriösesten" Finanzinstitute einen Teil ihrer Guthaben in diesen "Hedgefonds". So sind die in diesen Fonds investierten Summen derart gewaltig, dass sie dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt eines Landes wie Frankreich gleichkommen, wobei sie wiederum einem noch sehr viel beträchtlicheren Kapitalverkehr als "Transmissionsriemen" dienen (etwa 700.000 Milliarden Dollar im Jahr 2002, das heißt 20 Mal mehr als die Transaktionen von Gütern und Dienstleistungen, also der "realen" Produkte). Und es gibt keine Weisheiten von "Globalisierungsgegnern" und anderen Gegnern der "Verfinanzung" der Wirtschaft, die daran auch nur das Geringste ändern könnten. Diese politischen Strömungen möchten einen "sauberen", "gerechten" Kapitalismus, der insbesondere die Spekulation unterbindet.

5. Die außergewöhnlichen Wachstumsraten, die gegenwärtig Länder wie Indien und insbesondere China erleben, stellen in keiner Weise einen Beweis für einen "frischen Wind" in der Weltwirtschaft dar, selbst wenn sie im Laufe der letzten Zeit beträchtlich zum erhöhten Wachstum derselben beigetragen haben. Die Grundlage dieses außergewöhnlichen Wachstums in beiden Ländern wiederum ist paradoxerweise die Krise des Kapitalismus. In der Tat resultiert die wesentliche Dynamik dieses Wachstums aus zwei Faktoren: den Ausfuhren und den Investitionen von Kapital, das aus den höchstentwickelten Ländern stammt. Wenn der Handel dieser Länder sich immer mehr auf Güter verlagert, die in China statt in den "alten" Industrieländern hergestellt werden, so geschieht dies, weil sie zu sehr viel niedrigeren Preisen verkauft werden können, was immer mehr zum obersten Gebot wird, je gesättigter die Märkte sind und je schärfer die Handelskonkurrenz wird. Gleichzeitig erlaubt dieser Prozess dem Kapital, die Kosten der Arbeitskraft in den Industrieländern zu vermindern. Der gleichen Logik gehorcht auch das Phänomen der "Auslagerung", des Transfers der Industrieproduktion der großen Unternehmen in Länder der Dritten Welt, wo die Arbeitskräfte unvergleichlich billiger sind als in den höchstentwickelten Ländern. Es ist übrigens festzustellen, dass die chinesische Wirtschaft einerseits von diesen "Auslagerungen" auf ihr eigenes Territorium profitiert, andererseits aber selbst dazu tendiert, genauso gegenüber Ländern zu verfahren, wo die Löhne noch niedriger sind.

6. Das "zweistellige Wachstum" Chinas (insbesondere seiner Industrie) findet vor dem Hintergrund einer hemmungslosen Ausbeutung der Arbeiterklasse dieses Landes statt, die oft Lebensbedingungen kennt, die mit jenen der englischen Arbeiterklasse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind – Arbeitsbedingungen, die von Engels 1844 in seinem bemerkenswerten Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England angeprangert wurden. Für sich genommen sind diese Bedingungen kein Kennzeichen des Bankrotts des Kapitalismus, denn dieses System hat sich einst mithilfe einer ebenso barbarischen Ausbeutung des Proletariats aufgemacht, die Welt zu erobern. Und doch gibt es grundlegende Unterschiede zwischen dem Wirtschaftswachstum und den Bedingungen der Arbeiterklasse in den ersten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts einerseits und denjenigen im heutigen China andererseits:

- in den Erstgenannten hat die Erhöhung der Zahl der Industriearbeiter in dem einen Land nicht mit einer Verminderung in dem anderen korrespondiert; vielmehr haben sich die Industriesektoren in Ländern wie England, Frankreich, Deutschland oder den Vereinigten Staaten parallel entwickelt. Gleichzeitig haben sich die Lebensbedingungen des Proletariats insbesondere dank seines Widerstandes während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig verbessert;

- was das heutige China betrifft, so wächst die Industrie dieses Landes (wie die anderer Länder der Dritten Welt) auf Kosten zahlreicher Industriesektoren, die in den alten kapitalistischen Ländern verschwinden; gleichzeitig sind die "Auslagerungen" Waffen eines allgemeinen Angriffs auf die Arbeiterklasse dieser Länder, eines Angriffs, der begonnen hat, lange bevor die "Auslagerungen" zur gängigen Praxis geworden sind. Doch die Auslagerungen von Produktionsstätten erlaubt es der Bourgeoisie, den Angriff in puncto Arbeitslosigkeit, berufliche Dequalifizierung, Verelendung und Senkung des Lebensstandards zu intensivieren.

Somit ist das "chinesische Wunder" und anderer Länder der Dritten Welt weit entfernt davon, einen "frischen Wind" für die kapitalistische Wirtschaft darzustellen. Es ist nichts anderes als eine Variante des niedergehenden Kapitalismus.

7. In keinem Land dieser Erde kann die Wirtschaft den Zwangsläufigkeiten der Dekadenz entgehen. Und das mit gutem Grund, denn die Dekadenz geht vor allem von der ökonomischen Frage aus. Dennoch äußern sich heute die deutlichsten Zeichen des Zerfalls nicht auf der ökonomischen Ebene. Vielmehr zeigen sie sich im politischen Bereich der kapitalistischen Gesellschaft, in den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Sektoren der herrschenden Klasse und insbesondere in den imperialistischen Auseinandersetzungen. So trat das erste bedeutende Anzeichen für den Eintritt des Kapitalismus in die Zerfallsphase auf der Ebene der imperialistischen Konflikte auf: des Zusammenbruchs des imperialistischen Ostblocks Ende der 1980er Jahre, der sehr schnell auch die Auflösung des westlichen Blocks nach sich zog. Es sind heute also vor allem die politischen, diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Staaten, in denen sich das "Jeder-für-sich", das Hauptmerkmal der Zerfallsphase, äußert. Das Blocksystem im Kalten Krieg beinhaltete zwar die Gefahr eines dritten Weltkrieges (der allerdings nicht ausbrach, weil seit Ende der 1960er Jahre die internationale Arbeiterklasse im Weg stand); gleichzeitig ermöglichte jedoch die Existenz der Blöcke, dass die imperialistischen Spannungen gewissermaßen in "geordnete Bahnen" gelenkt wurden, vor allem durch die Kontrolle, die in beiden Lagern durch die jeweils führende Macht ausgeübt wurde. Seit 1989 ist die Situation eine völlig andere. Zwar hat sich die akute Gefahr eines Weltkrieges vermindert, doch gleichzeitig fand eine wahre Entfesselung imperialistischer Rivalitäten und lokaler Kriege unter direkter Beteiligung der größeren Mächte statt, allen voran der USA. Das weltweite Chaos, das seit dem Ende des Kalten Krieges um sich griff, zwang die USA, ihre Rolle als "Weltpolizist", die sie seit Jahrzehnten spielt, noch zu verstärken. Jedoch führt dies keineswegs zu einer Stabilisierung der Welt; den USA geht es nur noch darum, krampfhaft ihre führende Rolle aufrechtzuerhalten. Eine Führungsrolle, die vor allem durch die ehemaligen Verbündeten permanent in Frage gestellt wird, da die Grundvoraussetzung der ehemaligen Blöcke, die Bedrohung durch den anderen Block, nicht mehr existiert. In Ermangelung der "sowjetischen Gefahr" bleibt das einzige Mittel für die USA zur Durchsetzung ihrer Disziplin das Ausspielen ihrer größten Stärke - der absoluten militärischen Überlegenheit. Dadurch wird die Politik der USA selbst zu einem der stärksten Zerrüttungsfaktoren der Welt. Seit Beginn der 1990er Jahre häufen sich die Beispiele dafür: Der erste Golfkrieg 1991 hatte zum Ziel, die sich auflösenden Verbindungen zwischen den Ländern des ehemaligen Westblocks wieder fester zu schnüren (es ging nicht, wie vorgetäuscht, um die "Verteidigung des verletzten Völkerrechts" und gegen die Besetzung Kuwaits durch den Irak). Kurz darauf zerrissen die Bande unter den Ländern des ehemaligen westlichen Blocks gänzlich: Deutschland schürte das Feuer in Jugoslawien, indem es Slowenien und Kroatien ermunterte, ihre Unabhängigkeit zu erklären. Frankreich und Großbritannien bildeten erneut, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine "Große Allianz", indem sie gemeinsam die imperialistischen Interessen Serbiens unterstützten, und die USA spielten sich als die Beschützer der Muslime Bosniens auf.

8. Die Niederlage der US-Bourgeoisie während der 1990er Jahre in den verschiedenen Militäroperationen, mit denen sie ihre Führungsrolle verankern wollte, hat sie dazu gezwungen, einen neuen "Feind" der "freien Welt" und der Demokratie zu suchen, mit dem sie die Großmächte, vor allem aber ihre ehemaligen Verbündeten, hinter sich scharen konnte: Sie fand ihn im islamistischen Terrorismus. Die Attentate des 11. September 2001, die in den Augen eines Drittels der amerikanischen Bevölkerung und der Hälfte der Einwohner von New York vom amerikanischen Staat wahrscheinlich so gewollt oder sogar vorbereitet wurden, dienten als Anlass für den neuen Kreuzzug. Fünf Jahre später ist das Ergebnis dieser Politik offenkundig. Wenn die Attentate des 11. September es den USA noch erlaubt hatten, Länder wie Frankreich und Deutschland in ihre Intervention in Afghanistan einzubinden, so hatte es nicht mehr dazu gereicht, diese in das Abenteuer im Irak 2003 zu zwingen. Im Gegenteil hatten diese beiden Länder zusammen mit Russland ein kurzfristiges Bündnis gegen die Intervention im Irak geschmiedet. Auch jene "Verbündete", die anfangs der "Koalition" angehörten, die im Irak intervenierte, wie Spanien und Italien, haben mittlerweile das sinkende Schiff verlassen. Die US-Bourgeoisie hat keines ihrer zu Beginn groß angekündigten Ziele erreicht: weder die Zerstörung von "Massenvernichtungswaffen" im Irak noch die Errichtung einer friedlichen "Demokratie" in diesem Land oder die Stabilisierung und Rückkehr des Friedens in der gesamten Region unter der Ägide der USA, die Zurückdrängung des Terrorismus oder die Akzeptanz der militärischen Interventionen ihres Regimes in der US-Bevölkerung. Das Geheimnis der "Massenvernichtungswaffen" hatte sich schnell gelüftet: Es wurde klar, dass die einzigen im Irak vorhandenen Massenvernichtungswaffen von der "Koalition" selbst mitgebracht worden waren. Dies enthüllte die Lügen, mit denen die Bush-Administration ihre Intervention in dieses Land rechtfertigen wollte. Bezüglich der Zurückdrängung des Terrorismus gilt festzustellen, dass die Invasion im Irak ihm keineswegs die Flügel gestutzt hat, sondern im Gegenteil zu dessen Verstärkung beigetragen hat, sei es im Irak selbst oder in anderen Teilen der Welt so wie auch in den Metropolen des Kapitalismus, wie aus den Anschlägen im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London ersichtlich wird. Aus der geplanten Errichtung einer friedlichen "Demokratie" im Irak ist lediglich die Installation einer Marionetten-Regierung geworden, die ohne die massive Unterstützung der US-Truppen nicht die geringste Kontrolle über das Land ausüben könnte. Eine "Kontrolle", die sich ohnehin nur auf einige "Sicherheitszonen" beschränkt und den Rest des Landes der gegenseitigen Massakrierung der schiitischen und sunnitischen Bevölkerungsteile sowie den Terroranschlägen überlassen hat, die seit der Entmachtung Saddam Husseins Tausende von Menschenleben gefordert haben. Stabilität und Frieden im Mittleren und Nahen Osten waren noch nie so weit entfernt wie heute. Im 50-jährigen Konflikt zwischen Israel und Palästina hat es in den vergangenen Jahren eine neuerliche Zuspitzung der Situation als Ganzes sowie der Zusammenstöße unter den Palästinensern zwischen Fatah und Hamas gegeben; auch der ohnerhin schon beträchtliche Gesichtsverlust der israelischen Regierung wird immer dramatischer. Zweifellos ist der Autoritätsverlust des amerikanischen Riesen in der Region infolge seiner bitteren Niederlage im Irak eng mit dem Chaos und dem Scheitern des "Friedensprozesses", dem er Paten stand, verknüpft. Dieser Autoritätsverlust ist auch Grund für die vermehrten Schwierigkeiten der NATO-Truppen in Afghanistan und für en Kontrollverlust der Regierung Karzai gegenüber den Taliban. Überdies ist die zunehmende Dreistigkeit, die der Iran bei der Vorbereitung seiner Atomwaffenproduktion an den Tag legt, eine direkte Konsequenz aus dem Versinken der USA im irakischen Sumpf, was Letzteren weitere militärische Interventionen verunmöglicht. Und schlussendlich haben sich die Anstrengungen der US-Bourgeoisie, das "Vietnam-Syndrom" endlich zu überwinden, also den Widerstand innerhalb der heimischen Bevölkerung gegen die Entsendung von Soldaten auf das Schlachtfeld aufzuheben, gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Nachdem die Emotionen, die durch die Attentate des 11. September geschürt wurden, zunächst die nationalistischen Aufwallungen, den Willen zur "nationalen Einheit" und die Entschlossenheit, sich am "Kampf gegen den Terrorismus" zu beteiligen, gestärkt hatten, sind mittlerweile die Zweifel am Krieg und an der Entsendung von amerikanischen Truppen wieder erheblich gewachsen. Heute steckt die US-Bourgeoisie im Irak in einer regelrechten Sackgasse. Einerseits haben die USA nicht die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mittel, um in diesem Land irgendeine "Ordnung" wiederherzustellen. Andererseits können die USA es sich nicht erlauben, sich aus dem Irak zurückzuziehen, die Niederlage ihrer Politik offen einzugestehen und den Irak einer totalen Zerstückelung sowie die gesamte Region einer wachsenden Destabilisierung zu überlassen.

9. Die Regierungsbilanz von Bush junior ist sicher eine der katastrophalsten in der Geschichte der USA. Die Beförderung der so genannten "Neokonservativen" an die Staatsspitze 2001 war ein regelrechtes Desaster für die US-Bourgeoisie. Weshalb hat die führende Bourgeoisie der Welt diese Bande von Abenteurern und Stümpern dazu berufen, ihre Interessen zu vertreten? Was war der Grund für die Blindheit der herrschenden Klasse des stärksten kapitalistischen Landes der Welt? Tatsächlich war die Beauftragung der Bande um Cheney, Rumsfeld und Konsorten mit den Regierungsgeschäften keineswegs eine ebenso simple wie gigantische "Fehlbesetzung" durch die US-Bourgeoisie. Wenn sich die Lage der USA auf dem imperialistischen Terrain noch sichtbarer verschlechtert hat, so ist dies vor allem Ausdruck der Sackgasse, in der sich dieses Land schon zuvor durch den zunehmenden Verlust ihrer Führungsrolle befand, und des allgemein herrschenden "Jeder-für-sich" in den internationalen Beziehungen, das die Zerfallsphase kennzeichnet. Dies beweist die Tatsache, dass die erfahrenste und intelligenteste Bourgeoise der Welt, die herrschende Klasse Großbritanniens, sich in das Irak-Abenteuer ziehen ließ. Ein anderes Beispiel für den Hang zu Unheil bringenden imperialistischen Schritten von Seiten der "fähigsten" Bourgeoisien - jener, die bisher meisterlich ihre militärische Stärke ausspielen konnten – ist, eine Nummer kleiner, das katastrophale militärische Abenteuer Israels im Libanon im Jahr 2006. Eine Offensive, die grünes Licht aus Washington erhalten hatte und die Hisbollah schwächen sollte, aber im Gegenteil eine Stärkung dieser Gruppierung zur Folge hatte.

10. Das militärische Chaos, das sich über die Erde ausbreitet und ganze Gebiete in einen Abgrund der Verwüstung stürzt - vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika – ist keineswegs der einzige Ausdruck der historischen Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, und letztlich auch nicht die größte Bedrohung für die Gattung Mensch. Heute wird immer deutlicher, dass die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und seiner Funktionsweise auch die Zerstörung der Umwelt, die die Entwicklung der Menschheit erst ermöglichte, mit sich bringt. Der anhaltende Ausstoß von Treibhausgasen im heutigen Ausmaß und die Erwärmung des Planeten werden nie dagewesene klimatische Katastrophen auslösen (Orkane, Verwüstungen, Überschwemmungen, usw.), die mit schrecklichen menschlichen Leiden (Hunger, Vertreibung von Millionen von Menschen, Überbevölkerung in den bisher am meisten verschonten Regionen, usw.) einhergehen. Angesichts der unübersehbaren Anzeichen der Umweltzerstörung können die Regierungen und die führenden Teile der Bourgeoisie die Dramatik der Lage und die sich abzeichnenden Katastrophen nicht länger vor der Bevölkerung verheimlichen. Darum präsentieren sich die Bourgeoisien und fast alle bürgerlichen Parteien der Industrieländer im grünen Gewand und versprechen, Maßnahmen zu ergreifen, um die aufkommenden Katastrophen von der Menschheit abzuwenden. Doch mit dem Problem der Umweltzerstörung verhält es sich ähnlich wie mit den Kriegen: Alle Teile der herrschenden Klasse sind gegen den Krieg, und dennoch ist diese Klasse seit dem Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz unfähig, einen Frieden zu garantieren. Hier handelt es sich keinesfalls um eine Frage des guten oder schlechten Willens (auch wenn in den Fraktionen, die den Krieg am eifrigsten anfeuern, die schmutzigsten Interessen zu finden sind). Selbst die "pazifistischsten" Führer der herrschenden Klasse können der objektiven Logik nicht entfliehen, die ihren "humanistischen" Anwandlungen und der "Vernunft" keinen Raum lässt. Im gleichen Maße ist der von den Spitzen der herrschenden Klasse plakativ zur Schau gestellte "gute Wille", die Umwelt zu schützen, angesichts der Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft wirkungslos. Meist handelt es sich eh nur um Lippenbekenntnisse, mit denen möglichst viele Wählerstimmen erschlichen werden sollen. Sich dem Problem des Ausstoßes von Treibhausgasen ernsthaft zu stellen würde beträchtliche Veränderungen in der Industrie, der Energieproduktion, dem Transportwesen und den Wohnverhältnissen erfordern und massive Investitionen in diese Sektoren nach sich ziehen. Es würde überdies die gewichtigen ökonomischen Interessen der großen Masse der Unternehmer, aber auch des Staates selbst in Frage stellen. Konkret: Jeder Staat, der die notwendigen Maßnahmen ergreifen würde, um einen wirkungsvollen Beitrag zur Lösung des Problems beizusteuern, fände sich sofort und massiv in seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem internationalen Markt eingeschränkt. Die Staaten verhalten sich bezüglich der Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung so wie die Fabrikanten gegenüber den Lohnerhöhungen der Arbeiter: Sie sind alle dafür… solange die anderen davon betroffen sind. So lange die kapitalistische Produktionsweise besteht, ist die Menschheit dazu verdammt, unter einer immer dickeren Rußschicht zu leiden, die dieses System in seiner Agonie über den Erdball zieht, ein Phänomen, das das System selbst zu bedrohen beginnt. Wie die IKS schon vor mehr als 15 Jahren hervorgehoben hat, bedeutet der zerfallende Kapitalismus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit. Die von Engels Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Alternative "Sozialismus oder Barbarei" ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden. Was uns das 21. Jahrhundert in Aussicht stellt, ist in der Tat "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit". Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann, die Arbeiterklasse.

11. Mit dieser Aufgabe ist die Arbeiterklasse konfrontiert, seit sie 1968 wieder auf die historische Bühne getreten war und damit der schlimmsten Konterrevolution in ihrer Geschichte ein Ende bereitet hatte. Ihr Wiederauftreten verhinderte, dass der Kapitalismus seine Lösung für die offene Wirtschaftskrise, den Weltkrieg, durchsetzen konnte. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten fanden Kämpfe der Arbeiterklasse mit all ihren Höhen und Tiefen, Fortschritten und Rückschlägen statt; Kämpfe, die es der Arbeiterklasse erlaubten, Erfahrungen zu sammeln, vor allem über die Rolle der Gewerkschaften als Saboteure des Klassenkampfes. Doch gleichzeitig wurde die Arbeiterklasse zunehmend dem Gewicht des Zerfalls ausgesetzt, was vor allem erklärt, dass die Ablehnung der klassischen Gewerkschaften vom Rückzug in den Korporatismus begeleitet war, eine Folge des Jeder-gegen-Jeden, das selbst im Klassenkampf seinen Ausdruck findet. Es war tatsächlich der Zerfall des Kapitalismus, der durch seine spektakulärste Äußerung, den Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regimes 1989, dieser ersten Reihe von Arbeiterkämpfen ein Ende bereitet hatte. Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das "Ende des Kommunismus", den "endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus" und das "Ende des Klassenkampfes", ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Diese Ratlosigkeit machte sich aber nicht lediglich aufgrund der Ereignisse Ende der 1980er Jahre breit, sondern auch angesichts ihrer Folgeerscheinungen wie den ersten Golfkrieg 1991 und den Krieg in Ex-Jugoslawien. Diese Ereignisse widerlegten zwar klar und deutlich die euphorischen Erklärungen von US-Präsident Bush senior nach dem Ende des Kalten Krieges, dass nun eine "Ära des Friedens und Wachstums" angebrochen sei, doch bewirkten sie angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit in der Klasse keine Weiterentwicklung des Bewusstseins. Im Gegenteil hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ.

Doch auch in den 90er Jahren hatte die Arbeiterklasse den Kampf nicht völlig aufgegeben. Die anhaltenden Angriffe des kapitalistischen Systems zwangen sie zur Gegenwehr. Doch diese Kämpfe wiesen nicht die Dimension, das Bewusstsein und die Fähigkeit auf, den Gewerkschaften so entgegenzutreten, wie dies noch in der vorangegangenen Periode der Fall gewesen war. Erst im Laufe des Jahres 2003 begann sich das Proletariat vor allem in Gestalt der großen Mobilisierungen in Frankreich und Österreich gegen die Angriffe auf die Altersrenten wieder von den Rückschlägen nach 1889 zu erholen. Seither hat sich die Tendenz zur Wiederaufnahme des Klassenkampfes und zur Weiterentwicklung des Bewusstseins bestätigt. Überall in den zentralen Ländern haben Arbeiterkämpfe stattgefunden, auch in den wichtigsten wie in den USA (Boeing und öffentlicher Verkehr in New York 2005), in Deutschland (Daimler und Opel 2004, Spitalärzte im Frühling 2006, Deutsche Telekom im Frühling 2007), Großbritannien (Londoner Flughafen im August 2005, öffentlicher Dienst im Frühling 2006), Frankreich (Studenten und Schüler gegen den CPE im Frühling 2006), aber auch in einer eine ganze Reihe von peripheren Ländern wie Dubai (Bauarbeiter im Frühling 2006), Bangladesh (Textilarbeiter im Frühling 2006), Ägypten (Textil- und Transportarbeiter im Frühling 2007).

12. Engels schrieb einst, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf auf drei Ebenen führt: auf der ökonomischen, der politischen und der theoretischen Ebene. Erst wenn wir die Welle von Kämpfen nach 1968 und jene seit 2003 auf diesen Ebenen vergleichen, können wir die Perspektive der gegenwärtigen Phase ausmachen. Die Kämpfe nach 1968 hatten eine große politische Bedeutung: Sie stellten das Ende der Periode der Konterrevolution dar. Sie riefen auch einen theoretischen Denkprozess hervor, der das Wiederauftauchen von linkskommunistischen Strömungen begünstigte, von denen die Gründung der IKS 1975 der wichtigste Ausdruck war. Die Arbeiterkämpfe vom Mai 1968 in Frankreich und der "Heiße Herbst" 1969 in Italien ließen angesichts ihrer politischen Forderungen vermuten, dass eine Politisierung der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene bevorsteht. Doch diese Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die Identität, die sich innerhalb der Klasse durch diese Kämpfe entwickelte, war vielmehr von ökonomischen Kategorien geprägt und weniger eine Identifizierung mit ihrer politischen Kraft innerhalb der Gesellschaft. Die Tatsache, dass diese Kämpfe die herrschende Klasse daran hinderten, den Weg zu einem dritten Weltkrieg einzuschlagen, wurde von der Arbeiterklasse (inklusive der Mehrheit der revolutionären Gruppierungen) nicht wahrgenommen. Der Massenstreik in Polen 1980 hatte, auch wenn er einen (seit dem Ende der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg) neuen Höhepunkt in puncto Organisationskraft der Arbeiterklasse darstellte, eine entscheidende Schwäche: Die einzige "Politisierung", die stattfand, war die Annäherung an bürgerlich-demokratische Ideen und an den Nationalismus. Die IKS hatte schon damals folgende Feststellungen gemacht:

- das langsame Tempo der Wirtschaftskrise machte es im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, aus dem die erste globale revolutionäre Welle hervorgegangen war, möglich, den Niedergang des Systems zu verschleiern, was Illusionen über die Fähigkeit des Kapitalismus schürte, der Arbeiterklasse ein gutes Leben zu sichern;

- es existierte aufgrund der traumatischen Erfahrung mit dem Stalinismus ein Misstrauen gegenüber den revolutionären politischen Organisationen (unter den Arbeitern in den Ländern des Ostblocks hatte dies gar große Illusionen über die "Vorteile" der traditionellen bürgerlichen Demokratie hervorgerufen);

- der organische Bruch hatte die revolutionären Organisationen von ihrer Klasse abgeschnitten.

13. Die Situation, in der sich heute die neue Welle von Klassenkämpfen entfaltet, ist eine völlig andere:

- nahezu vierzig Jahre der offenen Krise und Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und vor allem die wachsende Arbeitslosigkeit und Prekarisierung haben die Illusionen weggefegt, "dass es uns morgen besser gehen wird": Die alten und auch die jungen Generationen werden sich immer bewusster, dass es ihnen morgen noch schlechter ergehen wird als heute;

- das Andauern der immer barbarischeren kriegerischen Auseinandersetzungen sowie die Bedrohung durch die Umweltzerstörung erzeugen eine (wenn auch noch konfuse) Ahnung, dass sich diese Gesellschaft grundsätzlich ändern muss. Das Auftauchen der Antiglobalisierungs-Bewegung mit ihrer Parole: "Eine andere Welt ist möglich" stellt dabei ein Gegengift dar, das von der bürgerlichen Gesellschaft verbreitet wird, um diese Ahnungen auf falsche Bahnen zu lenken;

- das Trauma, das durch den Stalinismus und die nach seinem Zerfall vor fast zwanzig Jahren ausgelösten Kampagnen verursacht wurde, klingt langsam ab. Die Arbeiter der neuen Generation, die heute ins aktive Leben treten und sich damit auch potenziell am Klassenkampf beteiligen, befanden sich zur Zeit der schlimmsten Kampagnen über den so genannten "Tod des Kommunismus" noch im Kindesalter.

Diese Bedingungen bewirken eine Reihe von Unterschieden zwischen der heutigen Welle von Kämpfen und jener, die 1989 endete. Auch wenn sie eine Reaktion auf ökonomische Angriffe sind, die ungleich heftiger und allgemeiner sind als jene, die das spektakuläre und massive Auftauchen der ersten Welle verursacht hatten, so haben die aktuellen Kämpfe in den zentralen Ländern des Kapitalismus noch nicht denselben massiven Charakter. Dies vor allem aus zwei Gründen:

- das historische Wiederauftauftauchen der Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre hatte die herrschende Klasse überrascht. Heute dagegen ist dies nicht mehr der Fall. Die Bourgeoisie unternimmt alles Mögliche, um der Arbeiterklasse zuvorzukommen und die Ausdehnung der Kämpfe vor allem durch ein systematisches mediales Ausblenden zu verhindern;

- der Einsatz von Streiks ist heute viel heikler, weil das Gewicht der Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Arbeiterklasse wirkt und Letztere sich auch bewusst ist, dass der Spielraum der Bourgeoisie zur Erfüllung von Forderungen immer kleiner wird.

Dieser letzte Aspekt ist jedoch nicht nur ein Faktor, der die Arbeiter vor massiven Kämpfen zurückschrecken lässt. Er erfordert auch ein tiefes Bewusstsein über das endgültige Scheitern des Kapitalismus, das eine Bedingung dafür ist, dass sich ein Bewusstsein über die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems bildet. In einer gewissen Weise sind die Hemmungen der Arbeiterklasse, sich in den Kampf zu stürzen, durch das schiere Ausmaß der Aufgaben bedingt, mit denen die kämpfende Klasse konfrontiert wird, nämlich mit nichts Geringerem als die proletarische Revolution. Auch wenn die ökonomischen Kämpfe der Klasse momentan weniger heftig sind als die Kämpfe nach 1968, enthalten sie eine gewichtigere politische Dimension. Bereits jetzt machen sich die Kämpfe, die wir seit 2003 erleben, mehr und mehr die Frage der Solidarität zu eigen, eine Frage von höchster Wichtigkeit, da sie das wirksamste "Gegengift" zum für den gesellschaftlichen Zerfall typischen "Jeder-für-sich" darstellt und vor allem weil sie in ihrem Kern die Fähigkeit des Weltproletariates ausmacht, nicht nur die gegenwärtigen Kämpfe zu entfalten, sondern auch den Kapitalismus zu überwinden:

- der spontane Streik der Daimler-Arbeiter in Bremen gegen die Angriffe auf die Belegschaft ihres Betriebes in Stuttgart;

- der Solidaritätsstreik der GepäckarbeiterInnen in einem Londoner Flughafen gegen die Entlassungen von Angestellten eines Catering-Unternehmens, und dies trotz der Illegalität des Streiks;

- der Streik der Transportangestellten in New York aus Solidarität mit der jungen Generation, die die Direktion unter schlechteren Konditionen einstellen wollte.

14. Die Frage der Solidarität stand auch im Zentrum der Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich im Frühjahr 2006, die sich -unter hauptsächlicher Beteiligung von StudentInnen und OberschülerInnen – voll und ganz auf dem Terrain der Arbeiterklasse befand:

- aktive Solidarität der Studierenden besser gestellter Universitäten mit den StudentInnen anderer Universitäten;

- Solidarität gegenüber den Kindern der Arbeiterklasse in den Vorstädten, deren Revolten im Herbst 2005 die miserablen Lebensbedingungen und die fehlenden Perspektiven, die ihnen der Kapitalismus bietet, ans Licht gebracht hatten;

- Solidarität unter den verschiedenen Generationen: zwischen jenen, die vor der Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen stehen, und jenen, die sich bereits in einem Lohnarbeitsverhältnis befinden; zwischen jenen, die nun in den Klassenkampf eintreten, und jenen, die bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt haben.

15. Diese Bewegung war auch beispielhaft für die Fähigkeit der Klasse, ihre Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen, mit Vollversammlungen und ihnen gegenüber verantwortlichen Streikkomitees (dies haben wir auch während des Streiks in den Metallbetrieben im spanischen Vigo Frühjahr 2006 gesehen, wo tägliche Vollversammlungen aller beteiligten Belegschaften auf der Straße abgehalten wurden). Die extreme Schwäche der Gewerkschaften im studentischen Milieu hatte dies ermöglicht; die Gewerkschaften konnten ihre traditionelle Rolle als Saboteure des Klassenkampfes nicht ausüben, eine Rolle, die sie bis zur Revolution verkörpern werden. Ein Beispiel für die arbeiterfeindliche Rolle der Gewerkschaften ist die Tatsache, dass die jüngsten Kämpfe oft in Ländern stattfanden, in denen die Gewerkschaften noch sehr schwach vertreten sind (wie in Bangladesh) oder direkt als Organe des Staates auftreten (wie in Ägypten).

16. Die Bewegung gegen das CPE-Gesetz, die in jenem Land stattfand, in dem auch die erste und spektakulärste Manifestation des historischen Wiedererwachens der Arbeiterklasse stattgefunden hatte, der Generalstreik in Frankreich 1968, deutet noch auf andere Unterschiede zwischen der heutigen Welle von Klassenkämpfen und der vorangegangenen hin:

- 1968 waren die Studentenbewegung und die Kämpfe der Arbeiterklasse, auch wenn sie sich zeitlich überschnitten und eine gegenseitige Sympathie vorhanden war, Ausdruck von zwei verschiedenen Realitäten zurzeit des Eintritts des Kapitalismus in seine offene Krise: einerseits eine Revolte des intellektuellen Kleinbürgertums in Gestalt der Studenten gegen die Degradierung ihres Status‘ innerhalb der Gesellschaft, andererseits ein ökonomischer Kampf der Arbeiterklasse gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Bewegung der StudentInnen im Jahr 2006 war eine Bewegung der Arbeiterklasse und zeigte klar auf, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt in den entwickeltsten Ländern (Vergrößerung des tertiären Sektors auf Kosten des industriellen Sektors) die Fähigkeit der Arbeiterklasse, Klassenkämpfe zu führen, nicht in Frage stellen;

- in der Bewegung von 1968 wurde die Frage der Revolution tagtäglich diskutiert. Doch dieses Interesse ging hauptsächlich von den StudentInnen aus, von denen sich die große Mehrheit bürgerlichen Ideologien hingab: dem Castrismus aus Kuba oder dem Maoismus aus China. In der Bewegung von 2006 wurde die Frage der Revolution viel weniger diskutiert, dafür herrschte aber ein viel klareres Bewusstsein darüber, dass nur die Mobilisierung und Einheit der gesamten Arbeiterklasse ein wirkungsvolles Mittel sind, um den Angriffen der Bourgeoise entgegenzutreten.

17. Diese letzte Frage führt uns zum dritten Aspekt des Klassenkampfes, den Engels formuliert hatte: zum theoretischen Kampf, zur Entwicklung des Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse über die grundsätzlichen Perspektiven ihres Kampfes und zum Auftauchen von Elementen und Organisationen, die ein Produkt dieser Anstrengungen sind. Wie 1968 geht heute die Zunahme der Arbeiterkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher. Dabei stellt das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, lediglich die Spitze des Eisbergs dar. Jedoch bestehen auch hier erhebliche Unterschiede zwischen dem heutigen Denkprozess und den Reflexionen nach 1968. Damals setzte das Nachdenken aufgrund massiver und spektakulärer Kämpfe ein, wohingegen der heutige Denkprozess nicht darauf wartet, bis die Arbeiterklasse Kämpfe derselben Dimension entfacht. Dies ist ein Resultat der unterschiedlichen Bedingungen, mit denen das Proletariat heute - im Gegensatz zu denen Ende der 1960er Jahre - konfrontiert ist: Ein Charakteristikum der Kampfwelle, die 1968 begann, bestand darin, dass sie aufgrund ihrer Ausbreitung das Potenzial einer proletarischen Revolution erahnen ließ. Ein Potenzial, das infolge der schlimmen Konterrevolution und der Illusionen, die das "Wachstum" des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg produziert hatte, aus den Köpfen verschwunden war. Heute ist es nicht die Möglichkeit einer Revolution, die den Denkprozess nährt, sondern – angesichts der katastrophalen Perspektive des Kapitalismus – ihre Notwendigkeit. Aus diesem Grund vollzieht sich alles langsamer und weniger sichtbar als in den 1970er Jahren. Der ganze Prozess ist jedoch viel nachhaltiger und nicht so abhängig von Schwankungen im Kampf der Arbeiterklasse. Der Enthusiasmus für die Revolution, der sich 1968 und in den darauffolgenden Jahren ausgedrückt hatte, trieb die Mehrheit der Menschen, die an eine Revolution glaubten, in die Arme linksextremistischer Gruppen. Nur eine kleine Minderheit, die den radikalen kleinbürgerlichen Ideologien und der Momentbezogenheit der Studentenbewegung weniger stark ausgesetzt war, konnte sich den Positionen des Linkskommunismus annähern und seinen Organisationen beitreten. Die Schwierigkeiten, auf welche die Arbeiterklasse angesichts diverser Gegenoffensiven der herrschenden Klasse gestoßen war, und der gesellschaftliche Kontext, der noch Illusionen in die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus erlaubte, ließen reformistische Ideologien wiederaufleben, die vor allem die "extremen" Gruppen links des offiziellen, diskreditierten Stalinismus förderten. Heute, nach dem Zusammenbruch des Stalinismus, nehmen die linken Gruppen seinen frei gewordenen Platz ein. Die "Etablierung" dieser Gruppierungen im politischen Spiel der Bourgeoisie löst eine Gegenreaktion ihrer ehrlichsten Anhänger aus, die auf der Suche nach Klassenpositionen sind. Aus diesem Grund drückt sich das Nachdenken in der Arbeiterklasse nicht nur durch das Auftauchen junger Leute aus, die sich dem Linkskommunismus zuwenden, sondern auch durch Ältere, die bereits Erfahrungen in Organisationen der bürgerlichen Linken gesammelt haben. Dies ist ein sehr positives Phänomen, das uns verspricht, dass die revolutionären Kräfte, die unvermeidlich aus den Kämpfen der Arbeiterklasse auftauchen, nicht mehr so einfach sterilisiert und eingebunden werden können, wie dies im Laufe der 1970er Jahre noch der Fall gewesen war, und dass sie sich vermehrt den Positionen und Organisationen der Kommunistischen Linken anschließen. Die Verantwortung der revolutionären Organisationen, und vor allem der IKS, besteht darin, aktiver Teil in diesem Denkprozess innerhalb der Klasse zu sein. Dies nicht nur durch aktive Interventionen in den sich entwickelnden Klassenkämpfen, sondern auch durch die Stimulierung der Gruppen und Einzelpersonen, die sich diesem Kampf anschließen wollen.

August 2007

Geographisch: 

  • China [1]

Theoretische Fragen: 

  • Imperialismus [2]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [3]

30 Jahre nach dem Deutschen Herbst: Staatsterror damals und heute

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Wir haben untenstehend einen Artikelbeitrag zum sog. Deutschen Herbst von 1977 veröffentlicht. Damals lieferte die Entführung und Ermordung des Arbeitergeberpräsidenten Schleyer durch die Rote Armee Fraktion (RAF) den Vorwand für eine in der westdeutschen Nachkriegszeit beispiellosen Welle der staatlichen Repression, des Ausschwärmens der Sicherheitskräfte und der Einschüchterungen der Bevölkerung durch die bürgerliche Staatsmacht. Allerorts wurden Razzien durchgeführt, ganze Wohnblocks abgeriegelt, ja sogar öffentliche Verkehrsmittel auf offener Strecke angehalten und mit vorgehaltenen Maschinengewehren durchsucht. Welche Atmosphäre der Angst, der Hysterie und der öffentlichen Verdächtigungen damals erzeugt wurde und welche Rolle die bürgerlich-demokratischen Medien dabei gespielt haben, kann in Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum" nachgelesen und nachempfunden werden. Wie sehr die Schleyer-Entführung lediglich den Vorwand lieferte, um diese Machtdemonstration durchzuführen bzw. um neue Repressionsmaßnahmen zu rechtfertigen, ließ im Nachhinein die Zeitschrift Stern durchblicken, indem sie andeutete, wie gut die Polizeikräfte schon frühzeitig über den Aufenthaltsort von Schleyer und seiner Entführer Bescheid wussten.

Wir haben untenstehend einen Artikelbeitrag zum sog. Deutschen Herbst von 1977 veröffentlicht. Damals lieferte die Entführung und Ermordung des Arbeitergeberpräsidenten Schleyer durch die Rote Armee Fraktion (RAF) den Vorwand für eine in der westdeutschen Nachkriegszeit beispiellosen Welle der staatlichen Repression, des Ausschwärmens der Sicherheitskräfte und der Einschüchterungen der Bevölkerung durch die bürgerliche Staatsmacht. Allerorts wurden Razzien durchgeführt, ganze Wohnblocks abgeriegelt, ja sogar öffentliche Verkehrsmittel auf offener Strecke angehalten und mit vorgehaltenen Maschinengewehren durchsucht. Welche Atmosphäre der Angst, der Hysterie und der öffentlichen Verdächtigungen damals erzeugt wurde und welche Rolle die bürgerlich-demokratischen Medien dabei gespielt haben, kann in Heinrich Bölls Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum" nachgelesen und nachempfunden werden. Wie sehr die Schleyer-Entführung lediglich den Vorwand lieferte, um diese Machtdemonstration durchzuführen bzw. um neue Repressionsmaßnahmen zu rechtfertigen, ließ im Nachhinein die Zeitschrift Stern durchblicken, indem sie andeutete, wie gut die Polizeikräfte schon frühzeitig über den Aufenthaltsort von Schleyer und seiner Entführer Bescheid wussten.

Unser Artikel zeigt auf, wie der Terrorismus der RAF und der Bewegung 2. Juni in Deutschland oder der Roten Brigaden in Italien Ausdruck der Empörung über den Kapitalismus war, aber auch der Zweifel, ja der Verzweifelung über die Rolle der Arbeiterklasse. Dies führte zu einer ohnmächtigen, in Grunde genommen kleinbürgerlichen - weil individualistischen - Auflehnung gegen den Staat, die die Obrigkeit nicht nur nicht gefährden konnte, sondern ihr sogar in den Kram passte. Wie sehr die Herrschenden diese terroristische Auflehnung nicht nur auszunutzen, sondern auch zu manipulieren wussten, darüber klärte uns schon damals das Buch eines Augenzeugen dieser Bewegung auf: Bommi Baumanns „Wie alles anfing". Hier wurde geschildert, wie die ersten bewaffneten Kämpfer, ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen, ihre ersten Waffen von Agenten des Verfassungsschutzes erstanden hatten.

Die Bourgeoisie als Nutznießer des Terrorismus

Die bürgerliche Klasse nutzte diese Generation des „bewaffneten Kampfes" auf zweifache Weise auf. Zum einem musste Letztere als Schreckgespenst herhalten, um eine Aufrüstung des Staates zu rechtfertigen, die sich nicht so sehr gegen den „Terrorismus" als vielmehr – präventiv - gegen die „eigene" Bevölkerung und vor allem gegen die Arbeiterklasse richtete. Zum anderen wurden die bewaffneten Gruppen aufgrund ihrer politischen Konfusionen und nicht zuletzt aufgrund der eigenen Ohnmacht unweigerlich in die innerbürgerlichen Machtkämpfe verwickelt (ob nun in den Ost-West-Konflikt oder in den palästinensischen Nationalismus). Ohnehin war der Terrorismus bereits damals in erster Linie ein Mittel des imperialistischen Kampfes zwischen kapitalistischen Staaten und Fraktionen (IRA, PLO usw.)

Wie wenig die zwei Hauptanwendungen des Terrorismus durch den Staat – als Waffe des imperialistischen Krieges und als Rechtfertigung der Repression gegen die Arbeiterklasse – einander ausschließen, wie sehr sie sich stattdessen ergänzen und sich gegenseitig potenzieren, zeigt am besten die Welt von heute. Das Aufkommen des islamischen Terrorismus ist in erster Linie eine Waffe in den Händen einer Reihe von Staaten und Cliquen gegenüber ökonomisch und militärisch häufig überlegenen imperialistischen Gegnern. Vor allem aber ist der „Kampf gegen den Terrorismus" spätestens seit „9/11" zur Kriegsparole sämtlicher führender Industriestaaten dieser Erde geworden. Dies trifft nicht nur auf die USA zu, die zuletzt die Invasion und Besetzung Iraks damit rechtfertigten. Es trifft nicht weniger auf den deutschen Imperialismus zu, der offen gegen den amerikanischen Irakkrieg opponierte, aber die eigenen kriegerischen Einsätze in Afghanistan, Afrika oder vor der libanesischen Küste ganz ähnlich rechtfertigt. Auch bei den gewaltigen Repressionsmaßnahmen im Inneren, die zuletzt auch in Deutschland nicht gefehlt haben, stand zunächst die Abwehr von Terrormaßnahmen feindlicher Staaten und Cliquen noch im Vordergrund. Aber die Herrschenden wissen sehr genau, dass ihr natürlicher und eigentlicher Todfeind das Proletariat ist: Dies ist der Feind sowohl „im eigenen Land" wie auch weltweit. Gegenüber dem Terrorismus hingegen kennt der kapitalistische Staat keine Berührungsängste. Denn der Terrorismus ist nicht nur eine Waffe „der Anderen" gegen „unsere Zivilisation", sondern auch eine Waffe, zu der beispielsweise die Bundesrepublik selbst gern greift. Hinlänglich bekannt ist, wie die USA Bin Ladens Organisation ursprünglich mit aufbauten, aufrüsteten und ausbildeten. Aber es würde sich auch lohnen, die länger bestehenden, engen Beziehungen der bundesdeutschen Politik zu Terrorgruppen in Nahost, auf dem Balkan oder aber die jüngst geknüpften Beziehungen in Afghanistan eingehender zu recherchieren.

Aufrüstung des Staates damals und heute

Die Ereignisse im Jahr 2007 in Deutschland haben nun, sechs Jahre nach den Anschlägen in New York, auf eindrucksvolle Weise die zweite Speerspitze des „Krieges gegen den Terrorismus" - gegen die Radikalisierung an der sozialen Front - sichtbar werden lassen. 30 Jahre nach dem „Deutschen Herbst" folgt 2007 sozusagen der „deutsche Sommer". Zum einem hat man die überwiegend jugendlichen Demonstranten, die gegen den G8-Gipfel in Rostock und Heiligendamm marschierten, um eine „andere Welt" einzufordern, mit den Mitteln des staatlichen Terrors traktiert, sie, wie in Guantanamo, in Käfige eingesperrt. Zum anderen hat man die Aktivitäten einer sog. Militanten Gruppe (MG) zum Anlass genommen, um „systemkritisches", sprich: antikapitalistisches Denken in die Nähe des Terrorismus zu rücken und auch mit Verhaftung, Kontaktsperre, Isolationshaft zu ahnden. Diese Gruppe soll an Sachbeschädigungen gegen „Symbole des Kapitalismus" wie Luxusautos oder Lastwagen der Bundeswehr beteiligt gewesen sein.

Über das Wesen dieser in der Öffentlichkeit recht nebulös gebliebenen Gruppe gibt es bis heute kaum gesicherte Erkenntnisse. Sicher und auch auffallend ist die Art und Weise, wie der Staat darauf reagiert. Die symbolischen Sachbeschädigungen werden mit der ganzen Wucht des „Krieges gegen den Terrorismus" geahndet. Wir zitieren aus einem Offenen Brief an die Generalbundesanwaltschaft gegen die Kriminalisierung kritischer Wissenschaft und politischen Engagements, der am 15. August von Kolleginnen und Kollegen eines der Verhafteten aus dem In- und Ausland verfasst wurde.

„Am 31. Juli 2007 wurden die Wohnungen und teilweise auch die Arbeitsplätze von Dr. Andrej Holm und Dr. Matthias B. sowie von zwei weiteren Personen durchsucht. Dr. Andrej Holm wurde festgenommen, mit einem Hubschrauber zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe geflogen und dort dem Haftrichter vorgeführt. Seitdem befindet er sich in Untersuchungshaft in Berlin. Der Vorwurf lautet bei allen ‚Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB’. Sie sollen Mitglieder einer ‚militanten gruppe’ (mg) sein. Wie im Rahmen der Hausdurchsuchungen bekannt wurde, läuft das Ermittlungsverfahren unter diesem Vorwurf gegen die vier bereits seit September 2006 – und sie wurden seitdem rund um die Uhr observiert. Wenige Stunden vor den Hausdurchsuchungen wurden in Brandenburg Florian L., Oliver R. und Axel H. festgenommen. Ihnen wird versuchte Brandstiftung auf vier Fahrzeuge der Bundeswehr vorgeworfen. Andrej Holm soll einen der drei im ersten Halbjahr 2007 zweimal unter angeblich konspirativen Umständen getroffen haben. Die Bundesanwaltschaft geht deshalb davon aus, dass sowohl die vier oben Genannten als auch die drei in Brandenburg Festgenommenen Mitglieder einer ‚militanten gruppe’ seien und ermittelt gegen alle sieben wegen des Verdachts der ‚Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung’ (§129a StGB).

Der Vorwurf gegen die vier Erstgenannten wird laut Haftbefehl gegen Andrej Holm derzeit so begründet:

Dr. Matthias B. habe in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen ‚Phrasen und Schlagwörter’ verwendet, die auch die ‚mg’ verwende;

Dr. Matthias B. sei als promovierter Politologe intellektuell in der Lage, ‚die anspruchsvollen Texte der 'militanten gruppe’ zu verfassen. Darüber hinaus stünden ihm ‚als Mitarbeiter eines Forschungsinstituts Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der Texte der 'militanten gruppe' erforderlichen Recherchen durchzuführen’;

Ein weiterer Beschuldigter habe sich mit Verdächtigen konspirativ getroffen: ‚So wurden regelmäßig Treffen vereinbart, ohne jedoch über Ort, Zeit und Inhalt der Zusammenkünfte zu sprechen’; er sei zudem in der ‚linksextremistischen Szene’ aktiv gewesen.

Bei einem dritten Beschuldigten sei eine Adressenliste gefunden worden, auf der auch die Namen und Anschriften der anderen drei standen;

Dr. Andrej Holm, der als Stadtsoziologe arbeitet, habe enge Kontakte zu allen drei in Freiheit befindlichen Beschuldigten,

Dr. Andrej Holm sei ‚in dem von der linksextremistischen Szene inszenierten Widerstand gegen den Weltwirtschaftsgipfel 2007 in Heiligendamm aktiv’ gewesen.

Als konspiratives Verhalten wird u.a. gewertet, dass er angeblich absichtlich sein Mobiltelefon nicht zu einem Treffen mitnahm

Andrej Holm sowie Florian L., Oliver R. und Axel H. sind seit dem 01.08.2007 unter sehr rigiden Bedingungen in Berlin-Moabit inhaftiert: Sie sind 23 Stunden am Tag in einer Einzelzelle und haben eine Stunde Hofgang. Sie können alle 14 Tage für insgesamt eine halbe Stunde besucht werden, Kontakte sind nur mit Trennscheibe erlaubt. Auch die Anwälte können mit ihren Mandanten nur mit Trennscheibe sprechen, die Verteidigerpost wird kontrolliert.

Aus den Vorwürfen in den Haftbefehlen wird ein Konstrukt deutlich, dass auf abenteuerlichen Analogieschlüssen basiert. Es ist von vier grundlegenden Hypothesen getragen, die alle von der Bundesanwaltschaft (BAW) [Attorney of the Federal Supreme Court] nicht genauer belegt werden können, aber durch ihre Zusammenstellung den Eindruck einer ‚terroristischen Vereinigung’ hinterlassen sollen.

Die Sozialwissenschaftler seien wegen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, ihrer intellektuellen Fähigkeiten und dem Zugang zu Bibliotheken die geistigen Köpfe der angeblichen ‚Terror-Organisation’. Denn eine Vereinigung ‚militante gruppe’ soll laut BAW dieselben Begriffe verwenden wie die beschuldigten Sozialwissenschaftler. Als Beleg dafür gilt ihr der Begriff ‚Gentrification’, einer der Forschungsschwerpunkte von Andrej Holm und Matthias B. in den vergangenen Jahren, zu dem sie auch international publiziert haben. Ihre Forschungsergebnisse haben sie dabei nicht im ivory tower (Elfenbeinturm, die Red.) gelassen, sondern ihre Expertise auch Bürgerinitiativen und Mieterorganisationen zur Verfügung gestellt – so wird eine intellektuelle Urheberschaft konstruiert."

Die Repressionsorgane bereiten sich auf den Klassenkampf vor

Nicht weniger auffallend ist die Art und Weise, wie über diese Vorgänge in den Medien berichtet wird. Zum einem wird diesem Thema keine breite Öffentlichkeit gewidmet. Man ist offenbar bemüht, die Sache herunterzuspielen, um die Bevölkerung nicht zu sehr gegen sich aufzubringen. Denn anders als die RAF-Morde im Vorfeld des „Deutschen Herbstes" taugen die Sachbeschädigungen in Berlin oder Brandenburg kaum dazu, eine Stimmung der öffentlichen Angst und Entrüstung auszulösen. Darüber hinaus ist die Zeit seit 1977 nicht stehen geblieben. Im Zeitalter der offenen Wirtschaftskrise, des massiven Sozialabbaus und der behördlichen Drangsalierung der Bevölkerung ist es deutlich schwieriger geworden, die Bevölkerung auch nur vorübergehend hinter den Staat zu scharen (wie sich nach den Anschlägen in New York rasch herausstellte). Es scheint die Repressionsorgane vielmehr darum zu gehen, die politisch suchenden Minderheiten, die begonnen haben, die bürgerliche Gesellschaft in Frage zu stellen, einzuschüchtern und abzuschrecken. Zum anderen werden die Anschläge, dort wo sie zur Sprache kommen, mit einem „geistigen Umfeld" in Zusammenhang gebracht, das als „Nährboden des Terrorismus" bezeichnet wird. So haben die Medien mehrmals das „Gerede von der Weltrevolution" als ein Merkmal dieses Milieus bezeichnet (die 3SAT-Sendung Kulturzeit hat zu Recht kritisch auf diese Tendenz im öffentlichen Diskurs hingewiesen). Man spricht von ominösen Theoretikern, die aufgrund der Radikalität ihrer Auffassungen auch dann als „geistige Brandstifter" gelten sollen, wenn sie selbst mit Terrorismus nichts am Hut haben. In diesem Zusammenhang passt es auch, dass die jüngste Welle von Razzien in Berlin vor dem Roten Antiquariat nicht halt machte – ein Buchladen, der wie kaum ein anderer in Deutschland die Möglichkeit bietet, die Ideen und Publikationen internationalistischer revolutionärer Gruppen kennenzulernen. Auch hier ist der Unterschied zum Vorgehen der Bourgeoisie in den 70er Jahren auffallend. Damals scherten sich die Medien in Deutschland oder Italien einen Dreck um die politischen Ideen der RAF oder der Roten Brigaden. Die Anschläge dieser Gruppen wurden vielmehr als Ausgeburt einer Geistesgestörtheit hingestellt, der sogar mit Hirnoperationen zu Leibe gerückt werden sollte. Damals war das Gros der Politisierten sehr aktivistisch und folgte zumeist mehr oder weniger unkritisch bis gedankenlos den Parolen des Stalinismus. Was heute die neue Generation auszeichnet – allem Aktivismus zum Trotz –, ist ein viel kritischeres und tieferes Nachdenken, das für den Kapitalismus entsprechend gefährlicher zu werden droht. Daher die Kriminalisierung der radikalen Theorie.

Das Wiederauftauchen einer Praxis von Anschlägen gegen „Symbole des Systems" mutet ein wenig merkwürdig an. Auch wenn diese Aktionen sich derzeit nicht mehr gegen Personen richten, so weisen sie darauf hin, dass die Lehren aus den Erfahrungen mit der RAF oder den Roten Brigaden nicht oder nur sehr unzureichend gezogen worden sind. Solche sinnlosen Verzweifelungstaten sind auch heute Ausdruck einer tiefen Empörung gegen das herrschende System. Eine Empörung, die wir voll und ganz teilen. Daher unsere Solidarität mit den Opfern des staatlichen Terrors, ungeachtet, ob die Verhafteten und Drangsalierten an solchen Aktionen beteiligt waren oder nicht. Aber solche Taten sind auch Ausdruck einer großen Schwierigkeit, die wirkliche revolutionäre Kraft innerhalb dieser Gesellschaft zu erkennen. Diese Schwierigkeit ist nicht verwunderlich. Denn was die Welt von heute im Vergleich zu 1977 auszeichnet, ist nicht nur die weitaus dramatischere und gefährlichere Sackgasse, in die der Kapitalismus die Menschheit geführt hat, sondern auch der weitgehende Verlust an Klassenidentität des Proletariats nach 1989. Jedoch beginnt heute das Weltproletariat die eigene Kraft wieder zu entdecken. Und die politischen Vordenker dieser Klasse beginnen die eigenen revolutionären Theorien und Positionen zu entdecken und weiter zu entwickeln. Zur Solidarität des Proletariats mit den Opfern des staatlichen Terrors gehört der Kampf, um auch die Verzweifelten für die Sache und für die Methoden der Arbeiterklasse zu gewinnen (siehe untenstehenden Artikel).

31.08.2007.

Die Lehren aus dem Deutschen Herbst 1977

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Die bürgerlichen Medien haben mit viel Aufwand über den „Deutschen Herbst" 1977 berichtet. Schon im letzten Winter, als der Bundespräsident über die Begnadigung der noch in Haft sitzenden Terroristen zu entscheiden hatte, wurden die damaligen Anschläge wieder in Erinnerung gerufen. Meist drehten sich die Artikel und Berichte um noch ungeklärte Tatabläufe, unbekannte Täter, die Rolle dieses oder jenes Beschuldigten. Wir wollen dagegen in diesem Artikel der Frage nachgehen, warum seinerzeit der Terrorismus solch einen Auftrieb erhalten hatte und warum die Kommunisten ihn ablehnen.

Die bürgerlichen Medien haben mit viel Aufwand über den „Deutschen Herbst“ 1977 berichtet.  Schon im letzten Winter, als der Bundespräsident über die Begnadigung der noch in Haft sitzenden Terroristen zu entscheiden hatte, wurden die damaligen Anschläge wieder in Erinnerung gerufen. Meist drehten sich die Artikel und Berichte um noch ungeklärte Tatabläufe, unbekannte Täter, die Rolle dieses oder jenes Beschuldigten. Wir wollen dagegen in diesem Artikel der Frage nachgehen, warum seinerzeit der Terrorismus solch einen Auftrieb erhalten hatte und warum die  Kommunisten ihn ablehnen.

 

 

Die Lage nach 1968

 

Als 1968 in Frankreich mit dem imposanten Massenstreik unter Beteiligung von zehn Millionen ArbeiterInnen ein gewaltiger Ruck durch die Gesellschaft ging und auch in einer Reihe von anderen Ländern (wie in Italien, Deutschland, Großbritannien, Polen, Argentinien) Arbeiterkämpfe aufflammten, keimte neue Hoffnung auf. Die seit den 1920er Jahren über der Arbeiterklasse niedergegangene Konterrevolution war zu Ende. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen verschob sich. Das Proletariat trat wieder auf die Bühne der Geschichte. Damit tauchte erneut die Perspektive der Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft auf – auch wenn dies damals nicht von allen verstanden wurde. Aber der endlich wieder spürbare Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus zog unzählige Menschen, die ihre Ablehnung der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen wollten, in seinen Bann. Vor allem viele junge Leute wurden politisiert und fingen an, nach Mitteln des Kampfes gegen diese Gesellschaft zu suchen.

 

 

Der herrschenden Klasse gelang es jedoch nach einiger Zeit, die sich entfaltenden  Arbeiterkämpfe wieder in den Griff zu bekommen. Aufgrund der Gegenoffensive, die vor allem von den Gewerkschaften und den linken Parteien getragen wurde, konnte das Kapital eine weitere Radikalisierung der Kämpfe verhindern. Bei den meisten Menschen, die zuvor noch von den Arbeiterkämpfen angezogen worden waren und sich in den Widerstand gegen die bürgerliche Gesellschaft einreihen wollten, aber nun keinen Bezugspunkt mehr in der Arbeiterklasse finden konnten, machte sich eine große Desorientierung breit.

 

 

Die Flucht in die Verzweiflung

 

Ein Teil von ihnen ließ sich von linkskapitalistischen Organisationen (Trotzkisten, Maoisten u.a.) einfangen und irreführen. Diese Organisationen sorgten dafür, dass ihr „anti-kapitalistischer“ Elan schnell verpuffte. So wurde z.B. ihre anfängliche Ablehnung des Kapitalismus in eine Unterstützung der „anti-imperialistischen Befreiungsbewegungen“ umgeleitet. In den zahlreichen Stellvertreterkriegen, die damals, zurzeit des Kalten Krieges, tobten, ließen sich viele vom Mythos der nationalen Befreiungskämpfe beeindrucken und hatten für die Arbeiterklasse nur noch Spott und Hohn übrig. Einige Elemente aus den linksextremistischen Kaderorganisationen machten später steile Karrieren. Ob der einstige Pressesprecher des maoistischen Kommunistischen Bundes Norddeutschland (KB Nord), Jürgen Trittin, das ehemalige Mitglied des gleichermaßen maoistischen Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW), Renate Schmidt, der einstige Jusovorsitzende Gerhard Schröder, Joschka Fischer, in den 1970er Jahren Aktivist in der Frankfurter Krawallszene, oder Otto Schily, der einst Strafverteidiger der RAF in den Stammheim-Prozessen gewesen war – sie alle, die ihr Handwerk bei den Linken gelernt hatten, sind in der rot-grünen Ära in Staats- oder andere Führungsämter der kapitalistischen Wirtschaft aufgestiegen. Andere wiederum wandten sich vollends von der Politik ab oder wurden gar zu Vordenkern der Neonazis, wie Horst Mahler, der seinerzeit mit der RAF geliebäugelt und sie vor Gericht verteidigt hatte.

 

 

Doch daneben gab es noch jene, die darüber verbittert waren, dass  die kapitalistische Gesellschaft den wiedererwachten Kampfgeist der Arbeiterklasse so schnell wieder in den Griff bekommen hatte, die aber dennoch nicht bereit waren, sich mit der Gesellschaft zu arrangieren oder den Rückzug aus der Politik anzutreten.  Stattdessen stemmten sie sich mit aller Macht gegen dieses System. Ihre Devise lautete: Wenn die ArbeiterInnen nicht aus eigener Kraft den Kampf aufnehmen, dann müssen wir sie nach vorn treiben. So bestand denn ihre Strategie darin, den bürgerlichen Staat durch symbolische Schläge gegen dessen Repräsentanten dergestalt zu provozieren, dass er gegenüber der Arbeiterklasse seine „faschistische Fratze“ enthüllte. So die damals in diesem Milieu vorherrschende Denkrichtung. Man begann also, sich terroristischen Methoden zuzuwenden und den  bewaffneten Kampf zu propagieren. Die Serie von Anschlägen, Entführungen, terroristischen Angriffen gegen Personen und Einrichtungen kulminierte schließlich im berüchtigten „Deutschen Herbst“ mit seinen Morden an Ponto, Buback und Schleyer. Schwerpunkte der Aktivitäten dieser terroristischen Gruppen war dabei vor allem Deutschland und Italien. 

 

 

Kommunisten gegen Terrorismus

 

Von den Abertausenden vorwiegend jungen Menschen, die durch die Arbeiterkämpfe inspiriert worden waren, gelang es nur ganz wenigen, sich in geduldiger, mühevoller Arbeit mit der Geschichte, dem Vermächtnis und der Erfahrung insbesondere der linkskommunistischen Kräfte zu befassen, die den Jahrzehnten der Konterrevolution widerstanden, die Lehren der Niederlage in Russland 1917 gezogen und die zukünftigen Kämpfe vorbereitet hatten. Vor allem in Deutschland beschränkte sich der Kreis der Leute, die sich intensiv mit dem Linkskommunismus im Besonderen und mit der Geschichte der Arbeiterbewegung im Allgemeinen befassten, auf ganz wenige, die sich auch durch die fortdauernden Schwierigkeiten des Klassenkampfes nicht entmutigen ließen.

 

 

Die Internationale Kommunistische Strömung, die aus den Kämpfen von 1968 hervorgegangen ist und als ein Zusammenschluss auf internationaler Ebene 1976 gegründet wurde, hat stets terroristische Methoden abgelehnt. In einem Text, der nach dem „Deutschen Herbst“ 1977 veröffentlicht wurde, betonten wir: „Der Terror ist ein strukturiertes, permanentes von den ausbeutenden Klassen ausgeübtes Herrschaftssystem. Der Terrorismus dagegen ist eine Reaktion der unterdrückten Klassen. Es handelt sich um eine vorübergehende Reaktion, um Racheaktionen, die ohne Kontinuität und Zukunft sind. Als ein gewaltsames Aufmucken der Machtlosen kann der Terrorismus nicht den Terror der herrschenden Klasse erschüttern. Es ist wie ein Mückenstich in die Haut einen Elefanten. Dagegen kann er und wird er oft vom Staat zur Rechtfertigung und Verstärkung dessen Terrors benutzt. Wir müssen unbedingt den Mythos verurteilen, demzufolge der Terrorismus als Sprengkapsel dazu diene oder dazu dienen könne, den Kampf des Proletariats in Gang zu setzen. Es ist vollkommen absurd vorzutäuschen, dass der Terrorismus der radikalisierten Schichten der Kleinbourgeoisie das Verdienst habe, in der Arbeiterklasse die Auswirkungen der demokratischen Verschleierungen der bürgerlichen Legalität zu zerstören und ihr den unvermeidbaren Weg zur Gewalt klarzumachen. Das Proletariat hat von dem radikalen Terrorismus keine Lehren zu ziehen, abgesehen davon, dass er von ihm abrücken und ihn zurückweisen soll, denn die im Terrorismus beinhaltete Gewalt befindet sich grundsätzlich auf bürgerlichem Boden. Zu einem Verständnis der Notwendigkeit und Unabdingbarkeit der Gewalt kommt das Proletariat aufgrund seiner eigenen Existenz, mittels seines eigenen Kampfes, seiner eigenen Erfahrung, der Konfrontationen mit der herrschenden Klasse. Es ist eine Klassengewalt, die sich ihrem Wesen, ihrem Inhalt, ihrer Form und in ihren Methoden sowohl vom kleinbürgerlichen Terrorismus als auch vom Terror der herrschenden ausbeutenden Klasse unterscheidet.

 

 

Es stimmt, daß die Arbeiterklasse im Allgemeinen eine Haltung der Solidarität und der Sympathie einnimmt, zwar nicht gegenüber dem Terrorismus, den sie als Ideologie, als Organisationsform und als Methode verurteilt, sondern gegenüber den Elementen, die vom Terrorismus in die Sackgasse geführt werden. Dies aus den folgenden Gründen:

 

 

1. weil diese Elemente gegen die bestehende Ordnung des Terrors revoltieren, auf dessen grundlegende Zerstörung das Proletariat hinarbeitet ;

 

 

2. weil diese Elemente genau wie die Arbeiterklasse ebenso die Opfer der schrecklichen Ausbeutung und Unterdrückung durch die Todfeinde des Proletariats sind (...) Die einzige Art für das Proletariat, seine Solidarität mit diesen Opfern zu zeigen, liegt darin, zu versuchen, sie aus der tödlichen Sackgasse des Terrorismus zu holen, in die sie sich verrannt haben und sie vor den Henkern des staatlichen Terrors zu retten.“ („Terror, Terrorismus und Klassengewalt“, Internationale Revue, Nr. 3, 1979, www.internationalism.org [4])

 

 

Mit diesem Standpunkt stellten wir uns in die Tradition der Kommunisten. Schon früh hat die Arbeiterbewegung terroristische Methoden abgelehnt, weil sie der Auffassung war, dass Ziel und Mittel des Kampfes miteinander im Einklang stehen müssen. Auch haben die Kommunisten immer betont, dass die historisch notwendige Revolution von der großen Mehrheit der Bevölkerung getragen werden muss. Und gegenüber jenen, die sich zu gewaltsamen Aktionen hinreißen lassen, weil sie es ablehnen, das Bewusstsein der Arbeiterklasse geduldig voranzutreiben, haben die Kommunisten auch stets unterstrichen, dass die Arbeiterklasse keinen Hass, keine Rachegelüste gegenüber Personen ausleben darf, sondern die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft anstreben muss.

 

 

In den Fangarmen des bürgerlichen Staates

 

Die Spirale des Terrorismus und der staatlichen Repression nahm schließlich ihren Lauf. Schließlich verfing sich die RAF, auf der Suche nach Rückzugsräumen vor dem sich immer enger zusammenziehenden Fahndungsnetz des westdeutschen Repressionsapparates, in den Maschen der ostdeutschen Staatssicherheitsorgane, die in ihr ein Vehikel zur Destabilisierung des westdeutschen Staates sahen. Bereit, mit dem Feind des Feindes zu kooperieren, geriet die RAF so vom Regen in die Traufe. Zudem begann sie – neben anderen terroristischen Gruppen Europas - auch mit Terrorgruppen im Nahen Osten zusammenzuarbeiten, die sich im imperialistischen Krieg gegen Israel aller Mittel, einschließlich des nackten Terrors, bedienten. Die Spirale der Barbarei hat diese Kräfte, von denen sich die Terroristen vor 30 Jahren ausbilden ließen,  mittlerweile dazu getrieben, systematisch Massenmorde mit  Selbstmordattentätern zu planen, in denen es nur noch darum geht, möglichst viele Zivilisten in den Tod zu reißen, und in denen Kinder als Bombenwerfer oder Kuriere missbraucht werden.

 

 

Von dem anfänglichen Wunsch, den Kapitalismus zu bekämpfen, war nichts mehr übrig geblieben. Stattdessen war man in die Fangarme eines der beiden Lager im Kalten Krieg geraten. Der westdeutsche Staat wiederum nutzte die Anti-Terrorismus-Kampagne, die er gegen die RAF entfachte hatte, aus, um seinen Repressionsapparat, den er schon 1969, unmittelbar nach dem Wiederaufflammen der Arbeiterkämpfe, mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze aufgerüstet hatte, weiter auszubauen. So schuf er sich u.a. ein ganzes Arsenal an Anti-Terrorismus-Gesetzen wie beispielsweise den berüchtigten Paragraphen 129, mit denen er heute jene drangsaliert, die sich, wenn auch oftmals mit untauglichen Mitteln, auf die Suche nach Antworten auf die immer dringendere Frage der Systemüberwindung begeben (s. den Artikel in dieser Ausgabe über die sog. Militante Gruppe). Mittlerweile verfügt der Staat über ein noch viel breiter gefächertes Überwachungssystem, das er unablässig verfeinert, wie die Gesetzesinitiativen von Innenminister Schäuble veranschaulichen.

 

 

Die Herausforderung heute: Die Tragödie von damals vermeiden

 

Jenen, die wegen der damaligen historischen Umstände ins Fahrwasser dieser Bewegung gerieten, sagen wir: Wer aufrichtig an der Perspektive festhält, dieses verrottete System zu überwinden, wer auch heute meint, dass der Kapitalismus auf den Misthaufen der Geschichte gehört, der muss ohne Scheuklappen eine schonungslose  Bilanz der politischen Entwicklung und der Irrwege ziehen, in denen er gelandet war. Es ist nie zu spät, diese Bilanz zu ziehen. Im Gegenteil,  diese Methoden zu kritisieren und zu begreifen, wie man in dieser Sackgasse landen konnte, ist nicht nur unabdingbar, sondern auch ein wertvoller Beitrag gerade für all jene, die heute politisiert werden und nach Antworten und Perspektiven suchen und denen wir solche Sackgassen ersparen müssen.

 

 

Nachdem vor 30 Jahren viele junge Menschen in ihrer Konfusion und Ratlosigkeit durch linkskapitalistische Kräfte politisch vergewaltigt, irregeführt oder zermürbt wurden und einige davon aus Verzweiflung im Terrorismus landeten, müssen wir heute alles daran setzen, dass solch eine Tragödie sich nicht wiederholt. Dies ist die Herausforderung, vor denen wir uns als Revolutionäre heute sehen: jene, die heute politisiert werden und nach Antworten und Mitteln des Kampfes suchen, für einen langfristigen, geduldigen Kampf gegen das verbrecherische Gesellschaftssystem des Kapitalismus zu gewinnen. 31.08.07

 

 

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„In den bürgerlichen Revolutionen waren Blutvergießen, Terror, politischer Mord die unentbehrliche Waffe in der Hand der aufsteigenden Klassen. Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie haßt und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen und die geschichtliche Notwendigkeit in Wirklichkeit umzusetzen“  (Was will der Spartakusbund?, 14. 12.1918).

 

 

 

Die Studentenbewegung in Venezuela

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In Caracas begannen am 28. Mai Studentendemonstrationen, die sich rasch auf  verschiedene Städte quer durch das ganze Land ausbreiteten[1]; das vordergründige Motiv war der Beschluss der Regierung, den Fernsehsender Radio Caracas Televisión (RCTV) zu schließen, das bis dahin das wichtigste Sprachrohr unter den Medien für jene Bereiche des nationalen Kapitals war, die gegen die Regierung von Chávez opponieren. Dies führte dazu, dass die soziale Unzufriedenheit geweckt wurde, die innerhalb der arbeitenden Massen und der gesamten Bevölkerung herangereift war, diesmal ausgedrückt durch die Studentendemonstrationen.

 

 

Angesichts dieser Proteste rief  Chávez selbst am 29. Mai die Bewohner der Slumsiedlungen dazu auf, "die Revolution zu verteidigen"; etwas später unterstützten die "radikalen" Abgeordneten der Nationalversammlung (ausschließlich von Abgeordneten gebildet, die die so genannte "bolivarische Revolution" unterstützen) vorbehaltlos den  Aufruf ihres Führers an die Bewohner der Barrios, gegen die Studentenbewegungen zu demonstrieren. Jedoch ließen sich die Einwohner der Slumsiedlungen und der Armenviertel, die den Ruf haben, hinter dem Chávismus zu stehen, bis jetzt nicht mobilisieren. Dies zeigt eine gewisse Sympathie für die Parolen der Bewegung, die die Medien als zweitrangig behandelt haben, wie die Notwendigkeit, den Problemen der Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Gesundheit und der allgemeinen Armut gegenüberzutreten [2].

 

 

Ein neuer  Versuch, sich von der  falschen Alternative zwischen Chávismus und  Opposition zu befreien

 

In Caracas begannen am 28. Mai Studentendemonstrationen, die sich rasch auf  verschiedene Städte quer durch das ganze Land ausbreiteten[1]; das vordergründige Motiv war der Beschluss der Regierung, den Fernsehsender Radio Caracas Televisión (RCTV) zu schließen, das bis dahin das wichtigste Sprachrohr unter den Medien für jene Bereiche des nationalen Kapitals war, die gegen die Regierung von Chávez opponieren. Dies führte dazu, dass die soziale Unzufriedenheit geweckt wurde, die innerhalb der arbeitenden Massen und der gesamten Bevölkerung herangereift war, diesmal ausgedrückt durch die Studentendemonstrationen.

 

 

Angesichts dieser Proteste rief  Chávez selbst am 29. Mai die Bewohner der Slumsiedlungen dazu auf, "die Revolution zu verteidigen"; etwas später unterstützten die "radikalen" Abgeordneten der Nationalversammlung (ausschließlich von Abgeordneten gebildet, die die so genannte "bolivarische Revolution" unterstützen) vorbehaltlos den  Aufruf ihres Führers an die Bewohner der Barrios, gegen die Studentenbewegungen zu demonstrieren. Jedoch ließen sich die Einwohner der Slumsiedlungen und der Armenviertel, die den Ruf haben, hinter dem Chávismus zu stehen, bis jetzt nicht mobilisieren. Dies zeigt eine gewisse Sympathie für die Parolen der Bewegung, die die Medien als zweitrangig behandelt haben, wie die Notwendigkeit, den Problemen der Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Gesundheit und der allgemeinen Armut gegenüberzutreten [2].

 

 

Mehr noch, der Unwille sich von den martialischen Aufrufen des "Comandante" mobilisieren zu lassen, könnte darauf hindeuten, dass dem lügnerischen Geschwätz von Chávez, er sei der "Vertreter der Armen", nicht mehr so wie bisher von diesen Bevölkerungsschichten geglaubt wird, die einst gehofft hatten, er würde ihre Armut mindern.

 

 

Inzwischen führen der Präsident, seine Familie und seine Gefolgsleute das Leben der Reichen wie die vergangenen Regierungen auch[3].

 

 

Was Chávez und seiner Anhänger betrifft, die diesen Aufruf erließen, so mobilisierten diese die Repressionskräfte und bewaffneten Banden, um die Studenten und jene einzuschüchtern und zu unterdrücken, die aus ihren Häusern und Wohnungen herauskamen, um ihre Unterstützung zu zeigen. Gleich beim ersten Angriff wurden 200 Studenten festgenommen, etliche verletzt, darunter zahlreiche junge Menschen. Während diese wildgewordene Meute die Protestierenden attackierte, kriminalisierte und als „Lakaien des Imperialismus“, „Verräter des Vaterlandes“ sowie als „Wohlstandskinder“ beschimpfte, schloss sich Daniel Ortega, der „revolutionäre“ Mandatsträger Nicaraguas, während eines Besuches der Nationalversammlung diesen Angriffen an, als er die protestierenden Studenten beschuldigte von den reichsten Klassen Venezuelas zu stammen und ihrem „Traum vom Aufruhr der Straßen“ dienen. Jedoch diente die Repression und Verunglimpfung zur Einschüchterung der Studenten nur dazu, die Bewegung zu radikalisieren und weiter zu verbreiten. 

 

 

Was steckt hinter dieser Studentenbewegung?

 

Sind diese Demonstrationen ein weiterer Ausdruck der Konfrontation zwischen den bürgerlichen Fraktionen von Chávez und der Opposition? Geht es den Studenten dabei nur um ihre eigenen Angelegenheiten?

 

 

Wir denken nein. Diese Bewegung von eines wichtigen Teils der Studenten hat zur Überraschung der Regierung und der Opposition einen Charakter angenommen, der dazu tendiert, mit den starren Schemata der politischen Polarisierung zwischen bürgerlichen Fraktionen zu brechen. Die Bewegung drückt vielmehr eine soziale Unzufriedenheit  aus, die bis jetzt in dieser Polarisation gefangen war. Sie ist daher mehr als ein bloßer studentischer Protest:

 

 

- Es ist unbestreitbar, dass die politischen Kräfte der Regierung und der Opposition versucht haben, die Bewegung für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen: Erstere stellen die Bewegung  als bloße Manipulation durch die der Regierung entgegengesetzten politischen Kräfte dar (einschließlich des US-Imperialismus); Letztere sagen, dass es eine politische Bewegung der Opposition sei, die ihre Parolen für Meinungsfreiheit und gegen "Staatstotalitarismus" teile; bürgerliche Parolen, die  von der Opposition vertreten werden, um die Chávez-Regierung zu stürzen. Jedoch hat die Bewegung versucht, sowohl zur Regierung als auch zur Opposition auf Distanz zu gehen. Die Studenten haben den politischen Charakter des Protests nicht versteckt, sondern klar gemacht, dass sie weder der Regierung noch der Opposition Gehorsam schulden. Die Erklärungen der Anführer dieser Bewegung waren eindeutig: "Die Politiker haben ihre Tagesordnung, wir haben unsere".

 

 

Mit diesem Ziel hat die Bewegung sich organisatorische Formen gegeben wie die Versammlungen, in denen sie diskutieren,   Kommissionen wählen und entscheiden können, was zu tun ist: dies hat auf der lokalen und nationalen Ebene stattgefunden. In diesen Versammelungen, die in mehreren Universitäten gebildet wurden, erörterten sie das Ziel der Bewegung und bereiteten die ersten Aktionen vor, welche den restlichen Studenten mitgeteilt wurden. Die Studenten organisierten auch die Deckung der Kosten für die Mobilisierungen durch ihre eigenen Mittel, durch Geldsammlungen unter den Studenten und in der Öffentlichkeit.

 

 

In diesem Sinn befindet sich die sich entfaltende Studentenbewegung in einem "latenten" Zustand, teils aufgrund der Maßnahmen der Regierung und Opposition, sie zu kontrollieren und zu einzudämmen. Doch sie strebte danach, mit den Schemata der vergangenen Studentenbewegungen zu brechen, und drückte einen sozialen Inhalt aus, beeinflusst von Tendenzen in ihr, die den Interessen der Lohnarbeiter Ausdruck verliehen.

 

 

 Ein anderes wichtiges Merkmal der Bewegung bestand von Anfang an darin, die Notwendigkeit des Dialogs und der Diskussion über die Hauptprobleme der Gesellschaft zu betonen: Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit, Solidarität mit den ärmsten Sektoren. Zu diesem Zweck haben  die Studenten die gesamte Bevölkerung - ob Chavisten oder nicht – zu einem offenen Dialog in den Universitäten, in den Barrios und auf den Straßen, außerhalb der  von der Regierung als auch der Opposition kontrollierten Organe und Institutionen aufgerufen. In diesem Sinn verstanden es die Studenten, die Fallen der Regierung zu umgehen, als diese vorschlug, mit den Chávez-treuen Studenten in der Nationalversammlung zu diskutieren. Der Plan schlug fehl: Andere Studenten mobilisierten sich und lasen mutig aus einem Dokument vor, in dem  die Abgeordneten der Versammlung angeklagt wurden, die Bewegung zu kriminalisieren, und in dem die Versammlung angeprangert wurde,  kein unparteiischer Ort zu sein, an dem sie debattieren und ihre Forderungen formulieren können. Sie verließen  das Gebäude angesichts des Zorns und der Überraschung der Abgeordneten und der chavistischen Anhänger [4].

 

 

Die Parolen der Bewegung haben einen zunehmend politischen Charakter angenommen. Obwohl die Medien, hauptsächlich jene von der Opposition kontrollierten, den "Kampf für Meinungsfreiheit", den "Stopp der Schließung von RCTV" und die "Verteidigung die Autonomie der  Universitäten " zur Hauptsache gemacht hatten, vertrat die Mehrheit der Studenten von Anfang offen politische Forderungen: Ende der Unterdrückung, Freilassung der verhafteten Studenten und jener, die sich täglich bei der Polizei melden müssen,  Solidarität mit den 3.000 Angestellten von RCTV, gegen Kriminalität und Armut und für die Notwendigkeit,  "eine bessere Welt zu schaffen", etc.

 

 

 

 

 

Woher kamen diese Merkmale der neuen Studentenbewegung?

 

Die Entstehung dieser Bewegung hat ihre Ursachen in der Verschlimmerung  der ökonomischen und politischen Krise in diesem Land. Eine Wirtschaftskrise, die der Chávismus hinter den enormen Ressourcen des Ölreichtums zu verschleiern versucht, der nur dazu gedient hat, den Machterhalt der neuen "revolutionären" Elite zu stärken, während der Rest der Bevölkerung trotz der vom Staat durch „Wohltätigkeitsorganisationen“' verteilten Brosamen fortschreitend ärmer wird. Einer der Hauptausdrücke dieser Krise wird im unaufhörlichen Wachstum der Inflation gesehen, welches entsprechend den unzuverlässigen amtlichen Zahlen im Durchschnitt während der  letzten drei Jahre 17% (dem Höchststand in Lateinamerika) beträgt. In der Tat sind die Zunahmen des von der Regierung geleiteten Mindestlohns im Grunde genommen durch die unaufhörlichen Erhöhungen der Preise der Nahrung, Waren und Dienstleistungen verursacht. Das viel publik gemachte Wirtschaftswachstum, das durchschnittlich in derselben Zeit bei einer 10% Zunahme des BIP gelegen hat, ist im Wesentlichen auf  einer Zunahme der Ausbeutung basiert, einem Wachstum prekärer und informeller Arbeit (getarnt als Genossenschaften und  Regierungsaufträge), welche etwa 70% der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung einschließlich der Arbeitslosen betrifft. Dies alles bedeutet, dass die große Mehrheit der Lohnarbeiter keine legalen Sozialleistungen erhält und dass sie  nicht einmal den offiziellen Mindestlohn verdienen. Diese Wirtschaftskrise, das Ergebnis der Krise, die das ganze kapitalistische System betrifft, existierte lange vor der Chávez Regierung, aber sie während der 8 Jahre dieser Regierung verschlimmert und  zu einer zunehmenden Verarmung  der Gesellschaft [5] geführt.

 

 

Zusammen mit den dauernd steigenden Lebenshaltungskosten und dem Wachstum prekärer Arbeit, haben wir die Knappheit der Nahrung, Mangel an Wohnungen  gesehen, eine gesteigerte Kriminalität welche im Jahr 2006 1700 Venezolanern das  Leben kostete, hauptsächlich junge Leute aus den ärmsten Schichten. Es tauchen wieder  Krankheiten wie Malaria und Denguefieberfieber auf, was herrührt von der schlechten Körperkonstitution der Verschlechterung von öffentlichen Gesundheitsversorgung. Wir könnten die Reihe fortsetzen.

 

 

Diese Situation ist nichts, als der Ausdruck Staatskapitalismusmodell a la Chávez Bewegung, der keinen anderen Kurs hat, als fortzufahren, die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und der ganzen Bevölkerung anzugreifen, gerade so wie vorherige Regierungen es auch taten, Prekasierung der Arbeiter und Verarmung. aber diesmal im Namen des "Sozialismus".

 

 

Eindeutig sind die Studenten über diese Situation nicht uninformiert, da die Mehrheit von ihren aus  proletarischen Familien stammt oder von Familien, die durch die Krise verarmt sind. Viele Studenten in den öffentlichen und privaten Universitäten erfahren Ausbeutung, weil sie formell oder informell arbeiten müssen, um die Kosten für das  Studium wenigstens teilweise aufzubringen, oder umd ihren  Familie zu helfen. Noch sind sich die Studenten über die Tatsache nicht , dass sich ihre Hoffnungen  in die Zukunft nicht realisieren werden: Die Mehrheit kleiner Berufstätiger, die in letzten Jahrzehnten aus den Universitäten herausgekommen sind, ist zunehmend  proletarisiert worden, wie es  Tausende von Gesundheits-, Bildungsberufstätige und Ingenieure erfahren haben. Sie haben Schwierigkeiten, mehr als zweimal den offiziellen Mindestlohn [6] zu verdienen, während die Verschlechterung des Soziallohns die Möglichkeit unterhöhlt, ein würdevolles Leben zu haben, sogar wenn du zu den  "Privilegierten", gehörst, wie sie von den Regierungssprechern genannt werden. 

 

 

Ebenso hat ein guter Teil der Jugend, die auf den Straßen protestiert, gesehen, was die Verwüstungen ihren Familien und der Gesellschaft zugefügt haben durch von der  Chávez Bewegung und den Oppositionsführern hervorgerufenen Polarisierung in ihrem Konkurrenzkampf um die Macht. Sie sind Opfer der Teilung der Gesellschaft und einer Schwächung der sozialen Bindungen und der  Solidarität; viele von ihnen und ihre Eltern sind in den Netzen politischer Polarisierung gefangen worden, indem sie sogar  Fanatiker der einen oder anderen bürgerlichen Fraktion geworden sind, und dabei jeden Ausblick verloren haben. Sie haben auch Opfer des  Kampfes der herrschenden Klasse und ihrem Motto  "Der Zweck heiligt die Mittel" geworden", Opfer der  skrupellosen Lügen und der Manipulationen als Ergebnis des  Zerfalls bürgerlichen Moral.

 

 

Deshalb ist  die Studentenbewegung, obwohl sich spontan ergeben,  nicht das Ergebnis einer "Kinderkrankheit" noch ist sie  von geheimen Führern geschaffen worden; viel weniger ist es etwas, das  aus den Hirnen der Oppositionsführer oder vom CIA stammt,  wie Chávez und seine Anhänger endlos wiederholt haben. Es ist das Produkt eines Prozesses der Reflexion, die seit mehreren Jahren im Gang innerhalb der Gesellschaft gewesen ist, und besonders unter den neuen Generationen, die damit konfrontiert sind, in einer Gesellschaft zu leben, wo es keine Chance gibt, ein würdevolles Leben zu führen. Daher ist es kein Zufall, dass der Student protestiert, dass Slogans  mit einem eindeutig sozialen Inhalt angenommen wurden: der Kampf gegen Arbeitslosigkeit und  Kriminalität, Hilfe für  Kinder und Mütter, gegen Armut, aber auch gegen Lüge, Intoleranz Unmoral und Unmenschlichkeit, die die Gesellschaft verzehren.

 

 

Diese Merkmale zeigen, dass diese Bewegung den Konflikt zwischen Opposition und Regierung überstiegen hat und die Saat enthält, das Ganze des kapitalistischen Systems der Ausbeutung in Frage zu stellen; auf diese Art hat es sich fraglos in den gesamten Kampf der Lohnarbeiter eingetragen. Die Mittel und Methoden, die es dem Kampf gegeben hat, (Versammlungen, Wahl  von der Versammlung gegenüber verantwortlichen Delegierten, die Tendenz, sich zu vereinigen, der Aufruf zu  Diskussion nach außerhalb der Universitäten usw.) sind jene des Proletariats in seinen Kämpfen für die Verteidigung seiner Interessen. Obwohl noch wenig entwickelt und unbewusst, es gibt die Tendenz in dieser Bewegung, die Interessen der Arbeiterklasse auszudrücken, und dies hat es vorangetrieben.

 

 

In den  letzten Jahre hat es Studentenbewegungen in anderen Teilen der Welt wie Brasilien, Chile, Frankreich gegeben, mehr oder weniger entwickelt, aber alle mit  denselben Merkmalen. In Frankreich waren es Proteste und Demonstrationen, die von den Studenten im Mai 2006 gegen die Regierungsversuche geführt wurden, prekäre Arbeit aufzuerlegen, die Millionen von Menschen in  Frankreich [7] mobilisierten. Die Studentenbewegung in Venezuela hat viele Ähnlichkeiten mit diesen Bewegungen. Diese Bewegungen zeigen, dass die Studenten in Venezuela nicht isoliert sind, sondern denselben  Prozess der Reflexion ausdrücken, die innerhalb der neuen Generationen stattfindet, die nach einer Perspektive suchen, in einer Gesellschaft, die keine Zukunft anbietet.

 

 

Gefahren, die der Bewegung drohen

 

Die Studentenbewegung hat sich in einer zerbrechlichen und unsicheren Situation entfaltet. Der von der Bourgeoisie ausgeübte Druck zu kontrolliern und zu zerschlagen, ist sehr stark. Beide Regierung und Opposition machen dabei vollen Gebrauch von ihren Parteimaschinen, materiellen Mitteln und den Medien. Es gibt auch die Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft durch die  Regierung und die Opposition, die eine Wichtigkeit hat, die nicht unterschätzt werden kann. Nicht unterschätzt werden darf die Einschüchterung und Unterdrückung, die ausgeführt wurden, nicht nur durch den offiziellen Repressionsapparat, sondern auch von den Banden der Chávez Bewegung.

 

 

Jedoch sind eine der wichtigsten Gefahren für diese Bewegung die demokratischen Illusionen. Slogans wie der Kampf für "Meinungsfreiheit" oder "bürgerliche Rechte" u.a., selbst wenn damit gemeint die  Notwendigkeit, den Institutionen des  Staates gegenüberzutreten, die dem Kampfs im Wege stehen, sind sie im Wesentlichen Ausdrücke von Illusionen über die Möglichkeit, in der Lage zu sein, Freiheit und "Rechte" innerhalb des Kapitalismus haben zu können; dass es möglich (vielleicht mit einer anderen Regierung) ist, die Demokratie zu verbessern, um in der Lage zu sein, es wirklich in etwas zu verwandeln, das das Überwinden der Schwierigkeiten ermöglichen würde, die Gesellschaft zu reformieren. Demokratie mit seinen Institutionen, Parteien, Mechanismen (hauptsächlich Wahlen) ist das System, das die  Bourgeoisie perfektioniert hat, um das System der Vorherrschaft durch eine Minderheit über der Mehrheit der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. "Meinungsfreiheit" ist Teil der Gesamtheit von "demokratischen Freiheiten", die das Bürgertum seit der französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts verkündet hat, welche nur dazu gedient haben, die ausgenutzte Masse zu verwirren, um seine Klassenherrschaft zu behaupten. Alle diese "Rechte" sind nichts als die Kodierung von diesen Illusionen. Alle bürgerlichen Regimes können "Freiheit" und "Rechte" anerkennen, solange die kapitalistische Ordnung und der Staat, der sie sichert, nicht bedroht werden. Deshalb ist es kein Zufall, dass in der Konfrontation zwischen den Regierungs- und Oppositionsgangstern jeder von ihnen behauptet, die wahren Verteidiger der demokratischen Ordnung zu sein.

 

 

Der Kampf für die "Autonomie von den Universitäten" ist ein anderer Ausdruck dieser demokratischen Illusionen. Es ist eine alte Forderung des Universitätsmilieus, das die Idee verteidigt, dass diese Institutionen von Staatseingriff frei sein können. Das ignoriert die Tatsache, dass Universitäten und Schulen  das Hauptmittel dafür sind, die Ideologie  der herrschenden Klasse zu verbreiten (ob von den Linken oder Rechten) unter der  neuen Generation und für das Trainieren des Kaders, für das Verwalten dieser Ordnung. Diese Forderung, vorgebracht hauptsächlich von den Studentenföderationen und Universitätsverwaltungen, versucht, den auftauchenden Kampf innerhalb der vier Mauern der Universitäten gefangen zu halten, es vom Ganzen der Gesellschaft isolieren. [8]

 

 

Eine andere Gefahr, der die Bewegung gegenübersteht, ist die Ähnlichkeit zwischen seinen Forderungen  und jenen der Opposition. Das spielt den  Interessen in die Hände, die versuchen die Bewegung zu kontrollieren und die Regierung in die Lage zu versetzen, die Bewegung mit der Opposition zu identifizieren. Die Bewegung muss derselben Klarheit und Vehemenz, wie sie die Regierung hat, haben. Wenn sie das nicht hat, wird sie aufgehen in einer Bewegung, die nur dazu dient, die Opposition an die Macht zu bringen, wie das schon in anderen Ländern geschehen ist, wobei die grundsätzliche Situation unverändert und das kapitalistischen System intakt bleibt. Die Studenten müssen  verstehen, dass die Opposition  ebenso wie die Regierung für die Situation, in der wir leben, verantwortlich ist, dass die Opposition als  Steigbügelhalter fungierte, auftrat, um  Chávez an die Macht zu bringen. und dass, wenn sie zur Macht zurückkehrt, sie die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse ebenso angreifen wird wie die  Chávez Bewegung heute, und dass sie beide bürgerliche Kräfte  sind, die versuchen, die vorhandene Ordnung zu verteidigen.

 

 

Perspektiven

 

Diese Studentenbewegung, die wir begrüßen und unterstützen, hat die große Tugend, zu versuchen, mit dem giftigen Teufelskreis der Polarisierung zu brechen, indem sie auf  Dialog und Diskussion durch Versammlungen setzt, die entscheiden sollen, was zur Diskussion ansteht und die Bedingungen festlegen. Dies ist ein Gewinn für die Studenten, für die Arbeiter und für die Gesellschaft als Ganzes, da es die wirklichen Verbindungen der Solidarität stärkt.

 

 

Jedoch wäre es illusorisch, zu denken, dass der Kampf der Studenten, ganz gleich, wie tapfer und mutig er gewesen ist, den gegenwärtigen Zustand der Dinge ändern wird. Diese Bewegung trägt wirklich Früchte, wenn es zum Verbreiten der proletarischen Elemente führen kann, die es nicht nur in den Barrios gibt, sondern noch bedeutsamer für die  Arbeiter in den Fabriken und in den privaten und öffentlichen Unternehmen. Dies kann nicht durch die Gewerkschaften und die politischen Parteien, sondern  nur durch die Einladung  an Arbeiter aus  allen Sektoren und an Arbeitslosen an den Versammlungen teilzunehmen, getan werden. Auf diese Weise werden die Arbeiter in der Lage sein, zu sehen, wie die proletarische Ader  durch die Bewegung läuft. Zur gleichen Zeit wird dies das Nachdenken und auch den Kampf des Proletariats stimulieren, dessen Taten unentbehrlich sind dem Staat gegenüberzutreten und fähig zu sein, um die Hauptursachen  für die Barbarei, in der wir leben - das kapitalistische System der Ausnutzung anzugreifen, und einen wirklichen Sozialismus basierend auf der Macht der Arbeiterräte durchzusetzen. Jedoch wenn es eine flüchtige Bewegung bleibt, eingespannt in Kampf zwischen bürgerlichen Fraktionen, wird sie zerschlagen werden..

 

 

Die fortschrittlichsten Teilnehmer der Bewegung müssen versuchen, sich in Diskussionszirkeln umzugruppieren, um in der Lage zu sein, eine Bilanz  der Bewegung bis jetzt zu ziehen, und nach Möglichkeiten zu suchen, die proletarischen Elemente der Bewegung zu stärken, welche sich erst im Embryozustand befinden. Sie  werden sich vertiefen mit der Verschlimmerung  der ökonomischen und sozialen Krise.

 

 

Unabhängig von der Zukunft dieser Bewegung  etwas für den zukünftigen Klassenkampf sehr wichtiges ist aufgetreten: die Eröffnung  eines Prozesses der Reflexion und Diskussion. Internacionalismo, Sektion der IKS in Venezuela

 

 

Juli 2007.

 

 

 

 

 

[1] Laut dem Minister des inneren Pedro Carrenos am ersten Tag, als es 94 Demonstrationen überall in dem Land gab.  

 

 

[2] "Wir wollen nicht gegen unsere Brüder kämpfen", erklärte ein Mitglied des Gemeinderats des Barrios von Patarse im Osten von Caracas, sich auf den Aufruf des Präsidenten Chávez beziehend, der  die Barrios gegen die Studenten mobilisieren wollte.

 

 

[3] "Reich zu sein, ist schlecht" das wiederholt Chávez endlos in seinen häufigen Mediendarstellungen, während das Proletariat und seine Anhänger (in der Mehrheit die ärmsten Schichten der Bevölkerung) daran gewöhnt sind, eine prekäre Existenz zu leben das wirkliche Ziel des "21. Jahrhundertsozialismus". Jedoch, er und seine Familie, zusammen mit der höchsten Ebene der Bürokraten, befolgen dieses Motto nicht. Um das zu erläutern bringt  die französische Zeitung Le Monde im Juni  eine Artikelserie unter der Titel "Les Bons affaires DE La famille chavez" ('die Geschäftsangelegenheiten der Familie Chávez') heraus, wo sie die Art beschrieben, wie die Neureichen der so genannten "bolivarianischen Bourgeoisie" leben. Diese Artikel zeigten, dass Chávez ein Objekt des Interesses seitens der  französischen Bourgeoisie geworden ist, die  die "bolivarianische Revolution" und ihren  fanatischen "Antiamerikanismus" zu ihrem  Vorteil verwenden will.

 

 

[4] Die Studenten wurden von der Polizei eskortiert, als sie in die Versammlung gingen oder sie verließen. Die Chávez Banden  umlagerten das Versammlungsgebäude.

 

 

[5] Entsprechend den offiziellen Zahlen der Regierung wurde die  Armut von 54% 2003 auf 32% im Jahr 2006 reduziert. Jedoch gibt es hinter diesen Zahlen Staatsmanipulation (vornehmlich was die Preise der Nahrungsmittel anbetrifft), um sicher zu stellen, dass die Rede der Regierung darüber, ein Ende der Armut, wie sie  2001 herrschte, herbeizuführen, den Zahlen entspricht. Dennoch zur gleichen Zeit hat es die Zunahme der Anzahl von Bauchladenverkäufer, Straßenverkäufer) gegeben. Die Zunahme des im Jahr 2006 amtlich eingetragenen Verbrauchs war durch die Zunahme von öffentlichen Ausgaben, die durch die Wahlen verursacht wurden, aber nicht zu einer Verminderung der Armut führten. Die katholische Andrés Bello Universität, die die Armutsniveaus seit  Jahren verfolgt hat, sagt, dass die Armut um  58% im Jahr 2005 zunahm.  

 

 

[6] Über $ 300 laut amtlichen Wechselkurses  2150 Bolivars gegenüber $, die weniger als $ 150 zum Schwarzmarktwechselkurs beträgt.  

 

 

[7] Siehe "Thesen zur Studentenbewegung im  Frühjahr in Frankreich"

 

 

[8] Ein Beweis davon war die am 22. Juni im Basketballstadion der Universidad Central de Venezuela von der Föderation der Centros Universitarios gehaltene Versammlung, die  Universitätsverwaltungen und die Opposition unterstützten. Dies war eine Schau, um Aufmerksamkeit von den wirklichen Versammlungen abzulenken. Angesichts dessen riefen  einige Studenten: "Wir wollen keine Schaus, wir wollen Versammlungen".  

 

 

[9] Siehe u.a.: ' Ukraine: Das autoritäre Gefängnis und die Falle der Demokratie ' https://en.internationalism.org/ir/126_authoritarian_democracy [5]

 

Geographisch: 

  • Venezuela [6]

Frankreich - Die Regierung Sarkozy offenbart die bürgerliche Natur der Linken

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Die Regierung Fillon-Sarkozy reißt sich ihre Wahlkampfmasken vom Gesicht und zeigt den Arbeitern, dass ihr Slogan einer „wieder gefundenen Rechten“ kein Vergnügen ist. Die neue französische Regierung hat nicht einmal die Parlamentswahlen abgewartet, um eine Reihe von schweren Angriffen zu starten: Überstunden, Erschwernisse beim Zugang zu Krankenpflegeleistungen, Erhöhung der indirekten Steuern, eine massive Reduktion der Stellen im öffentlichen Dienst (zwischen zehn- und zwanzigtausend bei den Lehrkräften). – Kurzum, ein Vorgeschmack auf die Zukunft, in der der so genannte „Wandel des Lebensstils“, den die herrschende Klasse in Frankreich während dem ganzen Wahlkampf 2007 propagierte, in die Tat umgesetzt werden soll.

Die Regierung Fillon-Sarkozy reißt sich ihre Wahlkampfmasken vom Gesicht und zeigt den Arbeitern, dass ihr Slogan einer „wieder gefundenen Rechten“ kein Vergnügen ist. Die neue französische Regierung hat nicht einmal die Parlamentswahlen abgewartet, um eine Reihe von schweren Angriffen zu starten: Überstunden, Erschwernisse beim Zugang zu Krankenpflegeleistungen, Erhöhung der indirekten Steuern, eine massive Reduktion der Stellen im öffentlichen Dienst (zwischen zehn- und zwanzigtausend bei den Lehrkräften). – Kurzum, ein Vorgeschmack auf die Zukunft, in der der so genannte „Wandel des Lebensstils“, den die herrschende Klasse in Frankreich während dem ganzen Wahlkampf 2007 propagierte, in die Tat umgesetzt werden soll.

Gegen die Arbeiterklasse…

Die Parole des Präsidentschaftskandidaten Sarkozy „Mehr Arbeiten, um mehr zu verdienen“ war selbst schon eine Frechheit. Bereits am 6. Juni wurde eine Vorlage eingereicht, welche die Steuerbefreiung von Überstunden vorsieht und am 1. Oktober in Kraft treten wird. Mit dieser Steuerbefreiung kosten die Überstunden die Unternehmer (privat und öffentlich) fast gleichviel wie die normalen Arbeitsstunden. So wäre es ja fast schade für das Kapital, nicht Profit daraus zu schlagen! Damit ist die Bahn geebnet und grünes Licht an die Unternehmer gegeben worden, das maximale Kontingent von 220 jährlichen Überstunden voll auszuschöpfen. Unter diesen Bedingungen werden die Löhne schnell eingefroren. Doch welch „wunderbare Kompensationsmöglichkeit“ für die Arbeiter, um einige Euros „mehr zu verdienen“! Die Belegschaft des Kronenbourg-Betriebes in Obernai hatte, als sie Anfang Juni in den Streik trat, sehr wohl verstanden, dass es sich dabei in Tat und Wahrheit um „Mehr arbeiten, um schneller zu sterben“ handelte. Schon als das neue Gesetz, welches den Rückgriff auf Überstunden erleichtert, noch nicht in Kraft getreten war, hatten die Angestellten von Kronenbourg mit ihren 50-Stunden Wochen das Gefühl „ihr Leben im Betrieb zu verbringen“. „Das sind vier Wochen, in denen ich Sonntagmorgens um 6 Uhr mit arbeiten aufhörte und dann am Montagmorgen um 6 Uhr wieder beginne“, erklärt ein Arbeiter.

Ist das Ziel dieser Steuerbefreiungspolitik eine Erleichterung für die Unternehmer, und woher will der Staat denn seine Einkünfte beziehen? Ganz einfach, es geht darum, die Arbeiterklasse unter Druck zu setzen. Im französischen Fernsehen wurde das folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Man muss alles in Betracht ziehen, auch die Möglichkeit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer.“ Die Steigerung der indirekten Steuer auf Konsumgütern hat eine drastische Senkung der Kaufkraft für Lebensmittel zur Folge.

Auch bei der Krankenpflege kündigt die Einführung eines neuen Selbstbehalts bis im Herbst den Abbau des Gesundheitssystems an; diese Demontage wird von allen Regierungen weiter getrieben, seien sie linke oder rechte.

Jedes Jahr muss beim ersten Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt, bei der ersten Laboruntersuchung oder dem ersten Kauf von Medikamenten der Kranke erneut einen Selbstbehalt bezahlen, bevor er von der Krankenversicherung eine Rückerstattung erhält.

Hier geht es zweifellos darum, aus den medizinischen Rückerstattungen einen Spießrutenlauf zu machen, so dass die Erkrankten dann schlussendlich eine Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen aufgeben. In Wirklichkeit führen die seit 2004 eingeführten Reformen immer mehr Leute dazu, Behandlungen zu verschieben oder ihre Schulden gegenüber Krankenhäusern zu vergrößern.

¡­ Rechts oder Links, gehupft wie gesprungen!

Und wenn die Linke die Wahlen gewonnen hätte, wäre dann die Zukunft nicht ein etwas rosiger - oder wenigstens nicht so knallhart? Weit gefehlt!

Um sich davon zu überzeugen, reicht es, sich die Umstände anzuschauen, die die gegenwärtige Regierung für all diese Angriffe veranstaltet. So sind hier einige Köpfe (und nicht die geringsten) der Linken zu finden, die sich brüderlich neben diejenigen der Sarkozy-Rechten gesellen. Es handelt sich um eine unübertreffliche Veranschaulichung der Wahlkampfparole von Ségolène Royal: „gagnant, gagnant“ („jeder gewinnt“)! So leistet sich die Linke, nachdem sie bereits die befürchtete blaue Welle bei der ersten Runde der Parlamentswahlen eingedämmt hat, den Luxus, Sitze zu gewinnen – und zwar in der Regierung Fillon II selbst.

Bis jetzt haben sich linke und rechte Regierungen abgewechselt, indem sie versicherten, die Kontinuität der Angriffe in den wichtigen Bereichen zu wahren (Gesundheit, Altersrenten, Beschäftigung usw.). Heute verlangt der präsidiale „neue Stil“, dass die Schläge gegen die Arbeiterklasse kollegial von der rechten Regierung ausgeteilt werden, in welcher der linke Partner seinen Platz hat: Kouchner (der Humanitäre ohne Grenzen),  Jouyet (Vertrauter des Ex-Paares Hollande/Royal), Hirsch (der Freund der Armen, der schnell begriffen hat, dass die Wohltätigkeit bei sich selber beginnt), bis zu den zuletzt in die Regierung eingetretenen, dem sozialistischen Bürgermeister von Mülhausen, Jean-Marie Bockel, und Fadela Amara (Präsidentin des Vereins „Ni Putes Ni Soumises“ („Weder Huren noch Unterwürfige“), aber unter dem Strich dann doch etwas „Hure“). Die Bourgeoisie hat viel Wert darauf gelegt, uns klar zu machen, dass Rechte und Linke nicht „Jacke wie Hose“ sind. So verkündete eine sozialistische Abgeordnete des Departements Deux-Sèvres vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, dass „die Linke und die Rechte nicht gleich sind … es handelt sich um zwei verschiedene Arten, die Welt zu sehen, die Früchte der Arbeit zu verteilen“. Na mal sehen!

Auch die extreme Linke verbreitete in den beiden Wahlgängen mit ihrer Parole: „Alles außer Sarkozy“ genau diese Botschaft.

So viel Anstrengungen, ideologischer Verbissenheit und – schwuppdiwupp: Die Gewählten haben ihr „Coming out“ mit einer innigen Umarmung Sarkozys.

Die Sozialistische Partei kann immer noch erklären, dass es sich dabei bloß um Judasse handle, üble Verräter, die ihr „soziales Ideal“ für ein Linsengericht dem Teufel verkauft haben. Es bleibt dabei, dass die Transplantation nicht möglich gewesen wäre ohne eine gewisse Verträglichkeit.

Sarkozy hatte wirklich die Qual der Wahl im großen Laden der Linken. Heute noch geben die historischen Führer, unter ihnen die einflussreichsten der Sozialistischen Partei, Fabius oder Jack Lang, auf der Treppe zum Regierungspalast Pfote und wedeln mit dem Schwanz in der Hoffnung, dass sie mit irgend einem Schlüsselposten (Präsidentschaft des IWF) oder weiteren Ministeraufgaben belohnt werden.

Malek Boutih (früherer Vorsitzender von SOS Racisme und Mitglied der Sozialistischen Partei) brach auch ohne weiteres ein Lanze für Fadela Amara, als er ihre Ernennung als „gute Nachricht“ feierte und ausrief: „Man darf nicht im Namen von politischen Divergenzen Personen verurteilen!“

Doch von welcher Divergenz spricht er? Handelt es sich etwa um diejenige zwischen einer Linken, die „historisch im Gesellschaftlichen verankert“ ist, der „ausländischen“, der „Erbfeindin“ der Rechten, und dieser Rechten, die „an das Unternehmertum gebunden“ ist – mal ehrlich: Dieser Schwindel hatte schon vorher viel Blei in den Flügeln und fliegt in Zukunft so gut wie ein Amboss.  

Die Eile, mit der einige sozialistische Parlamentarier und linke Verbündete in die Regierung Fillon eintreten, nachdem sie eine (harte) Kampagne gegen Sarkozy geführt haben, sagt ebenso viel über die Überzeugungen dieser linken Galionsfiguren aus, die angeblich die Arbeiterklasse und die Armen vertreten, wie die kürzlich erfolgte Erklärung von Ségolène Royal, wonach sie nie an das von ihr verteidigte Programm der Sozialistischen Partei geglaubt habe (insbesondere mit dem Mindestlohn von € 1500.--).

Was schließlich die einzige Überzeugung der Politiker von rechts bis links ist und wovon wir uns selber überzeugen müssen, ist ihre Zugehörigkeit mit Haut und Haar zur Klasse der Ausbeuter. 28.06.07

(aus Révolution Internationale

 von Juli/August 2007) 


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