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Dezember 2012

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Israel-Gaza-Konflikt - Die verrottete Frucht des dekadenten Kapitalismus

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Oberflächlich betrachtet, ist - falls es überhaupt möglich ist, die gegenwärtigen Kriege gegeneinander abzuwägen - der aktuelle Konflikt zwischen der Hamas und Israel um den Gazastreifen nicht einmal das schlimmste Gemetzel, das derzeit stattfindet. Ruandische „Rebellen“, die von Großbritannien gestützt werden, töteten und vergewaltigten sich ihren Weg tief in das Kernland der so genannten Demokratischen Republik Kongo, die selbst ein breites Betätigungsfeld für Massaker, Kinder-Soldaten, Vergewaltigungen und Terror darstellt. All dies wird, wenngleich nicht direkt inszeniert, so doch geduldet von den Großmächten, während die Vereinten Nationen zuschauen. Auch weiter nördlich, in der Sahel-Zone, Massentötungen von Zivilisten, Vergewaltigungen, Kinder-Soldaten, Großmachtmanöver und –rivalitäten neben der elenden Barbarei des religiösen Fundamentalismus. Im Schatten der jüngsten israelischen Operation „Säule der Verteidigung“ ging unterdessen das Gemetzel in Syrien weiter. Doch der Konflikt zwischen Israel und Palästina löst ein besonderes Echo unter den Revolutionären  aus, weil in ihm die permanente Militarisierung zum Ausdruck kommt, die das Kennzeichen eines zerfallenden Systems ist. Was immer seine Besonderheiten, Strategien und „Begründungen“ sind - der israelisch-palästinensische Konflikt ist vor allen Dingen der Ausdruck eines zerfallenden Kapitalismus, der eine enorme Bedrohung für die Arbeiterklasse und für die gesamte Menschheit darstellt. Seine Absurdität und Irrationalität fasst perfekt die Zukunft zusammen, die dieses krisengeschüttelte System für uns und den kommenden Generationen in petto hält. Es kann hier keinen Frieden geben, keine substanziellen Verhandlungen, und jegliche mögliche israelisch-palästinensische „Zwei-Staaten-Lösung“, wenn sie denn jemals das Tageslicht erblickt, würde nur ein weiterer Faktor zu noch größerer Instabilität und zu noch mehr  Kriegen sein. Der Nahe Osten zeigt heute, wie die Nationen und Cliquen unvermeidlich auf wachsende Spannungen, Rivalitäten und militärische Konkurrenz zusteuern. Jede größere Nation ist zu einem militärischen Monster geworden, und sämtliche nationalstaatliche Kreationen sind nach ihrem eigenen Bilde geschaffen worden, wobei jede aufstrebende Clique bzw. „nationale Befreiungskraft“ ebenfalls monströser Ausdruck des universellen Zerfalls ist. Israel und die „palästinensische Frage“ zeigen dies in höchstem Maße.

„Neue“ Staaten und die Verbreitung von Krieg und Militarismus

2009 ist Professor Havard Hegre vom Fachbereich für Politwissenschaften an der Osloer Universität zusammen mit dem Friedensforschungsinstitut zu dem Schluss gekommen, dass „die Anzahl bewaffneter Konflikte zurückgeht“ und „der Rückgang anhalten wird“. (1) Es ist die imperialistische Version der Leugnung der Wirtschaftskrise und der Vorstellung eines immerwährenden mehr oder weniger friedlichen Kapitalismus. Es ist pure Fiktion! Wir haben oben bereits die Kriege in Afrika und Nahost erwähnt, Kriege, die alle Anzeichen der Ausbreitung und Verschärfung in sich tragen. Wir können ferner den Krieg in Libyen hinzufügen, den der gute Mann zusammen mit dem Krieg in Syrien als „Demokratisierungsprozess“ etikettiert, als ob dies irgendeine Art von Entschuldigung ist; aus seinem Blickwinkel und nach Auffassung vieler bürgerlicher Akademiker kann der Kapitalismus ein Gleichgewicht aufrechterhalten, wird er immer humaner, ja schreitet zum ewigen Leben fort. Zu den Kriegen oben können wir den anhaltenden Krieg im Irak hinzufügen, der mehr und mehr droht, sich mit einem Krieg in Syrien zu verbinden, oder die „kurdische Frage“, die ein Krieg für sich und ein potenzieller Krieg über etliche Ländergrenzen hinweg ist, auch hier mit der Gefahr, sich mit dem syrischen Krieg zu verbinden. Dann gibt es den Krieg in Afghanistan und Pakistan und die De-facto-Kriegserklärung der westlichen Mächte gegen ein von Russland und China gestütztes Iran (in einer Konstellation ähnlich der Syriens); nicht zu vergessen die unzähligen Spannungen und Rivalitäten, die von einem aggressiven und heißhungrigen chinesischen Imperialismus ausgehen. Und wir müssen die fragilen und militarisierten Verwerfungslinien auf dem Balkan, dem Kaukasus und in den ehemaligen Sowjetrepubliken, in Afrika (Somalia, die Sahel-Zone, der Kongo) hinzufügen. Wo wir auch hinschauen, erblicken wir immer mächtigere Tendenzen nicht in Richtung Frieden, Vernunft und Kohärenz, sondern in Richtung Zusammenhanglosigkeit, Fragmentierung, sehen wir zentrifugale, separatistische Tendenzen, die in den ökonomisch verhältnismäßig schwächeren Gebieten der Welt einen Rutsch in die permanente Militarisierung und den Krieg anzeigen. Dies ist eine direkte Konsequenz aus einem Wirtschaftssystem, das nach all seinem früheren Ruhmes nun auf dem letzten Loch pfeift.
Der Nahe Osten setzt sich aus ökonomisch zusammenhangslosen Territorien zusammen, wo ethnische und religiöse Spaltungen von allen wichtigen imperialistischen Mächten zum Gegenstand ihrer Manipulationen und Manöver gemacht werden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als das kapitalistische System sich über den Globus ausgebreitet hatte, gab es keinen Platz mehr für irgendwelche neu expandierenden, realen Nationen. Länder wie der Irak, der Jemen, Jordanien, Syrien, der Libanon, Israel und die palästinensischen „Territorien“ waren durchweg Kreationen, oder besser: Missgeburten, des Imperialismus im Allgemeinen und des britischen und französischen Imperialismus (2) im Besonderen, der die willkürlich erzwungenen Grenzen dieser neu geschaffenen Länder benutzte, um „zu spalten und zu herrschen“ und so seine eigenen imperialistischen Interessen durchzusetzen. Später nutzten die USA die terroristischen Fraktionen des Zionismus, um die Briten zu verdrängen, und noch später, während des Kalten Krieges, nutzte Russland die gesamte Region als einen seiner Tummelplätze, um den USA die Stirn zu bieten. Wie all die oben erwähnten arabischen Staaten, die übrigens mehr Palästinenser auf dem Gewissen haben als die Israelis, ist der israelische Staat ein Ausdruck des Militarismus und Krieges, der mit der Vertiefung der Wirtschaftskrise immer instabiler werden wird.
Als der Kapitalismus noch ein pulsierendes, fortschrittliches und expandierendes System gewesen war, waren Krieg und Spaltungen zwar ebenfalls Bestandteil von ihm, doch im Allgemeinen tendierte das System zu einer gewissen Kohärenz hinsichtlich des Aufbaus und der Vereinheitlichung des Nationalstaates. Auch religiöse, ethnische und andere Faktoren neigten dazu, sich für das übergeordnete Wohl einer effektiveren kapitalistischen Akkumulation in einer Nation zu verschmelzen. Dies geschah nicht aufgrund der „moralischen Überlegenheit“ des Kapitalismus, sondern entsprang seinem fundamentalen Bedürfnis nach erfolgreicher Ausbeutung und Expansion. In der Dekadenz sehen wir jedoch, dass die Bildung neuer Staaten nicht zur Integration unterschiedlicher Gruppierungen der Gesellschaft in eine höhere kapitalistische Einheit führt, sondern oft in ethnischen „Säuberungen“, in der Stärkung rassischer, religiöser und ethnischer Spaltungen, in der Vertreibung oder Ghettoisierung verschiedener Gruppen mündet. Wir haben oben bereits den Balkan, den Kaukasus, die ehemaligen Sowjetrepubliken erwähnt, und wir können den indischen Subkontinent hinzufügen – Regionen, in denen viele dieser „Nationen“ aus imperialistischem Kalkül geschaffen wurden und deren eigentliche Existenz sich auf ethnischen und religiösen Spannungen, auf Zentrifugalkräften und dem Jeder-für- sich gründet. Genau dasselbe trifft auf die „Nationen“ des Nahen Ostens zu: Jordanien, Syrien, etc. und besonders Israel, dessen Besonderheit und Existenz als Bollwerk exakt den allgemeinen Niedergang des Kapitalismus widerspiegelt. Viele dieser Nationen sind keine lebensfähigen Wirtschaftseinheiten; sie hängen zumeist von einem größeren imperialistischen Hai (oder von mehreren Haien) ab und geraten in den Fokus größerer Spannungen. Sie drücken nicht ein positives Vorwärtsstreben aus, sondern sind vielmehr eine Fessel für die Produktivkräfte.
Doch bedeutet dies, dass es in Nahost keine „Begründungen“ in dieser Gleichung gibt, dass keine strategischen und wirtschaftlichen Motive am Werk sind (Ölförderung und –verkauf zum Beispiel, wahltaktische Motive, andere taktische Erwägungen usw.)? Nein, es gibt ganze Knäuel von ihnen. Im Nahen Osten kommen sie dick und verworren daher, doch der Punkt ist, dass sie alle zusammen gegenüber der überwältigenden Tendenz zum Zusammenbruch zweitrangig sind. In der Absurdität der Verteidigung von Grenzen, der willkürlichen Spaltungen und im Rahmen einer unüberwindbaren Ausweglosigkeit, die von einer sich vertiefenden Krise noch verschlimmert wird, können sie faktisch nur zu eben jenem Zusammenbruch beitragen. Diese teuflische Spirale der Zerstörung wird nicht stoppen und kann nicht abgeschwächt oder wegverhandelt werden. Was immer die Bourgeoisie anzustellen versucht, um die Lage zu „regeln“, es macht die Lage nur noch zerbrechlicher, und dies wird in Nahost veranschaulicht. Hier konnte man zuerst die klarsten Anzeichen einer Schwächung des Weltgendarmen, den USA, sehen, deren Einflussbereich überspannt und beeinträchtigt wird, was wiederum noch zentrifugaleren Tendenzen Tür und Tor öffnet. Dieses Phänomen einer Gesellschaft, die zerrissen wird in einer Reihe von Kriegen mit unterschiedlichen ethnischen, religiösen und rassischen Gruppen, von denen eine jede für verborgene imperialistische Interessen steht, ist ein typischer Ausdruck der dekadenten Gesellschaft – eine Wiederauflage dessen, was das römische Imperium und das feudale Europa in der Epoche ihres Niedergangs erlebt hatten.

Über den jüngsten Israel-Gaza-Konflikt

Wenn es denn je Präsident Netanjahus Absicht war, seine politische Stellung zu stärken, indem er Mitte November, nach den US-Wahlen und noch vor den israelischen Wahlen im kommenden Januar, die Operation „Säule der Verteidigung“ in Gang setzte, so hat er sich gründlich verrechnet. Hamas, die in den letzten Jahren erheblich an Glaubwürdigkeit im Gaza-Streifen eingebüßt hatte, ist enorm gestärkt aus dem Acht-Tage-Krieg hervorgegangen. Die Brutalität der israelischen Antwort, die Geschützfeuer durch Panzer und Marine, Attacken von Hubschraubern und Kampfjets gegen den schmalen, dicht besiedelten Gaza-Streifen umfasste, hat sich als eine politische Fehlzündung erwiesen. Hamas, die zusammen mit ihren noch fundamentalistischeren „Verbündeten“ von eben jenen dicht besiedelten Gebieten aus monatelang Raketen auf Israel abgefeuert hatte, ist durch die Unterzeichnung einer Waffenruhe mit Israel und durch weitere Gespräche über „Erleichterungen“ im Transport von Menschen und Waren in den und aus dem Gaza-Streifen aufgewertet worden. Umgekehrt hat Hamas zugesagt, dass es die Raketenangriffe gegen Israel  stoppen wird, und sich zu diesem Zweck auch gegenüber den militanteren Gruppen wie den Islamischen Dschihad gewappnet. Hamas ging auch gegenüber den palästinensischen Autonomiebehörden des Mahmoud Abbas in der Westbank gestärkt hervor, wo die Aktien von Hamas zum Nachteil Ersterer stiegen. Dies ist der Grund für die Warnung, die Abbas in dieser Woche an Europa und die USA richtete (The Guardian, 28.11.12), dass die palästinensische Autonomiebehörde ein paar Krümel von „Eigenstaatlichkeit“ (die den Palästinensern eine Art von Vatikan-Status in der UN verleihen soll) erhalten müsse, oder Hamas werde weiter gestärkt. Zur Enttäuschung der USA und des Restes des Nahost-Quartetts (der Sondergesandte Tony Blair) ist Hamas mehr in den ganzen Prozess eingebunden worden; ihre Isolation ist mit Unterstützung nicht nur des Iran, sondern auch Katars, Tunesiens, Ägyptens (Offizielle aus allen drei genannten Ländern haben kürzlich Gaza besucht) und anderer durchbrochen worden. Der britische Außenminister Hague hat die von Ägypten vermittelte Waffenruhe als „einen wichtigen Schritt zu einem dauerhaften Frieden“ begrüßt. Natürlich ist nichts dergleichen wahr, aber es zeigt, wie Hamas und die kleineren Gruppierungen nun von all jenen mit berücksichtigt werden müssen, die sie einst zu isolieren versuchten. Die US-Administration wusste, dass eine israelische Invasion in Gaza angesichts der geopolitischen Aspekte eine Katastrophe wäre und gab dem Abkommen von Ägypten und Hamas bezüglich eines Waffenstillstandes zähneknirschend ihren Segen.
Ein anderer Gewinner in dem heiklen Prozess ist der Führer der Muslimbruderschaft und ägyptische Präsident, Mohammed Mursi, der sich zusammen mit seinem Spionagechef Mohammed Shehata mit dem Hamas-Führer Khaled Mashaal und dem Führer des Islamischen Dschihad, Ramadam Shalah, getroffen hat (Christian Science Monitor, 22. November), um den Deal auszuhandeln, den Hillary Clinton höchstpersönlich im Namen der US-Administration begrüßen musste. Nur ein paar Monate zuvor hatten die USA noch versucht, Mursis wachsenden Einfluss zu untergraben, und im Moment prangern die USA, wie um die Unbeständigkeit und Zerbrechlichkeit der gesamten Region zu unterstreichen, Mursi und seine Muslimbruderschaft an, nur wenige Tage nach dem Waffenstillstands-„Triumph“ diktatorisch und im Stile Mubaraks die ganze Macht zu ergreifen. (3)

Weitergehende imperialistische Faktoren

Ein weiterer Faktor in dieser imperialistischen Jauchegrube ist, dass, ginge es nach Israel, Ägypten mehr Verantwortung für die Hamas übernimmt; entsprechend dieser Sichtweise könnten die Westbank und Gaza – an beiden Enden Israels – weiter voneinander isoliert werden, wenn Ägyptens „Kontrolle“ über den Gazastreifen verstärkt werden könnte. Mursi hat solch ein Ansinnen von sich gewiesen und möchte nicht, dass Israel das Gaza-Problem auf Ägypten abwälzt. Zwar hat es Spannungen und eine gewisse Distanzierung zwischen der Hamas und ihrem früheren Sponsor, den Iran, in der Frage des Krieges in Syrien gegeben (ein Vakuum, das sogleich Katar füllte), doch hat es angesichts der vermeintlichen Rolle, dass die iranische Waffen (insbesondere panzerbrechende Waffen) die Hamas in die Lage versetzten, die Israelis von einer Bodenoffensive gegen den Gaza-Streifen abzubringen, den Anschein einer Wiederaufwärmung dieser Beziehungen. Es ist keine Überraschung, dass es Risse in der Hamas bezüglich ihrer Beziehungen zum Iran gibt, was ein weiterer komplizierender Faktor ist. Es gibt Misstrauen zumindest seitens Saudi-Arabiens wie auch der Vereinten Arabischen Emirate, einem Hauptinvestor in Ägypten, gegenüber der Muslimbruderschaft in Ägypten. Dann gibt es das zweideutige Verhalten der Bruderschaft gegenüber dem Iran, typisch für die seit jeher verwickelten Beziehungen in Nahost. Der Aufstieg der Muslimbruderschaft ist ein weiterer unkalkulierbarer Faktor; ihre wachsenden Aktivitäten in Jordanien tragen dazu bei, dass auch dieses Land immer instabiler wird. All dies schafft neben den Hauptbrennpunkten Syrien und Iran weitere Probleme für den US-Imperialismus und seine Strategie des „Light Footprint“ (etwa: Leichter Fußabdruck) für den Nahen Osten (da er seine Hauptprioritäten für den pazifischen Raum und angesichts der wachsenden Bedrohung seiner Vorherrschaft in dieser Region, die von China ausgeht „neu gewichtet“ und „austariert“).
Hingegen herrschte 2008/09, zurzeit des letzten Einfalls Israels in den Gaza-Streifen, eine verhältnismäßige „Ruhe“ an den Grenzen zu Syrien und dem Libanon, während die Türkei noch freundschaftliche Beziehungen zu Israel unterhielt, auf Mubarak in Ägypten Verlass war und die Spannungen zwischen den USA und dem Iran noch nicht so ausgeprägt waren. Nun ist die Situation weitaus unkalkulierbarer, weil etliche dieser Nationen ihr eigenes Spiel spielen und so die Tendenzen zu einem Jeder-Für-sich-selbst vertiefen.
Die „Führer“ der staatenlosen palästinensischen Bourgeoisie, Fatah, Islamischer Dschihad und Hamas, haben ihrer Bevölkerung nichts anzubieten außer wachsendes Elend und „Märtyrertum“. Sie sind nichts anderes als ein Ausdruck der Verzweiflung und des Hasses; ihr Ziel ist es, so viele israelische Zivilisten wie  möglich zu töten. Sie können keine konstruktive Alternative anbieten, sondern – ähnlich den Warlords in Afrika, deren Kinderarmeen, ein weiteres Phänomen des zerfallenden Kapitalismus, töten, vergewaltigen und plündern – stiften lediglich verzweifelte junge Palästinenser im Namen ihrer leeren nationalistischen Projekte zur Rache und zu rasender Zerstörungswut an. Und der israelische Staat treibt mit täglichen Demütigungen, „Kollektivbestrafungen“, Landnahmen, ungezielten Schießereien und Raketenangriffen, bei denen Zivilisten, die sich zufällig in der Nähe von palästinensischen Gangstern befinden, in die Luft gejagt werden, die Spirale von Terror und Gewalt weiter an.
Trotz aller Repression und permanenter Kriegsatmosphäre gibt es im Nahen Osten viele Anzeichen des sozialen Protestes gegen die Krise des Kapitalismus und die Führer aller Seiten: In den letzten paar Jahren erlebten wir sozialen Proteste in Israel, im Gaza-Streifen, in der Westbank und erst kürzlich in Jordanien; und diese Bewegungen richteten sich hauptsächlich gegen grundlegende Dinge wie Preiserhöhungen bei den Nahrungsmitteln, der Stromversorgung, etc. wie auch gegen alle Regimes, die zu solchen Maßnahmen greifen. Solche Bewegungen müssen, auch wenn sie nicht revolutionär an sich sind, von der Arbeiterklasse begrüßt werden, da sie zeigen, dass selbst unter diesen militarisierten und brutalen Regimes und trotz des Hasses und der Feindseligkeiten, die von den herrschenden Cliquen erzeugt werden, es immer noch den Willen und die Bereitschaft gibt, zurückzuschlagen. Wenn viele ArbeiterInnen in diesen Regionen an den Protesten teilgenommen hatten, so taten sie dies größtenteils als Individuen und nicht als eine eigene, unabhängige Kraft. Der nächste Ausdruck hierfür ist Ägypten, wo die organisierte Arbeiterklasse als realer Faktor im Klassenkampf auftrat und auftritt. Doch die Realität der Arbeiterklasse in diesen Gebieten rund um Israel ist, dass sie zu schwach ist und ohne ihre Brüder und Schwestern in den zentraleren kapitalistischen Nationen nur schwerlich einen Ausweg aus der Barbarei ihrer Umgebung finden wird.
Die sozialen Bewegungen in der Region um Israel, in denen sich die Arbeiterklasse engagiert, sind wichtig, aber sie sind, auch wenn sie die Bourgeoisie destabilisieren oder ihr Probleme bereiten können, nicht stark genug, um die herrschende Klasse auf Dauer zurückzudrängen – sie können es wegen ihrer eigenen Begrenztheit schlicht und einfach nicht. Als Aufschrei der Unterdrückten und Unterdrückten waren die sozialen Bewegungen in Nahost Teil einer internationalen Welle von Protesten, die immer noch nachhallen. Doch der Widerspruch hier ist, dass die Schwäche dieser positiven Bewegung so etwas wie ein Vakuum zurückgelassen hat, in das der Imperialismus eindrang, was zum Teil in den Kriegen in Libyen und Syrien mündete. Es hat ebenfalls zur weitergehenden Destabilisierung der Regimes beigetragen, was umgekehrt dazu tendierte, die Kontrolle der USA über die Region zu schwächen und zentrifugalere, „unabhängige“ Tendenzen in den Bourgeoisien vor Ort zu fördern. Selbst im Falle einer stärkeren Entwicklung des Klassenkampfes erwarten wir keine linear aufwärtsstrebende Bewegung der Kräfte gegen den Kapitalismus. Die Region des Nahen Ostens wird für die dort lebenden Ausgebeuteten und Unterdrückten besonders schwer sein, und dem Klassenkampf stehen angesichts eines ständig existenten, bedrohlichen Imperialismus harte Zeiten bevor. Allein signifikante Bewegungen des Klassenkampfes in den kapitalistischen Zentren können den Imperialismus zurückdrängen und die von ihm aufgezwungenen Fragmentierungen und Kriege in Frage stellen.

Baboon, 29.11.2012

(1) https://www-independent.co.uk/news/world/politics/the-future-of-war-is-l... [1].
(2) Siehe die drei Teile von „Bemerkungen über die Geschichte des Konfliktes im Nahen Osten“ in: Internationale Revue, Nr. 115, 117 und 118 (engl., franz. und span. Ausgabe).
(3) Die britische Bourgeoisie und Geheimdienste waren der Muslimbruderschaft wohlgesonnener gewesen. Sie haben sie in den 1940er und 1950er Jahren unterstützt, und es hat Berichte über ihre Unterstützung der Muslimbruderschaft in ihrer Funktion als Streitkräfte in Syrien im vergangenen Jahr gegeben. Wie im Falle Mubaraks und seines Spionagechefs Suleiman, die von den Briten voll und ganz gestützt wurden, liegt eine ähnliche Unterstützung für Mursi und seine üble Crew im Bereich des Vorstellbaren. Eine vom März 2012 datierte Pressemitteilung für die aktualisierte Version des Buchs von Mark Curtis, Secret Affairs: Britain’s Collusion with Radical Islam („Geheimsache: Großbritanniens Absprachen mit dem radikalen Islam“) stellt fest: „Offizielle des Außenministeriums hielten kürzlich etliche Treffen mit der Muslimbruderschaft ab, die in den britischen Medien unerwähnt blieben. Die Politik besteht darin, Großbritannien im Fall, dass die Bruderschaft eine Schlüsselrolle bei Ägyptens Übergang spielt, ‚abzusichern‘ und eine elf Milliarden Pfund teure Investition von BP zu schützen. Anfragen des Autors im Rahmen des Freedom of Information Act, um mehr Details zu diesen Treffen zu erhalten, wurden vom Außenministerium aus Gründen des ‚öffentlichen Interesses‘ nicht beantwortet.“

Aktuelles und Laufendes: 

  • Konflikte Naher Osten [2]
  • Konflikte Mittlerer Osten [3]
  • Israel-Gaza [4]
  • Israel-Hamas [5]
  • Muslimbrüder [6]

Politik und Philosophie von Lenin bis Harper (Teil 2)

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Harper als Philosoph oder:  Die Philosophie seiner kritischen und politischen Fehler

Es gibt ein Phänomen im Erkenntnisprozess der bürgerlichen Gesellschaft, das Harper nicht behandelt hat: den Einfluss der kapitalistischen Arbeitsteilung erstens auf die Erkenntnisentwicklung der Naturwissenschaften, zweitens auf die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung.

An einer Stelle sagt Harper, dass die Bourgeoisie sowohl in jeder ihrer Revolutionen anders auftreten müsse als in den vorherigen als auch in der Form, die sie in diesem aktuellen Moment angenommen hatte. Sie muss ihre wahren Ziele verheimlichen.

Das ist wahr. Da Harper jedoch versäumt, über den Erkenntnisprozess in der Geschichte zu sprechen und das Problem seines Zustandekommens nicht explizit nennt, endet er dabei, es stillschweigend genauso mechanistisch zu formulieren, wie er es Lenin vorwirft.

Der Prozess, in dem die Erkenntnis geformt wird, ist abhängig von den Bedingungen, die bei der Erzeugung wissenschaftlicher Konzeptionen und Ideen im Allgemeinen vorherrschen. Diese Bedingungen wiederum sind mit den generellen Produktionsbedingungen, d. h. mit der praktischen Anwendung der Ideen verknüpft.

Mit der bürgerlichen Gesellschaft – der Entwicklung ihrer Produktionsbedingungen, ihrer ökonomische Existenzweise – entwickelt sich auch ihre eigene Ideologie: ihre wissenschaftlichen Auffassungen ebenso wie ihre Konzepte von der Welt und über die Welt.

Die Wissenschaft ist ein ganz besonderer Teil bei der Erzeugung von Ideen, die notwendig für das Leben der kapitalistischen Gesellschaft, für die Kontinuität und Evolution ihrer Produktionsweise sind.

Die ökonomische Produktionsweise wendet nicht nur praktisch an, was die Wissenschaft theoretisch ausarbeitet, sie hat ebenfalls großen Einfluss auf die Art und Weise, in der Ideen und Wissenschaften erarbeitet werden. So wie die kapitalistische Arbeitsteilung eine extreme Spezialisierung in allen Bereichen der praktischen Realisierung der Produktion durchsetzt, provoziert sie auch – als weitere Arbeitsteilung – eine extreme Spezialisierung im Bereich der Entstehung und Formulierung von Ideen, insbesondere in der Wissenschaft.

Die Spezialisierung der Wissenschaft und der Wissenschaftler ist Ausdruck der universellen Arbeitsteilung im Kapitalismus. Der Kapitalismus braucht wissenschaftliche Spezialisten genauso wie Generäle, Experten für Militärtechnik, Verwalter und Direktoren.

Die Bourgeoisie ist durchaus in der Lage, Zusammenhänge im Bereich der Wissenschaft herzustellen, solange diese nicht ihre Ausbeutungsweise berühren. Sobald dies aber droht, verzerrt die Bourgeoise unbewusst die Wirklichkeit. Die Bourgeoisie ist zu keiner umfassenden wissenschaftlichen Darstellung in der Lage, weder im Bereich der Geschichte noch in dem der Ökonomie, der Soziologie oder der Philosophie.

Wenn die Bourgeoisie sich auf die praktische Anwendung, die wissenschaftliche Untersuchung konzentriert, ist sie zutiefst materialistisch. Da sie jedoch zu einer völligen Synthese nicht in der Lage ist, da sie unbewusst dazu gezwungen ist, ihre eigene Existenz zu verbergen, und die wissenschaftlichen Entwicklungsgesetze der Gesellschaft (von den Sozialisten entdeckt) ablehnt, kann sie mit dieser psychologischen Sperre vor ihrer eigenen gesellschaftlich-historischen Realität nur umgehen, indem sie Zuflucht im philosophischen Idealismus sucht, und dieser Idealismus durchtränkt ihre ganze Ideologie. Diese Entstellung der Realität – ein notwendiger Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft – wird sehr effektiv durch die verschiedenen philosophischen Systeme der Bourgeoisie bewerkstelligt. Doch die Bourgeoisie greift auch auf Philosophien und Ideologien früherer Ausbeutungsformen zurück.

Dies macht sie, da diese Ideologien die bürgerliche Existenz nicht beeinträchtigen - im Gegenteil, diese Ideologien können benutzt werden, um sie zu verbergen. Sie tut dies aber auch, weil alle herrschenden Klassen in der Geschichte – als konservative Klassen – die Notwendigkeit deutlich gemacht haben, alte Methoden zu ihrer Konservierung zu verwenden, die dann natürlich für ihre eigenen Bedürfnisse benutzt werden, indem sie so weit entstellt werden, dass sie mit ihren eigenen Konturen reinpassen.

Daher konnten in der Frühphase der Bourgeoisie auch bürgerliche Philosophen bis zu einem gewissen Grad Materialisten sein (insoweit, dass sie die Notwendigkeit der Entwicklung der Naturwissenschaften unterstrichen). Jedoch waren sie vollkommen idealistisch, sobald es darum ging, die Existenz der Bourgeoisie selbst vernünftig zu begründen und zu rechtfertigen. Die, die mehr Gewicht auf den ersten Aspekt des bürgerlichen Denkens legten, konnten materialistischer erscheinen; jene, die mehr damit beschäftigt waren, die Existenz der Bourgeoisie zu rechtfertigen, mussten deutlich idealistischer auftreten.

Nur die wissenschaftlichen Sozialisten, beginnend mit Marx, waren in der Lage, eine Synthese der Wissenschaften in Beziehung zur gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen herzustellen. Diese Synthese war im Grunde der notwendige Ausgangspunkt ihrer revolutionären Kritik.

In dem Maße, in dem sie mit neuen wissenschaftlichen Problemen konfrontiert waren, waren die Materialisten in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie gezwungen, eine Synthese ihres Wissens und ihrer Vorstellungen über die gesellschaftliche Entwicklung anzustreben. Doch waren sie nie in der Lage, die gesellschaftliche Existenz der Bourgeoisie zu hinterfragen; im Gegenteil, sie mussten diese rechtfertigen. Einzelne – von Descartes bis Hegel – waren um eine Synthese bemüht. Sie waren, geleitet von einem dialektischen Standpunkt mit Blick auf die gesamte Evolution der Welt und der Ideen, so damit beschäftigt, eine umfassende Synthese herzustellen, dass sie es nicht vermeiden konnten, diesen dualistischen und widersprüchlichen Aspekt der bürgerlichen Ideologie am komplexesten auszudrücken. Doch sie waren Ausnahmen.

Was diese Individuen zu ihrer Aktivität trieb, bleibt ungeklärt. Die geschichtlichen, gesellschaftlichen, ökonomischen und psychologischen Erkenntnisse befanden sich noch in ihrer Frühphase. Wir können nur die banale Wirklichkeit wiederholen, dass sie von der Voreingenommenheit der sie umgebenden Gesellschaft bestimmt wurden. Auch wenn sie beabsichtigen, eine neue Gesellschaft aufzubauen, leben und entwickeln sich sowohl das Proletariat wie auch die Sozialisten im Kapitalismus; entsprechend wird das Feld der Erkenntnis von den Gesetzen des Kapitalismus beeinflusst.

Kommunistische Militante sind spezialisiert auf Politik, auch wenn universellere Erkenntnisse und Synthesen hilfreich für sie sind.

So gibt es in der Arbeiterbewegung eine Spaltung zwischen den politischen Strömungen und der Klasse im Allgemeinen. Selbst die politischen Strömungen können in Theoretiker der Geschichte, der Ökonomie und der Philosophie aufgeteilt sein. Der Prozess, an dessen Ende die Theoretiker des Sozialismus standen, ist vergleichbar mit jenem Prozess, der zu den Denkern und Philosophen in der revolutionären Epoche der Bourgeoisie führte.

Der Einfluss der bürgerlichen Erziehung, des bürgerlichen Milieus im Allgemeinen lastete schon immer schwer auf der Entstehung von Ideen in der Arbeiterbewegung. Die Entwicklung sowohl der Gesellschaft als auch der Wissenschaft ist ein maßgeblicher Faktor in der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Dies mag wie eine Tautologie klingen, doch es kann nicht oft genug wiederholt werden. Die konstante Parallele zwischen der Gesellschaftsentwicklung und der Entwicklung des Proletariats und der Sozialisten ist eine schwere Last für Letztere.

Die Überbleibsel der Religionen, d. h. aus vorkapitalistischen Epochen, werden allerdings zu einem atavistischen Element der reaktionären Bourgeoisie, besonders in der Bourgeoisie als letzte ausbeutende Klasse in der Geschichte. Doch ist nicht die Religion der gefährlichste Teil der Ideologie dieser ausbeutenden Klasse, sondern die Ideologie insgesamt ist gefährlich. In der bürgerlichen Ideologie steckt neben der Religion, dem Chauvinismus und all dem verbalen Idealismus ein verengter, trockener, statischer Materialismus. Ebenso wie der idealistische Aspekt des bürgerlichen Denkens existiert auch der Materialismus der Naturwissenschaften als integraler Bestandteil ihrer Ideologie. Für die Bourgeoisie, die versucht, die Einheit ihrer Existenz hinter der Pluralität ihrer Mythen zu verstecken, sind diese unterschiedlichen Ideologien nicht Teil eines Ganzen. Sozialisten sollten diese jedoch als Ganzes behandeln.

Auf diese Weise können wir ermessen, wie schwer es für die Arbeiterbewegung war, sich von der bürgerlichen Ideologie als Ganzes - von ihrem unvollständigen Materialismus - loszureißen. Hatte nicht Bergson auf die Bildung einiger Strömungen der Arbeiterbewegung in Frankreich großen Einfluss gehabt? Das wirkliche Problem ist, wie man eine neue Ideologie, eine neue Idee zum Objekt einer kritischen Untersuchung macht, ohne in das Dilemma zu geraten, sie anzunehmen oder abzulehnen. Es geht auch darum, den ganzen wissenschaftlichen Fortschritt nicht als wirklichen Fortschritt zu betrachten, sondern als etwas, das nur potenziell ein Fortschritt bzw. eine Bereicherung der Erkenntnis ist, als etwas, dessen Leistungsfähigkeit von den Schwankungen im Wirtschaftsleben des Kapitalismus abhängt.

Für Sozialisten ist dies die einzige Möglichkeit, eine permanent kritische Haltung zu bewahren, die eine wirkliche Untersuchung der Ideen erlaubt. Im Hinblick auf die Wissenschaften ist es die Aufgabe der Sozialisten, ihre Ergebnisse theoretisch zu assimilieren und gleichzeitig zu begreifen, dass ihre praktische Anwendung im Dienste der menschlichen Bedürfnisse erst in einer Gesellschaft möglich ist, die sich zum Sozialismus entwickelt.

Die Entwicklung des Wissens in der Arbeiterbewegung beinhaltet die theoretische Entwicklung der Wissenschaften als eigenen Beitrag. Jedoch muss diese Entwicklung in einem umfassenderen Verständnis eingebettet werden, das sich um die praktische Durchführung der sozialen Revolution – der Basis jeglichen wirklichen Fortschritts in der Gesellschaft – dreht.

Die Arbeiterbewegung ist also durch ihre eigene revolutionäre gesellschaftliche Existenz spezialisiert, durch die Tatsache, dass sie innerhalb des Kapitalismus, gegen die Bourgeoisie und in der rein politischen Sphäre kämpft, die – bis zum Aufstand – den Schwerpunkt im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat bildet.

Dies gewährleistet, dass - abhängig von dem Fortschritt, den die wirkliche Befreiung des Proletariats macht - die Entwicklung des Wissens innerhalb der Arbeiterbewegung einen dualistischen Aspekt beinhaltet. Auf der einen Seite ist sie politisch, beeinflusst von unmittelbaren und dringenden Fragen. Auf der anderen Seite ist sie theoretisch und wissenschaftlich, entwickelt sich langsamer und (bis jetzt) meist in den Perioden des Rückflusses der Arbeiterbewegung. Dieser Aspekt behandelt Fragen, die gleichermaßen wichtig wie die politischen Probleme sind und sicherlich in einer Wechselbeziehung zu ihnen stehen, aber weniger direkt und drängend sind.

Auch die unmittelbaren Klassengrenzen entwickeln sich analog zur Entwicklung der Gesellschaft durch den Kampf der Klasse in der politischen Sphäre. Der politische Kampf des Proletariats, die Entstehung der revolutionären Arbeiterbewegung als Opposition zur Bourgeoisie verläuft in Verbindung zur fortwährenden Weiterentwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Klassenpolitik des Proletariats ändert sich von Tag zu Tag und in gewissem Maße lokal (später schauen wir uns an, in welchem Maße). In diesen Tageskämpfen, in diesen Divergenzen zwischen politischen Parteien und Gruppen, in den Taktiken über Ort und Zeitpunkt entwickeln sich die Klassengrenzen. Später zeigt sich dies auf einer grundsätzlicheren, weniger unmittelbaren Weise: Die entfernteren Ziele des revolutionären Kampfes des Proletariats werden in den großen Leitprinzipien der politischen Parteien und Gruppen formuliert.

Differenzen in der politischen Arbeit werden somit zuerst im Programm, dann erst in der praktischen Anwendung des tagtäglichen Kampfes thematisiert. Die Entwicklung dieser Differenzen reflektiert die allgemeine Entwicklung der Gesellschaft, die Entwicklung der Klassen, ihre Methoden im Kampf, ihre Ideologien, Theorien und ihre politische Praxis.

Im Gegensatz dazu entwickelt sich die Synthese der wissenschaftlichen Dialektik in der rein philosophischen Erkenntniswelt nicht auf dem dialektisch unmittelbaren Weg des praktischen, politischen Klassenkampfs. Diese Dialektik ist weit abstrakter, sporadischer, ohne offenkundige Verbindungen zum lokalen oder gesellschaftlichen Umfeld, ein bisschen wie die Entwicklung der angewandten Wissenschaften, der Naturwissenschaften gegen Ende des Feudalismus und zu Beginn des Kapitalismus.

Harper macht diese Unterschiede nicht. Er versäumt es, darauf hinzuweisen, dass die Erkenntnis im menschlichen Denken verschiedene Manifestationen hat, dass sie in Abhängigkeit von der Periode, dem gesellschaftlichen Kontext usw. stark in verschiedene Spezialisierungen aufgeteilt ist.

Um es etwas ungeschliffen und vereinfacht darzustellen, entwickelt sich die menschliche Erkenntnis als Antwort auf die Bedürfnisse, denen sich die unterschiedlichen Gesellschaftsformationen gegenübersehen, und die unterschiedlichen Zweige der Erkenntnis entwickeln sich im Verhältnis zu den vorgesehenen praktischen Anwendungen. Je unmittelbarer die Sphäre der Erkenntnis mit der praktischen Anwendung verbunden ist, desto einfacher ist es, den Fortschritt zu beobachten. Je mehr dagegen die Erkenntnis zur Synthese strebt, desto schwieriger ist es, den Fortschritt festzustellen. Die Synthese beruht auf Gesetzen, die so kompliziert sind und von solch komplexen und unterschiedlichen Faktoren abgeleitet sind, dass es für uns heute praktisch unmöglich ist, in solche Studien einzutauchen.

Darüber hinaus umfasst die Praxis weite Teile der gesellschaftlichen Massen, während die Synthese häufig nur von Einzelnen geleistet wird. Gesellschaftliche Prozesse sind von grundsätzlichen Gesetzen determiniert, die einfacher und direkter zu kontrollieren sind. Das Individuum ist weitaus mehr das Subjekt von Besonderheiten, die für eine Geschichtswissenschaft – welche sich immer noch in einem sehr frühen Stadium befindet – kaum wahrnehmbar sind.

Deshalb denken wir, dass Harper einem schwerwiegenden Irrtum aufgesessen war, als er sich auf eine Untersuchung des Problems der Erkenntnis einließ, die sich darauf beschränkte, den Unterschied zwischen dem bürgerlichen und dem sozialistischen, revolutionären Ansatz herauszuarbeiten, und die sich nicht mit dem historischen Prozess befasste, in dem die Ideen gebildet werden. Dadurch bleibt Harpers Dialektik kraftlos und vulgär. Nach seinem sehr interessanten Essay, in dem er Lenins Angriff auf den Empiriokritizismus richtigerweise kritisiert (d. h. aufzeigt, dass Lenins Text eine vulgäre Polemik in der wissenschaftlichen Sphäre ist, ein wüster Mischmasch von bürgerlichem Materialismus und Marxismus), belässt es Harper in seinen Schlussfolgerungen bei Plattitüden, die eklatanter sind als Lenins Dialektik in Materialismus und Empiriokritizismus.

Das Proletariat löst sich durch einen kontinuierlichen Kampf vom bürgerlichen Gesellschaftsmilieu. Es kann jedoch nicht vollständig eine – im umfassenden Sinne des Wortes – unabhängige Ideologie erlangen, solange es noch nicht den allgemeinen Aufstand durchgeführt und die sozialistische Revolution zu einer lebendigen Realität gestaltet hat. Genau in dem Moment, wenn das Proletariat eine vollständige ideologische und politische Unabhängigkeit erreicht hat, wenn es sich über die einzige Lösung des sozio-ökonomischen Morasts des Kapitalismus – den Aufbau der klassenlosen Gesellschaft – bewusst ist, existiert es bereits nicht mehr als Klasse für den Kapitalismus. Durch die Doppelherrschaft, die es zu seinen Gunsten etabliert, schafft es die gesellschaftlich-historischen Umstände, die das vollständige Verschwinden als Klasse ermöglichen. Die sozialistische Revolution besteht daher aus zwei entscheidenden Momenten: vor und nach dem Aufstand.

Erst wenn das Proletariat ein Umfeld geschaffen hat, das sein Verschwinden begünstigt, d.h. nach dem Aufstand, kann es eine vollständig unabhängige Ideologie entwickeln. Vor dem Aufstand ist das Hauptziel seiner Ideologie die praktische Realisierung des Aufstands. Dies erfordert ein Bewusstsein über die Notwendigkeit des Aufstandes und die Möglichkeiten und Mittel, ihn durchzuführen. Nach dem Aufstand wird die entscheidende praktische Frage auf der einen Seite die Verwaltung der Gesellschaft und auf der anderen Seite die Abschaffung der vom Kapitalismus hinterlassenen Widersprüche sein. Die Hauptsorge wird dann sein: Wie kommen wir zum Kommunismus, wie können die Probleme der „Übergangsperiode“ gelöst werden? Gesellschaftliches Bewusstsein, selbst das des Proletariats, kann solange nicht vollständig von der bürgerlichen Ideologie befreit werden, solange der generalisierte Aufstand nicht begonnen hat. Bis dahin, bis zur Befreiung durch Gewalt werden alle bürgerlichen Ideologien, die gesamte bürgerliche Kultur, ihre Kunst und Wissenschaft Einfluss auf das Denken der Sozialisten ausüben. Eine sozialistische Synthese erwächst nur sehr langsam aus der Entwicklung der Arbeiterbewegung. Häufig werden dabei die reichhaltigsten Beiträge zur Analyse des Klassenkampfs und der Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der Bewegung geleistet – mehr von Beobachtern als von Teilnehmern. Im Vergleich zu Lenin ist dies bei Harper der Fall.

Entsprechend kann es eine Kluft zwischen Theorie und Praxis der sozialistischen Bewegung geben. So können theoretische Studien wertvoll bleiben, auch wenn die Menschen, die sie formuliert haben, eine dem Kampf des Proletariats nicht angemessene politische Praxis ausüben. Aber auch das Gegenteil ist möglich.

Die Bewegung, die die russische Gesellschaft innerhalb von zwölf Jahren in drei Revolutionen stürzte, hatte hauptsächlich mit den praktischen Aufgaben des Klassenkampfs zu tun. Die Bedürfnisse, die der Kampf generierte, die Ergreifung und Ausübung der Macht begünstigten eher Politiker des Proletariats wie Lenin und Trotzki – Männer der Tat, der Tribüne, Polemiker – als Philosophen und Ökonomen. Die Philosophen und Ökonomen aus der Zeit der II. und III. Internationale standen häufig außerhalb der praktischen revolutionären Bewegung oder leisteten ihre Hauptarbeit in Zeiten des Rückflusses der revolutionären Flut.

Zwischen 1900 und 1924 wurde Lenin von dem Strom der aufkommenden Revolution angetrieben. All seine Arbeit war verwoben mit diesem Kampf, mit seinen Höhen und Tiefen, mit seiner historischen und vor allem menschlichen Tragödie. Seine Arbeit war hauptsächlich politisch und polemisch, eine kämpferische Arbeit. Sein wesentlicher Beitrag zur Arbeiterbewegung besteht im politischen Teil seiner Arbeit und nicht in seinen philosophischen und ökonomischen Studien, deren Qualität aufgrund der mangelnden analytischen Tiefe, wissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeit zur theoretischen Synthese zweifelhaft ist. Im Gegensatz zur turbulenten historischen Situation in Russland erlaubte die Ruhe, die in Holland am Rande des Klassenkampfs in Deutschland  herrschte, die Zeit des Rückzugs des Klassenkampfes einer Gestalt wie Harper eine ideologische Weiterentwicklung.

Harper greift Lenin massiv an seinem schwächsten Punkt an, wobei er den weitaus wichtigsten und lebendigsten Teil seiner Arbeit ignoriert und so einen großen Fehler begeht, als er versucht, Schlussfolgerungen aus Lenins Gedanken und über die Bedeutung seiner Arbeit abzuleiten. Da Harpers Schlussfolgerungen unvollständig bzw. falsch sind, verkommen sie zu journalistischen Plattitüden, wenn sie sich mit der Russischen Revolution insgesamt beschäftigen. Indem er sich auf Materialismus und Empiriokritizismus beschränkt, zeigt er, dass er nichts von Lenins Hauptwerk verstanden hat. Seine Fehler über die russische Revolution sind weitaus ernster, so dass wir zu ihnen zurückkehren müssen.

Philip

(Fortsetzung folgt)


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