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Internationale Revue 14

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Wer kann die Welt verändern? Das Proletariat ist die revolutionäre Klasse (Teil 1)

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'Der Kommunismus ist tot! Der Kapitalismus hat gesiegt, weil er das einzige System ist, das wirklich funktionieren kann. Es ist nutzlos und gar gefährlich, von einer anderen Gesellschaft zu träumen!' Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der angeblich "kommunistischen" Regimes wurde von der herrschenden Klasse eine beispiellose Kampagne entfesselt. Gleichzeitig und in die gleiche Kerbe schlagend hat die Propaganda der Herrschenden ein weiteres Mal versucht, die Arbeiterklasse zu demoralisieren, indem sie ihr einzureden versuchte, daß sie keine gesellschaftliche Kraft mehr sei, daß sie nicht mehr zähle, ja nicht einmal mehr existiere. Und damit ihre Rechnung aufgeht, hat sie sich eifrig darum bemüht, die Bedeutung des Rückgangs in der Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse aufzubauschen, der aus den Konfusionen resultierte, die die Umwälzungen der letzten Jahre in den Rängen der Arbeiter ausgelöst hatten. Das Wiedererstarken des Klassenkampfes, das sich bereits andeutet, wird solche Lügen in der Praxis widerlegen; doch die Bourgeoisie wird selbst im Verlaufe großer Arbeiterkämpfe nicht aufhören, uns die Idee einzutrichtern, daß diese Kämpfe keinesfalls die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer Gesellschaft anstreben können, die von all den Geißeln befreit ist, die dieses System der Menschheit aufzwingt. So bleibt heute entgegen all der Lügen der Herrschenden, aber auch gegen den Skeptizismus einiger Möchtegern-Revolutionäre die Bekräftigung des revolutionären Charakters des Proletariats in der Verantwortung der Kommunisten. Dies ist der Zweck dieses Artikels.

Ein Hauptthema in den Kampagnen, denen wir in den letzten Jahren ausgesetzt waren, war die "Widerlegung" des Marxismus. Letzterer sei, nach den Worten der von der Bourgeoisie gedungenen Ideologen, gescheitert. Seine praktische Umsetzung und sein Versagen in den osteuropäischen Ländern seien eine Veranschaulichung dieses Scheiterns. Wir haben immer wieder in unserer Revue aufgezeigt, daß der Stalinismus mit dem Kommunismus, so wie Marx und die gesamte Arbeiterbewegung ihn aufgefaßt hatten, nichts zu tun hat.(1) In Hinblick auf das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse ist es die Aufgabe der Kommunisten, die marxistische Position in dieser Frage zu bekräftigen und in erster Linie daran zu erinnern, was der Marxismus unter einer revolutionären Klasse versteht.

 

Was ist eine revolutionäre Klasse nach marxistischem Verständnis?

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen" (2). So beginnt einer der wichtigsten Texte des Marxismus und der Arbeiterbewegung: "Das Kommunistische Manifest". Diese These ist keine Besonderheit des Marxismus (3), sondern eine der fundamentalen Grundlagen in der kommunistischen Theorie, die besagt, daß die Klassenkonfrontationen in der kapitalistischen Gesellschaft als ultimative Perspektive den Sturz der Bourgeoisie durch das Proletariat und die Machtausübung durch Letzteres  über die gesamte Gesellschaft zum Ziel haben - eine These, die freilich von den Vertretern des kapitalistischen Systems abgelehnt wird. Doch während die Bourgeoisie in der Aufstiegsperiode dieses Systems (natürlich unvollständig und mystifiziert) eine gewisse Zahl von gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten entdeckt hat (4), gibt es heute kaum Aussichten, daß sich dies wiederholt: die Bourgeoisie der kapitalistischen Dekadenz ist völlig unfähig geworden, solche Denker hervorzubringen. Für die Ideologen der herrschenden Klasse beschränkt sich die fundamentale Priorität ihrer gesamten gedanklichen Anstrengungen darauf zu beweisen, daß die marxistische Theorie falsch ist (auch wenn einige von ihnen sich auf den einen oder anderen Beitrag von Marx berufen). Und der Eckpfeiler ihrer "Theorien" ist die Behauptung, daß der Klassenkampf keine Rolle mehr in der Geschichte spiele, wenn nicht gar die schlichte Leugnung eines solchen Kampfes oder - schlimmer noch - der Existenz sozialer Klassen.

Nicht nur die erklärten Vertreter der bürgerlichen Gesellschaft bringen solche Behauptungen vor. Einige "radikale Denker", die mit der Anfechtung der etablierten Ordnung Karriere gemacht haben, haben sich ihnen seit einigen Jahrzehnten angeschlossen. Der Guru der Gruppe SOCIALISME OU BARBARIE (und Inspirator der Gruppe SOLIDARITY in Großbritannien), Cornelius Castoriadis, hatte vor nahezu vierzig Jahren - zur gleichen Zeit, als er die Ablösung des Kapitalismus durch ein "drittes System", die "bürokratische Gesellschaft", vorhergesagt hatte - angekündigt, daß der Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Proletariat, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, unweigerlich dem Antagonismus zwischen "Führern und Geführten" weichen werde.(5) In der jüngeren Geschichte haben andere "Denker", die ihre Sternstunde hatten, wie der Universitätsdozent Marcuse, behauptet, daß die Arbeiterklasse in die kapitalistische Gesellschaft "integriert" worden sei und daß die einzigen Kräfte, die diese Gesellschaft infrage stellen könnten, nunmehr von gesellschaftlichen Randgruppen wie den Schwarzen in den USA, den Studenten oder auch den Bauern der unterentwickelten Staaten verkörpert würden. So stellen die Theorien über das "Ende der Arbeiterklasse", die heute wieder aufzublühen beginnen, keine Neuigkeit dar: Eines der Merkmale im "Denken" dieser Klasse, eines, das ihre Senilität  gut zum Ausdruck bringt, ist die Unfähigkeit, auch nur eine neue Idee, so geringfügig sie auch sein mag, zu kreieren. Die einzige Sache, die sie zu verwirklichen imstande ist, ist, in den Mülleimern der Geschichte zu wühlen, um alte Klischees hervorzukramen, die dem heutigen Geschmack entsprechend überstrichen und als die "Entdeckung des Jahrhunderts" präsentiert werden.

Ein bevorzugtes Mittel, das die Bourgeoisie zur Verschleierung der Wirklichkeit der Klassengegensätze und selbst der Existenz von Gesellschaftsklassen benutzt, sind soziologische "Studien". Statistisch gestützt, "beweist" man, daß die wahren sozialen "Spaltungen" nichts mit Klassenunterschieden zu tun hätten, sondern auf Kriterien wie das Bildungsniveau, den Wohnort, die Altersstufe, die ethnische Herkunft, ja sogar die Religion (6) zurückzuführen seien. Als Beweis für diese Sorte von Behauptungen beeilt man sich beispielsweise auf die Tatsache zu verweisen, daß die Stimmabgabe eines "Bürgers" zugunsten der Rechten oder der Linken weniger von der wirtschaftlichen Situation als von anderen Kriterien abhänge. In den Neuenglandstaaten in den USA wählen die Schwarzen und Juden traditionell demokratisch, die praktizierenden Katholiken in Frankreich, die Elsässer und die Einwohner von Lyon wählen traditionell rechts. Man vermeidet jedoch, darauf hinzuweisen, daß die Mehrheit der amerikanischen Arbeiter nie wählt und daß die Kirchgänger unter den französischen Arbeitern in Streiks nicht zwangsläufig weniger kämpferisch sind. Im allgemeinen unterläßt es die "Soziologie" stets, ihre Behauptungen mit einer historischen Dimension zu versehen. So verschweigt man, daß dieselben russischen Arbeiter, die sich in die erste proletarische Revolution dieses Jahrhunderts, die von 1905, stürzten, am 9. Januar (der "rote Sonntag") mit einer Demonstration begannen, an deren Spitze ein Pope marschierte, und das Wohlwollen des Zaren ersuchten, damit er ihre Armut lindert.(7)

Wenn sich die "Experten" der Soziologie auf die Geschichte beziehen, dann, um zu behaupten, daß sich die Lage seit dem letzten Jahrhundert grundlegend geändert habe. Damals, meinen sie, seien der Marxismus und die Theorie des Klassenkampfes sinnvoll gewesen, da die Arbeits- und Lebensbedingungen der Industriearbeiter wirklich entsetzlich gewesen seien. Doch seitdem seien die Arbeiter "verbürgerlicht" und hätten Zugang zur "Konsumgesellschaft" erlangt, bis sie "ihre Identität verloren" hätten. Auch hätten die Bourgeois mit Zylinder und Goldkette bezahlten "Managern" Platz gemacht. All diese Überlegungen sollen die Tatsache verwischen, daß sich die Grundstrukturen der Gesellschaft in ihrem Kern nicht verändert haben. Tatsächlich sind die Bedingungen, die im vergangenen Jahrhundert der Arbeiterklasse ihren revolutionären Charakter verliehen haben, immer präsent. Die Tatsache, daß der Lebensstandard der Arbeiter heute über dem ihrer Klassenbrüder der vergangenen Generationen liegt, verändert keinesfalls ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen, die die kapitalistische Gesellschaft dominieren. Die Gesellschaftsklassen bestehen nach wie vor, und die Kämpfe zwischen ihnen bilden stets den Hauptantrieb der historischen Entwicklung.

Es ist wirklich eine Ironie der Geschichte, daß die offiziellen Ideologien der Bourgeoisie einerseits vorgeben, daß die Klassen keine besondere Rolle mehr spielen (ja sogar nicht mehr existieren), und andererseits anerkennen, daß die ökonomische Lage der Welt die ausschlaggebende Frage ist, mit der die dieselbe Bourgeoisie konfrontiert ist.

In Wirklichkeit rührt die grundlegende Bedeutung der Klassen in der Gesellschaft aus dem herausragenden Platz her, den die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen einnehmen. Eine der Grundaussagen des historischen Materialismus lautet, daß die Ökonomie letzten Endes alle anderen Bereiche der Gesellschaft, die juristischen Verhältnisse, die Regierungsformen, die Denkweisen, bestimmt. Diese materialistische Auffassung der Geschichte schlägt freilich eine Bresche in jene Philosophien, die die historischen Ereignisse mal als reine Zufallsergebnisse, mal als Ausdruck eines göttlichen Willens, mal als das simple Resultat der Leidenschaften oder des menschlichen Denkens betrachten. Doch wie Marx schon damals sagte, übernimmt die Krise die Aufgabe, die Dialektik in die Köpfe der Bourgeois zu treiben. Die heute offensichtliche Tatsache dieser Vorherrschaft der Ökonomie in der Gesellschaft ist entscheidend für die Bedeutung der Gesellschaftsklassen, eben weil sie im Gegensatz zu anderen soziologischen Kategorien von ihrer Stellung in den ökonomischen Verhältnissen bestimmt werden. Dies war seit der Existenz von Klassen stets der Fall gewesen, doch im Kapitalismus drückt sich diese Realität am deutlichsten aus.

In der Feudalgesellschaft beispielsweise war die soziale Differenzierung per Gesetz festgehalten. Es existierte ein fundamentaler juristischer Unterschied zwischen den Ausbeutern und den Ausgebeuteten: die Adligen besaßen offiziell, per Gesetz, einen privilegierten Status (Befreiung von der Steuerpflicht, Einziehung eines Tribut, der von ihren Leibeigenen gezahlt wurde, z.B.), während die ausgebeuteten Bauern an ihrer Scholle gefesselt waren und einen Teil ihres Einkommens an ihren Fronherrn abführen mußten (oder kostenlos auf seinem Land zu arbeiten hatten). In einer solchen Gesellschaft schien die Ausbeutung, weil sie leicht meßbar war (beispielsweise in Gestalt des von dem Leibeigenen abzuführenden Tributs), aus dem jeweiligen juristischen Status hervorzugehen. In der kapitalistischen Gesellschaft dagegen erlauben die Abschaffung der Privilegien, die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Gleichheit und die Freiheit, die ihre Verfassungen proklamieren, keine Ausbeutung und Differenzierung in Klassen mehr, die sich hinter den Unterschieden des juristischen Status verstecken. Es ist das Eigentum, oder Nicht-Eigentum, von Produktionsmitteln (8) und auch ihre Anwendung, das im wesentlichen den Platz des Einzelnen in der Gesellschaft und über seinen Zugang zu ihren Reichtümerin der Gesellschaft bestimmt, das heißt, die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Klasse und die Existenz von gemeinsamen Interessen mit den anderen Mitgliedern derselben Klasse. In groben Zügen bestimmt die Tatsache, Produktionsmittel zu besitzen und sie individuell in Bewegung zu setzen, die Zugehörigkeit zum Kleinbürgertum (Handwerker, Bauern, freiberuflich Tätige, etc.).(9) Die Tatsache, jeglicher Produktionsmittel beraubt und gezwungen zu sein, seine Arbeitskraft an jene zu verkaufen, die sie besitzen und die diesen Tausch nutzen, um sich einen Mehrwert anzueignen, bestimmt die Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse. Schließlich gehören zur Bourgeoisie jene, die (im strikt juristischen oder globalen Sinn ihrer individuellen oder kollektiven Kontrolle) über die Produktionsmittel verfügen, welche die Arbeitskraft in Arbeit versetzt, und die von der Ausbeutung Letzterer durch die Aneignung des Mehrwerts leben, den diese erzeugen. Im Wesentlichen ist diese Differenzierung in Klassen heute genauso präsent, wie sie es im vergangenen Jahrhundert gewesen war. Auch die jeweiligen Interessen dieser unterschiedlichen Klassen und die Interessenskonflikte zwischen ihnen bleiben bestehen. Daher befinden sich die Antagonismen zwischen den Hauptbestandteilen der Gesellschaft, die dadurch bestimmt sind, was ihr Skelett bildet - die Ökonomie -, weiterhin im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens.

Abgesehen davon, drücken sich die Antagonismen zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, auch wenn sie einer der Hauptantriebe in der Geschichte der Gesellschaften sind, nicht identisch in jeder Gesellschaft aus. In der Feudalgesellschaft führten die oftmals unbarmherzigen und großangelegten Kämpfe zwischen den Leibeigenen und den Fürsten nie zu einem radikalen Sturz Letzterer. Der Klassengegensatz, der zum Sturz des Ancien Régime führte und die Privilegien des Adels abschaffte, war nicht jener, in dem sich der Adel und die Klasse, die er ausbeutet, die unterjochte Bauernschaft, gegenüberstanden, sondern die Konfrontation zwischen eben jenem Adel und einer anderen ausbeutenden Klasse, der Bourgeoisie (englische Revolution Mitte des 17. Jahrhunderts, französische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts). Auch die Sklavenhaltergesellschaft des Römischen Imperiums wurde nicht durch die Sklavenklasse abgeschafft (ungeachtet der oft gewaltigen Kämpfe der Sklaven, wie z.B. der Aufstand von Spartakus und seinen Anhängern 73 v.Chr.), sondern durch den Adel, der über ein Jahrtausend lang den christlichen Westen beherrschen sollte.

In Wirklichkeit waren in den vergangenen Gesellschaften die revolutionären Klassen nie ausgebeutete Klassen, sondern neue ausbeutende Klassen. Und dies ist natürlich kein Zufall. Für den Marxismus unterscheiden sich die revolutionären Klassen (die er auch als "historische" Klassen bezeichnet) von den anderen Klassen der Gesellschaft darin, daß sie im Gegensatz zu Letzteren die Fähigkeit besitzen, die Führung der Gesellschaft zu übernehmen. Und solange die Entwicklung der Produktivkräfte noch unzureichend war, um einen Überfluß von Gütern für die gesamte Gesellschaft zu gewährleisten, solange die Gesellschaft mit der Aufrechterhaltung von ökonomischen Ungleichheiten und somit von Ausbeutungsverhältnissen behelligt wurde, war nur eine ausbeutende Klasse in der Lage, sich an die Spitze des gesellschaftlichen Körpers zu setzen. Ihre historische Rolle bestand darin, die Entstehung und Entwicklung der Produktionsverhältnisse, deren Träger sie war, zu begünstigen, um so die alten, überholten Produktionsverhältnisse zu verdrängen und die Widersprüche zu meistern, die unüberwindbar waren, solange diese Verhältnisse aufrechterhalten blieben.

So war die dekadente römische Sklavenhaltergesellschaft durch den Umstand, daß die Abhängigkeit bei der "Versorgung" mit Sklaven von neuen territorialen Eroberungen auf das wachsende Problem Roms stieß, die Grenzen seines immer aufgeblähteren Imperiums zu kontrollieren, und gleichzeitig durch die Unfähigkeit gekennzeichnet, die erforderliche Sorgfalt im Umgang mit neuen landwirtschaftlichen Techniken unter den Sklaven durchzusetzen. In solch einer Lage waren feudale Herrschaftsverhältnisse, in denen die Ausgebeuteten nicht mehr den gleichen Status hatten wie das Vieh (wie dies bei den Sklaven der Fall gewesen war) (10) und in der sie an einer größeren Produktivität des von ihnen bestellten Bodens stark interessiert waren, weil sie davon lebten, am besten geeignet, um die Gesellschaft aus ihrer Talsohle herauszuführen. Daher haben sich die neuen Verhältnisse insbesondere durch die Emanzipation der Sklaven verbreitet (was an bestimmten Orten durch das Erscheinen der "Barbaren" beschleunigt wurde, von denen einige bereits in einer Art von Feudalgesellschaft lebten).

Auch besteht der Marxismus (der mit dem KOMMUNISTISCHEN MANIFEST beginnt) auf der herausragenden revolutionären Rolle, die die Bourgeoisie im Laufe der Geschichte gespielt hatte. Diese Klasse, die innerhalb der Feudalgesellschaft entstanden war und sich verbreitet hatte, hatte einen Machtzuwachs gegenüber einem Adel und einer Monarchie erlebt, die sowohl bezüglich der Beschaffung aller möglichen Güter (Textilien, Möbel, Gewürze, Waffen) als auch hinsichtlich der Finanzierung ihrer Ausgaben immer mehr von ihr abhingen. Als mit dem Wegfall der Möglichkeiten der Urbarmachung und der Ausweitung des kultivierten Landes eine der Quellen der Dynamik der feudalen Produktionsverhältnissees versiegte, als mit der Bildung von Königreichen der Adel zusammen mit der Rolle des Beschützers des Volkes, die anfangs die Hauptaufgabe des Adels gewesen war, seinen Daseinsgrund verlor, wurde die Kontrolle der Gesellschaft durch diese Klasse zu einem Hemmnis für die gesellschaftliche Weiterentwicklung. Und dies wurde von der Tatsache verstärkt, daß diese Weiterentwicklung immer mehr vom Wachstum des Handels, der Banken und des Handwerks in den Städten abhing, die einen beträchtlichen Fortschritt der Produktivkräfte erlebten.

Indem sie sich an die Spitze der Gesellschaft stellte, zunächst im wirtschaftlichen, dann im politischen Bereich, befreite die Bourgeoisie die Gesellschaft aus den Fesseln,  die sie in die Krise gestürzt hatten; sie schuf die Voraussetzungen für das Wachstum des gewaltigsten Reichtums, den die menschliche Geschichte jemals erlebt hatte. Dabei ersetzte sie nur eine Form der Ausbeutung, die Leibeigenschaft, durch eine andere Form der Ausbeutung, die Lohnarbeit. Um dies zu erreichen, sah sie sich veranlaßt, in der Periode, die Marx die primitive Akkumulation nannte, barbarische Maßnahmen zu ergreifen, die denen der Sklavenhalter ebenbürtig waren, damit die Bauern gezwungen wurden, ihre Arbeitskraft in den Städten zu verkaufen (siehe dazu die eindrucksvollen Schilderungen im ersten Band des Kapitals). Und diese Barbarei kündigte selbst nur die Barbarei an, mit der das Kapital das Proletariat ausbeuten sollte (Kinderarbeit, Nachtarbeit für Frauen und Kinder, Arbeitstage von bis zu 18 Stunden, die "Arbeitshäuser" usw.), ehe es den Kämpfen der Arbeiter gelang, die Kapitalisten zu zwingen, die Brutalität ihrer Methoden zu mildern.

Seit ihrer Entstehung hat die Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung aufbegehrt. Auch waren diese Revolten stets von Entwürfen begleitet, die auf die Umwälzung der Gesellschaft, auf die Abschaffung der Ungleichheiten, auf die gemeinsame Verfügung über die gesellschaftlichen Güter abzielten. Hier unterschied sie sich nicht grundlegend von den früheren ausgebeuteten Klassen, insbesondere nicht von den Leibeigenen, die sich selbst auch in manchen Revolten hinter einem Vorhaben der gesellschaftlichen Transformation zusammengeschlossen hatten. Dies traf insbesondere auf den Bauernkrieg im 16. Jahrhundert in Deutschland zu, wo die Ausgebeuteten Thomas Müntzer, der eine Art Kommunismus befürwortete, zu ihrem Sprachrohr machten.(11) Doch im Gegensatz zum Entwurf der gesellschaftlichen Transformation anderer ausgebeuteter Klassen ist jener des Proletariats keine schlichte, unrealisierbare Utopie. Der Traum von einer egalitären Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung, den die Sklaven und Leibeigenen täumten, konnte nur ein schlichtes Trugbild sein, denn das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte, das die Gesellschaft damals erlangt hatte, erlaubte keine Abschaffung der Ausbeutung. Dagegen ist das kommunistische  Projekt des Proletariats völlig realistisch, nicht nur weil der Kapitalismus die Grundlagen für eine solche Gesellschaft gelegt hat, sondern auch weil der Kommunismus das einzige Gesellschaftsprojekt ist, das die Menschheit aus der Barbarei retten kann, in der sie versinkt.

 

Warum das Proletariat heute die revolutionäre Klasse ist


Seitdem das Proletariat begonnen hatte, sein eigenes Gesellschaftsprojekt vorzubringen, hatte die Bourgeoisie nur Verachtung dafür übrig und betrachtete dies als die Hirngespinste eines Rufenden in der Wüste. Und wenn sie sich mal die Mühe macht, über diese schlichte Verachtung hinauszugehen, ist die einzige Sache, die sie sich vorstellen kann, die, daß es sich mit den Arbeitern genauso wie mit den früheren Ausgebeuteten verhält: alles, was sie können, ist, unmögliche Utopien zu träumen. Offensichtlich scheint die Geschichte der Bourgeoisie recht zu geben; ihre Philosophie kann man wie folgt zusammenfassen: 'Es hat immer Arme und Reiche gegeben, es wird sie immer geben. Die Armen können durch ihre Revolten gar nichts gewinnen. Man muß dafür sorgen, daß die Reichen keinen Mißbrauch mit ihrem Reichtums betreiben und sich darum kümmern, daß das Elend der Ärmsten gelindert wird'. Die Priester und die Damen der Wohltätigkeitsorganisationen haben sich zu Sprachrohren und Praktikern dieser "Philosophie" gemacht. Die Bourgeoisie weigert sich, einzusehen, daß ihr Wirtschafts- und Gesellschaftssystem genausowenig wie die vorhergehenden auf ewig hält und daß es wie die Sklavenhaltergesellschaft oder der Feudalismus dazu verurteilt ist, einer neuen Gesellschaftsform Platz zu machen. Und so wie die Charakteristiken des Kapitalismus die Lösung der Widersprüche ermöglicht hatte, die die Feudalgesellschaft niedergestreckt hatten (wie dies auch schon mit dem Feudalismus gegenüber der antiken Gesellschaft der Fall gewesen war), rühren die Merkmale jener Gesellschaft, die dazu berufen ist, die tödlichen Widersprüche zu lösen, die den Kapitalismus bedrängen, aus derselben Notwendigkeit her. Wenn man also von diesen Widersprüchen ausgeht, ist es möglich, die Merkmale der zukünftigen Gesellschaft zu definieren.

Natürlich können wir im Rahmen dieses Artikels nicht im Einzelnen auf die Widersprüche eingehen. Seit mehr als einem Jahrhundert hat sich der Marxismus damit systematisch befaßt, und auch unsere eigene Organisation hat ihnen zahlreiche Texte gewidmet (12). Doch wir wollen in groben Zügen die Ursprünge dieser Widersprüche umreißen. Sie wohnen den Hauptmerkmalen des kapitalistischen Systems inne: es ist eine Produktionsweise, die den Warentausch auf alle erzeugten Güter ausgeweitet hat, während in den früheren Gesellschaften nur ein Teil dieser Güter, oft ein sehr geringer, in Waren umgewandelt wurde. Diese Kolonisierung der Ökonomie durch die Ware hat im Kapitalismus auch die menschliche Arbeitskraft erfaßt, die von den Menschen bei ihren produktiven Tätigkeiten angewendet wird. Der Produktionsmittel beraubt, hat der Produzent, um zu überleben, keine andere Möglichkeit, als seine Arbeitskraft jenen verkaufen, die über diese Produktionsmittel verfügten - die kapitalistische Klasse -, während es in der Feudalgesellschaft beispielsweise, in der bereits eine Warenwirtschaft existierte, die Früchte seiner Arbeit waren, die der Handwerker oder der Bauer verkaufte. Und es ist ebendiese Verallgemeinerung der Waren, die die Wurzel der Widersprüche des Kapitalismus bildet: die Überproduktionskrise ist darauf zurückzuführen, daß das Ziel des Systems nicht in der Produktion von Gebrauchswerten besteht, sondern in der Produktion von Tauschwerten, die Käufer finden müssen. Aus der Unfähigkeit der Gesellschaft, die Gesamtheit der produzierten Waren zu kaufen (obwohl die tatsächlichen Bedürfnisse noch längst nicht befriedigt sind), rührt diese Kalamität her, die wirklich absurd erscheint: der Kapitalismus bricht zusammen, nicht weil er zu wenig, sondern weil er zuviel produziert.(13)

Das wichtigste Merkmal des Kommunismus wird also die Abschaffung der Ware, die Verbreitung der Produktion von Gebrauchswerten und nicht von Tauschwerten sein.

Darüber hinaus haben der Marxismus und insbesondere Rosa Luxemburg aufgezeigt, daß der Ursprung der Überproduktion aus der Notwendigkeit für das Kapital in seiner Gesamtheit herrührt, den Teil des erzeugten Werts, der dem aus den Proletariern herausgepreßten Mehrwert entspricht und der für die Akkumulation bestimmt ist, durch den Verkauf außerhalb seiner eigenen Sphäre zu realisieren. Aber in dem Maße, wie die außerkapitalistischen Regionen zusammenschrumpfen, nehmen die ökonomischen Erschütterungen immer katastrophalere Formen an.

So besteht der einzige Weg zur Überwindung der Widersprüche des Kapitalismus in der Abschaffung aller Warenformen und insbesondere der Ware Arbeitskraft, d.h. der Lohnarbeit.

Die Abschaffung des Warentauschs setzt voraus, daß auch dessen Grundlage, das Privateigentum, abgeschafft wird. Nur wenn die Reichtümer von der Gesellschaft kollektiv angeeignet werden, können Kauf und Verkauf dieser Reichtümer verschwinden (was es in embryonaler Gestalt bereits in der Urgemeinde gab). Eine solche kollektive Aneignung der von ihr produzierten Reichtümer und an erster Stelle der Produktionsmittel durch die Gesellschaft bedeutet, daß es nicht mehr möglich sein wird, daß ein Teil von ihr, eine soziale Klasse (auch in Gestalt einer Staatsbürokratie), über die Mittel verfügt, um einen anderen Teil auszubeuten. So kann die Abschaffung der Lohnarbeit nicht durch die Einführung einer neuen Ausbeutungsform, sondern allein durch die Abschaffung der Ausbeutung in all ihren Formen verwirklicht werden. Und im Gegensatz zur Vergangenheit darf die Art der Transformation, die heute die Menschheit retten kann, nicht wiederum zu neuen Ausbeutungsverhältnissen führen; der Kapitalismus selbst hat die materiellen Voraussetzungen für einen Überfluß geschaffen, der eine Überwindung der Ausbeutung ermöglicht. Dieser Umstand eines Überflusses deutet sich auch in der Existenz der Überproduktionskrisen an (wie das KOMMUNISTISCHE MANIFEST enthüllte).

Die Frage, vor der wir stehen, ist also: welche Kraft in der Gesellschaft ist in der Lage, diese Transformation durchzuführen, die das Privateigentum abschafft und jeglicher Form von Ausbeutung ein Ende bereitet?

Das erste Merkmal dieser Klasse besteht darin, ausgebeutet zu werden, denn nur eine ausgebeutete Klasse kann ein Interesse an der Abschaffung der Ausbeutung haben. Während in den Revolutionen der Vergangenheit die revolutionäre Klasse keinesfalls eine ausgebeutete Klasse sein konnte, weil die neuen Produktionsverhältnisse zwangsläufig neue Ausbeutungsverhältnisse waren, ist heute genau das Gegenteil der Fall. Seinerzeit hegten die utopischen Sozialisten (wie Fourier, Saint-Simon, Owen) (14) die Illusion, daß die Revolution von Elementen der Bourgeoisie in die Hand genommen werden könnte. Sie hofften, daß sich innerhalb der herrschenden Klasse aufgeklärte und vermögende Menschenfreunde finden, die die Überlegenheit des Kommunismus über den Kapitalismus erkennen und bereit sind, Projekte idealer Gemeinschaften zu finanzieren, deren Beispiel sich dann wie ein Lauffeuer verbreiten sollten. Da die Geschichte nicht von Individuen, sondern von Klassen gemacht wird, wurden diese Hoffnungen innerhalb weniger Jahrzehnte zunichtegemacht. Selbst wenn sich einige wenige Mitglieder der Bourgeoisie fanden, die sich den großmütigen Ideen der Utopisten anschlossen (15), hat sich die herrschende Klasse isgesamt freilich davon abgewandt, wenn sie diese Ideen nicht gar offen bekämpft hat, zielten diese doch darauf ab, die herrschende Klasse dazu zu bringen, als eine Klasse zu verschwinden.

Allerdings reicht die Tatsache, eine ausgebeutete Klasse zu sein, keineswegs aus, um eine revolutionäre Klasse zu sein. Es gibt zum Beispiel heute noch auf der Welt und insbesondere in den unterentwickelten Ländern eine Vielzahl von armen Bauern, die unter der Ausbeutung infolge der Aneignung der Früchte ihrer Arbeit durch die herrschende Klasse leiden, sei es direkt, sei es durch die Steuern oder durch die Zinsen, die sie an Banken oder Wucherer abführen müssen, bei denen sie verschuldet sind. Die Mystifikationen der Ideologien der Drittweltaktivisten, der Maoisten, Guevaristen usw. ruhen auf der oft unerträglichen Armut dieser Bauernschichten. Als diese Bauern dazu verleitet wurden, zu den Waffen zu greifen, taten sie dies nur als das Fußvolk dieser oder jener Cliquen der Bourgeoisie, die, sobald sie an der Macht waren, sich beeilten, die Ausbeutung noch weiter zu verschärfen, und dies oft in besonders grauenhafter Manier (siehe z.B. das Abenteuer der Roten Khmer in Kambodscha in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre). Der Rückzug  dieser Mystifikationen (die sowohl von den Stalinisten als auch von den Trotzkisten und einigen "radikalen Denkern" wie Marcuse verbreitet wurden) spiegelt schlicht das offenkundige Scheitern der "revolutionären Perspektive" wider, deren Träger angeblich  die arme Bauernschaft ist. Obgleich die Bauern auf die verschiedenste Art ausgebeutet werden und obwohl sie auch manchmal sehr gewaltsame Kämpfe führen, um ihrer Ausbeutung Grenzen zu setzen, können sie diesen Kämpfen nie die Abschaffung des Privateigentums zum Ziel setzen, da sie selbst kleine Eigentümer sind oder Letztere zum Nachbarn haben und ihnen nacheifern.(16)

Und wenn sich die Bauern kollektive Strukturen zulegen, um ihr Einkommen durch Verbesserungen in ihrer Produktivität oder durch den Verkauf ihrer Erzeugnisse aufzubessern, nimmt dies üblicherweise die Gestalt von Genossenschaften an, die weder das Privateigentum noch den Warentausch infragestellen.(17) Kurz und gut, die gesellschaftlichen Klassen und Schichten, die als Überreste der Vergangenheit auftreten (Bauern, Handwerker, Freiberufler usw.) (18) und nur fortbestehen, weil der Kapitalismus, unabhängig davon, daß er die Weltwirtschaft vollständig beherrscht, unfähig ist, alle Produzenten in Lohnarbeit umzuwandeln, können nicht Träger eines revolutionären Gesellschaftsprojektes sein. Ganz im Gegenteil, die einzige Perspektive, von der sie unter Umständen träumen können, ist die Rückkehr in ein mystisches "goldenes Zeitalter" der Vergangenheit: die Dynamik ihrer spezifischen Kämpfe kann nur reaktionär sein.

Da die Abschaffung der Ausbeutung im wesentlichen mit der Abschaffung der Lohnarbeit einhergeht, ist nur die Klasse, die dieser besonderen Form der Ausbeutung ausgesetzt ist, d.h. das Proletariat, imstande, ein revolutionäres Gesellschaftsprojekt zu tragen. Allein die Klasse, die in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ausgebeutet wird, die das Produkt dieser Produktionsverhältnisse ist, ist imstande, sich eine Perspektive zuzulegen, um diese Verhältnisse zu überwinden.

Infolge der Entwicklung der Großindustrie, einer Vergesellschaftung des Produktionsprozesses, wie es sie noch nie in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, kann das moderne Proletariat nicht von einer Rückkehr in die Vergangenheit träumen.(19) Während beispielsweise die Umverteilung oder die Aufteilung des Landes eine "realistische" Forderung der armen Bauern sein kann, wäre es absurd, wenn die Arbeiter, die auf assoziierte Weise Waren herstellen, dabei Einzelteile, Rohstoffe und Technologien aus der ganzen Welt einverleibend, fordern, ihre Firma in ihre Einzelteile zu zerlegen, um sie unter sich aufzuteilen. Selbst die Illusionen über die Selbstverwaltung, d.h. über den Betrieb als gemeinsames Eigentum aller Beschäftigten (was eine moderne Auffassung von Arbeitergenossenschaften darstellt), verliert an Einfluß. Nach zahlreichen, auch jüngsten Erfahrungen (wie die LIP-Werke in Frankreich Anfang der 70er Jahre), die im allgemeinen in einer Konfrontation zwischen der Gesamtheit der Arbeiter und jenen endeten, die zuvor zu Geschäftsführern berufen worden waren, ist sich die Mehrheit der Arbeiter sehr wohl bewußt, daß in Anbetracht der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit des Unterehmens auf dem kapitalistischen Weltmarkt zu wahren, Selbstverwaltung nur Selbstausbeutung heißen kann. Wenn die Arbeiterklasse ihren historischen Kampf entwickelt, kann sie nur nach vorn blicken: nicht in Richtung einer Zerstückelung des kapitalistischen Eigentums und der kapitalistischen Produktion, sondern in Richtung einer Vollendung des Vergesekllschaftungsprozesses, den der Kapitalismus beträchtlich vorangetrieben hat, den er aber aufgrund seines Charakters nicht zum Abschluß bringen kann, selbst wenn er alle Produktionsmittel in den Händen des Staates (wie im Fall der stalinistischen Regimes) konzentriert.

Für die Erfüllung dieser Aufgabe besitzt das Proletariat ein beachtliches Potential.

Einerseits wird in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft der Hauptteil des gesellschaftlichen Reichtums durch die Arbeit der Arbeiterklasse hergestellt, auch wenn diese heute noch eine Minderheit in der Weltbevölkerung ist. In den Industriestaaten ist der Anteil des Nationalprodukts, der von den unabhängigen Erwerbstätigen (Bauern, Handwerker usw.) hergestellt wird, unerheblich. Dies ist selbst in den rückständigen Ländern der Fall, obgleich die Mehrheit der Bevölkerung von der Bearbeitung des Landes lebt (bzw. überlebt).

Andererseits hat das Kapital die Arbeiterklasse in gigantischen Produktionseinheiten konzentriert, die nichts mit jenen gemeinsam haben, die zu Lebzeiten Marx' existiert hatten. Auch sind diese Produktionseinheiten im allgemeinen mitten im Zentrum oder in der Nähe von immer  größeren Städten angesiedelt. Die Konzentration der Arbeiterklasse sowohl am Arbeitsplatz wie in den Wohnorten bietet eine Kraft ohnegleichen, sobald sie wirklich wirksam eingesetzt wird, d.h. insbesondere durch die Entwicklung ihres kollektiven Kampfes und ihrer Solidarität.

Schließlich besteht eine der Hauptstärken des Proletariats in seiner Fähigkeit, sein Bewußtsein weiterzuentwickeln. Alle Klassen und insbesondere die revolutionären Klassen haben auch eine Form des Bewußtseins gepflegt. Aber dieses konnte nur mystifizierend sein, entweder weil die angestrebte Gesellschaft nicht von Erfolg gekrönt werden konnte (wie der Bauernkrieg in Deutschland z.B.) oder weil die revolutionäre Klasse dazu gezwungen war, zu lügen und die Wirklichkeit gegenüber jenen zu maskieren, die sie mit sich reißen wollte, die sie aber weiter ausbeutete (wie in den bürgerlichen Revolutionen mit ihrem Schlachtruf "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"). Da es als ausgebeutete Klasse und als Träger einer zukünftigen revolutionären Gesellschaft, die die Ausbeutung abschafft, weder gegenüber anderen Klassen noch gegenüber sich selbst die ultimativen Ziele seines Handelns verschleiern muß, kann das Proletariat im Laufe seines historischen Kampfes ein Bewußtsein entwickeln, das frei von allen Mystifikationen ist. So kann es sich auf ein solch hohes Niveau erheben, das vom Klassenfeind, die Bourgeoisie, niemals erreicht wurde. Und diese Fähigkeit zur Bewußtwerdung bildet neben seiner Organisierung als Klasse die ausschlaggebende Kraft des Proletariats.

oooOOOooo

Im zweiten Teil dieses Artikels werden wir sehen, wie das Proletariat trotz aller Kampagnen, die über seine "Integration" oder sein"Verschwinden" sprechen,  all seine grundlegenden Eigenschaften bewahrt, die es zur revolutionären Klasse in unserer Zeit machen.  


FM


1) Siehe insbesondere den Artikel "Die russische Erfahrung – Privateigentum und Gemeineigentum " in: INTERNATIONALE REVUE, Nr. 12, sowie unsere Artikelreihe: "Der Kommunismus ist keine schöne Idee, sondern eine materielle Notwendigkeit".

2) Marx und Engels präzisierten später, daß diese Aussage für die historischen Epochen gültig sind, die der Auflösung der Urgemeinde folgten, deren Existenz durch die enthnologische Forschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigt wurde, wie z.B. durch die Arbeiten Morgans über die nordamerikanischen Indianer.

3) Einige "Denker" der Bourgeoisie (wie im 19. Jahrhundert der französische Politiker Guizot, der unter der Herrschaft von Louis-Philippe Regierungschef war) gelangten ebenfalls zu dieser Aufassung.

4) Dies trifft auch auf die "klassischen" Nationalökonomen wie Smith und Ricardo zu, deren Arbeiten für die Entwicklung der marxistischen Theorie von besonderem Nutzen gewesen waren.

5) Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Cornelius Castoriadis, was ihm gebürt. Alle Voraussagen von Cornelius wurden von den Tatsachen widerlegt: hatte er nicht "vorausgesagt", daß der Kapitalismus nunmehr seine Wirtschaftskrisen überwunden habe (siehe namentlich seine Artikel über "Die Dynamik des Kapitalismus" Anfang der 60er in SOCIALISME OU BARBARIE)? Hatte er nicht 1981 der Welt angekündigt (siehe sein Buch Devant la guerre, auf dessen zweiten Teil, der für den Herbst 1981 angekündigt war, wir noch immer warten), daß die UdSSR endgültig den "Kalten Krieg" gewonnen habe ("massives Ungleichgewicht zugunsten Rußlands", "ein für die USA uneinholbarer Vorsprung")? Solche Äußerungen waren freilich willkommen in einer Zeit, als Reagan und die CIA uns alles Mögliche über das Reich des Bösen erzählten. Dies hinderte die Medien nicht daran, ihm um seine Expertenmeinung über die großen Ereignisse unserer Epoche zu bitten: trotz seiner Sammlung von Schnitzern blieb die Bourgeoisie ihm dankbar für seine Überzeugungen und seine durchschlagenden Argumente gegen den Marxismus; Überzeugungen, die die Wurzel all seiner chronischen Fehlschläge sind.

6) Es stimmt, daß in vielen Ländern diese Merkmale teilweise mit der Zugehörigkeit zu einer Klasse übereinstimmen. So rekrutiert in vielen Ländern der Dritten Welt, besonders in Afrika, die herrschende Klasse die meisten ihrer Mitglieder aus dieser oder jener ethnischen Gruppe: dies bedeutet jedoch nicht, daß alle Mitglieder dieser ethnischen Gruppe Ausbeuter sind, ganz im Gegenteil. Auch sind in den USA die WASP (White Anglo-Saxon Protestants) in der Bourgeoisie am proportional stärksten vertreten. Dies hat aber nicht die Existenz einer schwarzen Bourgeoisie verhindern können (Colin Powell, US-Generalstabschef, ist Schwarzer), auch nicht, daß es eine große Masse von "armen Weißen" gibt, die sich des Elend erwehren müssen.

7) "Herr! Wir Arbeiter (...) sind gekommen, Herr, um Wahrheit und Schutz bei Dir zu suchen (...) Befiehl und schwöre, daß Du (unsere hauptsächlichsten Bedürfnisse) erfüllest - und Du wirst Rußland glücklich und glorreich machen, wirst Deinen Namen unseren Herzen und den Herzen der Nachkommen einprägen." Dies waren einige Worte, die die Petition der Arbeiter an den Zaren von Rußland richtete. Aber wir sollten auch erwähnen, daß die Resolution bekräftigte: "Die Grenze der Geduld ist da; für uns ist jener furchtbare Augenblick gekommen, wo der Tod besser ist, als die Fortdauer unerträglichster Qualen (...) kehrst Du Dich nicht an unser Flehen - so werden wir hier sterben, auf diesem Platze, vor Deinem Palast." (aus: Die russiche Revolution 1905, Leo Trotzki, Erster Teil, Der Blutsonntag)

8) Dieses Eigentum nimmt nicht, wie aus der Entwicklung des Staatskapitalismus, besonders in seiner stalinistischen Version, ersichtlich wird, zwangsläufig die Form eines individuellen, persönlichen (und zum Beispiel per Erbe übertragbaren) Eigentums an. Dies zeigte die Entwicklung des Staatskapitalismus insbesondere in seiner stalinistischen Gestalt. Die Kapitalistenklasse "besitzt" die Produktionsmittel (in dem Sinn, daß sie über sie verfügt, sie kontrolliert und von ihnen profitiert) immer mehr im Kollektiv, auch wenn die Produktionsmittel verstaatlicht sind.

9) Das Kleinbürgertum ist keine homogene Klasse. Es gibt verschiedene Varianten, die nicht sämtlichst materielle Produktionsmittel besitzen. So gehören beispielsweise die Schauspieler, die Schriftsteller, die Rechtsanwälte dieser gesellschaftlichen Kategorie an, ohne jedoch über besondere Werkzeuge zu verfügen. Ihre Produktionsmittel" wohnen einem Wissen oder einem "Talent" inne, das sie in ihre Arbeit einbringen.

10) Der Leibeigene war kein simpler "Gegenstand" für den Lehnherrn. Mit seiner Scholle verbunden, wurde er mit ihr verkauft (worin er dem Sklaven gleicht). Doch am Anfang gab es einen "Vertrag" zwischen dem Leibeigenen und dem Lehnherrn: Letzterer, der Waffen besaß, sicherte ihm Schutz zu und erhielt als Gegenleistung vom Leibeigenen Arbeit, die dieser auf den Ländereien des Lehnherrn (die Fronarbeit) ableistete, oder einen Teil seiner Ernte.

11) Siehe Der Kommunismus - kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit, "Vom Urkommunismus zum utopischen Sozialismus", in: https://de.internationalism.org/kommunismus2 [1].

12) Siehe besonders unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus".

13) Zu diesem Thema siehe in dem Artikel: Der Kommunismus - kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit, in: https://de.internationalism.org/kommunismus2 [1], die Art und Weise, wie die Überproduktionskrise das Scheitern des Kapitalismus zum Ausdruck bringt.

14) Siehe zu diesem Thema Der Kommunismus - kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit, in: https://de.internationalism.org/kommunismus2 [1].

15) Owen selbst war ursprünglich ein großer Textilfabrikbesitzer, der viele Versuche sowohl in Amerika als auch in Großbritannien unternommen hatte, um ideale Gemeinschaften aufzubauen, die alle an den Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus zerschellten. Er leistete dennoch einen wichtigen Beitrag zur Entfaltung der Gewerkschaften. Die französischen Utopisten waren weniger erfolgreich mit ihren Unternehmungen. Jahrelang wartete Fourier vergeblich in seinem Büro auf einen Mäzen zur Finanzierung seiner idealen Stadt, und die Versuche seiner Schüler (besonders in den Vereinigten Staaten), "Phalansterien" zu errichten, endeten alle in einem wirtschaftlichen Fiasko. Was die Dktrin von Saint-Simon anbetrifft - wenn sie erfolgreich waren, dann als Credo für eine Reihe von Männern der Bourgeoisie, wie die Péreire-Brüder, Gründer einer Bank, oder Ferdinand Lesseps, dem Konstrukteur des Suezkanals.

16) Es gibt ein Agrarproletariat, dessen einziges Existenzmittel darin besteht, seine Arbeitskraft den Landbesitzern gegen Lohn zu verkaufen. Dieser Teil der Bauernschaft gehört zur Arbeiterklasse und wird im Moment der Revolution ihren Brückenkopf auf dem Lande bilden. Da er jedoch seine Ausbeutung als Folge von "Pech" erlebt, durch das ihm die Erbschaft eines Landstücks vorenthalten wurde oder ihm ein zu kleines Stück Land zugeteilt wurde, neigt der Landarbeiter, der oft nur Saisonarbeiter oder Knecht in einem Familienbetrieb ist, meistens dazu, vom Eigentumserwerb und von einer besseren Landaufteilung zu träumen. Nur der Kampf des städtischen Proletariats in einem fortgeschrittenen Stadium erlaubt es ihm,  sich von diese Trugbildern abzuwenden, indem ihm die Vergesellschaftung des Bodens zusammen mit den anderen Produktionsmittel geboten wird.

17) Das heißt nicht, daß in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus die Sammlung von kleinen Landeigentümern in Genossenschaften nicht einen Schritt in Richtung einer Vergesellschaftung des Landes bedeuten kann, insbesondere weil ihnen ermöglicht wird, den Individualismus zu überwinden, der aus ihren Arbeitsbedingungen resultiert.

18) Was auf die Bauern zutrifft, trifft noch mehr auf die Handwerker zu, deren Stellung in der Gesellschaft noch weitaus radikaler reduziert wurde als die der Bauern. Was die Freiberufler (private Ärzte, Rechtsanwälte usw.) angeht, so ermuntert deren Status und ihr Einkommen (auf die die Bourgeoisie oft voller Neid blickt)sie keineswegs dazu, die herrschende Ordnung in Frage zu stellen. Und was die Studenten betrifft, die noch keinen Platz in der Wirtschaft haben, so besteht ihr Schicksal darin, sich zwischen den verschiedenen Klassen aufzuspalten, je nach ihrer Qualifikation und Herkunft.

19) Mit Anbruch der Entwicklung der Arbeiterklasse richteten einige ihrer Teile, nachdem sie durch die Einführung neuer Maschinen arbeitslos geworden waren, ihre Revolte gegen die Maschinen selbst und zerstörten sie. Dieser Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren, war nur eine embryonale Form des Klassenkampfes, die schnell durch die wirtschaftliche und politische Entwicklung der Arbeiterklasse überwunden wurde.


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Theorie und Praxis: 

  • Die Russische Revolution [3]

Die Russische Revolution 1917 – die erste bewusste und massive Revolution der Geschichte

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Der Kampf der Arbeiterklasse und die kommunistische Revolution sind heute Begriffe, die viele heute als alte Kamellen abtun, deren Unrichtigkeit die historische Erfahrung gezeigt habe. Der Zusammenbruch der staatskapitalistischen Regimes in der UdSSR und im gesamten ehemaligen Ostblock im Wirbelsturm der Weltwirtschaftskrise bot all den Verleumdern der russischen Revolution von 1917 eine Gelegenheit, all die alten, jahrzehntelang kolportierten Lügen über dieses geschichtliche Ereignis erneut aufzuwärmen. Unter ihnen die Lüge, die die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse in Rußland als einen vulgären Staatsstreich darstellte, als eine Manipulierung der rückständigen Massen des zaristischen Rußland durch die bolschewistische Partei. Wir sind schon in etlichen Texten auf den Charakter der Revolution und auf die kapitalistische Konterrevolution in Rußland eingegangen.(1) In dieser Reihe, die wir mit diesem Artikel einleiten, wollen wir einige grundlegende Aspekte in den Erfahrungen des Proletariats und der revolutionären Organisationen wieder aufgreifen und vertiefen. Wir wollen in dieser Ausgabe zunächst hervorheben, daß die Russische Revolution von 1917 vor allem das kollektive Werk der Arbeiterklasse im Rahmen einer internationalen Welle von Aufständen der Arbeiterklasse gegen den Krieg und das kapitalistische System war; eine Erfahrung, die trotz aller Beschränkungen voller Errungenschaften bleibt, um die Fähigkeit der Arbeiterklasse zu begreifen, ihr Schicksal als Klasse in die eigenen Hände zu nehmen. In weiteren Artikeln werden wir auf die Rolle der Bolschewiki in den Ereignissen und schließlich auf die Ursachen der Niederlage und des Triumphes der kapitalistischen Konterrevolution in Rußland zurückkommen.

„Die Russische Revolution von 1917 war vor allem dies: eine grandiose Tat der ausgebeuteten Massen, die versuchte, die bürgerliche Ordnung zu zerstören, die sie auf den Zustand von Lasttieren für die Wirtschaftsmaschinerie und von Kanonenfutter im Krieg zwischen den kapitalistischen Mächten reduziert hatte. Eine Tat, mit der es Millionen von Proletariern, indem sie all die anderen ausgebeuteten Gesellschaftsschichten hinter sich zogen, gelang, ihre Atomisierung zu überwinden, sich bewußt zu vereinigen und die Mittel zu geben, kollektiv als eine einzige Kraft zu handeln. Eine Tat, um ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, um mit dem Aufbau einer anderen Gesellschaft zu beginnen, einer Gesellschaft ohne Ausbeutung, ohne Kriege, ohne Nationen, ohne Elend: eine kommunistische Gesellschaft.“ (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 51, "Vor 70 Jahren: die Russische Revolution", engl., franz., span. Ausgabe)

 

Die Russische Revolution: Speerspitze der internationalen Antikriegsbewegung des Proletariats

1914 stürzten Regierungs"vertreter", Könige, Politiker und Militärs, allesamt Vertreter eines Gesellschaftssystems, das in seine Dekadenzperiode eingetreten war, die Menschheit in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs: mehr als zwanzig Millionen Tote, Zerstörungen bislang ungekannten Ausmaßes, Lebensmittelrationierungen, Versorgungslücken und Hunger in der Etappe; Tod, die Grausamkeit der militärischen Disziplin, grenzenloses Leid an der Front. Ganz Europa versank in Chaos und Barbarei, in der Zerstörung von Industrien, Gebäuden, Kulturdenkmälern...

Nachdem es sich zunächst vom patriotischen Gift und "demokratischen" Schwindel der Regierungen, gestützt auf den Verrat der Mehrheit der sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften, hat verführen lassen, begann das internationale Proletariat Ende 1915 auf die Barbarei des Krieges zu reagieren. In Rußland, Deutschland, Österreich, etc. brachen Streiks, Hungerrevolten, Antikriegsdemonstrationen aus. An der Front kam es, vor allem in den russischen und deutschen Armeen, zu Meutereien, kollektiven Desertionen, Verbrüderungen zwischen den Soldaten beider Seiten.

An der Spitze der Bewegung standen die Internationalisten - die Bolschewiki, die Spartakisten, die gesamte Linke der Zweiten Internationalen, die seit seinem Ausbruch im August 1914 den Krieg kompromißlos als einen imperialistischen Raubkrieg, als Manifestation des Zusammenbruchs des Weltkapitalismus und Signal für das Proletariat angeprangert haben, seine historische Aufgabe zu erfüllen: die internationale sozialistische Revolution.

Die Avantgarde dieser internationalen Bewegung, die den Krieg beenden und die Möglichkeit der Weltrevolution öffnen sollte, bildeten die russischen Arbeiter, die Ende 1915 mit ökonomischen Streiks begannen, die brutal niedergeschlagen wurden. Doch die Bewegung wurde größer: den 9. Januar 1916, Jahrestag der Revolution von 1905, begingen die Arbeiter mit Massenstreiks. Das ganze Jahr hindurch brachen neue Streiks aus, begleitet von Versammlungen, Diskussionen, Forderungen und Konfrontationen mit der Polizei.

"Gegen Ende 1916 steigen die Preise sprunghaft. Zu Inflation und Transportzerrüttung gesellt sich direkter Warenmangel. Der Verbrauch der Bevölkerung vermindert sich zu dieser Zeit um mehr als die Hälfte. Die Kurve der Arbeiterbewegung steigt schroff nach oben. Mit dem Oktober tritt die Bewegung in Petrograd in das entscheidende Stadium ein und vereinigt alle Arten der Unzufriedenheit: Petrograd nimmt den Anlauf zur Februarrevolution. Eine Versammlungswelle rollte durch die Betriebe. Die Themen sind: Ernährung, Teuerung, Krieg, Regierung. Es werden bolschewistische Flugblätter verteilt. Politische Streiks beginnen. Nach dem Verlassen der Betriebe finden improvisierte Demonstrationen statt. Es werden Fälle von Verbrüderung einzelner Betriebe mit Soldaten beobachtet. Ein stürmischer Proteststreik entbrennt gegen das Gericht über die revolutionären Matrosen der baltischen Flotte (...) Die Proletarier fühlen, daß es keinen Rückzug mehr gibt. In jedem Betrieb entsteht ein aktiver Kern, am häufigsten um die Bolschewiki. Streiks und Meetings finden während der ersten Februarwochen ununterbrochen statt. Am 8. Februar wurden Polizisten im Putilowwerk mit einem Hagel von Eisenstücken und Schlackenöl empfangen (...) Am 19. sammelte sich vor den Lebensmittelgeschäften viel Volk, besonders Frauen, an, alle forderten Brot. Tags darauf wurden in einigen Stadtteilen Bäckerläden geplündert. Das war bereits das Wetterleuchten des Aufstands, der wenige Tage später ausbrach." (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, ‚Proletariat und Bauernschaft’)

 

Eine Massenbewegung

Dies waren die aufeinanderfolgenden Etappen eines gesellschaftlichen Prozesses, den heute viele Arbeiter als eine Utopie betrachten: die Umwandlung der Arbeiter von einer atomisierten, apathischen, gespaltenen Masse zu einer vereinten Klasse, die als ein Körper handelte und so fähig war, einen revolutionären Kampf in Gang zu bringen, wie das in den fünf Tagen vom 22. bis zum 27. Februar 1917 deutlich wurde. "Die Arbeiter erschienen morgens in den Betrieben, gehen jedoch nicht an die Arbeit, sondern veranstalten Versammlungen und bilden Züge, die in das Stadtzentrum marschieren. Neue Stadtbezirke und neue Gruppen der Bevölkerung werden in die Bevölkerung einbezogen. Die Parole 'Brot' wird verdrängt und überdeckt von den Parolen 'Nieder mit dem Selbstherrschertum', 'Nieder mit dem Krieg'. Ununterbrochene Demonstrationen auf dem Newski-Prospekt. Die Masse will nicht mehr weichen, sie widersetzt sich mit optimistischer Wut, bleibt auf den Straßen auch nach den tödlichen Salven (...) 'Schieße nicht auf deine Brüder und Schwestern!', rufen die Arbeiter und Arbeiterinnen, und nicht nur das: 'Geh mit uns!'. So spielt sich auf den Straßen und Plätzen, an den Brücken, an den Toren der Kasernen ein ununterbrochener, bald dramatischer, bald unsichtbarer, aber immer verzweifelterer Kampf ab um die Seele des Soldaten (...) Die Arbeiter ergeben sich nicht, weichen nicht zurück, unter dem Hagel des Bleies wollen sie das Ihrige erringen. Arbeiterinnen, Frauen, Mütter, Schwestern, Geliebte sind mit ihnen. Das ist ja nun die Stunde, von der man so oft flüsternd in verborgenen Winkeln sprach: 'Ja, wenn doch alle gemeinsam...'." (Trotzki, ebenda, "Fünf Tage").

Die herrschenden Klassen wollten es nicht glauben; sie dachten, daß es sich um eine Revolte handelte, die mit einer harten Bestrafung aus der Welt geschafft werden könne. Als die terroristischen Aktionen der kleinen Elitekorps, die von den Militärs geschickt wurden, in einem totalen Fiasko endeten, wurde deutlich, wie tief die Bewegung verwurzelt war. "Die Revolution schien schutzlos gegenüber diesen Militärs zu sein, weil sie noch sehr chaotisch verlief (...) Aber dies war eine falsche Auffassung. Es war nur ein scheinbares Chaos. Darunter entfaltete sich eine unwiderstehliche Kristallisierung der Massen um neue Schwerpunkte." (Trotzki, ebd.)

Als die ersten Glieder der Kette gebrochen waren, wollten die Arbeiter nicht mehr klein beigeben, und um nicht im Dunkeln vorwärtszutappen, griffen sie die Erfahrung von 1905 wieder auf, indem sie die Sowjets schufen, die Einheitsorgane der gesamten im Kampf befindlichen Klasse. Die Sowjets wurden sofort von den Parteien der Menschewiki und Sozialrevolutionäre in Beschlag genommen, alte Arbeiterparteien, die mit ihrer Teilnahme am Krieg in das Lager der Bourgeoisie übergewechselt waren, und gestatteten die Bildung einer provisorischen Regierung, die sich aus "herausragenden Persönlichkeiten" Rußlands zu dieser Zeit zusammensetzte: Miljukow, Rodsianow, Kerenski.

Die Hauptobsession der Regierung war es, die Arbeiter zu überzeugen, daß sie zur "Normalität zurückkehren", von ihren "Träumen ablassen" und zu einer unterwürfigen, passiven und atomisierten Masse werden sollten, die die Bourgeoisie benötigte, um ihre Geschäfte aufrechtzuerhalten und den Krieg fortzusetzen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen lenkten nicht ein. Sie wollten leben und eine neue Politik entwickeln: eine, die sie alle selbst praktizierten, indem sie den Kampf um ihre unmittelbaren Interessen mit dem Kampf um die allgemeinen Interessen verbanden. So forderten die Arbeiter - gegen das Beharren der Bourgeois, der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, daß es wichtig sei, zu arbeiten und nicht zu fordern, schließlich habe man jetzt politische Freiheiten - den Achtstunden-Arbeitstag, um die "Freiheit" zu haben, sich zu versammeln, zu diskutieren, zu lesen, mit seinesgleichen zusammenzusein: "Indes wälzte nach dem Sturz der Selbstherrschaft eine Woge stürmischer Streiks heran. Es gab kein Werk und keine Fabrik, wo nicht sofort und mit einem Mal, ohne auf Zustimmung von oben zu warten, die anstehenden ökonomischen Forderungen - Erhöhung des Lohnes, Kürzung des Arbeitstags usw. - vorgetragen worden wären. Die ökonomischen Konflikte nahmen quantitativ mit jedem Tag zu und wurden im Rahmen des sich entfaltenden Kampfes immer umfassender." (A. Pankratowa, Die Fabrikkomitees in Rußland, S. 170)

Am 18. April veröffentlichte Miljukow, Minister der liberalen Kadetten in der Provisorischen Regierung, eine provokatorische Note, in der er die Verpflichtung Rußlands gegenüber den Alliierten bei der Fortsetzung des imperialistischen Krieges erneut bekräftigte. Die Arbeiter und Soldaten reagierten sofort: es gab spontane Demonstrationen, man hielt Massenversammlungen in den Arbeitervierteln, den Kasernen und Fabriken ab. „Die in der Stadt entstandene Erregung ging jedoch nicht in ihre Ufer zurück. Es versammelten sich die Massen. Meetings wurden abgehalten, an den Straßenkreuzungen gab es Diskussionen, in den Trams teilte man sich in Anhänger und Gegner Miljukows (...) Die Erregung war nicht auf Petrograd beschränkt, in Moskau ließen die Arbeiter ihre Maschinen stehen und die Arbeiter verließen die Kasernen, mit ihren tumultartigen Protesten zogen sie auf die Straße.“ (Trotzki, ebenda, S. 290)

Am 20. April erzwang eine riesige Demonstration Miljukows Rücktritt. Die Bourgeoisie mußte von ihren Kriegsplänen abrücken. Der Mai war von hektischen organisatorischen Aktivitäten geprägt. Es gab weniger Streiks und Demonstrationen, was keineswegs auf einen Rückfluß der Bewegung hindeutete, sondern im Gegenteil ihren Fortschritt und ihre Weiterentwicklung demonstrierte, denn die Arbeiter widmeten sich einem bis dahin wenig entwickelten Aspekt ihres Kampfes: ihren Massenorganisationen. Die Sowjets entstanden in den entferntesten Winkeln Rußlands, und gleichzeitig entstand eine Vielfalt von Massenorganen: Fabrikkomitees, Bauernsowjets, Bezirksssowjets, Soldatenkomitees. Durch und in sie sammelten sich die Massen, diskutierten, dachten und entschieden sie gemeinsam. Im Umgang mit ihnen wachten auch die am weitesten zurückgebliebenen Arbeitergruppierungen auf. “Die Dienstboten, die man gewohnt war, wie Tiere zu behandeln und mit einem Bettelpfennig zu entlohnen, begannen aufsässig zu werden. Ein Paar Schuhe kostete über 100 Rubel, und da die Löhne in der Regel nicht mehr als 35 Rubel im Monat betrugen, weigerten sich die Dienstboten, um Lebensmittel anzustehen und dabei ihr Schuhzeug zu verderben (...)  Die Droschkenkutscher hatten einen Verband, sie waren auch im Petrograder Sowjet vertreten.“ (J. Reed, 10 Tage, die die Welt erschütterten, Kap. I: "Hintergrund")

Die Arbeiter und Soldaten begannen der endlosen Versprechen der Provisorischen Regierung und ihrer menschewistischen und sozialrevolutionären Unterstützer überdrüssig zu werden. Sie sahen, daß die Versorgung sich immer schwieriger gestaltete, daß Arbeitslosigkeit und Hunger zunahmen. Sie sahen, daß alles, was ihnen in puncto Krieg und Landfrage angeboten wurden, hohle Phrasen waren. Sie hatten genug von der bürgerlichen Politik und begannen die letzten Konsequenzen ihrer eigenen Politik zu erahnen. Die Forderung "Alle Macht den Sowjets" verwandelte sich in ein Streben der breiten Arbeitermassen.(2)

Der Juni war ein Monat von intensiver politischer Agitation, die am 4. und 5. Juli in den bewaffneten Demonstrationen der Arbeiter und Soldaten von Petrograd kulminierte. „In den Vordergrund sind die Betriebe gerückt. Der Bewegung haben sich auch jene Fabriken angeschlossen, die gestern abseits gestanden. Wo die Leitung schwankt oder sich widersetzt, zwingt die Arbeiterjugend das wachdiensthabende Mitglied des Fabrikkomitees, zum Zeichen der Arbeitseinstellung die Fabriksirene heulen zu lassen (...) Es streikten sämtliche Betriebe, Meetings fanden statt. Man wählte Demonstrationsführer und Delegierte zur Überreichung der Forderungen an das Exekutivkomitee (...) Aus Kronstadt, aus Nowyj Peterhof, aus Krassnoje Selo, aus dem Fort Krassnaja Gorka, aus der gesamten näheren Peripherie, zu Wasser und zu Lande bewegen sich Matrosen und Soldaten mit Musikorchester, Gewehren, und was das Schlimmste ist, mit bolschewistischen Plakaten.“ (Trotzki, ebenda, "Die 'Julitage': Kulminationspunkt und Zertrümmerung").

Doch der Juli endete mit einem bitteren Fiasko für die Arbeiter. Die Situation war noch nicht reif für die Machtergreifung, da sich die Soldaten nicht völlig mit den Arbeitern solidarisierten; die Bauern waren voller Illusionen über die Sozialrevolutionäre, und die Bewegung in den Provinzen war im Verhältnis zur Hauptstadt zurückgeblieben.

In den folgenden beiden Monaten - August und September - gingen die Arbeiter, angespornt von ihrer Verbitterung über die Niederlage und durch die Repression der Bourgeoisie, dazu über, diese Hindernisse praktisch zu lösen, nicht durch einen ausgearbeiteten Plan, sondern durch ein "Meer von Initiativen", durch Kämpfe und Diskussionen in den Sowjets, die sich im Bewußtwerden der Klasse verwirklichten. Auf diese Weise verschmolzen die Aktionen der Arbeiter und Soldaten vollständig miteinander: „... kam das Phänomen der ‚Osmose‘ auf, insbesondere in Petrograd. Als die Agitation vom Wyborger Bezirk Besitz ergriff, gerieten die Regimenter der Hauptstadt in Aufruhr und umgekehrt. Für die Arbeiter und Soldaten wurde es zur Gewohnheit, auf die Straße zu gehen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Die Straße gehörte ihnen. Keine Kraft, keine Macht hätte ihnen in diesem Moment untersagen können, ihre Forderungen zu vertreten oder aus voller Lunge ihre revolutionäre Hymnen zu singen.“ (G. Soria, Los 300 dias de la Revolucion Rusa, 4. Kap.: "Una era de crisis")

Nach der Niederlage im Juli glaubte die Bourgeoisie, dem Alptraum ein Ende bereiten zu können. Daher ließ sie im Rahmen der Aufgabenteilung zwischen Kerenskis "demokratischem" Block und dem offen reaktionären Block Kornilows, Oberbefehlshaber der russischen Armee, Letzteren einen Militärputsch organisieren, für den er die Regimenter der Kosaken, der Kaukasier, etc. hinter sich scharte, die der bürgerlichen Macht noch treu ergeben erschienen und die er gegen Petrograd zu mobilisieren versuchte.

Doch der Versuch scheiterte krachend. Die massive Reaktion von Arbeitern und Soldaten, straff organisiert vom Komitee zur Verteidigung der Revolution - das unter der Kontrolle des Petrograder Sowjets später in das revolutionäre Militärkomitee, Organ des Oktoberaufstands, umgewandelt wurde - bewirkte, daß die Truppen Kornilows entweder lahmgelegt wurden und sich ergaben oder desertierten, um sich den Arbeitern und Soldaten anzuschließen, wie es in der Mehrzahl der Fälle geschah.

„Die Verschwörung wurde von jenen Kreisen geleitet, die nicht gewohnt und außerstande waren, ohne die unteren Schichten etwas zu tun, ohne Arbeitskraft, ohne Kanonenfutter, ohne Offiziersburschen, Dienstboten, Schreiber, Chauffeure, Gepäckträger, Köchinnen, Waschfrauen, Weichensteller, Telegraphisten, Pferdeknechte, Kutscher. Indes, alle diese kleinen menschlichen Schrauben, diese unmerklichen, zahllosen, unentbehrlichen, standen auf der Seite der Sowjets und gegen Kornilow. Die Revolution war allgegenwärtig. Sie drang überall hin, die Verschwörung überziehend. Sie hatte überall ihr Auge, ihr Ohr, ihren Arm.
Das Ideal der militärischen Erziehung bestand darin, daß der Soldat hinter dem Rücken des Vorgesetzten so handele wie vor dessen Augen. Indes erfaßten die russischen Soldaten und Matrosen im Jahre 1917, während sie die offiziellen Befehle auch unter den Augen der Kommandatur unausgeführt ließen, gierig im Fluge die Befehle der Revolution und erfüllten sie noch häufiger aus eigener Initiative, ehe sie sie erreichten...
Es ging für sie nicht um die Verteidigung der Regierung, sondern um die Beschirmung der Revolution. Um so entschlossener und opfermutiger war ihr Kampf. Der Widerstand gegen die Meuterei erwuchs aus Schienen, Steinen, aus der Luft. Die Eisenbahner der Station Luga, wohin Krymow gekommen war, weigerten sich beharrlich, die Militärzüge abfahren zu lassen, mit dem Hinweis, es gäbe keine Lokomotiven. Die Kosakenstaffeln waren im Augenblick von bewaffneten Soldaten der 20.000 Mann starken Lugaer Garnison umringt: Ein kriegerischer Zusammenstoß fand nicht statt, doch etwas viel Gefährlicheres: ein Kontakt, eine Verbindung, ein gegenseitiges Durchdrungensein.“
(Trotzki, ebd., "Die Bourgeoisie mißt ihre Kräfte mit der Demokratie")

 

Eine bewußte Bewegung

Die Bourgeois betrachten Arbeiterrevolutionen als einen Akt des kollektiven Wahnsinn, als entsetzliches Chaos, das genauso entsetzlich ende. Die bürgerlicher Ideologie kann nicht zulassen, daß die Ausgebeuteten auf eigene Initiative handeln. Die kollektive Tat und Solidarität, die bewußte Tat der Mehrheit der Arbeiter sind Vorstellungen, die die Denkweise der Bourgeoisie als eine widernatürliche Utopie betrachtet (für die Bourgeoisie ist einzig der Krieg aller gegen alle und die Manipulation der großen Masse der Menschheit durch eine kleine Elite "natürlich").

„Blickt man auf die vergangenen Jahrhunderte, erscheint einem die Tatsache der Machtübernahme durch die Bourgeoisie hinlänglich gesetzmäßig: in allen früheren Revolutionen kämpften auf den Barrikaden Arbeiter, Handwerksgehilfen, zum Teil auch Studenten, Soldaten gingen zu ihnen über, die Macht aber nahm dann die solide Bourgeoisie an sich, die, unter Wahrung aller Vorsicht, den Barrikadenkampf von den Fenstern aus verfolgt hatte. Die Februarrevolution von 1917 jedoch unterscheidet sich von allen früheren Revolutionen durch einen unvergleichlich höheren Charakter und hohes politisches Niveau der revolutionären Klasse (...) demzufolge im Augenblick des Sieges ein neues revolutionäres Machtorgan erstand: der Sowjet, der sich auf die bewaffnete Gewalt der Massen stützte.“ (Trotzki, ebd., "Das Paradoxon der Februarrevolution")

Dieser völlig neue Charakter der Oktoberrevolution korrespondierte mit der Natur des Proletariats , das eine ausgebeutete und revolutionäre Klasse zugleich ist, die sich nur befreien kann, wenn sie gemeinsam und bewußt handelt.

Die Russische Revolution war nicht schlicht das passive Produkt von außerordentlichen objektiven Bedingungen. Sie war ebenso das Produkt einer Entwicklung des kollektiven Bewußtseins. Die Herausbildung von Lehren, von Denkprozessen, Schlachtrufen und Erinnerungen waren Teil einer Kontinuums der proletarischen Erfahrung, das die Pariser Kommune von 1871, die Revolution von 1905, die Kämpfe des Bundes der Kommunisten, der Ersten und Zweiten Internationalen, der Zimmerwalder Linken, der Spartakisten und der bolschewistischen Partei miteinander verband. Natürlich war die russische Revolution eine Antwort auf den Krieg, den Hunger und die Barbarei des todgeweihten Zarismus, aber sie war eine bewußte Antwort, geleitet von der historischen und globalen Kontinuität der proletarischen Bewegung.

Das äußerte sich konkret in den enormen Erfahrungen der russischen Arbeiter, die die großen Kämpfe von 1888, 1902, die Revolution von 1905 und die Schlachten von 1912-14 erlebt hatten und derem Schoß die bolschewistische Partei auf dem linken Flügel der Zweiten Internationale entsprungen war.

"... es war nicht die Masse an sich, sondern es war die Masse der Petrograder und der russischen Arbeiter im allgemeinen notwendig, die die Revolution von 1905 erlebt hatte und den Moskauer Dezemberaufstand von 1905 (...); es war notwendig, daß es in dieser Masse Arbeiter gegeben hat, die über die Erfahrung von 1905 nachgedacht, die konstitutionellen Illusionen der Liberalen und der Menschewiki kritisiert, die Perspektive der Revolution sich angeeignet, Dutzende Male das Problem der Armee überlegt...“ (Trotzki, ebenda, "Wer leitete den Februaraufstand?")

Mehr als 70 Jahre vor der Revolution von 1917 schrieben Marx und Engels, daß „also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Hals zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden“ (Deutsche Ideologie, MEW 3, Feuerbach, S. 70).

Die russische Revolution festigte diese Position: die Bewegung selbst brachte die Bedingungen für die Selbsterziehung der Massen mit sich:

„Eine Revolution lehrt und zwar schnell. Darin besteht ihre Kraft. Jede Woche brachte den Massen etwas Neues. Jeder zweite Monat schuf eine Epoche. Ende Februar - der Aufstand. Ende April - Auftreten bewaffneter Arbeiter und Soldaten in Petrograd! Anfang Juli - ein neues Auftreten in viel breiterem Maßstab und unter entschiedeneren Parolen. Ende August - der Kornilowsche Staatsstreichversuch, von den Massen zurückgeschlagen. Ende Oktober - Machteroberung durch die Bolschewiki. Unter diesen durch die Gesetzmäßigkeit ihrer Rhythmen verblüffenden Ereignissen vollzogen sich tiefe, molekulare Prozesse, die die verschiedenartigen Teile der Arbeiterklasse in ein politisches Ganzes verschmolzen.“ (Trotzki, ebenda, "Verschiebungen in den Massen")

„Ganz Rußland lernte lesen. Und es las - Politik, Ökonomie, Geschichte. Das Volk wollte WISSEN (...) Der Drang nach Wissen, solange unterdrückt, brach sich in der Revolution mit Ungestüm Bahn. Allein aus dem Smolny-Institut gingen in den ersten 6 Monaten täglich Tonnen, Wagenladungen Literatur ins Land. Rußland saugte den Lesestoff auf, unersättlich, wie heißer Sand das Wasser (...) Und dann das gesprochene Wort, neben dem Carlyles 'Flut der französischen Rede' wie ein armseliges Rinnsal anmutet: Vorlesungen, Debatten, Reden; in Theatern, Zirkussen, Schulen, Klubs, in den Sitzungen der Sowjets, der Gewerkschaften, in den Kasernen.. Versammlungen in den Schützengräben an der Front, auf den Dorfplätzen, in den Fabriken (...) Was für ein Anblick, die Arbeiter der Putilow-Werke, 40.000 Mann stark, herausströmen zu sehen, um die Sozialdemokraten zu hören, die Sozialrevolutionäre, die Anarchisten - wer immer etwas zu sagen hatte, so lange er reden wollte....In den Versammlungen wurde jeder Versuch, die Redezeit einzuschränken, abgelehnt. Jedermann hatte vollkommene Freiheit, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte..."  (J. Reed, ebd.).
Die "demokratische" Bourgeoisie spricht viel von der "Meinungsfreiheit", aber die Erfahrung zeigt uns, daß sie damit nur die Manipulationen, Theater und Gehirnwäsche meint: eine wirkliche Meinungsfreiheit kann das Proletariat nur durch seine eigenen revolutionären Taten erobern.

„In jeder Fabrik, in jeder Werkstatt, in jeder Kompanie, in jeder Teestube, im Lazarett, in der Etappe und sogar in dem entvölkerten Dorfe ging eine molekulare Arbeit des revolutionären Gedankens vor sich. Überall gab es Deuter der Ereignisse, hauptsächlich Arbeiter, die man ausfragte, was es Neues gäbe, und von denen man das nötige Wort erwartete (...) Ihr Klasseninstinkt war durch politisches Kriterium geschärft, und führten sie auch nicht immer ihre Ideen zu Ende, so arbeitete ihr Gedanke doch unablässig und beharrlich stets in der gleichen Richtung. Elemente der Kritik, der Initiative, der Selbstaufopferung durchdrangen die Masse und bildeten die innere, dem oberflächlichen Blick unerreichbare, aber nichtsdestoweniger entscheidende Mechanik der revolutionären Bewegung als eines bewußten Prozesses.“ (Trotzki, ebd., "Wer führte den Februaraufstand an?")

Dieses Nachdenken, diese Bewußtwerdung "legte all die materielle und moralische Ungerechtigkeit offen, die den Arbeitern angetan wird, die unmenschliche Ausbeutung, die miserablen Löhne, das System der feinspitzigen Bestrafungen und die Beleidigungen ihrer menschlichen Würde durch die Kapitalisten und die Bosse. Dieses Netzwerk ruinöser und schändlicher Bedingungen, unter denen sie die Arbeiter gefangenhalten, diese Hölle, die das tägliche Schicksal der Arbeiterklasse unter der Zwangsherrschaft des Kapitalismus ist“ (Rosa Luxemburg, In revolutionärer Stunde).

Aus demselben Grund stellte die russische Revolution eine ständige, untrennbare Einheit zwischen politischem und wirtschaftlichem Kampf dar: „Nach jeder schäumenden Welle der politischen Aktion bleibt ein befruchtender Niederschlag zurück, aus dem sofort tausendfältige Halme des ökonomischen Kampfes emporschießen. Und umgekehrt. Der unaufhörliche ökonomische Kriegszustand der Arbeit mit dem Kapital hält die Kampfenergie in allen politischen Pausen wach, er bildet sozusagen das ständige frische Reservoir der proletarischen Klassenkraft, aus dem der politische Kampf immer von neuem seine Macht hervorholt, und zugleich führt das unermüdliche ökonomische Bohren des Proletariats alle Augenblicke bald hier, bald dort zu einzelnen scharfen Konflikten, aus denen unversehens politische Konflikte auf großem Maßstab explodieren.“ (Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Bd. 2)

Diese Entwicklung des Bewußtseins führte die Arbeiter im Juni und Juli zur Überzeugung, daß sie ihre Energien nicht in tausend ökonomischen Teilkämpfen verschwenden und ihre Kämpfe auf den revolutionären politischen Kampf konzentrieren sollten. Dies hieß nicht, die Kämpfe um unmittelbare Forderungen zurückzuweisen, sondern im Gegenteil ihre politischen Konsequenzen aufzugreifen.
„Soldaten und Arbeiter glaubten, von der Entscheidung der Frage, wer weiter das Land regieren werde, die Bourgeoisie oder die eigenen Sowjets, hingen alle anderen Fragen ab: sowohl die des Arbeitslohns wie die des Brotpreises wie auch jene, ob man an der Front, unbekannt wofür, umzukommen habe.“ (Trotzki, ebenda, "Julitage: Vorbereitung und Beginn")

Die Entwicklung des Bewußtseins in der Arbeiterklasse erreichte mit dem Oktoberaufstand ihren Höhepunkt, dessen Atmosphäre Trotzki so großartig schilderte:

„Die Massen hatten das Bedürfnis, zusammenzuhalten, ein jeder wollte sich an den anderen überprüfen, und alle beobachteten immer aufmerksamer und gespannter, wie sich der gleiche Gedanke mit all seinen verschiedenen Schattierungen und Strichen in ihrem Bewußtsein wälzte. Endlose Mengen standen an Zirkussen und anderen großen Gebäuden herum, wo die populärsten Bolschewiki mit letzten Schlußfolgerungen und letzten Appellen auftraten (...) Doch unermeßlich wirksamer war in dieser letzten Periode vor der Umwälzung jene molekulare Agitation, die namenlose Arbeiter, Matrosen, Soldaten führten, Gesinnungsgenossen einzeln werbend, letzte Zweifel vernichtend, letzte Schwankungen überwindend. Die Monate fieberhaften politischen Lebens hatten zahlreiche untere Kader geschaffen, Hunderte und Tausende urwüchsiger Menschen erzogen, die gewohnt waren, die Politik von unten zu beobachten, nicht von oben (...) Die Masse duldete nun nicht mehr in ihrer Mitte Schwankende, Zweifelnde, Neutrale. Sie war bestrebt, alle zu erfassen, mitzureißen, zu überzeugen, zu gewinnen. Betriebe entsandten gemeinsam mit den Regimentern Delegierte an die Front. Die Schützengräben verbanden sich mit den Arbeitern und Bauern des benachbarten Hinterlandes. In den der Front nahegelegenen Städten fanden zahllose Meetings, Beratungen, Konferenzen statt, wo Soldaten und Matrosen ihre Handlungen in Übereinstimmung brachten mit denen der Arbeiter und Bauern.“ (Trotzki, ebd., "Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß")
„Während die offizielle Gesellschaft, dieser ganze vielstöckige Überbau der herrschenden Kassen, Schichten, Gruppen, Parteien und Cliquen, tagein, tagaus in Trägheit und Automatismus lebte, sich die Zeit mit Resten abgenutzter Ideen vertrieb, taub gegen die unabwendbaren Forderungen der Entwicklung, sich von Gespenstervisionen blenden ließ und nichts voraussah, - vollzog sich in den Arbeitermassen ein selbständiger und tiefer Prozeß des Anwachsens nicht nur des Hasses gegen die Herrschenden, sondern auch der kritischen Erkenntnis von deren Ohnmacht, deren Anhäufung von Erfahrung und schöpferischer Einsicht, die mit dem revolutionären Aufstand und seinem Siege abschloß.“
(Trotzki, ebd., "Wer führte den Februaraufstand?")

 

Das Proletariat: die einzige revolutionäre Klasse

Während die bürgerliche Politik stets einer kleinen Minderheit zugute kommt, die die herrschende Klasse bildet, strebt die Politik des Proletariats keinen Sondervorteil, sondern das Wohlergehen der gesamten Menschheit an. "...die ausgebeutete und unterdrückte Klasse (das Proletariat) kann sich nicht mehr von der sie ausbeutenden und unterdrückenden Klasse (der Bourgeoisie) befreien, ohne zugleich die ganze Gesellschaft für immer von Ausbeutung, Unterdrückung und Klassenkämpfen zu befreien.“ (Engels, 1883, Vorwort zum Kommunistischen Manifest, MEW 4)

Der revolutionäre Kampf des Proletariats stellt die einzige Hoffnung auf die Befreiung aller ausgebeuteten Massen dar. Wie die Russische Revolution zeigte, konnten die Arbeiter die Soldaten (von denen die Mehrheit Bauern in Uniform waren) und die Landbevölkerung im allgemeinen für ihre Sache gewinnen. So bestätigte das Proletariat, daß die sozialistische Revolution nicht nur eine Antwort auf die Frage der Verteidigung seiner eigenen Interessen war, sondern auch der einzig mögliche Weg, dem Krieg und den gesellschaftlichen Verhältnissen der kapitalistischen Unterdrückung und der Ausbeutung im allgemeinen ein Ende zu bereiten.

Das Bestreben der Arbeiter, den anderen unterdrückten Klassen eine Perspektive zu geben, wurde von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären geschickt manipuliert, die im Namen des Bündnisses zwischen Bauern und Soldaten versuchten, das Proletariat zu einem Verzicht auf seinen autonomen Klassenkampf und auf die sozialistische Revolution zu bewegen. Auf den ersten Blick erscheint dieser Gedanke überaus „logisch“: wenn wir andere Klassen für uns gewinnen wollen, ist es notwendig, daß wir uns mit unseren Forderungen zurückhalten, um den geringsten gemeinsamen Nenner zu finden, auf den wir uns einigen können.

Jedoch: „Die Mittelstände, der kleine Industrielle, der kleine Kaufmann, der Handwerker, der Bauer, sie alle bekämpfen die Bourgeoisie, um ihre Existenz als Mittelstände vor dem Untergang zu sichern. Sie sind also nicht revolutionär, sondern konservativ. Noch mehr, sie sind reaktionär, sie suchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen.“ (Kommunistische Manifest, MEW 4, S. 472)
In einem klassenübergreifenden Bündnis kann das Proletariat nur verlieren: es gewinnt die anderen unterdrückten Klassen nicht für sich, sondern treibt sie in die Arme des Kapitals und schwächt seine eigene Einheit sowie sein eigenes Bewußtsein auf entscheidende Weise. Es verteidigt nicht seine eigenen Forderungen, sondern verwässert und verleugnet sie. Es kommt auf dem Weg zum Sozialismus nicht voran, sondern bleibt im Sumpf des dekadenten Kapitalismus stecken und erstickt. Tatsächlich hilft es nicht einmal den Kleinbürgern oder den Bauern. Es trägt vielmehr dazu bei, diese auf dem Altar der Interessen des Kapitals zu opfern, weil "populäre" Forderungen ein Vorwand sind, den die Bourgeoisie benutzt, um ihre eigenen Interessen einzuschmuggeln. Im "Volk" werden nicht die Interessen der "arbeitenden Klassen" repräsentiert, sondern die ausbeuterischen, nationalen, imperialistischen Interessen der ganzen Bourgeoisie. „Das Bündnis zwischen Menschewiki und Sozialrevolutionären bedeutete unter diesen Umständen  nicht die Zusammenarbeit von Proletariat und Bauernschaft, sondern eine Koalition von Parteien, die zugunsten eines Blocks mit den besitzenden Klassen mit Proletariat und Bauernschaft gebrochen hatten.“ (Trotzki, ebd., "Das Exekutivkomitee")

Wenn das Proletariat die anderen nicht-ausbeutenden Schichten für seine Sache gewinnen will, muß es seine eigenen Forderungen, sein eigenes Dasein, seine Klassenautonomie noch klarer und lauter bekräftigen. Es muß die anderen nicht-ausbeutenden Schichten insofern gewinnen, als diese durchaus revolutionär sein können: „... sind sie revolutionär, so sind sie es im Hinblick auf den ihnen bevorstehenden Übergang ins Proletariat, so verteidigen sie nicht ihre gegenwärtigen, sondern ihre zukünftigen Interessen, so verlassen sie ihren eigenen Standpunkt, um sich auf den des Proletariats zu stellen.“ (Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 472).

Indem es seinen Kampf auf eine Beendigung des imperialistischen Krieges konzentrierte, indem es danach strebte, eine Perspektive für die Lösung der Agrarprobleme zu schaffen, indem es die Sowjets als Organisation für alle ausgebeuteten Klassen schuf und vor allem indem es dem Bankrott und dem Chaos der kapitalistischen Gesellschaft die Alternative einer neuen Gesellschaft entgegenstellte, nahm das Proletariat in Rußland den Platz der Vorhut aller ausgebeuteten Klassen ein. Es wußte, wie es ihnen eine Perspektive verschaffen konnte, um die herum sie sich vereinigen und wofür sie kämpfen konnten.

Das selbständige Auftreten des Proletariats isolierte es nicht gegenüber den anderen unterdrückten Schichten. Im Gegenteil, es erlaubte ihm, Letztere gegenüber dem bürgerlichen Staat zu isolieren. Angesichts der Auswirkungen der Kampagne der russischen Bourgeoisie über den "Egoismus" der Arbeiter mit ihrer Forderung nach dem Achtstunden-Arbeitstag auf die Soldaten "begriffen (die Arbeiter) die Gefahr und wandten sie geschickt ab. Es genügte ihnen, zu diesem Zwecke die Wahrheit zu erzählen, die Zahlen der Kriegsgewinne zu nennen, den Soldaten die Betriebe und Werkstätten mit ihrem Maschinenlärm, höllischen Flammen der Öfen zu zeigen - ihre ewige Front, an der sie ungezählte Opfer brachten. Auf Initiative der Arbeiter begannen regelmäßige Besuche der Betriebe durch Garnisonsteile, besonders jener Betriebe, die für die Landesverteidigung arbeiteten. Der Soldat sah und hörte, der Arbeiter zeigte und erklärte. Die Besuche endeten mit feierlichen Verbrüderungen.“ (Trotzki, ebenda, "Das Exekutivkomitee")

„Die Armee war unheilbar krank. Sie war noch dazu in der Lage, ein Wort bei der Revolution mitzureden, aber den Krieg fortführen, das konnte sie nicht mehr.“ (Trotzki, ebd., "Die Armee und der Krieg")

Die "unheilbare Krankheit" der Armee war das Produkt des autonomen Kampfes der Arbeiterklasse. Gleichermaßen entschlossen ging das Proletariat das Agrarproblem an, das der dekadente Kapitalismus  nicht zu lösen imstande war, ja sogar verschlimmerte: täglich strömten aus den Industriestädten Legionen von Agitatoren, Fabrikdelegationen und Sowjets aufs Land, um mit den Bauern zu diskutieren, um sie zum Kampf zu ermuntern, um die Landarbeiter und die armen Bauern zu organisieren. Die Sowjets und die Fabrikkomitees verfaßten zahlreiche Resolutionen, um ihre Solidarität mit den Bauern zu erklären, und schlugen konkrete Maßnahmen zur Lösung der Agrarfrage vor. "Die Petrograder Konferenz der Fabrikkomitees widmet ihre Aufmerksamkeit der Agrarfrage und arbeitet aufgrund eines Referats von Trotzki ein Manifest an die Bauern aus: das Proletariat fühlt sich nicht nur als besondere Klasse, sondern auch als Führer des Volkes.“ (Trotzki, ebd., "Austritt aus dem Vorparlament und Kampf um den Sowjetkongreß")

 

Die Sowjets

Während die bürgerliche Politik die Mehrheit als eine Masse betrachtet, die manipuliert werden muß, damit sie billigt, was von den staatlichen Behörden ausgebrütet wird, stellt sich die Arbeiterpolitik als das freie und bewußte Werk der großen Mehrheit der Arbeiter für ihre eigenen Interessen dar.

„Sowjets, Deputiertenräte oder Delegationen der Arbeiterversammlungen kamen spontan zum ersten Mal in Rußland im großen Massenstreik von 1905 auf. Sie gingen direkt aus Tausenden von Arbeiterversammlungen in den Fabriken und Arbeitervierteln hervor, die sich in der bedeutendsten Explosion in der Geschichte der Arbeiterbewegung vervielfacht hatten. Als ob sie den Kampf der Pariser Kommunarden von 1871 wieder aufgriffen und weiterführten, verallgemeinerten die russischen Arbeiter in der Praxis jene Organisationsform, die die Kommunarden nur andeuten konnten: souveräne Versammlungen, Zentralisierung durch gewählte und jederzeit abwählbare Delegierte.“ (REVOLUTION INTERNATIONALE, Zeitung der IKS in Frankreich, Nr. 190)

Seit dem Sturz des Zarismus durch das Proletariat bildeten sich in Petrograd, Moskau, Charkow, Helsingfors, in allen Industriestädten in Windeseile Sowjets von Arbeiterdelegierten, mit denen sich die Deputierten der Soldaten und später der Bauern vereinigten. Um die Sowjets bildeten das Proletariat und die ausgebeuteten Massen ein unendliches Netzwerk von Kampforganisationen, die auf den Versammlungen, der freien Diskussion und Entscheidung aller Ausgebeuteten basierten: Bezirkssowjets, Soldatenkomitees, Bauernkomitees... “Das Netzwerk von Arbeiter- und Soldräten, das ganz Rußland überzog, stellte das Rückgrad der Revolution dar. Dank ihrer Unterstützung breitete sich die Revolution wie ein Flächenbrand aus; immer wieder stießen die Reaktionen der Herrschenden auf ihren Widerstand.“  (O. Anweiler, Die Rätebewegung in Rußland 1905-1921, 3. Kapitel, 3. Teil).

Die bürgerliche "Demokratie" reduziert die "Teilnahme" der Massen auf die alle vier oder fünf Jahre stattfindende Wahl einer Person, die das Nötige für die herrschende Klasse tun wird; demgegenüber konstituieren die Sowjets die ständige und direkte Teilnahme der Arbeitermassen, die auf gigantischen Versammlungen gemeinsam diskutieren und über alle gesellschaftlich relevanten Fragen entscheiden. Die Delegierten werden gewählt und sind jederzeit abwählbar. Sie unterstützen den Kongreß mit festgelegten Mandaten.

Die bürgerliche "Demokratie" begreift diese "Teilnahme" im Sinne der Farce eines freien Individuums, das allein an der Wahlurne entscheidet. Im Grunde ist sie die Beweihräucherung der Atomisierung, des Individualismus, des Jeden-gegen-Jeden, ist sie die Camouflage der Klassenspaltung, was der ausbeutenden und in der Minderheit befindlichen Klasse zugute kommt. Die Sowjets dagegen stützen sich auf kollektive Diskussionen und Entschlüsse, in denen jeder die Tatkraft und die Stärke der Gesamtheit spüren kann und auf deren Grundlage jeder all seine Fähigkeiten entwickeln kann, was umgekehrt das Kollektiv verstärkt. Die Sowjets entstehen aus der autonomen Organisation der Arbeiterklasse, um von dieser Plattform aus für die Abschaffung der Klassen zu kämpfen.

Die Arbeiter, Soldaten und Bauern betrachteten die Sowjets als ihre Organisationen:

„Nicht nur die Arbeiter und Soldaten der großen Garnisone des Hinterlandes, sondern auch all das bunte Kleinvolk der Städte: Handwerker, Straßenverkäufer, kleine Beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Hausangestellte aller Art mieden die provisorische Regierung mit deren Kanzleien und suchten eine nähere, zugänglichere Macht. In immer größrer Zahl kamen Bauernabgesandte ins Taurische Palais. Die Massen ergossen sich in den Sowjets wie in ein Triumphtor der Revolution. Alles, was außerhalb der Sowjets blieb, fiel von der Revolution gleichsam ab und schien einer anderen Welt zugehörig. So war es auch: außerhalb der Sowjets blieb die Welt der Besitzenden, in der sich jetzt alle Farben zu einem graurosa Schutzkolorit vermengten.“ (Trotzki, ebenda, "Die neue Macht")

Nichts konnte in Rußland ohne die Sowjets geschehen. Die Delegationen der Baltischen und Schwarzmeerflotte erklärten am 16. März, daß sie nur den Befehlen der Provisorischen Regierung Folge leisten würden, die im Einklang mit den Entscheidungen der Sowjets stünden. Das 172. Regiment drückte das noch schärfer aus: „Die Armee und die Bevölkerung sollten sich den Entscheidungen des Sowjets unterwerfen. Befehle der Regierung, die den Entscheidungen des Sowjets entgegenstehen, sollen nicht ausgeführt werden."  (ebd.)

Der Großkapitalist und Minister der Provisorischen Regierung, Gutschkow, erklärte: "... die Regierung verfügt leider über keine reale Macht, in den Händen des Sowjets sind Truppen, Eisenbahn, Post und Telegraph. Man kann geradezu sagen, die Provisorische Regierung existiert nur, solange der Sowjet es zulässt.“ (ebenda, S. 175)

Als eine Klasse, die die bewußte und revolutionäre Umwandlung der Welt anstrebt, benötigt die Arbeiterklasse ein Organ, das ihr erlaubt, all ihre Richtungen, all ihre Gedanken, all ihre Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen: ein äußerst dynamisches Organ, das jederzeit die Entwicklung und den Fortschritt der Massen kristallisiert; ein Organ, das nicht dem Bürokratismus und Konservatismus anheimfällt, das ihr erlaubt, alle Versuche zurückzuweisen und zu bekämpfen, der Mehrheit die Macht zu entreißen. Ein Arbeitsorgan, wo Angelegenheiten schnell und zügig, gleichzeitig aber auch kollektiv und bewußt entschieden werden, ein Organ, das allen erlaubt, sich an seiner Arbeit zu beteiligen.

„Sie wollten von keiner Theorie der Machtteilung etwas wissen und mischten sich in die Verwaltung der Armee ein, in Wirtschaftskonflikte, Ernährungs- und Transportfragen und sogar Gerichtsangelegenheiten. Unter dem Druck der Arbeiter dekretierten die Sowjets den 8-Stundentag, setzten übereifrige reaktionäre Administratoren ab, entließen die unerträglichsten Kommissare der Provisorischen Regierung, nahmen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen vor, untersagten das Erscheinen feindlicher Zeitungen.“ (Trotzki, ebd., "Erste Koalition")

Wir haben gesehen, wie die Arbeiterklasse fähig war, sich selbst zu vereinigen, all ihre schöpferische Energie auszudrücken, in einer organisierten und bewußten Weise zu handeln und letzten Endes als eine revolutionäre Klasse in der Gesellschaft aufzutreten, deren Mission es ist, eine neue Gesellschaft ohne Klassen und ohne Staat aufzubauen. Aber dafür mußte die Arbeiterklasse die Macht der feindlichen Klasse, den bürgerlichen Staat, verkörpert durch die Provisorische Regierung, zerstören und ihre eigene Macht durchsetzen: die Macht der Sowjets.

Im zweiten Teil dieses Artikels wollen wir uns anschauen, wie die Arbeiterklasse sich gegen die Sabotage wehrte, die innerhalb der Sowjets von den alten, zur Bourgeoisie übergelaufenen sozialistischen Parteien begangen wurde - die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre -, wie sie die Sowjets von Kopf bis Fuß erneuerte, um sie für die Machtübernahme vorzubereiten. Und wir wollen die Rolle der bolschewistischen Partei und, als Höhepunkt, den Aufstand im Oktober 1917, betrachten.

Adalen

 

(1) In Kontinuität mit den Beiträgen diesen linkskommunistischen Strömungen, die uns vorausgingen (namentlich BILAN und INTERNATIONALISME), haben wir die Broschüre "Oktober 1917 - Beginn der Weltrevolution", die sich der Oktoberrevolution und den Gründen ihrer Degeneration gewidmet, und in der INTERNATIONALEN REVUE (engl., franz., span. Ausgabe) folgende Artikel veröffentlicht:
"Die Degeneration der Russischen Revolution" (Nr. 3),
"Lehren aus Kronstadt" (Nr. 3),
"Die kommunistische Linke in Rußland" (Nr. 9, 10);
"In Verteidigung des proletarischen Charakters der Oktoberrevolution" (Nr. 12, 13);
"Partei und Räte" (Nr. 17),
"Rußland 1917 und Spanien 1936" (Nr. 25),
"Polemik über 'Lenin als Philosoph'" (Nr. 25-31 oder auf Deutsch: https://de.internationalism.org/internationalerevue/politik-und-philosop... [4]),
Artikel, die sich mit der Anprangerung des kapitalistischen Charakters der stalinistischen Regimes befaßt (Nr. 11, 12, 23, 34),
die "Thesen über die wirtschaftliche und politische Krise der osteuropäischen Länder" (Nr. 60),
"Die russische Erfahrung: Privateigentum und Kollektiveigentum" (Nr. 61).

(2) Zwei Monate zuvor, im April, als Lenin  diesen Schlachtruf in seinen berühmten Thesen formulierte, wurde er auch von vielen in der bolschewistischen Partei als eine utopische Abstraktion abgelehnt.

(3) Wir haben im Rahmen dieses Artikels keinen Platz, um zu erörtern, ob die Lösung, die die Bolschewiki und die Sowjets in der Agrarfrage anboten - die Aufteilung des Bodens -, richtig war. Die Erfahrung bewies - wie Rosa Luxemburg sagte - das Gegenteil. Aber das sollte uns nicht vom Kernpunkt ablenken: daß das Proletariat und die Bolschewiki massiv auf eine Lösung drängten, die sich auf die Macht der Arbeiterklasse und den Kampf für die sozialistische Revolution stützte.

Quell-URL: https://de.internationalism.org/revue14/1993_russischerevolution [5]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1917 - Russische Revolution [6]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [7]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Proletarische Revolution [8]

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/737/internationale-revue-14

Links
[1] https://de.internationalism.org/kommunismus2 [2] https://de.internationalism.org/arkl [3] https://de.internationalism.org/tag/1/209/die-russische-revolution [4] https://de.internationalism.org/internationalerevue/politik-und-philosophie-von-lenin-bis-harper-pannekoek-teil-1-4 [5] https://de.internationalism.org/revue14/1993_russischerevolution [6] https://de.internationalism.org/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1917-russische-revolution [7] https://de.internationalism.org/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [8] https://de.internationalism.org/tag/2/26/proletarische-revolution