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Weltrevolution Nr. 136

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Bemerkungen über die Studentenkämpfe in Frankreich

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Die Demonstrationen am Donnerstag (den 16. März) brachten in ganz Frankreich etwa 500.000 Studenten auf die Straße, und die Bewegung fährt weiter fort zu wachsen. Die große Frage der vergangenen Woche - ob die Massen der Lohnarbeiter sich den für Sonntag, den 18. März, geplanten Demonstrationen anschließen werden - ist ganz konkret beantwortet worden: Ungefähr eine Millionen Menschen waren in Frankreich auf den Straßen. (1) Auch Städte, die bisher noch nie eine Demonstration gesehen haben, waren betroffen: 15.000 demonstrierten in Pau; es gab sogar eine Demonstration in Chalons sur Sao inmitten des ländlichen Frankreichs.

   Für jene Militanten und Sympathisanten der IKS, die während der letzten paar Wochen an der Bewegung teilgenommen hatten, besonders seit den Demonstrationen vom 7. März, waren dies bemerkenswerte, erregende Tage gewesen. Wir beabsichtigen hier nicht, detailliert auf die Ereignisse einzugehen (wir haben keine Zeit!), sondern wollen vielmehr ein Licht auf die unserer Auffassung nach wichtigsten Aspekte der Bewegung werfen.

   Manche mögen sich fragen, warum eine kommunistische Organisation sich so rückhaltlos in einer Studentenbewegung engagiert, wie die IKS es tut. Die Studenten sind ja keine Klasse an sich, nicht einmal als solche ein Teil der Arbeiterklasse. Tatsächlich gibt es zwei Gründe für unser Handeln:

· Erstens muss man in Frankreich zwischen den "Grandes écoles" und den Universitäten zu unterscheiden wissen. Erstere sind im Wesentlichen für die Kinder der herrschenden Klasse reserviert (2), und ihren Absolventen - den "Ingenieuren" - sind gut bezahlte Jobs im öffentlichen Dienst und in den Großunternehmen Frankreichs faktisch garantiert; in der Tat weist das ganze System eine große Ähnlichkeit mit der "Nomenklatura" auf, mit der die stalinistische herrschende Klasse in der Ex-UdSSR ihre Kontinuität sicherte. Auf der anderen Seite sorgen die Universitäten für den Nachschub an ausgebildeten Arbeitskräften für die heutigen Hightechindustrien und -dienstleistungen. Die Minimalbedingung, um sich der Heerschar an niedrig bezahlten Technikern, die in den Fabriken, Labors und Büros der französischen Wirtschaft beschäftigt sind, anzuschließen, ist heutzutage das "bac+3" (d.h. dreijährige Universitätsausbildung nach Verlassen der Schule) oder gar das "bac+5". In diesem Sinn sind die Universitätsstudenten in ihrer großen Mehrheit sowohl Kinder als auch künftige Mitglieder des französischen Proletariats. Dies ist ein wichtiger Unterschied zur Lage im Mai 1968, als nur sieben Prozent der Jugend die Universität besuchte (und auch zu anderen europäischen Ländern, wo ein noch geringerer Anteil der jungen Leute an die Uni ging).

· Zweitens ist das Ziel der Studentenbewegung - die Regierung zur Rücknahme des "Contrat de Première Embauche"  (CPE) mitsamt seiner Bestimmungen (eine zweijährige Probezeit, in der ein Beschäftigter ohne Kommentar oder an Angabe von Gründen gefeuert werden kann) zu zwingen - deutlich eine Forderung, die die gesamte Arbeiterklasse betrifft, einschließlich der Massen der arbeitslosen Jugend aus den Unterschichten, deren Wut und Verzweiflung in den Unruhen des vergangenen Herbstes explodiert waren. Die Studenten sind sich dessen wohl bewusst und haben sich beharrlich allen Versuchen widersetzt, den Kampf auf das Terrain der "Universitätsreform" (insbesondere des europäischen Standards der LMD-Diplome) zu lenken, indem sie darauf bestanden, dass dies nicht einfach eine Studentenangelegenheit sei, sondern etwas, das alle Lohnarbeiter betrifft.

Einheit der Generationen

Für jene von uns "alten Generation", die an den Kämpfen teilgenommen hatten, welche in der gesamten Industriewelt durch die Ereignisse des Mai 68 ausgelöst worden waren, ist eines der bemerkenswertesten Merkmale der heutigen Bewegung das Fehlen des "Generationengrabens", über das die Medien so viel reden. Die Eltern der neuen Generation der Arbeiterklasse, die die Bewegung in den 60er und 70er Jahren stützten, hatten die fürchterliche Niederlage durch die Konterrevolution, die Leiden der 30er Jahre und die Schrecken des II. Weltkrieges (und all die Illusionen in dem großen Triumph der "Demokratie" nach dem Krieg) erfahren müssen. Die Jugend von heute ist in einer anderen Welt groß geworden und war häufig von einem tiefen Misstrauen gegenüber den Älteren infiziert (das extremste Beispiel war sicherlich Deutschland, wo der Slogan "Trau niemand über 30" den Abscheu der Jugend widerspiegelte, mit der sie die Mittäterschaft der Kriegsgeneration am Naziregime betrachtete). Wir finden nichts davon in der heutigen Bewegung. Ganz im Gegenteil: die älteren Militanten der IKS, die in der 68er Bewegung zur Politik gestoßen waren, waren tief bewegt darüber, junge Menschen anzutreffen, die ihre Kinder hätten sein können (und in einigen Fällen auch waren) und die auf sie zugegangen sind, um sie um Rat zu bitten, voller Wissbegierde über die Geschichte ihrer Kämpfe. Militanten im Alter von 50 oder 60 Jahren wurde es ermöglicht, auf Massenversammlungen der Jugend  zu reden, und erlebten, wie ihnen zugehört und sogar applaudiert wurde (tatsächlich wurden alle Interventionen der IKS-Militanten von Beifall, manchmal sogar begeistertem Beifall begleitet). In Toulouse wurde einem unserer Genossen, der auf der Universität lehrt und als Mitglied unserer Organisation bekannt ist) auf einer Massenversammlung von über 1.000 Studenten applaudiert, die ihn daraufhin baten, einen "Alternativkurs" über die Geschichte der revolutionären Bewegung vorzubereiten. In Grenoble wurde ein anderer Genosse zu einem Massentreffen vieler Jugendlicher willkommen geheißen, die erklärten: "Wir zählen auf Dich, wenn es darum geht, gegen die Gewerkschaften zu sprechen" - was er natürlich gebührend und mit ganzem Einsatz tat.

   Die Bedeutung dieser Einheit der Generationen, wo die Älteren mit dem, was sie gelernt haben, zur Dynamik der Jungen beitragen können, ist äußerst bedeutsam in der neuen Situation weltweit und in der gesamten Arbeiterklasse. Heute konfrontieren zwei ungeschlagene Generationen von Arbeitern das Kapital: Die ältere Generation ist zwar von den Kämpfen in den 80er Jahren und von dem fürchterlichen Rückfluss in den 90er Jahren arg mitgenommen - doch sie ist noch immer ungebrochen, und die Erinnerungen an ihre Jugend sind nicht Kriegserinnerung, sondern Erinnerungen des Kampfes.

Ein außerordentlicher Organisationsgrad

Die Bewegung wird von Massenversammlungen (bekannt als "assemblée générale" oder Vollversammlungen) organisiert, die von einem Treffen zum nächsten über die Fortführung des Streiks abstimmen. Natürlich variiert der Grad und die Kohärenz der Organisation beträchtlich von einer Uni zur anderen. In vielen Fällen werden die Vollversammlungen (VVs) von selbst ernannten Präsidien geleitet, die von der Studentengewerkschaft (normalerweise die UNEF) aufgestellt werden und dazu neigen, das Verfahren zu dominieren und die Teilnahme von nicht-gewerkschaftlich Organisierten zu desavouieren. Doch anderswo - und besonders in Paris III Censier, die unübersehbar an vorderster Front der Bewegung steht - ist der Grad der Organisation und die Reife der Studenten außerordentlich bemerkenswert. Man möge nur betrachten, wie solche Massentreffen beginnen: mit der Vorstellung des vorgeschlagenen Dreier-Präsidiums, jede/r der drei gibt seinen/ihren Namen, Geburtstag und den Universitätskurs an, fügt schließlich noch hinzu, ob er/sie in einer Gewerkschaft oder politischen Organisation ist (die Nicht-Gewerkschaftlichen und Nicht-Politischen überwiegen im allgemeinen); das Präsidium wechselt täglich, und kein Beschluss wird gefasst, ehe nicht die VV zugestimmt hat; der Tag geht schließlich weiter mit den Berichten (angefangen mit den Berichten aus den verschiedenen Arbeitskommissionen - "Reflexion und Aktion", Presse, "Kontakte nach außen", etc. - bis hin zu den Berichten der Delegierten, die das Mandat erhalten haben, die nationalen oder regionalen Koordinationen (die zur Koordinierung zwischen den verschiedenen Universitäten eingerichtet wurden) zu besuchen. Und dies ist nicht das einzig bemerkenswerte Merkmal der VV: Jeder kann sprechen - selbst Menschen von außerhalb der Universität; die Sprechzeiten sind auf drei Minuten begrenzt (es stellt sich schnell heraus, dass es möglich ist, erstaunlich viele Dinge in drei Minuten zu sagen!); Vorschläge, die gemacht werden, werden auf einer schwarzen Tafel hinter dem Präsidium für alle sichtbar notiert. Am Ende eines solchen Treffens wird über alle Vorschläge, die auf dem Treffen geäußert wurden, abgestimmt; in manchen Fällen ruft das Präsidium jemand auf, um "für" oder "gegen" einen Vorschlag zu sprechen, wenn sich herausstellt, dass er noch nicht richtig verstanden worden ist.

   Es sollte betont werden, dass die Effizienz dieser Treffen nicht allein dem Präsidium zuzuschreiben ist, sondern auch der erstaunlichen Reife aller Teilnehmer: Jedem Redner wird zugehört, die Redner selbst respektieren die gegebenen Zeitlimits. Sie haben sogar aus der Taubstummensprache Gesten der stillen Zustimmung entliehen, wenn sie mit einem Redner übereinstimmten, nur um zu vermeiden, dass der Verlauf des Treffens durch Bravorufe oder Applaus unterbrochen wird. In Nantes brachte das Präsidium mit den Worten: "Wir sind hier nicht im Fernsehen!" die aufgeregte Versammlung zum Schweigen. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass auf ihre Weise und in einer begrenzteren Bewegung die französische Jugend von heute nicht nur in die Fußstapfen vom Mai 68, sondern auch  in jene der polnischen Arbeiter, die 1980 gegen den stalinistischen Staat aufbegehrten, tritt.

Ein gesunder Instinkt

Trotz der Tatsache, dass die VVs oft von einem gewerkschaftlich dominierten Präsidium geleitet werden, gibt es dennoch ein allgemeines und gesundes Misstrauen gegenüber jeglichem Ansinnen, die Entscheidungsmacht der VV wegzunehmen. In Paris III Censier erlebten wir Debatten über zwei Themen, die dies besonders gut veranschaulichten: über den Charakter des Mandats, das die VV ihren Delegierten für die regionale Koordination der Ile de France verleiht, und über den Vorschlag, ein "Koordinationsbüro" einzurichten, das angeblich eine Art von "Informationsverteiler", benannt von der regionalen Koordination, sein sollte.

   Die Debatte über das Mandat trennte anfangs die Befürworter des "freien" Mandats von den Anhängern des "imperativen" Mandats: Erstere wollten es den Delegierten im Wesentlichen erlauben, auf den Koordinationen selbst initiativ zu werden, selbst wenn dies im Widerspruch zum Mandat der VV steht; Letztere wollten die Delegierten dazu verpflichten, ausschließlich in Übereinstimmung mit den Diskussionen und Beschlüssen der VV abzustimmen. Wie rasch betont wurde, ist einer der Hauptnachteile des "imperativen Mandats", dass der Delegierte zu neuen Vorschlägen, die nicht zuvor in der VV diskutiert worden waren, nichts sagen kann. Das Präsidium benötigte keine zehn Minuten, klar und verständlich eine Kompromisslösung zu präsentieren und zur Abstimmung zu stellen: ein semi-imperatives Mandat, das bindend ist, wenn es um Beschlüsse geht, die von der VV gefasst wurden, das aber genug Raum für die Initiative der Delegierten lässt, wann immer es um Themen geht, die von der VV noch nicht diskutiert worden sind.

   Der Vorschlag, ein "Koordinationsbüro" zu bilden, wurde innert fünf Minuten mit der Begründung abgelehnt, dass es keinem nützlichen Zweck dient, wenn eine weitere Ebene der Zentralisierung, die unabhängig von der VV ist, eingeführt werden würde.

   Es kam überhaupt nicht überraschend, dass in beiden Fällen die Vorschläge, die dahin tendierten, der VV die Entscheidungsmacht wegzunehmen, von den Trotzkisten der LCR (Lique Communiste Révolutionaire) kamen: dies ist eine beständige Politik von Trotzkisten und Gewerkschaftern die Schaffung von Extrainstanzen der "Koordination" oder der "Büros", wo die Informationen und die Beschlussfassungen konzentriert werden und wo ihre eigenen Militanten die Finger am Hebel der Information und Macht haben. Was uns VVs gegenüber diesen Maßnahmen, die die Entscheidungsmacht aus ihren Händen genommen hätten, ein gesundes Maß an Misstrauen gegenüber den Möchtegernbürokraten und -politikern dar.

Die Gewerkschaftsfrage

 Eine Idee, die mehr oder weniger deutlich in der Bewegung aufkam, ist, dass die Forderung nach Rücknahme des CPE nicht nur eine Studentenforderung ist und dass die Bewegung nach aktiver Unterstützung durch die Lohnarbeiter trachten muss. Überflüssig zu sagen, dass der Eintritt in den Streik etwas Unterschiedliches für Lohnarbeiter und Studenten bedeutet: Auch wenn es zutrifft, dass der Streik für viele Studenten, die während ihres Studiums arbeiten müssen und sich keinen Ausfall von Semestern leisten können, eine ernste Angelegenheit ist, kann man dies dennoch nicht mit dem Problem vergleichen, dem sich Lohnarbeiter gegenüber sehen, die die Miete zahlen müssen, Kredite zu begleichen haben, ihre Familien ernähren müssen und die darüber hinaus nicht legal streiken dürfen, es sei denn, der Streik wird von den Gewerkschaften ausgerufen. Die Studenten waren sich (bis auf ein paar Hitzköpfe, die zum "Generalstreik" aufriefen, was angesichts der heutigen Situation ein belangloser Slogan bleibt) darüber bewusst: Zum Beispiel war es ein häufig genannter Vorschlag (verkörpert in der kommenden Demonstration am 18. März), an den Wochenenden zu demonstrieren, so dass sich Lohnarbeiter anschließen können. Die wirkliche Frage ist: Wie kann man die Arbeiter in die Bewegung einbringen?

   Die naheliegende Antwort ist, die Gewerkschaften zu fragen. Und in der Tat wurden in diesem Zusammenhang wiederholt Vorschläge gemacht, ob dies nun auf lokaler oder nationaler Ebene geschah. Das Problem ist, dass die Gewerkschaften selbst keinerlei Interesse daran haben, dass die Arbeiter sich dieser Bewegung anschließen. Es gab überhaupt keine Werbung auf Seiten der Gewerkschaften zum Beispiel für die Demonstration am Donnerstag, den 16. März, und erst am Freitag, den 17. März, begannen sie, Werbung für die Demonstration am folgenden Tag zu machen, ausgerechnet für die erste Demonstration, die an einem Samstag stattfand mit der ausdrücklichen Absicht von Seiten der Studenten, sie für die Arbeiter zu öffnen. Wenn wir nicht wüssten, was die Gewerkschaften sind - nämlich die besten Freunde der Bosse, wenn es hart auf hart geht -, würden wir dies in der Tat skandalös und außerordentlich schamlos nennen.

    Was muss dann getan werden? Wenn die Studenten den Gewerkschaften nicht trauen können, um die Arbeiter herauszurufen - was offenkundig der Fall ist -, dann müssen sie es selbst tun, indem sie Flugblätter in den Hauptballungsgebieten der Arbeiter verteilen (in Paris bedeutet dies an den U-Bahnhöfen, wo täglich zigtausende von Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit vorbeikommen). Militante der IKS haben nachdrücklich Anträge, die auf den VVs in diesem Sinne vorgeschlagen und angenommen wurden, unterstützt - und mit Beifall aufgenommen.

Die Gewalt und die Rolle der Medien

Eines der auffälligsten Merkmale der Bewegung ist die Weise, wie sowohl in Frankreich als auch im Ausland darüber in den Medien berichtet wurde, besonders im Fernsehen, das bekanntlich die Hauptinformationsquelle für die meisten Arbeiter ist. Bis vor kurzem - im Wesentlichen und abgesehen von wenigen Ausnahmen bis zur Demonstration am Donnerstag, den 16. März - hatten sich die Medien in Frankreich auf eins konzentriert: auf die Besetzung der Sorbonne und die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Banden von Hitzköpfen (die von wer-weiß-woher kamen) und der CRS (eine spezielle Polizeieinheit zur Bekämpfung von Unruhen). Bis vor kurzem gab es keinen Hinweis auf die Massenversammlungen, die Debatten, ja nicht einmal auf die Demonstrationen im Fernsehen; stattdessen gab es ein Haufen Interviews mit Studenten, die gegen die Bewegung waren, Berichte über Konfrontationen unter den Studenten und über Angriffe auf die CRS.

   Außerhalb Frankreichs war der Blackout über die Studentenbewegung nahezu vollkommen - mit Ausnahme von ein paar Bildern über die Gewalt.

   All dies steht in krassem Gegensatz zu der riesigen und erschöpfenden Behandlung der Riots im letzten Herbst in den französischen Vorstädten durch die Medien, die so weidlich aufgeblasen wurden, dass wir von Genossen aus der Ex-UdSSR Unterstützungserklärungen für die "Revolution" erhielten, die angeblich in Frankreich stattfindet!

   Wir wissen sehr gut, dass die Medien - und allen voran das Fernsehen - in jeder Hinsicht vom Staat kontrolliert sind, und selbst da, wo sie es nicht sind, ist ihre "Selbstkontrolle" beeindruckend: Es gibt einen alten englischen Vers, der auch heute für die Medien überall gleichermaßen gilt und folgendermaßen lautet: "Gottseidank kann niemand einen britischen Journalisten bestechen oder einwickeln. Da der gute Mann auch unbestochen tut, wie ihm geheißen, gibt es keinen Grund dazu."

   So müssen sich die Studenten die Frage stellen: Welches Interesse hat der Staat daran, solche Bilder auszustrahlen - nahezu unter Ausschluss aller anderen? Die Antwort ist natürlich, dass dies zur Diskreditierung der Bewegung unter den Massen der Arbeiterklasse beiträgt, die heute sicherlich nicht bereit ist, eine gewaltsame Auseinandersetzung mit dem Staat zu beginnen. Nicht nur, dass die Gewalt dazu neigt, die Bewegung im Rest der Klasse unglaubwürdig zu machen, sie stellt auch die Souveränität der VVs in Frage, da die Gewalt völlig außerhalb ihrer Kontrolle stattfindet. In der Tat ist diese Frage - die Frage der Kontrolle - eine der kritischsten überhaupt: Die Gewalt der Arbeiterklasse hat nichts mit der blinden Gewalt der jugendlichen Hitzköpfe an der Sorbonne oder - auch dies sei gesagt - vieler anarchistischer Gruppen zu tun, vor allem weil Erstere kollektiv, von der Klasse als solche ausgeübt und kontrolliert wird. Die Studentenbewegung hat physische Gewalt benutzt (zum Beispiel um die Universitätsgebäude zu verbarrikadieren und um ihre Zugänge zu blockieren): Der Unterschied zwischen dieser Gewalt und den Konfrontationen an der Sorbonne besteht darin, dass erstgenannte Aktionen kollektiv beschlossen und von den VVs abgestimmt wurden und die "Blockierer" ein Mandat für ihre Aktionen von ihren Genossen erhalten hatten. Hingegen ist die letztgenannte Form der Gewalt, gerade weil sie unkontrolliert durch die Bewegung stattfindet, ein perfektes Terrain für die Handlungen von Deklassierten und den Agents provocateurs. Angesichts der Art und Weise, wie die Gewalt von den Medien benutzt wurde, gibt es auch allerlei Gründe anzunehmen, dass Provokateure am Werk waren.

   Angesichts dieser Lage ist die Reaktion der Studenten beispielhaft. Als klar wurde, dass die Regierung die Sorbonne im Endeffekt als eine "Falle" für die Demonstrationen und als ein Mittel der ständigen Provokation einsetzte, bestand die Reaktion auf der VV in Paris III Censier im Wesentlichen darin: "Die Sorbonne ist ein Symbol, das ist richtig. Gut, wenn sie es so wollen, dann lasst ihnen ihr Symbol - die CRS sind dort, je mehr, desto besser, lasst sie dort bleiben. Und lasst uns unsere Genossen von der Sorbonne einladen, ihre VV in Censier abzuhalten." Dieselbe Einladung wurde auch von der VV in Jussieu ausgesprochen.

   Hinzu kam, dass trotz einiger verspäteter Manöver der Trotzkisten, die Abstimmung zu kippen, die VV von Censier einen Antrag "zur Unterstützung der verletzten Studenten, gegen jede Beschädigung des Gebäudes und in Sympathie mit den verletzten CRS-Beamten" verabschiedete. Das Wichtige an diesem Antrag ist, dass er absolut keine Unterstützung der Repression durch die Polizei war, aber anerkannte:

 · dass die Kinder der niedrig bezahlten CRS-Beamten selbst von den Angriffen der Regierung betroffen sind (wie manche Studenten den Bereitschaftspolizisten in friedlichen Konfrontationen zu erklären versuchten);

· und dass die Studenten die Absicht hatten, sich von den gewalttätigen "Aktionen" zu distanzieren, die der Bewegung keinen guten Dienst erweisen.

Es ist ebenfalls wichtig, den Unterschied in der Art und Weise, wie die Medien in Frankreich und im Ausland über die Demonstration vom 18. März berichteten, festzuhalten:

· In Frankreich haben sich die Medien auf die (triviale) Gewalt am Ende der Demonstration konzentriert, aber weniger stark als bei früheren Anlässen; sie haben der enormen Größe und Ruhe der Demonstration (sowie einiger phantasievoller Slogans) mehr Platz eingeräumt.

· Im Ausland (z.B. in den Euronews oder auf yahoo.com, wo ein Bericht von Associated Press mit dem Titel versehen wurde: "Französische Polizei bändigt die Unruhen wegen Jobgesetz", was kurz und einfach eine unverschämte Lüge ist) haben wir eigentlich nichts anderes gesehen als Bilder der Gewalt und brennender Autos.

Daraus können wir nur eine konkrete Schlussfolgerung ziehen. Die französischen Medien, die versucht haben, die Bewegung in den Augen der Arbeiterklasse zu diskreditieren, haben nun begriffen, dass sie riskieren, sich selbst in den Augen der Bevölkerung, die genau weiß, was wirklich passiert, und besonders in den Augen der Arbeiter, die selbst oder deren Kinder demonstrieren, zu diskreditieren, wenn sie zu offen lügen.

IKS, 19. März 2006

Das Scheitern der militärischen & politischen Offensive der USA

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Der Krieg in Afghanistan und im Irak besteht aus einer Reihe von Desastern, die das Chaos nur vergrößert haben und eine Stabilisierung dieser beiden Länder unmöglich machen. Zudem wird dadurch noch die Instabilität in den Nachbarregionen vergrößert. 

Im Falle Iraks sprechen seine Zerstörung und die täglichen Schreckensmeldungen für sich selbst. Sie weisen darauf hin, dass das Land immer mehr in offene und verdeckte gewalttätige Zusammenstöße versinkt.

In Afghanistan, dessen Besetzung durch die Truppen der US-geführten Koalition mit dem Kampf gegen den von Bin Laden verkörperten Terrorismus nach den Attentaten vom 11. September gegen das World Trade Center "gerechtfertigt" wurde, herrscht großes Chaos. Die Kabuler Regierung ist Zielscheibe unaufhörlicher, gewalttätiger Angriffe; die Hauptstadt wird regelmäßig von Raketen und Mörsern unter Beschuss genommen, die von verschiedenen, um die Macht kämpfenden paschtunischen und anderen afghanischen Cliquen abgefeuert werden. Im Süden und Osten des Landes haben die Taliban dank ihrer Praxis der Anschläge und Kommandooperationen wieder an Boden gewonnen. Im April waren die USA erneut gezwungen, eine militärische Operation, diesmal unter dem Namen "Löwenberg", durchzuführen, an der sich 2500 Soldaten mit massiver Unterstützung der Luftwaffe beteiligten. Das Ergebnis dieser Operation waren, wie 2001 und 2002, massive Zerstörungen. Aber die Medien möchten, genauso wie die US-Behörden, die Bedeutung dieser Operation herunterspielen, indem sie vor allem von dem "psychologischen" Charakter der Operation sprechen, da es "vor allem darum geht, die neuen Taliban unter Druck zu setzen und den Eindruck zu verhindern, dass diese die Oberhand gewinnen", und darum, "die Weltöffentlichkeit" zu beruhigen (Le Monde, 13.4.06). Das nennt man massive psychologische Abschreckung.

Im Nahen Osten versinkt die Gesellschaft immer mehr in der Barbarei. Nicht nur waren die USA unfähig, einen Konsens zwischen Israel und den palästinensischen Behörden herbeizuführen, auch ihre Unfähigkeit, die aggressive und provozierende Politik Sharons einzudämmen, hat die politische Krise sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Israel selbst verschärft. Doch vor allem auf palästinensischer Seite wird mit der Machtübernahme durch die Hamas, dieser besonders rückständigen und radikal Israel-feindlichen palästinensischen Fraktion, das Scheitern der USA besonders deutlich. So tragen die beiden rivalisierenden palästinensischen Lager ihre Konflikte im Gaza-Streifen mittlerweile mit Waffen aus. Der Gazastreifen, der mit seinen 1,6 Millionen Bewohnern (darunter 60 Prozent Flüchtlinge) die höchste Bevölkerungsdichte auf der Welt aufweist, ist ein wahres Pulverfass. Seine Bewohner werden infolge der Einstellung der internationalen "Hilfe" in noch größere Armut gestürzt und durch die Straßensperren und Kontrollen, die die israelische Armee ausübt und die Palästinenser daran hindert, ihrer Arbeit in Israel nachzugehen, zum Nichtstun verurteilt.

Der Bau der "Apartheidmauer" in der Westbank durch den israelischen Staat wird die Spannungen noch verschärfen und immer mehr junge, verzweifelte Palästinenser werden in die Arme der islamistischen Terroristen getrieben. Nach Fertigstellung der Mauer werden 38 Dörfer mit 49.400 Palästinensern von israelischem Territorium eingeschlossen sein; und 230.000 in Jerusalem wohnende Palästinenser werden auf israelischem Gebiet leben. Insgesamt wird die Errichtung der Mauer zu einer noch größeren Bildung von Enklaven führen, d.h. zu einem Zustand, in dem eine Vielzahl von palästinensischen Inseln auf israelischem Territorium existieren wird.

Die Offensive des Irans - ein Dorn im Auge des US-Imperialismus

Nachdem sich der Konflikt zwischen dem Iran und den Großmächten um die Kontrolle über atomare Anlagen durch Teheran seit dem letzten Sommer verschärft hatte, strebt dieser jetzt einem Höhepunkt zu. Da sich das Land dem Ultimatum des UN-Sicherheitsrates, demzufolge der Iran bis zum 28. April jegliche Uranbereicherung einstellen soll, nicht beugen will, haben sich die diplomatischen Spannungen enorm verschärft. In Anbetracht eines internationalen Umfeldes, in dem der kriegerische Wahnsinn des Kapitalismus jeden Tag deutlicher wird, und angesichts der Massaker, die tagtäglich in dieser Region stattfinden, birgt das Kräftemessen zwischen dem Iran und den Vereinten Nationen viele Gefahren. Vor allem aber besteht die Gefahr einer weiteren Ausdehnung und Verschärfung der Barbarei.

Es ist offensichtlich, dass der Iran alles unternimmt, um in den Besitz von Atomwaffen zu gelangen; danach strebt er seit dem Jahr 2000. Das ganze Gerede seiner Führer über die ausschließlich "friedliche" und "zivile" Nutzung der Atomenergie ist nichts als eine Lüge. Nachdem das Land seinerzeit ein Brückenkopf des amerikanischen Blocks gewesen war, später aber, nach der Machtübernahme durch Khomeini, zu einer kleineren Macht herabgestuft wurde und durch den Krieg mit dem Irak in den 1980er Jahren wirtschaftlich und physisch ausgeblutet wurde, hat das Land in den 1990er Jahren wieder an Stärke dazu gewonnen. Nicht zuletzt dank der militärischen Unterstützung durch Russland und der Schwächung des Iraks (seinem historischen Rivalen beim Kampf um die Kontrolle im Persischen Golf) nach dem ersten Golfkrieg, den wiederholten Angriffen der USA bis hin zu der vernichtenden Offensive der USA im Jahr 2004 pocht der Iran heute unüberhörbar auf seinen Anspruch als Regionalmacht. Der Iran verfügt also über mehrere Trümpfe. Dies erklärt die provozierenden und höhnischen Erklärungen seitens der iranischen Regierung gegenüber der UNO und vor allem gegenüber den USA.

Nach der Rückkehr einer der reaktionärsten und radikalsten islamistischen Fraktionen an die Macht tritt der Iran heute als starker und stabiler Staat auf, während in den Nachbarstaaten, im Irak wie im Afghanistan, Chaos herrscht. Der Iran will von diesem Chaos profitieren und hat eine pro-arabische ideologische Offensive gestartet, um sich mit allerlei Israel-feindlichen Reden und einer offenen Opposition gegen die USA als Speerspitze einer "unabhängigen" panislamischen Bewegung zu präsentieren (wobei Saudi-Arabien als  im Solde der USA stehend dargestellt wird).

Die Unfähigkeit Washingtons, seine "Pax americana" im Irak und Afghanistan durchzusetzen, gießt Wasser auf die Mühlen der antiamerikanischen Propaganda und bestätigt die iranischen Erklärungen, wonach die Warnungen aus dem Weißen Haus nur leere Drohungen seien.

Die Lage im Irak konnte den militärischen Ambitionen des Irans nur noch weiteren Auftrieb verleihen.

Abgesehen vom offensichtlichen Scheitern Bushs hat das große Gewicht der Schiiten sowohl in der Bevölkerung des Irans und des Iraks als auch in der irakischen Regierung den imperialistischen Appetit des Iran angeregt und die Perspektive eines größeren Einfluss im Irak als auch in der gesamten Golfregion eröffnet.

Dabei profitiert der Iran auch von den unübersehbaren Differenzen unter den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates. Obwohl sich alle Länder gegen die Perspektive eines Irans, der im Besitz von Atomwaffen ist, ausgesprochen haben, kann Teheran die offenen Divergenzen unter ihnen ausnutzen, um den Ton gegenüber der größten Macht der Welt  zu verschärfen. Während die USA und Großbritannien mit der Drohung einer Intervention reagieren, spricht sich zum Beispiel Frankreich gegen jede militärische Intervention im Iran aus. Und China, Russland sowie Deutschland (das gegenwärtig eine punktuelle Annäherung an Russland vollzieht) sträuben sich gegen Sanktionen und noch mehr gegen militärische Maßnahmen gegen den Iran. Das bringt die US-Regierung in große Schwierigkeiten. Die iranischen Provokationen zwingt sie zu reagieren. Aber gleichgültig, welche militärische Option die USA auch wählen - vorrangig kämen Angriffe aus der Luft in Frage (gegen schwer identifizierbare Ziele, die sich dazu noch oft im Zentrum der Großstädte befinden) -, eine militärische Intervention im Iran würde zu großen Problemen für die US-Bourgeoisie auch im eigenen Land führen. Ein solches Vorgehen würde die Anti-Kriegs-Haltung in der US-Bevölkerung, die schon jetzt immer offener gegen den Krieg im Irak opponiert, noch verstärken.

Schließlich wären die USA auch mit einer Radikalisierung arabischer Staaten und aller islamistischen Gruppen konfrontiert, ganz zu schweigen von den Anschlägen, die vom Iran als Vergeltungsmaßnahmen in diesem Fall angedroht wurden.

Wie immer man es auch dreht und wendet, es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die "Irankrise" zu einer Zuspitzung der kriegerischen Spannungen zwischen den Ländern im Nahen Osten und den USA führen wird. Aber auch die Spannungen zwischen der US-Weltmacht und ihren Rivalen in den entwickelten Ländern werden sich zuspitzen, da Letztere nur darauf warten, dass Washington sich weitere "Fehltritte" leistet, um Punkte zu machen und die USA als Kriegstreiber darzustellen. Die geringste Sorge der großen und kleinen imperialistischen Gangster ist dabei das Schicksal der Bevölkerung, die in einem eventuellen Irankrieg, genauso wie in allen anderen Kriegen zuvor, auf die Schlachtbank geführt werden würde.

Mulan (25. 4. 06)

Die Bewegung der Studenten in Frankreich:

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Eine reiche Erfahrung für zukünftige Kämpfe

Der Bewegung der Studenten in Frankreich ist es gelungen, die Bourgeoisie zurückzudrängen, welche gezwungen wurde, ihren CPE am 10. April zurückzunehmen. Die Regierung wurde jedoch zum Rückzug gezwungen, auch und vor allem weil die Arbeiter sich aus Solidarität mit den Kindern der Arbeiterklasse mobilisiert haben, wie dies bei den Demonstrationen am 18. und 28. März und am 4. April deutlich wurde.

Trotz der 'Sabotagestrategie', die von der Regierung beschlossen wurde, um ihren 'Vertrag zur Verarschung' (CPE = Contrat pour se faire enturber - Wortspiel 'Vertrag zur Verarschung') gewaltsam durchzusetzen, haben sich die Studenten durch das System der kapitalistischen Einschüchterung mit seinen Polizisten, Lakaien und Spitzeln nicht beeindrucken lassen. Aufgrund ihrer Entschlossenheit, ihres exemplarischen Mutes, ihres tiefen Verständnisses der Solidarität, ihres Vertrauens in die Arbeiterklasse haben es die kämpfenden Studenten (und die reifsten und bewusstesten Gymnasiasten) geschafft, die Arbeiter zu überzeugen, mit ihnen in den Kampf zu treten. Zahlreiche Beschäftigte aus allen Branchen, sowohl aus dem öffentlichen Dienst als auch aus der Privatwirtschaft, waren bei den Demonstrationen vertreten. Diese Solidaritätsbewegung der gesamten Arbeiterklasse hat in den Reihen der Weltbourgeoisie eine große Besorgnis hervorgerufen. Deshalb haben die Medien systematisch die Wirklichkeit entstellt, und auch deshalb wurde die deutsche Bourgeoisie gezwungen, eine ähnliche Maßnahme wie den französischen CPE in Deutschland abzuschwächen. Deshalb ist die internationale Ausstrahlung des Kampfes der Studenten in Frankreich einer der größten Siege der Bewegung.

Die miserabelsten Schreiberlinge des Kapitals (wie die der Zeitung Libération, die in ihrer 'rosaroten' Tageszeitung ankündigten, dass der "große Abend" der Kinder der "Mittelschichten" zu einer "frühen Morgenstunde" werden würde) können immer noch ihre frommen Wünsche zum Ausdruck bringen oder die Marseillaise singen: Der Kampf gegen den CPE war kein aufrührerisches Bündnis von Halsabschneidern, die von Jakobinern der heutigen Zeit angeführt wurde, noch war sie eine 'orangefarbene Revolution', die von den Fans der 'Yeah-yeah-Lieder' orchestriert wurde.

Auch wenn die große Mehrheit der kämpfenden Studenten aufgrund ihrer mangelnden Erfahrung, ihrer Naivität und ihrer mangelnden Kenntnis der Geschichte der Arbeiterbewegung noch kein klares Bewusstsein hat über die historische Bedeutung ihres Kampfes, hat sie eine Tür zur Zukunft aufgestoßen. Diese Studenten haben die Flamme der älteren Generation weitergetragen: der älteren Generation, die den Ersten Weltkrieg durch die Entfaltung der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse auf den Schlachtfeldern beendet hat, die in der Illegalität die Prinzipien des proletarischen Internationalismus während des zweiten Holocausts weiterhin verteidigt hat, die ab dem Mai 1968 den langen Zeitraum der stalinistischen Konterrevolution (siehe den Artikel zu Mai 1968 auf unserer Webseite) zu Ende gebracht hat und der es somit gelang, die Auslösung eines dritten Weltkrieges zu verhindern.

Die Gewerkschaften eilen der Regierung zu Hilfe - und umgekehrt

Die Bourgeoisie wurde auch zum Rückzug gezwungen, weil sie das Ansehen der Gewerkschaften retten wollte. Die herrschende Klasse (die sich auf die 'Solidarität' der ganzen Kapitalistenklasse der größten Staaten Europas und Amerikas stützen konnte) hat schließlich begriffen, dass es besser wäre, vorübergehend "das Gesicht zu verlieren", als ihren gewerkschaftlichen Kontrollapparat zu entblößen. Um das Schlimmste zu verhindern, hat das Oberhaupt der Unternehmer, Laurence Parisot,  (die in dieser Angelegenheit ihre "Vermittler- und Partnerrolle" des sozialen Friedens gespielt hat) mit dem Gewerkschaftsbündnis "verhandelt". Wenn die Regierung schließlich dem Druck der Straße nachgab, tat sie dies, weil in den meisten Betrieben immer mehr kritische Fragen gegenüber der Haltung der Gewerkschaften aufkamen. Diese haben nämlich nichts unternommen, um die Solidaritätsbekundungen der Beschäftigten mit den Studenten zu begünstigen - im Gegenteil. In den meisten Betrieben des öffentlichen Dienstes und der Privatwirtschaft haben die Gewerkschaften kein Flugblatt mit einem Aufruf zur Beteiligung am 18. März herausgebracht. Die Streikankündigungen für die "Aktions- und Mobilisierungstage" des 28. März und 4. Aprils wurden von den Gewerkschaftsführungen erst im letzten Moment, dazu noch in der größten Verwirrung bekannt gemacht. Darüber hinaus haben die Gewerkschaften alles unternommen, damit keine souveränen Vollversammlungen der Beschäftigten stattfinden; dies begründeten sie damit, dass die Beschäftigten nicht "die gleichen Kampfmittel haben wie die Studenten" (so der CGT-Führer Bernard Thibault in einer Fernsehsendung von RTL am 26. März). Und was ihre Drohung der Auslösung eines "jeweils verlängerbaren Generalstreiks" am Ende der Bewegung angeht, erscheint dies in den Augen vieler Beschäftigten wie ein Bluff im Kasperletheater. Der einzige Bereich, in dem die Gewerkschaften viel Werbung für einen Streikaufruf zum 28. März und 4. April gemacht haben, war der Transportbereich. Aber diese Mobilisierungsaufrufe dienten nur dazu, die Solidaritätsbewegung der ganzen Klasse gegen den CPE zu sabotieren. Tatsächlich ist die totale Blockierung des Transportwesens ein klassisches Manöver der Gewerkschaften (insbesondere der CGT), um den Streik unbeliebt zu machen und die Beschäftigten gegeneinander auszuspielen. Die Tatsache, dass die gewerkschaftlichen Aufrufe zur Blockade des Transportwesens wenig befolgt wurden, ermöglichte die Anreise vieler Beschäftigter zu den Demonstrationen. Dies spiegelt auch einen Verlust der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften in den Betrieben wider. Das wurde zum Beispiel anhand der Tatsache deutlich, dass viele Beschäftigte sich auf den Bürgersteigen versammelten und den Demonstrationen zuschauten und sich so fernab wie möglich von den gewerkschaftlichen Fahnenträgern aufhielten. Weil die Beschäftigten der Privatwirtschaft (wie die von SNECMA und Citroën in der Pariser Region) anfingen, sich aus Solidarität mit den Studenten zu mobilisieren, zwangen sie die Gewerkschaften, der Bewegung 'nachzulaufen', damit sie nicht die Kontrolle über die Arbeiter verlieren. Deshalb hat das Unternehmerlager Druck auf die Regierung ausgeübt, um den Rückzug anzutreten, bevor es zu größeren spontanen Streiks in wichtigen Betrieben der Privatwirtschaft käme. Um zu verhindern, dass die Gewerkschaften ihr Gesicht völlig verlieren und von einer unkontrollierbaren Bewegung der Beschäftigten überrannt werden, hatte die französische Bourgeoisie keine andere Wahl, als den Gewerkschaften zu Hilfe zu eilen, indem der CPE nach der Demonstration vom 4. April so schnell wie möglich zurückgezogen wurde. Die klügsten Journalisten hatten richtigerweise festgestellt, als sie am 7. März im Fernsehen sagten: "Es gibt überall die Gefahr von Explosionen" (Nicolas Domenach). In dieser Hinsicht hat Premierminister Villepin teilweise die Wahrheit gesagt, als er vor den Schauspielern der Nationalversammlungen am Tag nach diesem 'Aktionstag' erklärte, dass sein Hauptanliegen nicht der Schutz seines persönlichen Stolzes wäre, sondern die Verteidigung des "allgemeinen Interesses" (d.h. des nationalen Kapitals).

In Anbetracht dieser Lage haben die am wenigsten dummen Teile der herrschenden Klasse Alarm geschlagen, als sie die Entscheidung trafen, einen "schnellen Ausweg" aus der Krise nach dem Aktionstag des 4. April zu suchen, an dem Millionen von Demonstranten (unter ihnen viele Beschäftigte der Privatwirtschaft) auf die Straße gegangen waren. Trotz der eklatanten 'Solidaritätsbekundung' des kapitalistischen Staates mit den Gewerkschaften haben die Gewerkschaften viele Federn gelassen, bei ihrem Bemühen die Arbeiterklasse mit ihren 'radikalen Sprüchen' hinters Licht zu führen. Um die ganze soziale Front abzudecken und in Schach zu halten, wurde erneut die altbekannte Karte der 'Spaltung der Gewerkschaften' zwischen den alten Gewerkschaftsverbänden (CGT, CFDT, FO, CGC, UNEF) und den 'radikalen' Gewerkschaften (SUD und CNT) am Ende der Bewegung gespielt. Und bei der 'nationalen Koordination konnte man am Ende der Bewegung klar erkennen, dass ihr Hauptziel darin bestand, die Studenten zu erschöpfen, sie zu demoralisieren und vor den Fernsehkameras lächerlich zu machen (wie z.B. in Lyon am Wochenende des 8./9. Aprils, wo die studentischen Delegierten, die aus ganz Frankreich zusammengekommen waren, die ganze Zeit damit verbrachten darüber abzustimmen... dass sie abzustimmen haben!).

Das Mitwirken der Linksextremisten bei der Sabotage

Gegenüber dem Verlust der Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften traten öffentlich die wechselnden Schauspieler des Spektakels der französischen Komödie auf die Bühne: Nach den großen Gewerkschaftszentralen reihten sich die Freunde und Freundinnen von Arlette Laguiller (Trotzkisten der Organisation Lutte Ouvrière) in den Tanz bei der Demonstration vom 11. April ein, um sich wichtig zu machen (während die Mitglieder von Lutte Ouvrière (LO) auf der Demonstration am 18. März auf den Bürgersteigen Luftballons aufbliesen und emsig jedem Sticker mit der Aufschrift "LO" anhefteten, der sich ihnen näherte!). Während die Regierung und die "Sozialpartner" beschlossen hatten, in Verhandlungen über einen "ehrenhaften" Ausweg aus der Krise zu treten, und der CPE am 10. April zurückgezogen wurde, spielte sich LO auf der Begräbnisdemonstration vom 11. April in Paris groß auf. An jenem Tag hatte LO möglichst viele draufgängerische Studenten und Gymnasiasten mobilisiert, um die Bewegung zu '"radikalisieren" und sie für LO zu vereinnahmen (sie marschierten neben den blau-weißen Fahnen von SUD und den schwarz-roten Fahnen der CNT). Alle linksradikalen oder anarchistisch orientierten Grüppchen stimmten auf bewegende einstimmige Weise an: "Rücknahme des CPE, des CNE und des 'Gesetzes über Chancengleichheit'" oder "Villepin, trete zurück!". Die erfahrensten Arbeiter kennen sehr wohl das Ziel dieses Getöses. Es geht darum, die nach einer politischen Perspektive suchenden Studenten mit einem vorgetäuschten Radikalismus hinters Licht zu führen, denn hinter ihrer Politik steckt in Wirklichkeit eine kapitalistische Sicht. Diese falschen Revolutionäre (tatsächlich sind sie geschickte Saboteure des Klassenkampfes) spielen auch die Karte des 'Basissyndikalismus' und der 'Radikalisierung der Gewerkschaften', um die Sabotierung der Bewegung abzuschließen. Die Gruppen der Linksextremisten und die erregtesten Anarchisten haben in Rennes, Nantes, Aix-en-provence oder auch in Toulouse versucht, die unnachgiebigsten Studenten zu gewaltsamen Zusammenstößen mit ihren Kommilitonen zu drängen, die anfingen, für die Beendigung der Blockierung der Universitäten zu stimmen. Der 'Basissyndikalismus' und die "Radikalisierung" der Gewerkschaften ist nur ein geschickt eingefädelter Schachzug bestimmter Teile des Staates, der dazu dient, die kämpferischsten Studenten und Beschäftigten für die reformistische Ideologie zu gewinnen. Mittlerweile versuchen die professionellen Saboteure des Klassenkampfes der Gruppen Lutte Ouvrière, SUD (die 1988 aus einer Abspaltung von der Gewerkschaft CFDT im Postbereich entstand) und vor allem LCR (die immer die Universitäten als ihr eigenes 'Jagdrevier' betrachtet und die Gewerkschaften unaufhörlich gedeckt hat, indem sie die Studenten dazu aufrief, "Druck auf die Gewerkschaftsführung auszuüben", damit diese wiederum die Arbeiter zur Aufnahme des Kampfes bewegen sollte) jegliches Nachdenken abzuwürgen. All die 'radikalen' Fraktionen des Kontrollapparates über die Arbeiterklasse versuchen unaufhörlich die Bewegung der Studenten zu entstellen oder sie zu vereinnahmen, indem sie die Bewegung auf den Wahlkampf hin orientieren (all dieses Gesindel stellt Kandidaten für die Wahlen auf), d.h. sie legen sich für die Verteidigung der 'Legalität' und der bürgerlichen 'Demokratie' ins Zeug. Gerade weil der CPE ein Symbol des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsform ist, versucht die ganze 'radikale' Linke (ob mit den Farben rosa, rot oder grün) sich nun hinter dem großen Chamäleon ATTAC zu verstecken, um uns glauben zu machen, dass das 'Beste auf der Welt' innerhalb einer Welt errichtet werden könnte, die auf den wahnwitzigen Gesetzen des Kapitalismus fußt, d.h. der Ausbeutung und der Jagd nach Profiten. Sobald die Beschäftigten anfingen, ihre Solidarität mit den Studenten zu zeigen, fingen die Gewerkschaften, die linken Parteien und die linksextremistischen Gruppen an, das Terrain zu besetzen, um zu versuchen, die Studenten für die klassenübergreifende Ideologie des Kleinbürgertums zu gewinnen. Der große Supermarkt des Reformismus öffnete in den Diskussionsforen seine Tore: Jeder konnte das Gedankengut des Ramschwarenhändlers José Bové, Chavez (Oberst, Präsident Venezuelas und Schwarm der LCR) oder von Bernard Kouchner und anderen "Ärzten ohne Grenzen" kosten (die regelmäßig in den Medien auftreten und unter den Arbeitern Schuldgefühle erwecken wollen, indem sie Glauben machen wollen, dass ihre "humanitären" Spendengelder die Hungersnöte oder die Epidemien in Afrika überwinden könnten).

Und die Beschäftigten, die gegen den CPE auf den Plan getreten waren, sollen jetzt den Gewerkschaften vertrauen, dass sie die einzigen sind, die über das Streikmonopol verfügten (die vor allem Experten für Geheimverhandlungen mit der Regierung, den Unternehmerverbänden und dem Innenminister sind).

Welche Perspektiven nach der Rücknahme des CPE?

In den Vollversammlungen, die nach den Ferien stattgefunden haben, haben die Studenten eine große Reife bewiesen, indem sie mehrheitlich für die Beendigung der Blockierung der Unis und die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs stimmten. Gleichzeitig haben sie ihre Absicht bekundet, weiter über die gewaltige Solidaritätsbewegung nachzudenken, die sie zustande gebracht haben. Es stimmt, dass viele von denjenigen, die die Blockierung der Universitäten fortsetzen wollten, sich nun frustriert fühlen, denn letztendlich ist die Regierung nur einen kleinen Schritt zurückgewichen, indem sie einen Artikel ihres Gesetzes über die "Chancengleichheit" verändert hat. Aber der Hauptgewinn des Kampfes liegt auf politischer Ebene, denn die Studenten haben es geschafft, die Arbeiter für eine große Bewegung der Solidarität unter allen Generationen zu gewinnen. Viele Studenten, die für die Fortsetzung der Blockierung eintraten, denken gewissermaßen nostalgisch zurück an diese Mobilisierung, als "alle zusammenkämpften, als man vereint und solidarisch handelte". Aber die Einheit und die Solidarität im Kampf sind auch möglich durch das gemeinsame Nachdenken, denn in allen Universitäten und Betrieben sind Verbindungen aufgebaut worden zwischen Studenten und Beschäftigten. Die Studenten und die bewusstesten Beschäftigten wissen genau, "wenn wir allein bleiben, jeder für sich in seiner Ecke, machen sie uns morgen alle einzeln platt", egal welche Partei zukünftig an der Regierung sein wird (war es nicht der sozialistische Minister Allègre, der betonte, es sei notwendig, das "Mammut des Bildungswesens abzuspecken"?). Deshalb müssen alle Studenten und mit ihnen die ganze Arbeiterklasse die Notwendigkeit begreifen, eine klare Bilanz aus dem Kampf zu ziehen. Bei dieser Bilanz stehenden folgende Fragen im Mittelpunkt: Was war die Stärke dieser Bewegung? In welche Fallen durfte man nicht hineinlaufen? Warum haben die Gewerkschaften sich so gesträubt, die Bewegung zu unterstützen, und wie ist es ihnen gelungen, sie in den Griff zu kriegen? Welche Rolle haben die "Koordinationen" gespielt? Um dieses Nachdenken kollektiv zu leisten und die zukünftigen Kämpfe vorzubereiten, müssen die Studenten und Beschäftigten zusammenkommen, um weiterhin gemeinsam nachzudenken. Sie müssen sich weigern, von denen vereinnahmt zu werden, die nur nach der Macht streben und 2007 in den Matignon oder den Elysée-Palast einziehen wollen (oder ganz einfach bei den Wahlen 2007 gute Wahlergebnisse erzielen wollen). Sie dürfen nicht vergessen, dass diejenigen, die sich heute als ihre besten Verteidiger brüsten, in Wirklichkeit zunächst versucht haben, die Solidarität der Arbeiterklasse zu sabotieren, indem sie hinter dem Rücken der Bewegung die Solidarität durch die Sackgasse der gewaltsamen Auseinandersetzungen sabotieren wollten (war es nicht das Gewerkschaftsbündnis gewesen, das mehrfach die Studenten zur Sorbonne schicken wollte und es den Banden von manipulierten "Krawallmachern" ermöglichte, die Studenten anzugreifen?).

Die gegen den CPE gerichtete Bewegung zeigt die Notwendigkeit auf, dass die jungen Generationen der Arbeiterklasse sich gegenüber dem Zynismus der Bourgeoisie und dem Gesetz über die "Chancengleichheit" politisieren müssen. Man braucht nicht "Das Kapital" von Karl Marx zu studieren, um zu begreifen, dass die Gleichheit im Kapitalismus nichts als eine Täuschung ist. Man muss ein Vollidiot sein, auch nur einen Augenblick zu glauben, dass die arbeitslosen Arbeiterkinder in den Vororten eine akademische Ausbildung in den Eliteschulen ENA oder Sciences Po erhalten könnten. Und was die Chancengleichheit angeht, weiß die Arbeiterklasse ganz genau, dass diese nur im Lotto oder in anderen Glücksspielen existiert. Deshalb ist dieses niederträchtige Gesetz nur ein Mittel der Verdummung in den Händen der Herrschenden. Die studentische Jugend konnte dies nur als eine reine Provokation der Regierung empfinden. Die Dynamik der Politisierung der neuen Generationen von Proletariern kann sich nur voll entfalten, wenn sie eine globale, historische und internationale Sicht der Angriffe der Bourgeoisie gewinnt. Und um den Kapitalismus zu überwinden und eine neue Gesellschaft aufzubauen, müssen die neuen Generationen der Arbeiterklasse notwendigerweise all die Fallen umgehen, die die Wachhunde des Kapitals in den Universitäten wie in den Betrieben errichten, um ihre Bewusstwerdung über den Bankrott des Systems zu vereiteln. Die Stunde ist gekommen, damit die "Urne sinnloser Aktionen" der Gewerkschaften, Anarchisten und der Linksextremisten geschlossen und die "Urne der Ideen" der Studenten wieder geöffnet wird, so dass die ganze Arbeiterklasse überall nachdenken und gemeinsam über die Zukunft diskutieren kann, die die neue Generation im Kapitalismus erwartet. Nur dieses Nachdenken wird es den neuen Generationen ermöglichen, morgen wieder zum Kampf zurückzufinden, der noch stärker und vereinter sein muss in Anbetracht der unaufhörlichen Angriffe der Bourgeoisie.

Internationale Kommunistische Strömung (23. 4. 06)

Die Wiedergeburt der Arbeitersolidarität

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Eine neue Periode von Klassenkonfrontationen

Die Mobilisierung der jungen Generation künftiger Proletarier Frankreichs in den Universitäten, Oberschulen und auf den Demonstrationen wie auch die Solidarisierung zwischen den Generationen in diesem Kampf bestätigen die Eröffnung einer neuen Periode von Klassenkonfrontationen. Die faktische Kontrolle des Kampfes durch die Vollversammlungen (Massentreffen), ihre Kampfbereitschaft, aber auch die Nachdenklichkeit und Reife, die in ihnen zum Ausdruck kamen - insbesondere ihre Fähigkeit, den meisten Fallen auszuweichen, die ihnen die herrschende Klasse stellte -, sind Indikatoren dafür, dass eine tiefgehende Bewegung im Klassenkampf im Gange ist. Ihre Dynamik wird Auswirkungen auf die kommenden Arbeiterkämpfe haben. Der Kampf gegen den CPE in Frankreich ist weder ein isoliertes noch ein rein "französisches" Phänomen: Er ist der Ausdruck einer internationalen Häufung und Reifung des Klassenkampfes.

Ein zentrales Thema all dieser Bewegungen war das alte proletarische Prinzip der Arbeitersolidarität. In Frankreich wurde dies nicht nur in der beispielhaften Art deutlich, wie die Studenten verschiedener Universitäten sich untereinander unterstützten, sondern auch durch die aktive Beteiligung einer wachsenden Zahl von Lohnabhängigen an der Bewegung und an der Einheit zwischen den verschiedenen Generationen. Auch in Spanien war dies zu sehen, als Arbeiter zur Unterstützung entlassener Arbeiter streikten. Und in Belfast traten Postbeschäftigte gegen den Willen der Gewerkschaften in den Streik; sie marschierten zusammen durch protestantische und katholische Stadtviertel. In New York erklärten die U-Bahn-Beschäftigten, dass sie nicht nur für sich selbst kämpften, sondern auch für die Renten der künftig Eingestellten. In Indien erhielten streikende Honda-Beschäftigte Unterstützung von vielen Arbeitern aus anderen Betrieben, insbesondere nachdem die Polizei prügelnd auf sie losgegangen war.

Das Prinzip der Solidarität - und der wachsende Wille der Arbeiter, dies auch aktiv umzusetzen - ist ein zentrales Merkmal des Klassenwesens der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse kann ihre Interessen nur durch einen kollektiven Kampf verteidigen, indem sie den Kampf so weit wie möglich ausdehnt, alle Spaltungen in ihren Reihen überwindet, die ihr durch den Kapitalismus aufgezwungen wurden - Spaltungen in Nationen, Rassen, Religionen, Berufsgruppen oder Gewerkschaften. Somit beinhaltet die Suche nach Solidarität den Keim einer massiven gesellschaftlichen Bewegung, die die Fähigkeit besitzt, das kapitalistische System lahmzulegen. Die Bewegung in Frankreich vermittelte uns einen Eindruck davon. Wir stehen aber erst am Anfang dieser Bewegung, jedoch weist das gegenwärtige Erstarken des Klassenkampfes den Weg für die Massenstreiks von morgen.

Hinter den Massenstreiks steckt die Perspektive, nicht nur das Kapital zum Stillstand zu bringen, sondern auch die Möglichkeit der Umorganisierung der eigentlichen Grundlagen der Produktion. Damit entsteht die Möglichkeit, eine Gesellschaft aufzubauen, in der gesellschaftliche Solidarität zur Norm wird und kein Prinzip ist, das im Gegensatz zur gegenwärtigen Gesellschaft steht, die sich auf die erbarmungslose Konkurrenz unter den Menschen stützt.

Diese Perspektive verbirgt sich hinter den gegenwärtigen Arbeiterkämpfen. Es handelt sich nicht nur um eine einfache Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern um eine Notwendigkeit, die durch den Bankrott der kapitalistischen Produktionsform zwingend erforderlich wird. Die jüngsten Bewegungen der Klasse wurden durch fortdauernde und sich verschärfende Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiter (Löhne, Arbeitszeiten, Renten, Arbeitsplatzsicherheit usw.) hervorgerufen. Aber diese Angriffe sind nicht solcher Art, dass die Herrschenden und ihr Staat auf diese zugunsten irgendeiner anderen Politik verzichten könnten. Sie sind dazu gezwungen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter anzugreifen, weil sie keine andere Wahl haben. Sie können dem Druck der kapitalistischen Krise und dem tödlichen Überlebenskampf auf dem Weltmarkt nicht anders ausweichen. Gleichgültig, welche Partei an der Macht ist, sie alle müssen sich diesem Diktat beugen.

Und die herrschende Klasse hat auch keine andere Wahl, weil der Zusammenbruch der Wirtschaft sie immer mehr in Militarismus und Krieg treibt. Die immer stärkere Ausdehnung des Krieges auf dem ganzen Erdball - die gegenwärtig die Form des "Krieges gegen den Terror" und die Drohung einer neuen militärischen Front gegen den Iran annimmt - spiegelt den unaufhaltbaren Drang des Kapitalismus zur Zerstörung wider.

Die Ausbeuterklasse und die Klasse der Lohnabhängigen haben nichts gemeinsam. Unsere Ausbeuter haben keine andere Wahl, als uns in die Misere zu stürzen. Wir haben keine andere Wahl, als uns zu wehren. Und durch unseren Widerstand werden wir das Selbstvertrauen und die Stärke entfalten, die erforderlich sind, damit die Abschaffung der Ausbeutung ein für allemal möglich wird. 26.05.06

Internationalistisches Flugblatt zum 1. Mai

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Dieses Flugblatt wurde von Enternasyonalist Kömunist Sol (Internationale Kommunistische Linke), einer neuen proletarischen Gruppe in der Türkei, verfasst. Es wurde in der Türkei, in Großbritannien und Deutschland verteilt. In Großbritannien und Deutschland wurde es von Mitgliedern und Sympathisanten der IKS verteilt.

Trotz einiger zweitrangiger Differenzen zu Formulierungen des Flugblattes unterstützt die IKS dessen internationalistische Sicht. Das Flugblatt prangert zurecht die Art und Weise an, wie der linke Flügel des Kapitals den 1. Mai zu einem inhaltslosen Ritual  gemacht hat, eine Einschätzung, die schon von den Genossen der Kommunistischen Linken Frankreichs nach dem 2. Weltkrieg so getroffen wurde. Aber wir meinen es ist ebenso richtig, die Perspektive zu unterstreichen, dass eine neue Generation der Arbeiterklasse eines Tages die wahre Bedeutung des 1. Mai als Symbol  der internationalen Einheit der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus wieder beanspruchen wird.

Der 1. Mai ist der Tag der internationalen Arbeiterklasse

Zu lange ist der 1. Mai ein für die Arbeiterklasse sinnloses Ritual gewesen. Der 1. Mai war ursprünglich als ein Tag der internationalen Arbeitersolidarität auserkoren worden, aber heute sieht man bei den  Mai-Demonstrationen hauptsächlich linksextreme Gruppen verschiedenster Couleur, die die Arbeiterklasse dazu aufrufen, verschiedene nationalistische Gruppierungen zu unterstützen - ob es sich um die türkische nationalistische Linke handelt, die zu einer "unabhängigen" Türkei aufruft und gegen die Imperialisten zetert, während sie gleichzeitig außer Acht lässt, dass die Türkei selbst Mitglied der Nato ist, ob es sich um jene handelt, die über die staatliche  Barbarei im Südosten des Landes gegenüber den kurdischen Nationalisten empört sind und dem  türkischen Nationalismus ihr eigenes niederträchtiges Spiegelbild entgegenhalten, oder ob es sich gar um den Anti-Amerikanismus der Linken handelt, die lauthals "Yankee go home" skandiert. Und wozu dient das alles? Dann können wir doch gleich unsere eigenen "netten" türkischen Bosse behalten. All dies widert uns an. Es macht uns betrübt, dass es allein einer kleinen Gruppe von Internationalisten überlassen bleibt, die Prinzipien der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse zu verteidigen. 

Wenn wir auf die USA schauen, sehen wir nicht nur Bush, sondern auch die hunderttausend Arbeiter, die am 10. April in Chicago  gegen die rassistischen Einwanderungsgesetze protestierten. Wir sehen nicht nur die imperialistische Kriegsmaschinerie, sondern auch die über 6000 amerikanischen Soldaten, die aus der Armee desertiert sind und die kanadische Grenze überschritten haben, statt für "ihr" Land im Irak zu kämpfen.

Wenn wir auf Großbritannien schauen, sehen wir nicht nur Blair, sondern auch die eine Million Demonstranten, die seinerzeit in den Straßen von London gegen den Irak-Krieg demonstrierten. Wir sehen nicht nur, wie die britische Regierung den USA gehorcht, sondern auch Malcolm Kendall-Smith, den britischen Armeeoffizier, der am 14. April ins Gefängnis gesteckt wurde, weil er sich weigerte, in den Irak zu gehen.

Auch wenn wir auf den Irak schauen, sehen wir nicht nur nationalistischen und islamistischen Widerstand, sondern wir sehen auch Tausende von Arbeitern, die in Kirkuk gegen die hohen Lebenskosten und den Mangel an Strom und Benzin protestierten.

Und wenn wir auf den Iran schauen, sehen wir nicht nur den Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und die Bestrebungen des Staates zum Erwerb von Atomwaffen, sondern wir sehen auch die massive Streikwelle überall im Iran, an der sich Busfahrer, Textilarbeiter, Bergarbeiter und Automobilarbeiter beteiligt haben.

Arbeiter,  schaut auf die jüngsten Streiks in Frankreich: Tausende von Studenten, die  neben streikenden Arbeitern demonstriert haben, um ein Gesetz niederzuringen, das die Entlassung jugendlicher Beschäftigter erleichtern soll!

Schaut auf Großbritannien, wo über eine Million Arbeiter in den größten Streik seit 80 Jahren traten, um ihre  Rentenansprüche zu verteidigen! Schaut auf die Arbeiter im Iran, die mutig gegen den Kapitalismus und trotz der Unterdrückung durch das Regime gegen den Staat kämpfen! Schaut auf die Arbeiterklasse, nicht auf die Nationalisten, egal welcher Couleur!

Die Arbeiter haben kein Vaterland. Für den Internationalismus und den Arbeiterkampf.

Eternasyonalist Komünist Sol [1]

[email protected] [2]

 

Metallarbeiterstreik in Vigo Das französische Beispiel macht Schule

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Entgegen der Praxis der bürgerlichen Medien, die jüngsten Ereignisse an der Klassenfront zu verschweigen, sehen wir es als unsere Aufgabe als revolutionäre Organisation an, unsere Klasse über die sich gegenwärtig häufenden Klassenkämpfe zu informieren und dazu beizutragen, die Lehren aus diesen weiterzureichen.

So haben sich nicht nur Schüler und Studenten in Chile, an verschiedenen Orten in Indien oder auch in Deutschland ein Beispiel an den Studenten in Frankreich genommen, sondern auch Beschäftigte auf mehreren Kontinenten. Wir liefern nachfolgend einige Informationen und Einschätzungen zu einem wichtigen Streik im spanischen Vigo, die wir von unseren Genossen in Spanien erhalten haben.

Massenvollversammlungen auf der Straße

Am 3. Mai traten ca. 23.000 Beschäftigte kleinerer und mittlerer Metallbetriebe in der Region Vigo (1) in den Streik. Ein Großteil der Streikenden waren jüngere Beschäftigte.

Hintergrund des Streiks waren Tarifverhandlungen in der Metallindustrie für kleinere und mittlere Betriebe. An vorderster Stelle der Forderungen der Beschäftigten standen Maßnahmen gegen die Prekarisierung, denn ca. 70% der Beschäftigten sind prekär beschäftigt.

Drei Merkmale ragten von Anfang an bei dieser Bewegung heraus:

- Es kam zu großen Vollversammlungen, die auf der Straße tagten; sie wurden öffentliche Versammlungen (asambleas públicas) genannt, auf denen Menschen, die nicht in dieser Industriebranche arbeiteten, das Wort ergreifen und sich zum Streik äußern konnten. Die Gewerkschaften versuchten, das Zustandekommen dieser Vollversammlungen und die Möglichkeit des Wortergreifens zu verhindern.

- Große Demonstrationen fanden im Stadtzentrum statt, bei denen die Demonstrationsteilnehmer die Passanten aufzuklären versuchten und sie zur Beteiligung an ihrem Kampf aufriefen.

- Massive Delegationen wurden zu den Großbetrieben entsandt (Schiffswerften, Citroen usw.), um sie zur Beteiligung an der Bewegung aufzurufen.

Mehr als 10.000 Arbeiter versammelten sich jeden Tag, um den Kampf zu organisieren, Entscheidungen zu treffen; zu überlegen, an welche Beschäftigte aus welchen Unternehmen man sich wendet, um Solidarität einzufordern; zu hören, was über den Streik im Radio und von anderen gesagt wurde.

Es ist lehrreich zu sehen, dass die Arbeiter in Vigo die gleichen Kampfmethoden verwendet haben wie die Studenten in Frankreich in der jüngsten Bewegung. 

Von Anfang an waren die Beschäftigten in Vigo darauf bestrebt, die Solidarität anderer Beschäftigter zu gewinnen, vor allem der großen Metallbetriebe, die besondere Tarifverträge haben. Es wurden große Delegationen zu den Schiffswerften, zur Automobilfabrik von Citroen und anderen Großbetrieben geschickt. Ab dem 4. Mai traten auf den Schiffswerften die Beschäftigten aus Solidarität einstimmig in den Streik. Der bürgerlichen Ideologie zufolge, die kalt und egoistisch ist, sollte sich jeder nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Deshalb ist aus ihrer Sicht ein Solidaritätsstreik ein Irrsinn; aber vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus ist die Solidarität die beste Antwort auf die heutigen und zukünftigen Bedürfnisse des Kampfes. Denn nur wenn wir uns auf den gemeinsamen Kampf der ganzen Klasse stützen können, können einzelne Teile Druck ausüben und Stärke zeigen. Die Gesellschaft, die das Proletariat in der Zukunft aufbauen soll und diesem ermöglicht, die Menschheit aus der Sackgasse des Kapitalismus zu befreien, wird sich auf die Solidarität in der menschlichen Gemeinschaft stützen.

Am 5. Mai versammelten sich ca. 15.000 Metaller vor dem Citroen-Werk, um zu versuchen, die Beschäftigten des Werkes für die Beteiligung am Streik zu gewinnen. Aber die Belegschaft war gespalten - einige sprachen sich für die Beteiligung am Streik, andere für die Fortführung der Arbeit aus. Schlussendlich nahmen alle die Arbeit auf. Dennoch schien die Saat, die die massiven Delegationen unter den Beschäftigten der Citroen-Werke gepflanzt hatte, langsam aufzugehen, denn am 9. Mai legten bei Citroen und in anderen Werken doch Beschäftigte die Arbeit nieder.

Repression - politische Waffe der Herrschenden

Am 8. Mai zogen ca. 10.000 Arbeiter in einem Demonstrationszug nach der Vollversammlung auf der Straße zum Bahnhof, mit dem Ziel, Reisende über ihren Streik aufzuklären. Die Polizei griff daraufhin die Demonstranten von allen Seiten mit ungeheuerlicher Brutalität an. Die Demonstranten wurden auseinander getrieben; in kleinen Gruppen zersplittert, wurden sie weiter von den Polizeikräften gnadenlos angegriffen.

Es gab zahlreiche Verletzte und 13 Verhaftungen. Diese Repression spricht Bände und zeigt, was die so genannte "Demokratie" und ihre schönen Reden von "Verhandlungen", "Versammlungsfreiheit", "demokratischer Repräsentanz" in Wirklichkeit bedeuten. Wenn die Arbeiter sich zur Wehr setzen, zögert das Kapital keinen Augenblick, seinen Repressionsapparat einzusetzen. Der zynische Meister des "Dialogs", der spanische Premierminister Zapatero, zeigte sein wahres Gesicht.

Aber die Polizeirepression am Bahnhof von Vigo verfolgte in Wirklichkeit ein politisches Ziel: Die Arbeiter sollten in eine sie erschöpfende, gewalttätige Auseinandersetzung mit den Repressionskräften gedrängt werden. Der herrschenden Klasse ist sehr daran gelegen, dass die massiven Aktionen (Massendemonstrationen, Vollversammlungen usw.) durch eine Verzettelung der Kräfte mittels Schlägereien mit den Ordnungskräften untergraben werden. Sie stellt regelrecht Fallen auf, in die die Arbeiter laufen sollen, damit andere Arbeiter die Sympathie für ihre Aktionen verlieren.

"Die Tiefe der Studentenbewegung zeigt sich auch in ihrer Fähigkeit, den Fallen der Bourgeoisie, u.a. durch Manipulation der "Vandalen", zu entgehen. Zu diesen Fallen, welche die Studenten in gewalttätigen Situationen aufreiben sollten, gehören die polizeiliche Besetzung der Sorbonne, die "Einkesselung" am Endpunkt der Demonstration vom 16. März, die polizeilichen Übergriffe vom 18. März, die Gewalt der "Vandalen" gegen die Demonstranten vom 23. März. Wenn auch eine kleine Minderheit der Studentenschaft - vor allem jene, die von anarchistischen Ideologien beeinflusst sind -, sich auf die Konfrontationen mit der Polizei eingelassen haben, so widersetzte sich dennoch die große Mehrheit einer Zersplitterung der Bewegung durch ständige Konfrontation mit den Repressionskräften." (Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühjahr 2006)

Die Arbeiter in Vigo sind massenweise auf die Straße gegangen, um die Freilassung ihrer inhaftierten Kollegen zu fordern. Mehr als 10.000 Arbeiter versammelten sich am 9. Mai, um ihre Freilassung zu erzwingen. Diesem Druck mussten die Behörden nachgeben. Es ist aufschlussreich, dass die nationalen "Nachrichtenmedien" (El Pais, Mundo, TVE usw.) über diesen Kampf ein vollständiges Schweigen bewahrt haben und vor allem kein Wort zu den Vollversammlungen, den Massendemonstrationen, der Solidarität gesagt haben. Und dann erfolgte in den Medien plötzlich der große Aufschrei über die gewalttätigen Zusammenstöße am 8. Mai. Die Botschaft, die wir vernehmen sollten, war klar: "Wenn man die Aufmerksamkeit erregen will, muss man gewalttätige Auseinandersetzungen verursachen". Vor allem die Kapitalisten sind am meisten daran interessiert, dass die Arbeiter sich gegenseitig abschotten, sich einsperren lassen und in einer Spirale sinnloser Auseinandersetzungen ihre Energien verpuffen.    20.05.06

(1)   Vigo, das im westspanischen Galizien liegt, hat ca. 250.00 Einwohner.

Streiks im öffentlichen Dienst Die gewerkschaftliche Strategie: Jeder für sich statt Solidarität

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Die Massenkämpfe der Studenten, Schüler und eines Teils der beschäftigten Arbeiter in Frankreich gegen eine gesetzliche "Lockerung" des Kündigungsschutzes haben die soziale Lage in Deutschland wie auch weltweit zunächst unauffällig und dennoch spürbar geändert.

Nachdem die internationalen Medien sich zunächst wochenlang gegenüber diesen Kämpfen in Schweigen gehüllt hatten, gingen sie Ende März/Anfang April - als das schiere Ausmaß der Auseinandersetzung immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zog - dazu über, das Bild der Bewegung sowie die daraus zu ziehenden Lehren zu verzerren. So wurde eine mittels selbstständiger Vollversammlungen bewusste und durchorganisierte Massenbewegung als eine blinde Gewaltentladung hingestellt oder dem Verdienst der Gewerkschaften zugeschrieben. Was aber dennoch ins Ausland und auch über den Rhein gelang, war die Nachricht, dass es zum ersten Mal seit vielen Jahren einer "Bewegung von unten" gelungen war, einen Angriff gegen die Arbeiterklasse zumindest teilweise abzuwenden.

Diese Nachricht ließ vielerorts aufhorchen. Beispielsweise fanden in fast allen deutschen Großstädten - vornehmlich, aber nicht nur in den Universitäten - Diskussionsveranstaltungen statt, wo Augenzeugen aus Frankreich über die Kämpfe dort berichteten. Dort diskutierte ein vorwiegend - aber nicht ausschließlich - sehr junges Publikum über die Lehren aus dem Nachbarland, welches gegenüber den großen Fragen des Klassenkampfes schon so oft der Welt den Weg gewiesen hat. An der Uni Köln besetzten  französische Fahnen schwenkende Studenten vorübergehend das Rektorat, um gegen die Einführung von Studiengebühren zu protestieren. In mehreren nordrhein-westfälischen Großstädten wandten sich Delegationen der Studenten an die Streikenden des öffentlichen Dienstes, um ein gemeinsames Vorgehen anzuregen. Diese Initiativen verliefen zumeist im Sande, da man in der Regel nur auf eine Handvoll Ver.di-Funktionäre stieß. In Hamburg allerdings gelang es mehreren tausend Studenten im Anschluss an eine große Diskussionsrunde über Frankreich, gemeinsam mit den streikenden Müllwerkern eine spontane Demonstration durch die Innenstadt durchzuführen.

Die Gewerkschaften spalten die Arbeiterklasse

Angesichts dieser ersten Anstrengungen, Lehren aus Frankreich zu ziehen und den überall aufkeimenden Gedanken der Solidarität zu pflegen, ist die herrschende Klasse in Deutschland bemüht, der Arbeiterklasse das Gefühl von Ohnmacht und Zerstrittenheit zu vermitteln. Zu diesem Zweck wird derzeit die Lage im Öffentlichen Dienst und in den Krankenhäusern ausgeschlachtet. Im Öffentlichen Dienst der Länder hat die Gewerkschaft Ver.di soeben einen Tarifabschluss vereinbart, welcher eine Arbeitszeitverlängerung von 38,5 auf durchschnittlich knapp unter 40 Wochenstunden bei empfindlichen Reallohneinbußen festschreibt. Die Ohnmacht, welche die Betroffenen angesichts dieser Niederlage spüren, ist das Ergebnis des juristischen und gewerkschaftlichen Rahmens, welchen der kapitalistische Staat dem Klassenkampf aufzuzwingen versucht. Die Tarifparteien haben durch das Aufspalten der Tarifverhandlung zwischen Bund, Länder und Gemeinden dafür gesorgt, dass die einzelnen Teile der Staatsbeschäftigten getrennt voneinander in den Streik treten müssen. Umgekehrt aber kann ein Abschluss in nur einem dieser Sektoren auf den gesamten öffentlichen Dienst übertragen werden! Außerdem haben zigfache, von den Gewerkschaften emsig mit durchgesetzte Privatisierungen zusätzlich für die Isolation der Streikenden bzw. für das Aufspalten der Beschäftigten der Ämter und bei anderen "Dienstleistern" gesorgt. Der Gipfel dieser Spaltung der Arbeiterklasse wurde dann in den Krankenhäusern erreicht, wo die Streiks der Klinikärzte und des restlichen Personals völlig getrennt voneinander geführt wurden. Dabei kannte das gegenseitige Aufhetzen der Betroffenen durch die Gewerkschaften keine Grenzen. Während z.B. die Länder den Klinikärzten ein "Lohnangebot" von 1,1% unterbreiteten, log das gemeinsame Streikblatt von Ver.di, GEW und der Gewerkschaft der Polizei wie folgt: "Der Marburger Bund fordert für die Ärztinnen und Ärzte 30 Prozent höhere Einkommen. Eine absurde Forderung aus Sicht der Tarifgemeinschaft der Länder, sollte man meinen, wenn man das Verhalten der Arbeitgeber gegenüber allen übrigen Beschäftigten der Kliniken bedenkt. Aber weit gefehlt. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder hat dem Marburger Bund Einkommenssteigerungen von bis zu 45 Prozent in Aussicht gestellt(...) Die provozierende Missachtung gegenüber dem nichtärztlichen Klinikpersonal lässt nur einen Schluss zu: Für die Ärzte hui, für alle anderen Beschäftigten pfui!

Deswegen: Der Streik geht weiter. Wir lassen uns das nicht gefallen."

Tatsächlich bedeutet das in der Wirklichkeit: Der Streik soll sich nicht gegen die Kapitalseite richten, sondern gegen die Klinikärzte!

Aus solchen Gegebenheiten wird dann oft geschlossen, dass im Gegensatz zu Frankreich anderswo, v.a. aber in Deutschland, nicht die Solidarität, sondern das Jeder-für-sich in den Reihen der Arbeiterklasse vorherrscht. So argumentiert auch der in Frankreich lebende deutsche Linksintellektuelle Bernhard Schmid, der in Konkret einen Artikel unter dem Titel veröffentlichte: "Untertanen: Warum (erfolgreiche) Massenproteste à la France in Deutschland undenkbar sind." Schmid - der neulich interessante Informationsveranstaltungen über Frankreich abgehalten hat - scheint weniger gut über die Lage in Deutschland unterrichtet zu sein. Denn er schreibt allen Ernstes, dass zuletzt "sogar in der Spießerhochburg Stuttgart" gestreikt wurde, ohne zu wissen, dass Stuttgart die Hochburg des Arbeiterkampfes in Deutschland in den letzten Jahren war und dass gerade dort, bei Mercedes in Stuttgart (und Bremen), schon vor Frankreich, im Frühsommer 2004, die Frage der Arbeitersolidarität gegenüber Entlassungen aufgeworfen wurde, welche seitdem international im Mittelpunkt der proletarischen Bewegungen steht. Auch weiß er in seinen geschichtlichen Betrachtungen in Konkret nichts darüber zu berichten, dass es die Massenstreiks und Massendemonstrationen in Deutschland waren, welche 1918 die Beendigung des Ersten Weltkriegs erzwangen.

Der Eindruck täuscht, dass die Lage in Deutschland grundsätzlich eine andere sei als in Frankreich. Auch westlich des Rheins spalten und sabotieren die Gewerkschaften die Arbeiterkämpfe. Dort ist die Abwehr gegen die kapitalistischen Angriffe erst dann ein machtvoller Faktor geworden, als die Betroffenen ihre eigenen Forderungen aufgestellt, ihren Kampf eigenständig organisiert und sich selbstständig an andere Teile der Klasse gewandt haben.

Wie sehr auch in Deutschland unter dem Deckel der gewerkschaftlichen Spaltung und der staatlichen Reglementierung der Solidaritätsgedanke in den Reihen der Arbeiter aufzukeimen beginnt, zeigte eine kleine Begebenheit. Als der DGB von Nordrhein-Westfalen aus "Solidarität mit Ver.di" auf der Deutzer Werft in Köln zu einer Demo aufrief, kamen nur wenige. Außer den Gewerkschaftsfunktionären waren überwiegend Arbeiterinnen und Arbeiter anwesend, welche noch besonders stark unter gewerkschaftlichem Einfluss stehen. Als sich aber ein Teilnehmer der Kundgebung so sehr über die Hetzreden gegen die Klinikärzte empörte, dass er die Rede von Ver.di-Chef Bsirske wütend unterbrach und sich für einen gemeinsamen Kampf mit den Klinikärzten einsetzte, fand er auch in diesen Reihen sofort lebhafte Zustimmung.

Wir stehen erst am Anfang einer internationalen Entwicklung des Klassenkampfes. Dennoch brodelt es fortwährend an vielen Ecken und Enden. Zurzeit dauern die Streiks der Klinikärzte an. Anfang Juni werden in Berlin Tausende gegen Sozialabbau auf die Straße gehen. An vielen Hochschulen wächst die Unzufriedenheit. Betriebe wie CNH (ehemals: Ohrenstein & Koppel) in Berlin kämpfen seit 100 Tagen gegen die Betriebsschließung. Bei Volkswagen schwebt das Damoklesschwert der Massenentlassungen und des Lohnraubs über den Häuptern der Beschäftigten. Die Lehren aus Frankreich zu ziehen heißt nicht, die dortige Bewegung zu kopieren, sondern die Klassenprinzipien, die dort Anwendung fanden, auch hier anzuwenden. Das bedeutet vor allem, diese Bewegungen miteinander in direkte Verbindung zu bringen, gemeinsame Forderungen aufzustellen, gemeinsam zu kämpfen. Und dies alles macht erforderlich, dass man das Schicksal in die eigenen Händen nimmt.   26.05.06

Zum Film "Grounding - die letzten Tage der Swissair":

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Die Schweizer Fluggesellschaft als Symbol für den bankrotten Kapitalismus

Knapp fünf Jahre nach der Pleite der Swissair findet in der Schweiz die ideologische Verarbeitung dieses Niedergangs statt, der Tausenden von Angestellten den Arbeitsplatz kostete (1). Am 2. Oktober 2001, ein paar Wochen nach den Anschlägen des 11. September, blieben die Swissair-Flieger am Boden, weil die Fluggesellschaft zahlungsunfähig war und in den verschiedenen Flughäfen nicht einmal mehr den Treibstoff bezahlen konnte. Dieses "Grounding" ist nun seit Anfang des laufenden Jahres Titel und Gegenstand eines Kino-Renners in der Schweiz. Im gleichen Zeitraum, Ende März 2006, erhob die Staatsanwaltschaft Zürich Anklage gegen 16 Führungskräfte der Swissair in ihrer Schlussphase und drei weitere Personen, die damals beratende oder sonst massgebliche Funktionen hatten. Die Staatsanwaltschaft inszenierte die Anklageerhebung medienwirksam mit einer Pressekonferenz. Schnell hiess es darauf in den Medien, das zuständige Bezirksgericht Bülach werde mit einem solchen Fall, dessen Beweismaterial 4'150 Aktenordner umfasst, überfordert sein. Das Gericht liess diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen: Mitte Mai schickte es denn Fall an die Staatsanwaltschaft zurück - Anklage ungenügend. Fortsetzung folgt.

Der Film und die Anklageschrift drehen sich um die gleichen Ereignisse und dieselben Personen. Sie widersprechen sich in den wesentlichen Zügen der Geschichtsschreibung nicht, und sie haben auch ein gemeinsames Ziel, nämlich die Schuldigen für das Debakel zu finden. Trotzdem kommen sie zu einem anderen Schluss. Dies liegt aber in der Natur der Sache, denn die Staatsanwaltschaft sucht die Schuldigen nach den Kriterien des Strafgesetzbuches, der Spielfilm aber hat den Massstab der herrschenden Moral. Strafgesetzbuch und herrschende Moral sind zwar verwandt, aber nicht deckungsgleich. Die Staatsanwaltschaft klagt konkret Manager wie Mario Corti, Philippe Bruggisser, Lukas Mühlemann und Jacqualyn Fouse an, denen sie aber nicht vorwirft, den Untergang der Swissair verursacht zu haben: "Es sind Menschen, die den Untergang der Swissair verhindern wollten, dies aber leider mit Methoden versucht haben, die aus unserer Sicht unlauter sind." (Staatsanwalt Weber) Der Film "Grounding" umgekehrt stellt diejenigen an den Pranger, die aus Profitgier den Geldhahn zudrehten: die Manager der Bank UBS, z.B. Marcel Ospel, und ihre Rechtsanwälte, die von der Staatsanwaltschaft nicht behelligt werden - während umgekehrt die Bank Credit Suisse, an deren Spitze damals Lukas Mühlemann stand, der letzte CEO "Super-Mario" Corti und die Finanzchefin Jacqualyn Fouse im Drehbuch des Films die tragischen Helden sind. Dass eine Bank den Geldhahn zudrehte, d.h. im konkreten Fall nicht bereit war, weiter Geld in ein Fass ohne Boden zu pumpen, war natürlich nicht strafbar, aber eben aus der Sicht des Spielfilms moralisch verwerflich, insbesondere weil damit die Swissair, der "Stolz der Nation", nicht mehr gerettet werden konnte.

Die beiden "Verarbeitungen" haben insbesondere zwei gemeinsame Wesenszüge: die nationale Perspektive und die Suche nach Sündenböcken. Beides darf uns natürlich bei der Bourgeoisie nicht verwundern, und doch lohnt es sich, diese beiden Aspekte des gegenwärtigen Diskurses gesondert zu beleuchten.

Nationalistische Kampagne gegen Klassensolidarität

Was den Nationalismus betrifft, so war dieser rund um die nationale Fluggesellschaft ständiger Begleitlärm. Bei der versuchten Rettung der Swissair ging es den Herrschenden nie wirklich um die Erhaltung von Arbeitsplätzen, wie sie heuchlerisch vorgaben, sondern nur um diejenige der nationalen Airline. Manager und Gewerkschaften waren sich einig, dass zu diesem Zweck unrentable Teile der Swissair geschlossen und Leute entlassen werden müssen. Sie wollten verhindern, dass sich die Arbeiter grundsätzliche Fragen über die Zukunft dieses bankrotten Systems stellen. Die Pleite der Airline sollte als Einzelfall und nationale Tragödie dargestellt werden. Ein wichtiger Teil der ideologischen Kampagne zielte darauf ab, dass sich die Arbeiter mit dem nationalen Symbol "Swissair" identifizieren statt mit ihren Klassenbrüdern und -schwestern in anderen Branchen, die vor ähnlichen Perspektiven stehen. Im Film "Grounding - die letzten Tage der Swissair" werden die Empörung und die Not der schliesslich nach der Pleite entlassenen Angestellten auf die Enttäuschung über die verloren gegangene "Schweizer Fluggesellschaft Swissair" reduziert.

Dabei war die Swissair überhaupt kein Einzelfall. Die belgische Sabena ereilte das gleiche Schicksal, und manch andere Fluggesellschaft kämpft auch ums Überleben. Und gerade diejenigen, die noch gewinnbringend fliegen, stellen ebenfalls laufend Angestellte auf die Strasse. 

Auch im Luftverkehr produziert der Kapitalismus mehr, als diejenigen, welche die Dienstleistungen in Anspruch nehmen wollen, bezahlen können. Die Überproduktion -  gemessen an der zahlungsfähigen Nachfrage, nicht an den tatsächlichen Bedürfnissen - ist im dekadenten Kapitalismus eine ständige Tendenz. Die Überkapazitäten bei den Airlines führen im Konkurrenzkampf notwendigerweise zur Verdrängung der Kleinen. Gerade beim Flugverkehr ist der inländische Markt naturgemäss zu klein; dies gilt erst recht bei so kleinen Staaten wie Belgien oder der Schweiz.

Es ist wahrscheinlich, dass die Swissair mehr Überlebenschancen gehabt hätte, wenn die Volksabstimmung im Dezember 1992 über einen Beitritt zum EWR (Europäischen Wirtschafsraum) nicht mit einem Nein ausgegangen wäre. Die massgebenden Teile der Bourgeoisie wollten diesen Beitritt, aber die rechtspopulistische SVP von Christoph Blocher lancierte eine aus der Sicht der Herrschenden kurzsichtige, isolationistische Nein-Kampagne, die für den Abstimmungsausgang entscheidend gewesen sein dürfte. Mittlerweile sitzt Blocher im Bundesrat; mit dieser Integration in die Regierungsverantwortung wurden dem Rechtspopulismus seiner Partei etwas die Flügel gestutzt. Aber Tatsache bleibt, dass die Swissair wegen des EWR-Neins vor 13 Jahren auf dem europäischen Markt entscheidende Nachteile hatte; der Beitritt zum EWR hätte ihr den im Vergleich zu den europäischen Airlines gleichberechtigten Zugang zu den Flughäfen der EU gesichert. Das EWR-Nein bedeutete eine entscheidende Schwächung für die Konkurrenzfähigkeit des Schweizer Kapitals in verschiedenen Sektoren, gerade im Luftverkehr.

Wir dürfen uns aber keine Illusionen machen: Selbst wenn die Swissair als nationale Fluggesellschaft in den Händen der Schweizer Bourgeoisie überlebt hätte, so wäre dies auf Kosten von zahlreichen Entlassungen geschehen. Dies sieht man gerade in derjenigen Branche, die noch mehr als die Swissair ein Aushängeschild für die Schweiz und ihre angebliche Zuverlässigkeit darstellt - im Finanzsektor: Die grossen Banken und Versicherungen - UBS, CS, Zürich, Winterthur etc. - bauen seit Jahren beständig Arbeitsplätze ab. Tausende sind schon verloren gegangen. Und weitere werden folgen. Solange der Kapitalismus mit seiner Profitlogik weiter besteht, bleiben Arbeitslosigkeit und zunehmende Verelendung ständige Bedrohung und Realität für die Arbeiter.

Anders sieht es für die herrschende Klasse aus. Sie verlor mit der Swissair mehr als nur eine Illusion. Die Fluggesellschaften gehören zu den strategisch wichtigen Sektoren, die eigentlich nicht aus der Hand der nationalen Bourgeoisie fallen dürfen. Darauf haben wir bereits in einem Artikel in Weltrevolution Nr. 109 hingewiesen: "Der Luftverkehr ist ein strategisch entscheidender Sektor für jeden kapitalistischen Staat, nicht nur auf rein ökonomischem Gebiet, sondern auch auf militärischer Ebene. (…) Jeder Staat, falls er die Mittel hat, führt eine Fluggesellschaft unter eigener Flagge, die quasi ein Monopol für die nationalen Strecken hat. Alle Fluggesellschaften von Bedeutung stehen unter der Kontrolle eines Staates. (…) Hinter dem Handelskrieg, der im Luftverkehr geführt wird, gleich wie in anderen Gebieten, stehen sich nicht nur Firmen gegenüber, sondern die Staaten." (1) Damals, im Winter 2001/02, gab es die Swissair zwar schon nicht mehr, aber der Schweizer Staat beteiligte sich massgebend am Aufbau einer neuen nationalen Fluggesellschaft: der Swiss. Drei Jahre später, im März 2005, war es jedoch auch mit diesem Traum fertig: Die Lufthansa übernahm die Swiss. Was die Schweizer Bourgeoisie während mehr als 10 Jahren zu verhindern versuchte, war nun eingetreten - der definitive Verlust der nationalen Fluggesellschaft an einen grossen Nachbarn.

Einzelfall oder Spitze des Eisbergs?

Damit drängt sich für die Herrschenden das zweite Thema auf - die Suche nach den Sündenböcken. Für die Bourgeoisie ist die Katastrophe zu gross, um einfach wieder zur Tagesordnung überzugehen. Köpfe müssen rollen. Dies ist ein Ziel der Anklageerhebung an die Strafjustiz; anschliessend wird es voraussichtlich auch noch zivilrechtliche Verantwortlichkeitsklagen geben.

Die Bourgeoisie will die Verantwortung für das Debakel personifizieren. Nur so kann sie davon ablenken, dass das ganze kapitalistische System in einer Krise steckt. Verantwortlich für diese oder auch andere Pleiten sind letztlich nicht mehr oder weniger kluge Managerentscheide, sondern der Bankrott dieses Wirtschaftssystems überhaupt. Wenn die Produktion von den Profiten abhängt, und nicht von den tatsächlichen menschlichen Bedürfnissen, häuft sich zwangsläufig auf der einen Seite der Reichtum immer mehr an, während sich das Elend auf der anderen Seite immer mehr ausbreitet. Die Bedürfnisse der nicht zahlungskräftigen Massen bleiben unbefriedigt, während umgekehrt die im Überfluss produzierten Waren nicht verkauft werden können. Es braucht eine Revolution und die Errichtung einer Produktionsweise, in der nicht mehr für den Markt und den Geldprofit produziert wird, sondern nach den Bedürfnissen der Menschen verteilt, was sie zusammen produzieren.

Die Suche nach den Sündenböcken dient dem Ziel, solche Schlussfolgerungen zu verhindern. Die Justiz, die Filmindustrie und die Medien geben sich alle Mühe, die Schuld für die Swissair-Pleite bestimmten Personen in die Schuhe zu schieben: Christoph Blocher, wegen seiner Anti-EWR-Politik; Philippe Bruggisser wegen seiner aggressiven Einkaufsstrategie als Swissair-Konzernchef; Marcel Ospel wegen seiner egoistischen Jagd nach Profiten; dem Zürcher Freisinn wegen seiner Inkompetenz und Klüngelwirtschaft; Osama Bin Laden wegen der Anschläge vom 11. September ...

Solche Kampagnen haben insofern immer wieder Erfolg, als die Medien damit nicht bloss niedrige

Rachegelüste mobilisieren, sondern eine proletarische Empörung ansprechen, nämlich die Empörung gegen die Machenschaften und den Lebensstil dieser Verwaltungsräte, CEOs, Rechtsanwälte, Manager, Terroristen etc. - kurz: all dieser Angehörigen der Kapitalistenklasse. Diese Empörung ist völlig legitim, ein proletarischer Reflex, der auf einer Ethik der Unterdrückten fusst.

Doch hat es keinen Sinn die Empörung bloss auf einzelne Exponenten des Systems zu richten. Denn dies schliesst die Illusion ein, dass es andere an ihrer Stelle besser machen würden und damit das Problem gelöst wäre. Die Empörung muss sich mit dem Bewusstsein paaren, dass wir - die Arbeiterklasse - das ganze System und seine Logik bekämpfen und überwinden können.

VE, 13.5.06

Fussnote:

1. vgl. Weltrevolution Nr. 109, Dezember/Januar 2001/02, Swissair-Kollaps: Die Arbeiterklasse trägt die Last der Krise

Quell-URL:https://de.internationalism.org/content/901/weltrevolution-nr-136

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