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Weltrevolution Nr. 119

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Agenda 2010, Rentenkürzungen in Europa

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Die Arbeiterklasse muss massiv zurückschlagen 

Gegen den Frontalangriff auf die Renten in Frankreich und …sterreich haben ganze Bereiche der Arbeiterklasse mit einer Entschlossenheit den Kampf aufgenommen, wie es sie seit Ende der 80er Jahren nicht mehr gegeben hat. In Frankreich versammelten sich Tausende von Arbeitern aus dem staatlichen, aber auch aus dem privaten Sektor wochenlang zu Demonstrationen: Am 13. Mai fanden sich anderthalb Millionen auf den Strassen der wichtigsten StŠdte. Allein die Pariser Demonstration vom 25. Mai konnte nahezu eine Million Proletarier, die vom 3. Juni nochmals 750â000 mobilisieren. Der staatliche Bildungssektor, der den heftigsten Angriffen ausgesetzt war, stand an der Spitze der Kampfbereitschaft dieser Bewegung in Frankreich. …sterreich, wo es im Bereich der Renten Angriffe von der Art wie in Frankreich gab, sah die massivsten Demonstrationen seit Ende des Zweiten Weltkriegs: mehr als 100â000 Personen am 13. Mai, nahezu eine Million (in einem Land von weniger als 10 Millionen Einwohner) am 3. Juli. In Brasilia protestierten Zehntausende gegen die linke Regierung um Lula, die ebenfalls die Renten kŸrzen will.

Die Bourgeoisie zwingt die Arbeiterklasse, die Lasten der Krise des Kapitalismus zu tragen

Weltweit versinkt die Wirtschaft immer mehr in der Rezession. Der Bourgeoisie gelingt es nicht mehr, den Kredit als Faktor des Wiederaufschwungs einzusetzen. Damit werden all diejenigen Stimmen dementiert, die meinten, der Irakkrieg wŸrde die Weltwirtschaft wiederankurbeln, wo er diese doch in abgrundtiefe Not brachte. TatsŠchlich rissen Krieg und andauernde Besetzung in erster Linie ein Loch in die amerikanische Wirtschaft (eine Milliarde Dollars pro Woche fŸr die Besatzungsarmee) und ebenso fŸr die britische.

Das zweite Merkmal der wirtschaftlichen Situation ist die Flucht nach vorn in einen immer gršsseren Schuldenberg. Der Kapitalismus wird dazu gezwungen, zunehmend gleichzeitig auf allen Ebenen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse anzugreifen. Um indessen den gleichzeitigen Ausbruch sozialer Konflikte zur selben Frage in verschiedenen LŠndern zu vermeiden, liegt es natŸrlich in ihrem Interesse, den Rhythmus dieser Angriffe je nach Land vorauszuplanen und zu koordinieren.

Nun sind alle Sozialbudgets ins Visier der Bourgeoisie geraten.

Ein Wendepunkt in der Verschaerfung der Angriffe

Der Mythos der äsozialen Errungenschaftenä wird zerstšrt. Das Wesen dieser neuen Angriffe ist bedeutsam. Sie zielen auf die Renten, auf die Arbeitslosengelder und auf die Ausgaben im Gesundheitswesen. Mehr und mehr entblšsst sich die zunehmende UnfŠhigkeit der bŸrgerlichen Klasse, den Wohlfahrtsstaat zu finanzieren.

In Frankreich sollen die BeitrŠge zur Altersvorsorge nunmehr fŸr eine Dauer von 40 anstatt wie zuvor von 37,5 Jahren bezahlt werden, um die ävolle Renteä zu erhalten.

Folgt man der offiziellen Propaganda, so ist der fŸr das Defizit der Rentenkassen verantwortliche Faktor ein rein demographischer, die ä†beralterungä der Bevšlkerung, der zu einer unertrŠglichen äBŸrdeä fŸr die Wirtschaft wird. Es gebe nicht genŸgend äJungeä, um die Renten einer wachsenden Zahl von äAltenä zu bezahlen. In Wirklichkeit aber steigen die Jungen zunehmend spŠter in den Arbeitsprozess ein, nicht nur aufgrund der VerlŠngerung der Schulzeit, welche mit dem technischen Fortschritt in der Produktion notwendig geworden ist, sondern noch vielmehr, weil es immer schwieriger wird, ArbeitsplŠtze zu finden. Die Hauptursachen der sinkenden BeitrŠge und Defizite im Rentensystem sind in Wirklichkeit die unaufhšrliche Zunahme der Arbeitslosigkeit. TatsŠchlich ist ein Grossteil der Arbeitgeber nicht daran interessiert, in ihrer Belegschaft die Šlteren ArbeitskrŠfte zu erhalten, die im Allgemeinen bei geringerer Leistung und schlechterer äAnpassungsfŠhigkeitä besser bezahlt werden als die Jungen. Hinter den Floskeln Ÿber die Notwenigkeit lŠngerer Arbeitszeit verbirgt sich vor allem eine massive Reduzierung des Rentenniveaus. Zudem sollen die Krankenkassen 600 Medikamente nicht mehr bezahlen.

Auch in …sterreich zielen die Angriffe primŠr auf die Renten. Dort wird die Dauer der Beitragszahlungen auf 42 Jahre, fŸr einen Grossteil der ErwerbstŠtigen gar auf 45 Jahre erhšht. FŸr viele bedeutet das KŸrzungen von bis zu 40%.

In Deutschland greift die rot-grŸne Regierung mit der Agenda 2010 mehrere äsoziale Errungenschaften ä gleichzeitig an. In den Niederlanden, Polen und Brasilien gibt es Massnahmen gleicher Art.

Es zeigt sich also, dass, egal ob linke oder rechte Regierungen am Ruder sind, dieselben Angriffe umgesetzt werden. Heute hŠufen sich massive EntlassungsplŠne. Gegen diese qualitative VerschŠrfung der Krise und der daraus folgenden Angriffe gegen die Lebensbedingungen hat sich die Arbeiterklasse in den KŠmpfen der letzten Zeit mobilisiert.

Das KraefteverhŠltnis zwischen den Klassen

ZunŠchst muss man bei diesen KŠmpfen unterstreichen, dass sie eine eindeutige Widerlegung aller ideologischen Kampagnen sind, die in Folge des Zusammenbruchs des Ostblocks und der stalinistischen Regimes in unsere Reihen hinein propagiert wurden. Nein, die Arbeiterklasse ist nicht verschwunden! Nein, ihre KŠmpfe gehšren nicht der Vergangenheit an!

Sie weisen darauf hin, dass die Perspektive noch immer hin zu Klassenkonfrontationen weist. Dies trotz der Verwirrung und dem enormen RŸckgang des Klassenbewusstseins,

welche durch die ErschŸtterungen in den Jahren nach 1989 ausgelšst worden waren. Angesichts dieser Situation zwingen die Angriffe der Bourgeoisie und des Staates das Proletariat dazu, sich erneut auf dem Klassenterrain zu behaupten und sich die vergangenen Erfahrungen des Kampfes wiederanzueignen. Die Arbeiter werden von Neuem die Erfahrung der Sabotage ihrer KŠmpfe durch die Kontrollorgane der Bourgeoisie, die Gewerkschaften und linken Parteien machen mŸssen. Von noch entscheidenderer Bedeutung sind die tiefgreifenden Fragen Ÿber das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft.

Die marxistische Methode hat immer auch die Strategie des Klassenfeinds untersucht. TatsŠchlich liefert das VerstŠndnis der Politik der Bourgeoisie im Allgemeinen den wichtigsten SchlŸssel zum VerstŠndnis des globalen KrŠfteverhŠltnisses. So hat auch Marx weitaus mehr Zeit, Papier und Energie gebraucht, um das Verhalten der Bourgeoisie zu untersuchen und ihre Ideologie zu entschleiern, um schliesslich die Logik, die Fehler und WidersprŸche des Kapitalismus aufzuzeigen, anstatt nur die ArbeiterkŠmpfe als solches zu beschreiben und untersuchen.

So untersuchte Marx in seiner BroschŸre Ÿber die KlassenkŠmpfe in Frankreich 1848 besonders die UrsprŸnge der Politik der Bourgeoisie. Auch Lenin proklamierte in seiner Schrift Was tun? von 1902: äDas Bewusstsein der Arbeitermassen kann kein authentisches Klassenbewusstsein sein, wenn die Arbeiter nicht lernen, ausgehend von konkreten und vor allem politischen, aktuellen Tatsachen und Ereignissen, die andere Klasse in ihrem intellektuellen, geistigen und politischen Leben zu beobachten (...) Diejenigen, welche die Aufmerksamkeit, die Beobachtung und das Bewusstsein der Arbeiterklasse nur oder hauptsŠchlich auf sie selbst konzentrieren, sind keine Sozialdemokratenä, sprich: keine RevolutionŠre. FŸr die ouvrieristischen, škonomistischen und rŠtistischen Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung ist es schon immer typisch gewesen, die Untersuchung des Klassenfeindes zu vernachlŠssigen. Diese Sichtweise lŠsst die grundlegende Voraussetzung ausser Betracht, dass sich das Proletariat niemals in der Offensive befindet, solange wir uns nicht in einer direkt vorrevolutionŠren Situation befinden. In allen anderen FŠllen ist es also immer die Bourgeoisie in ihrer Stellung als herrschende Klasse, welche die Arbeiterklasse angreift und sie zu einer Antwort zwingt, die sich nicht nur den Aktionen der Arbeiterklasse anpasst und gezielt ihre Reaktionen vorherzusehen sucht. Sie verfŸgt Ÿber spezifische Instrumente, die ihr als Barometer fŸr die Stimmung in der Gesellschaft dienen: die Gewerkschaften.

Die Angriffsstrategie der herrschenden Klasse

Die herrschende Klasse greift die Arbeiter nie planlos an. Sie versucht, diese immer so stark wie mšglich zu schwŠchen. Dazu verwendet sie oft die Taktik, vorwŠrts zu drŠngen und Teile der sozialen Bewegungen zu isolierten Kampfaktionen anzustiften, bevor die breiten Arbeitermassen selbststŠndig die Initiative Ÿbernehmen. Das hervorragendste historische Beispiel ist die Niederschlagung der Berliner Arbeiter im Januar 1919, welche sich nach einer Provokation der sozialdemokratischen Regierung erhoben, aber vom Rest der Arbeiterklasse isoliert blieben.

Die gegenwŠrtigen Angriffe auf die Rentner in Frankreich, wie wir in der IKS-Presse ausfŸhrlich aufgezeigt haben, waren von derselben Strategie geleitet, die darauf abzielte, die Reaktion der Arbeiter, mšglichst in Grenzen zu halten. Weil die Bourgeoisie die KŠmpfe nicht gŠnzlich verhindern kann, muss sie den Arbeitern eine schmerzhafte Niederlage bereiten, damit die Arbeiterklasse erneut an ihrer FŠhigkeit, sich als Klasse gegen die Angriffe zur Wehr zu setzen, zu zweifeln beginnt.

Die Perspektive des Klassenkampfes

Heute erlaubt es die VerschŠrfung der Krise der herrschenden Klasse nicht mehr wie frŸher, das bisherige Rentenniveau zu halten und die gleiche medizinische Versorgung zu garantieren. Mit dem gleichzeitigen Anstieg der Arbeitslosigkeit kommen immer weniger Arbeiter in en Genuss der Îvollenâ Renten. Von dem Moment an, wo die Arbeiter keinen Mehrwert mehr produzieren, werden sie fŸr den Kapitalismus zu einer Last und die beste Lšsung in der zynischen Logik des kapitalistischen Systems ist der mšglichst frŸhe Tod der Arbeiter.

Aus diesem Grunde hat der brutale und offene Angriff auf die Rentner eine starke Unruhe ausgelšst, welche sich durch ein Ansteigen der Kampfbereitschaft ausdrŸckt, aber auch dadurch, dass sich immer mehr Arbeiter die Frage stellen, welche Perspektive der Kapitalismus der Menschheit noch zu bieten hat.

1968 war einer der Hauptfaktoren fŸr das Wiedererwachen der Arbeiterklasse und ihrer KlassenkŠmpfe auf internationaler Ebene das brutale Ende der Illusionen, welche in der Wiederaufbauperiode geschŸrt worden waren. †ber eine ganze Generation hinweg herrschte auf dem Hintergrund der VollbeschŠftigung eine euphorische Stimmung, derzufolge sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse nach der Arbeitslosigkeit der 30er Jahre und dem Hunger und den Rationierungen des Krieges und der Nachkriegszeit stŠndig verbessern wŸrden. Bei den ersten Anzeichen der offenen Krise spŸrte die Arbeiterklasse nicht nur die Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, sondern auch, dass es im Kapitalismus keine Zukunft gibt. Die Bedeutung der ArbeiterkŠmpfe ab Mai 1968 und das Wiederauftauchen einer revolutionŠren Perspektive hatten die bŸrgerlichen Mystifikationen der äKonsumgesellschaftä und der äVerbŸrgerlichung der Arbeiterklasseä vollstŠndig widerlegt. Die Tragweite der heutigen Angriffe weist zwar €hnlichkeiten mit der damaligen Zeit auf. Dennoch darf man diese beiden Perioden nicht gleichsetzen. 1968 stellte einen historischen Moment dar: das Ende einer mehr als vier Jahrzehnte dauernden Konterrevolution.

Heute erleben wir den Zusammenbruch dessen, was uns als Trost nach jahrelanger Arbeit zu miserablen Lšhnen versprochen wurde und wŠhrend zwanzig Jahren als StŸtzpfeiler des Systems gegolten hatte: die Rente mit 60, mit der Mšglichkeit, einen ruhigen Lebensabend zu gestalten, frei von materiellen EinschrŠnkungen. Heute sind die Arbeiter gezwungen, von der Illusion Abschied zu nehmen, sie kšnnten wŠhrend der letzten Jahre ihres Lebens dem entrinnen, was mehr und mehr fŸr sie unertrŠglich geworden war: die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, die dauernde Zunahme des Arbeitsvolumens und des Zeitdrucks. Entweder mŸssen sie lŠnger arbeiten, was eine VerkŸrzung jener Lebensphase bedeutet, in der sie endlich der Lohnsklaverei entfliehen kšnnten, oder bekommen, wenn sie nicht lange genug eingezahlt haben, eine Rente nahe oder unter dem Existenzminimum.

Der Angriff auf die Rentner betrifft alle Arbeiter und schlŠgt eine BrŸcke Ÿber den Graben, der sich zwischen den Arbeitergenerationen aufgetan hat, weil das Gewicht der Arbeitslosigkeit vor allem auf den Schultern der jungen Generationen lastet und bei ihnen ein GefŸhl des äno futureä auslšst. Aus diesem Grund fŸhlen sich alle Generationen von Arbeitern, auch die jŸngsten, betroffen. Dadurch kšnnen die Bestrebungen nach einer Einheit der Arbeiter gefšrdert werden.

Es reifen die Bedingungen, damit die Arbeiterklasse ihr Bewusstsein und ihre revolutionŠre Perspektive wieder findet. So kšnnen die Reaktionen der Arbeiter auf einer immer breiteren Ebene erfolgen, welche auch nationale Grenzen Ÿberschreitet. Langfristig kann so die proletarische KlassenidentitŠt wiedergewonnen und Schritt fŸr Schritt Illusionen Ÿberwunden werden, vor allem Ÿber die Reformierbarkeit dieses Systems.

Aus diesem Grunde ist die Krise der VerbŸndete des Proletariates. Doch der Weg, den die Arbeiterklasse gehen muss, um ihre eigene revolutionŠre Perspektive durchzusetzen, ist keineswegs ein einfacher. Er ist sehr lang, leidvoll, schwer und mit Fallen und Hindernissen gesŠt, die ihr der Klassenfeind zuhauf in den Weg legt.

Es ist eine Niederlage, welche die Arbeiter momentan in ihrem Kampf gegen die Angriffe auf die Rentner hinnehmen mŸssen, vor allem in Frankreich und …sterreich. Dennoch ist dieser Kampf eine positive Erfahrung fŸr die Arbeiterklasse, vor allem weil sie ihre Existenz und ihre Mobilisierung auf dem Klassenterrain wiedergefunden hat.

Angesichts der Angriffe, welche die herrschende Klasse gegen sie vorbereitet, hat die Arbeiterklasse keine andere Wahl als ihren Kampf zu entwickeln. Allem voran muss sie begreifen, dass die Gewerkschaften Organe zur Verteidigung der Interessen des Staates sind. DarŸber hinaus muss sie sich bewusst sein, dass sie in der Bourgeoisie einen Gegner hat, der zu manšvrieren versteht, um seine Klasseninteressen zu verteidigen und Ÿber ein ganzes Arsenal von Instrumenten verfŸgt, um seine Herrschaft zu schŸtzen: von der Polizei und ihren GefŠngnissen bis zu den linken Parteien, selbst diejenigen mit ärevolutionŠremä Anstrich (linksextreme Parteien, und hier vor allem die Trotzkisten). Ein Gegner, welcher Ÿber alle Mittel verfŸgt, um seine eigenen Lehren aus den vergangenen Klassenzusammenstšssen zu ziehen.

Wim 22. Juni

 

Frankreich: IKS-Interventionen in den Kämpfen gegen die 'Rentenreformen'

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Als die Arbeiterklasse in Frankreich auf den beispiellosen Angriff antwortete, den die “Rentenreformen” darstellen, war es sehr wichtig für die Revolutionäre, sowohl auf den Demonstrationen als auch in den zahlreichen, sich im Kampf befindlichen Sektoren, insbesondere jenen der Beschäftigten im nationalen Erziehungswesen, Präsenz zu zeigen.

Die Interventionen der IKS auf den Demonstrationen

Anders als die bürgerliche Linke und die vor Begeisterung überschäumenden Elemente, die hinter allem, was sich bewegt, das Gespenst der sozialen Revolution erblicken, ist es das Ziel von Revolutionären, präzise zu intervenieren und sich dabei eines Kompasses zu bedienen, nämlich der marxistischen Methode, die sich auf nahezu 200 Jahre Erfahrung der Arbeiterklasse stützt. Allein diese Methode kann ihnen dabei helfen, die Fallen des Immediatismus, der kleinbürgerlichen Ungeduld, zu umgehen, die sie nur zu Wasserträgern für die Basisgewerkschafter und den linksextremistischen Flügel des Kapitals machen würden.

Also traf die IKS-Sektion in Frankreich, sobald sich mit der Demonstration vom 13.Mai die Bewegung ausweitete, die Entscheidung, eine Beilage zu ihrem Hauptinterventionsmittel, der Zeitung Revolution Internationale, herauszubringen. Diese Beilage hatte die Aufgabe, das Ausmaß des Angriffes auf die gesamte Arbeiterklasse aufzuzeigen, die Manöver der Bourgeoisie zu analysieren, um diesen Angriff durchzuziehen, und die Rolle der Gewerkschaften beim Wiederaufleben der Klassenmilitanz zu denunzieren. Der Haupttenor unserer Intervention war es, die Arbeiterklasse dazu zu ermutigen, über die Tiefe der kapitalistischen Krise und über die Notwendigkeit dieser Kampferfahrung nachzudenken, die sie dazu befähigen kann, ihr Selbstvertrauen wiederzugewinnen und ihre Klassenidentität wiederzuerlangen. Gerade weil wir die Betonung auf die Notwendigkeit legten, einen allgemeinen Rahmen für eine Analyse vorzustellen, um dieses Nachdenken zu ermöglichen, entschieden wir uns, eine Beilage zu verteilen, und nicht ein agitatorisches Flugblatt. Für alle Demonstrationen, in Paris wie in den Provinzen, mobilisierte die IKS all ihre Kräfte und sammelte ihre Sympathisanten, um die Presse so gut wie möglich zu verkaufen.

Die Bilanz dieser Mobilisierung war sehr positiv: Unsere Verkaufszahlen brachen alle Rekorde. In der gesamten Geschichte der IKS hat unsere Organisation niemals so viele Publikationen auf einer Demonstration verkauft wie jetzt. Besonders auf den Demonstrationen, wo die IKS präsent war, ging unsere Beilage weg wie warme Semmeln.

Wir sagen dies nicht, um uns selbst zu lobhudeln oder weil wir meinen, am Rande einer Revolution zu stehen. Diese Verkaufszahlen bestätigen wie die zahllosen Diskussionen, die wir auf den Demonstrationen führten, einfach, dass trotz der Schwierigkeiten, denen sich die Arbeiter noch immer bei der Entwicklung ihrer Kämpfe und bei der Herbeiführung eines Kräfteverhältnisses gegenübersehen, das die Bourgeoisie zum Rückzug zwingen könnte, sie immer

noch Ausschau nach einer Perspektive halten. Die Tatsache, dass so viele Streikende den politischen Schritt machten, eine Zeitung mit dem Titel Révolution Internationale oder eine Beilage mit dem Titel ‚Die Zukunft gehört dem Klassenkampf’ zu kaufen, ist ein bedeutsames Zeichen für den Wechsel in der Situation des Klassenkampfes. Es bedeutet, dass heute die Arbeiterklasse beginnt, die Zukunft in Frage zu stellen, die der Kapitalismus für uns bereithält. Dieses Infragestellen, dieses Suchen nach einer Perspektive, selbst wenn es noch sehr konfus und embryonal ist, ist eine klare Widerlegung all der bürgerlichen Kampagnen, die dem Zusammenbruch der stalinistischen Regimes folgten, in deren Mittelpunkt das Argument stand, dass der Kommunismus gescheitert und der Klassenkampf vorbei sei.

Somit bestätigen diese massiven Angriffe die Gültigkeit dessen, was unsere Organisation seit 1968 sagt: Trotz aller Leiden, die sie mit sich bringt, ist die Krise der beste Verbündete des Proletariats.

Die Interventionen der IKS im Streik des nationalen Erziehungswesens

Die IKS-Intervention beschränkte sich nicht darauf, unsere Presse auf den Straßendemonstrationen zu verkaufen.

In den Kämpfen selbst, in den Vollversammlungen, besonders in jenen der Lehrer, intervenierten unsere Genossen und Sympathisanten, wo immer sie konnten, um zu versuchen, die Manöver der Gewerkschaften und ihrer ‚radikalen’ linksextremen Fußsoldaten zu kontern. All unsere Interventionen schlugen vor:

- die lebenswichtige Notwendigkeit der geographischen Ausdehnung der Bewegung von Beginn an gegen die Manöver der Gewerkschaften und Linksextremen, die danach trachten, die Arbeiter innerhalb ihrer Branchen einzusperren;

- die Notwenigkeit, die Souveränität der Vollversammlung zu schützen, welche als Diskussions- und Entscheidungszentrum über die Frage der Weiterentwicklung des Kampfes dienen müssen, und nicht als Befehlsempfänger der Gewerkschaftsbeschlüsse, die im Voraus getroffen werden;

- die klare und deutliche Entlarvung der Ausrichtung des Gewerkschaftsapparates, der tatsächlichen Praxis der Gewerkschaften, die, unter dem Mantel der Rufe nach Einheit, nur dazu dienen, die wirklichen Notwendigkeiten des Kampfes zu verschleiern.

So ergriffen unsere Genossen zum Beispiel auf einer regionalen Vollversammlung in Lyon, auf der ca. 500 Streikende versammelt waren, das Wort. Trotz des gewerkschaftlichen Sperrfeuers, das darauf abzielte, uns zum Schweigen zu bringen (mit Unterbrechungen wie “Fasst euch kurz”, “Sorgt erst mal dafür, dass eure Schule streikt”), war ein anderer Genosse, der im Gesundheitssektor arbeitet, in der Lage, in dieser Versammlung auf der Notwendigkeit zu bestehen, die Straße zu überqueren, um sich mit anderen Branchen zu treffen, die gleichermaßen unter den Angriffen gegen die Renten leiden. Seine Intervention wurde sehr aufmerksam verfolgt, und dies veranlasste das Präsidium, das Mikrophon auszuschalten. Doch trotz dieses Manövers setzte unser Genosse seine Intervention fort, indem er seine Stimme anhob. Er erhielt starken Applaus. In diesem Augenblick sah sich das Präsidium gezwungen, Notiz zu nehmen von der Orientierung, die von unseren Genossen vorgeschlagen wurde, nämlich die Notwendigkeit der geographischen Ausdehnung – aber lediglich als eine vage Perspektive, was die Linksextremen stets tun, wenn die Bewegung ihnen aus dem Ruder läuft.

Diese regionale Versammlung zeigte deutlich, dass die ‚radikalen’ Gewerkschaften gezwungen waren, diese Art von Manöver zu praktizieren, um zu vermeiden, selbst unter dem Einfluss unserer Interventionen ausmanövriert zu werden.

Sofern wir in der Lage waren, in den Versammlungen zu intervenieren, versuchten wir, konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Bei zahlreichen Gelegenheiten, in Lyon z.B., schlugen unsere Genossen folgenden Antrag vor: “Die regionale Vollversammlung ruft die Vollversammlungen anderer Branchen dazu auf, die Appelle zur Ausweitung des Kampfes durch das Entsenden möglichst starker Delegationen zu öffentlichen wie privaten Unternehmen wie Alstom, Werkstätten, SNCF, Oullins, RVI, TCL, Krankenhäuser, Rathäuser, etc. in die Tat umzusetzen (...) die regionale Vollversammlung ist der Auffassung, dass die verspäteten Gewerkschaftsappelle an andere Branchen, sich dem Kampf anzuschließen, einige am 27.Mai, andere am 2.Juni, wiederum andere am 3.Juni, genauso wie ihr Schweigen in anderen Branchen konkrete Akte der Teilung und Spaltung sind, die sich gegen die Notwendigkeit einer Einheit richten...” Dieser Antrag erhielt 24 Stimmen, 137 stimmten dagegen, und 53 enthielten sich. Die Abstimmung über diesen Antrag zeigte, dass es erste Anfänge einer Infragestellung der Gewerkschaftskontrolle über die Kämpfe und ihrer Sabotagemanöver gibt. Obgleich diese Infragestellung nur bei einer Minderheit stattgefunden hat, war die Intervention unserer Militanten kein Blitz aus heiterem Himmel. Bei etlichen Gelegenheiten wurden unsere Genossen dazu aufgefordert, ihre Interventionen auszuführen, manchmal verbunden mit der Einladung, zu anderen Versammlungen in der Branche zu kommen und dort zu sprechen, wo die gleiche Art von Fragen gestellt wurden. Zahllose Diskussionen fanden statt und werden noch immer fortgesetzt. In anderen Regionalversammlungen, wie z.B. am 21.Mai in Nantes, konfrontierten unsere Genossen direkt die Gewerkschaften, indem sie lautstark verkündeten, dass “die Einheit des Kampfes nicht die Einheit der Gewerkschaften bedeutet!” Sie wurden lauthals ausgebuht während ihrer Interventionen. Am Ende dieser Versammlung drückten lediglich fünf Streikende ihre Übereinstimmung mit unserer Position aus. Was wir durch das Echo auf unsere Interventionen in vielen Regionen gesehen haben, ist, dass es eine große Heterogenität in der Bewegung gibt, sowohl was den Mobilisierungsgrad angeht als auch bezüglich des Misstrauens gegenüber den Gewerkschaften.

In einer zweiten Phase, die ziemlich schnell einsetzte, wurde es klar, dass jede Möglichkeit für eine massive Entfaltung des Kampfes von den Gewerkschaften untergraben worden war. Unsere Genossen waren gezwungen, ihre Interventionen umzuorientieren, indem:

- sie aufzeigten, dass die ‚Nadelstichtaktik’ eine Falle war, die nur Erschöpfung und Demoralisierung zu verursachen drohte;

- sie die Gewerkschaften und die linksextreme Haltung entlarvten, ‚bis zum bitteren Ende zu kämpfen’, indem sie zu sterilen Kommandoaktionen von Minderheiten griffen (wie das Blockieren von Abiturprüfungen), was nur die Spaltung zwischen Streikenden und Nicht-Streikenden verstärken konnte;

- sie die Notwendigkeit aufzeigten, sich neu zu sammeln, um Konfusionen zu vermeiden, so kollektiv wie möglich zu diskutieren, ob man mit dem Streik fortfährt oder nicht, um eine Demoralisierung zu verhindern und sich darauf vorzubereiten, den Kampf später wieder aufzunehmen und bis dahin unsere Stärke aufrechtzuerhalten;

- sie die Notwendigkeit für die kämpferischsten und bewusstesten Minderheiten vertraten, sich neu zu sammeln, um ihr Nachdenken über die von der Bewegung aufgestellten Fragen zu fördern. Es hat bereits eine Reihe von Treffen solcher Elemente aus verschiedenen Branchen u.a. in Lyon, Nantes und Marseille gegeben.

In den folgenden Tagen hielt die IKS auch eine Reihe anregender öffentlicher Treffen über die Kämpfe in einer Reihe von Städten ab.

Heute ist klar, dass die Bewegung nicht stark genug war, um die Bourgeoisie zurückzudrängen. Die Arbeiterklasse hat somit eine Niederlage erlitten. Einmal mehr trachtet die herrschende Klasse danach, die Arbeiter dazu zu bringen, die falschen Lehren daraus zu ziehen, insbesondere die Idee, dass der Kampf Zeitverschwendung sei. Es liegt also in der Verantwortung der Revolutionäre, diesen Mystifikationen entgegenzutreten.

Daher entschied sich die IKS, ein Flugblatt zu verteilen, das die Bilanz aus dieser Erfahrung zieht, um der gesamten Klasse zu erlauben, so viel Lehren wie möglich aus dieser Niederlage zu ziehen, die Arbeiter dazu zu drängen, ihr Nachdenken zu vertiefen, und sie so dafür zu wappnen, wenn sie den Kampf gegen die Verschärfung der Angriffe, die bereits in einem Maßnahmenpaket über die soziale Sicherheit angekündigt sind, wieder aufnehmen. SM


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