Irak-Krise: Die Interessen des deutschen Imperialismus

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Als Bundeskanzler Schröder im Februar 2003 zu “Konsultationen” mit seinem Amtskollegen und bekannten Befürworter einer harten, kriegerischen Gangart gegen Irak, José Maria Aznar anreiste, wurde er am Flughafen von spanischen “Friedensaktivisten” begeistert empfangen. Dieser Jubel für den zu Hause zuletzt so verschmähten Kanzler sollte keine Ausnahme bleiben. Ob von Hollywoodstar Dustin Hoffman oder vom britischen Sänger Sir Elton John: von überall her erhielt Schröders “Friedenspolitik” Zuspruch aus der Welt der “Promis”. Und als am 15. Februar Millionen von Menschen weltweit für eine “friedliche Beilegung” des Irakkonfliktes demonstrierten, wurde auf zahllosen Transparenten und Rednerbühnen an die deutsche Regierung appelliert, dem Druck Amerikas und Großbritanniens nicht nachzugeben und weiterhin gegenüber einem Krieg am Golf Stellung zu beziehen.

Und tatsächlich: allen Befürchtungen der selbsternannten Friedensbewegung zum Trotz ist die Regierung der Bundesrepublik Deutschland bis heute in ihrer Ablehnung eines amerikanischen Krieges gegen den Irak standhaft geblieben. Seit Jahresanfang hat Berlin emsig daran gearbeitet, eine internationale Koalition gegen diesen Krieg zu schmieden. Es hat zu diesem Zweck die Achse Deutschland-Frankreich wiederbelebt und zwei weitere “Vetomächte” des UN Sicherheitsrates – Rußland und China – auf seine Seite gezogen. Jede neue diplomatische Initiative der USA in Richtung Krieg wurde durch Schröder und den französischen Präsidenten Chirac sofort mit einer Gegeninitiative beantwortet, welche eine Legitimierung dieses Krieges durch die Vereinten Nationen verhindern und immer mehr Zeit und Spielraum für die berühmten Waffeninspektoren vor Ort im Irak herausschlagen sollten. In der NATO legten Deutschland, Frankreich und Belgien zeitweilig ein erstes Veto ein, um eine Aktivierung des Bündnisses zugunsten der Türkei als Nachbarland des Iraks wenigstens einige Tage lang aufzuhalten.

Ist Deutschland ein Vorkämpfer des Weltfriedens geworden?

Auch die aggressivsten politischen Verbalattacken aus Washington können die deutsche Führung nicht mehr einschüchtern und von ihrer Frontstellung gegenüber Amerika abbringen. Schon auf der Wehrkundetagung der NATO Anfang Februar in München rief Joschka Fischer dem mit versteinerter Miene dasitzenden amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld zu: “Sorry, I am not convinced.” Dessen Ausspruch, dass Deutschland wie Frankreich nun nicht mehr zum relevanten “alten Europa” gehören, wurde von der CSU mit der Forderung nach Rumsfelds Entlassung quittiert, während Schröder den Spieß umdrehte und das “alte Europa” dafür lobte, dass es den Schrecken des Krieges am eigenen Leibe kennengelernt und daraus seine friedlichen Konsequenzen gezogen habe. Auch die Erwähnung Deutschlands in einem Atemzug mit den “Schurkenstaaten” Libyen und Kuba wurde an der Spree v.a. mit Spott und Hohn kommentiert. Auch die Isolierung Deutschlands innerhalb der EU und gegenüber den EU-Beitrittskandidaten in Osteuropa brachte die Regierung in Berlin von ihrem “Friedenskurs” nicht ab.

Läßt sich die herrschende Klasse Deutschlands in der Definition ihrer Politik inzwischen durch hehre Ideale leiten?

Deutschlands Widerstand hat offenbar andere Kräfte der Weltpolitik ermutigt, sich ebenfalls gegen die amerikanische Weltmacht aufzulehnen. In der Sendung “Berlin Direkt” des ZDF vom 2. März erklärte der CSU Politiker Göppel die Ablehnung des amerikanischen Begehrens nach Bereitstellung von Militärbasen gegen Irak durch das türkische Parlament damit, dass die deutsche Haltung auch schwächere Mächte ermutigen würde, in die gleiche Kerbe zu schlagen. Nicht nur Ankara fühlt sich auf diese Weise durch das Beispiel aus Berlin und Paris angespornt. Anfang März hat die sonst notorisch zerstrittene Arabische Liga einstimmig verlangt, dass der Irak nicht einer amerikanischen Besatzungsmacht, sondern einer UN Verwaltung nach Saddam unterworfen werden soll. Berlin jedenfalls hat seinen Beitrag dazu geleistet, dass heute nicht Saddam, sondern Bush weltweit als die größere Bedrohung des “Weltfriedens” empfunden wird. Um ihre angebliche Friedenspolitik zu untermauern, hat die Bundesregierung eine Reihe von Argumenten vorgetragen, welche den Diskurs der Bush Administration widerlegen sollen. Dabei soll es Deutschland im Kern darum gehen, die Souveränität der Vereinten Nationen als oberste Instanz des internationalen Rechts zu verteidigen, welche allein über Krieg und Frieden zu entscheiden habe. Zudem führt Deutschland an, dass selbst ein blutiger Diktator wie Saddam Hussein, der Teile der eigenen Bevölkerung abschlachte, einen “Befreiungskrieg” gegen den Irak nicht rechtfertige, da Militäraktionen unweigerlich nur noch mehr Unglück über das ohnehin leidgeprüfte irakische Volk brächten. Außerdem sei es möglich, mittels Abrüstungsinspektionen “Schurkenstaaten” auch mit friedlichen Mittel zu entwaffnen. Es sei die Sorge des “alten Europas”, eine Destabilisierung des benachbarten Nahen Ostens zu vermeiden, welche ein Krieg am Golf auszulösen droht. Schließlich gibt sich Berlin als verständnisvoller Kenner der islamischen Welt, das eine Demütigung der arabischen Nation verhindern will, da diese wiederum den fundamentalistischen Terrorismus anfachen würde.

Während die von CDU/CSU angeführte innenpolitische Opposition Schröder vorwirft, einen deutschen Sonderweg zu begehen, bescheinigen Teile der Massenmedien dem Kanzler ein neues Sendungsbewusstsein. Der einst als machtbesessen verdammte “Genosse der Bosse” soll nunmehr zu einer Art schimmerndem David mutiert sein, der gegen den amerikanischen Goliath heldenhaft ringt und um des Friedens willen bereit sein soll, seine Kanzlerschaft aufs Spiel zu setzen.

Viele Altachtundsechziger, welche sich angesichts des Kosovokrieges von dem einstigen Jusochef und Vietnamkriegsgegner Schröder und dem berühmten autonomen Street-fighter Fischer noch verraten fühlen, begeistern sich jedenfalls jetzt wieder für die rot-grüne Opposition gegen die amerikanische Führungsmacht. Was steckt wirklich hinter der so plötzlich entdeckten “Friedensliebe” des wichtigsten Staats Europas? Wie erklärt sich die bisher nie dagewesene offene Frontstellung gegenüber den Vereinigten Staaten? Und was ist von den politischen Argumenten zu halten, welche linke deutsche Politiker täglich gegen die Kriegspropaganda aus Washington vortragen?

Wie immer setzt die Propaganda der Bourgeoisie auch hier auf das kurze Gedächtnis der eigenen Bevölkerung. Denn als es vor vier Jahren darum ging, den Kosovokrieg zu führen, stand die Regierung Schröder-Fischer vorne an, um ein militärisches Eingreifen an der Seite der USA zu befürworten. Auch damals gab es keine Legitimierung des Krieges durch die UN, weil insbesondere die Vetomacht Russland als traditioneller Verbündeter Serbiens ein erklärter Gegner eines Angriffs gegen Rest-Jugoslawien war. Die Argumente, mit denen sich Rot-Grün über die fehlende völkerrechtliche Absegnung des Krieges hinwegsetzte – die Brutalität des Diktators Milosevic, seine Massaker an den eigenen Staatsbürgern, die nationale Unterdrückung der Kosovo-Albaner durch Belgrad – sind den Argumenten nicht unähnlich, welche Washington auch heute einsetzt, um den Einwänden aus Berlin und Frankreich zu begegnen. Denn damals zeigten sich der Kanzler und sein Außenminister völlig unbeeindruckt gegenüber damals aus Moskau oder Peking kommenden Einwänden, dass ein neuer Krieg den Balkan destabilisieren, den Terrorismus schüren und Leid über die Bevölkerung vor Ort bringen würde.

Die Erklärung, weshalb Deutschland damals zu den entschiedensten Kriegsbefürwortern und heute zu den entschiedensten “Kriegsgegnern” gehört, ist ebenso naheliegend wie einleuchtend. Die Ausbeuterstaaten werden in ihrem Handeln nicht durch Ideale und eine “freie Meinungsbildung” geleitet, sondern durch materielle Interessen. Berlin beteiligte sich damals an dem Krieg gegen Belgrad, weil die kosovoalbanischen Terrorgruppen wie die UCK seine Verbündete waren, und weil die Schwächung Serbiens eine wesentliche Voraussetzung der deutschen imperialistischen Expansion auf dem Balkan darstellt. Berlin und Paris laufen heute Sturm gegen einen Irakkrieg, weil die Regierung Saddam Husseins ein Verbündeter dieser Länder ist, und weil die USA das herrschende pro-deutsche und pro-französische Regime in Bagdad durch eine von den Gnaden Amerikas abhängige Administration gewaltsam ersetzen wollen.

Unabhängig von den wechselnden Bündnissen und Machtkonstellationen, welche im Laufe der Geschichte entstehen und wieder vergehen, gibt es Konstanten der Außenpolitik imperialistischer Staaten, welche sich nicht ohne weiteres ändern, weil sie nicht nur in der Geschichte, sondern darüber hinaus auch noch in der Geographie begründet sind. Solches trifft für die Verfechtung deutscher Interessen auf dem Balkan, in der Türkei und im Vorderen Orient zu. Ob unter Kaiser Wilhelm II, Hitler, Adenauer oder Willy Brandt waren deutsche Regierungen stets bestrebt, über die “Landbrücke” des Balkans und Kleinasiens Einfluss auf die Weltpolitik über Europa hinaus zu gewinnen. Selbst in der Zeit des Ost-Westkonfliktes, als die alte Bundesrepublik ihre eigenen Interessen denen des von den USA angeführten westlichen Blockes anpassen musste, wurde ein besonderes Augenmerk auf diesen Weltteil gerichtet. Nicht zufällig bezog Nachkriegsdeutschland seine “Gastarbeiter” vornehmlich aus Jugoslawien und der Türkei, nicht zufällig wurden vor allem an Ankara deutsche Waffen zielstrebig geliefert und deutsche Kredite vergeben. Darüber hinaus war Bonn stets bestrebt gewesen, gute Beziehungen zum Irak und Iran zu unterhalten.

Der Unterschied zu heute war aber, dass diese Verfolgung deutscher Eigeninteressen damals nicht auf die Missbilligung, sondern auf das Wohlwollen Washingtons stieß. Denn die traditionellen Verbindungen der deutschen Bourgeoisie in dieser Region nutzten der “freien Welt” insgesamt, um den Einfluss des gegnerischen, von der UdSSR angeführten imperialistischen Blocks in dieser lebenswichtigen Gegend zurückzudrängen. Als dann Ende der 70er Jahre mit dem Sturz des prowestlichen Schah-Regimes ein Prozess der Destabilisierung des Irans einsetzte, ermutigte Washington Saddam Hussein dazu, Iran anzugreifen. Es ging darum, einerseits Iran in Schach zu halten und davon abzuhalten, sich dem Ostblock anzunähern, und andererseits darum zu verhindern, dass der Irak auf Kosten des Irans zu mächtig würde und damit das imperialistische Gleichgewicht in der Region über den Haufen werfe. Die “westliche Welt” war somit an einem langen, zermürbenden Waffengang zwischen dem Iran und dem Irak interessiert, welcher beide Seiten in Schach und in einem gewissen Gleichgewicht zueinander halten sollte. Zu diesem Zwecke erhielt die damalige Bundesrepublik von Washington grünes Licht, um ihr traditionell enges Verhältnis zu beiden Ländern spielen zu lassen und zu vertiefen, um dem Einfluss der UdSSR in der Region entgegenzutreten. So kam es, dass ab diesem Zeitpunkt v.a. im Irak kaum eine Industrieanlage, eine Munitions- und Giftgasfabrik oder ein Regierungsbunker gebaut wurde ohne die führende Beteiligung deutscher Firmen. Als dann 1989 der Ostblock auseinanderbrach und Deutschland wiedervereinigt wurde, änderten sich die politischen Rahmenbedingungen natürlich von Grund auf. Nicht mehr die UdSSR, die bald darauf selbst auseinanderbrach, sondern das wiedererstarkte Deutschland – der Hauptherausforderer Amerikas und Großbritanniens in zwei Weltkriegen – stellte nun die potenzielle erste Bedrohung für die amerikanische Führungsmacht dar. Doch gleichzeitig hatte der Untergang des Moskauer Imperiums dazu geführt, dass Deutschland nunmehr sowohl in Teheran als auch in Bagdad als einflußreichste ausländische Macht galt.

Bereits der erste Golfkrieg Anfang der 90er Jahre bildete die erste massive Antwort Washingtons auf diese neue Weltlage. Nicht zuletzt damit sollte die relative Ohnmacht Deutschlands vorgeführt werden, indem die Bundesrepublik gezwungen wurde, einem Krieg gegen ihre eigenen Verbündeten nicht nur tatenlos zuzuschauen, sondern auch noch zu finanzieren. Doch damals wurde Saddam durch die USA stark geschwächt aber noch nicht gestürzt. Der erste Golfkrieg diente somit als Warnung an alle potenzielle Herausforderer der USA, trotz des Verschwindens des gemeinsamen Gegners in Form des Warschauer Paktes sich weiterhin der amerikanischen Führungsmacht zu unterordnen. Doch die anderen Mächte ordneten sich nicht unter. Gerade Deutschland forderte Amerika heraus, indem es die Auflösung Jugoslawiens betrieb und seine Beziehungen zu Irak (und zu Iran) weiterhin emsig pflegte. Jetzt, ein Jahrzehnt danach, geht es um weitaus mehr. Mit dem angedrohten Regimewechsel in Bagdad, mit der Einreihung auch Irans in eine von Washington definierte “Achse des Bösen” geht es den USA nunmehr u.a. darum, den deutschen wie auch den französischen und den russischen Einfluss in einer der strategisch wichtigsten Regionen der Welt radikal zurückzudrängen. Der Ruf nach Waffeninspektoren und einer friedlichen Beilegung der Irakkrise, nach der Eindämmung und Mäßigung der gegenwärtigen amerikanischen Politik ist der Schlachtruf des französischen, des russischen und natürlich auch des deutschen Imperialismus. Nicht um den Frieden geht es hier, sondern um die blutige imperialistische Neuaufteilung der Welt.

Wenn sich dieser Konkurrenzkampf gegen den amerikanischen Rivalen heute der Sprache des “Friedens” bedient, dann in erster Linie wegen der militärischen Schwäche des Herausforderers und in erster Linie Deutschlands im Vergleich zu den USA. Doch diese militärische Schwäche wird zu einer politischen Stärke, wenn es darum geht, die Interessen des deutschen Imperialismus propagandistisch zu fördern. Gerade die deutsche Bourgeoisie, die die Welt in zwei Weltkriege im letzten Jahrhundert mit hineinstürzte, die die Welt mit unaussprechlichen Verbrechen überzog, und die dafür immer wieder von ihren Rivalen angeprangert wird, hat es nötig, gegenüber der Welt, gegenüber der eigenen Arbeiterklasse, ihre Außenpolitik in einem Licht der Friedfertigkeit darzustellen. Es ist politisch von großem Vorteil für die deutsche Großmacht, wenn ihre erste offene, der Welt zur Schau getragene Gegnerschaft zur USA – womit sie ihre eigene Anwärterschaft als künftiger Blockführer anmeldet – im Namen des Friedens, des Völkerrechts und anderer heuchlerischer Phrasen vorgetragen wird. Vor allem die deutsche Sozialdemokratie als erfahrenste, entschlossenste und kühnste Vertreterin des deutschen Imperialismus von heute hat die Bedeutung dieses Aspekts der Weltpolitik erkannt. Kein Zufall also, wenn Rot-Grün heute ihre “Modernisierungs-” und “Friedenspolitik” verknüpft und der Arbeiterklasse wachsendes Elend und die zunehmende Bürde des Militarismus als notwendiges Opfer um des lieben Friedens willens zu verkaufen versucht.

Um die wirkliche Natur und die Ziele dieser “Friedenspolitik” der deutschen Kapitalistenklasse zu begreifen, um die Heuchelei, aber auch die Gefährlichkeit der pazifistischen, anti-amerikanischen Kriegspropaganda bedeutender Teile der europäischen Bourgeoisie zu durchschauen, um im Interesse des internationalen Proletariats alle Seiten im imperialistischen Räuberkrieg abzulehnen, ist es notwendig, die jüngsten Entwicklungen der Weltpolitik um den Irak marxistisch zu begreifen. 10.03.03