2. Vorwort der Ausgabe 1977

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"Nicht nur in ihren Antworten, schon in den Fragen selbst lag eine Mystifikation"

Wenn man sich von einem kommunistischen Standpunkt aus eine Frage zu den "nationalen Befreiungskämpfen" stellen kann, so lautet diese: "Weshalb und unter welchen Umständen konnte das Proletariat sie unterstützen?"

Die Frage ist sicher nicht umgekehrt: "Weshalb sollte das Proletariat an den ‚nationalen Befreiungskämpfen’ nicht teilnehmen?"

 

Der Internationalismus ist unbestreitbar einer der Grundpfeiler des Kommunismus. Seit 1848 steht für die Arbeiterbewegung fest, das "die Arbeiter kein Vaterland" haben; und die letzten Worte desselben Kommunistischen Manifests: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" stellten für Generationen von kämpfenden Arbeitern einen echten Schlachtruf dar. Die Nation dagegen bildete den klassischen Rahmen für die Entwicklung des Kapitalismus schlechthin, was so weit ging, dass der revolutionäre Kampf der Bourgeoisie gegen den Feudalismus oft mit dem nationalen Kampf verwechselt wurde.

Doch während der Kapitalismus in der Nation den idealen Rahmen für seine Entwicklung findet, kann sich der Kommunismus nur auf Weltebene durchsetzen: Die proletarische Revolution muss die Nationen zerstören. Deshalb erscheint die Unterstützung eines nationalen Befreiungskampfes schon auf den ersten Blick als ein Irrweg und entbehrt jeder Bedeutung, abgesehen von jener Periode der Arbeiterbewegung, als es noch bürgerliche Revolutionen gab und die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung stand.

 

Dass die Revolutionäre noch heute genötigt sind, auf die erste Frage zu antworten statt auf die zweite, zeigt sehr gut, unter welch erstickenden Einnebelung der schrecklichen, ein halbes Jahrhundert währenden Konterrevolution die Arbeiterklasse leidet.

Um die Jahrhundertwende führten die Revolutionäre innerhalb der II. Internationale eine sehr heftige Debatte über die "nationale Frage". Einige unter ihnen, z.B. Rosa Luxemburg und die ganze Sozialdemokratische Partei Polens, waren entschieden gegen die Unterstützung dieser Kämpfe durch das Proletariat, da sie sie als Hindernis seiner Bewusstseinsentwicklung und lediglich als ein Moment im interimperialistischen Konflikt bzw. seiner Vorbereitung betrachteten. Andere wie Lenin und die Mehrheit der bolschewistischen Partei waren für das "Selbstbestimmungsrecht der Nationen" und propagierten die proletarische Unterstützung bestimmter nationaler Kämpfe, in denen sie ein Mittel sahen, die reaktionärsten Regimes wie das in Russland, aber auch der imperialistischen Metropolen zu schwächen. Es waren denn auch die Meinungsverschiedenheiten über die nationale Frage, die die verschiedenen Versuche einer Eingliederung der polnischen SDKPiL in die russische SDAPR scheitern ließen. Aber welcher Auffassung auch immer die Revolutionäre waren, so stimmten alle darin überein, dass die Unterstützung der nationalen Kämpfe durch das Proletariat insofern keine "Selbstverständlichkeit" war, als die Nation eben der klassische bürgerliche Rahmen war, den das Proletariat eigentlich zerstören musste.

So schrieb Lenin, hinter dem sich heute die Vertreter der "nationalen Befreiungskämpfe" verstecken, im Jahr 1903:

"Die Sozialdemokratie sieht als Partei des Proletariats ihre positive und wichtigste Aufgabe darin, die Selbstbestimmung nicht nur der Völker und Nationen, sondern des Proletariats innerhalb jeder Nationalität zu fördern. Wir müssen stets und unbedingt die engste Vereinigung des Proletariats aller Nationalitäten anstreben, und nur in einzelnen Ausnahmefällen können wir Forderungen, die auf die Schaffung eines neuen Klassenstaates oder auf die Ersetzung der völligen politischen Einheit eines Staates durch eine losere föderative Einheit usw. hinauslaufen, aufstellen und aktiv unterstützen

Doch auch Lenin erlitt das Schicksal, das im Allgemeinen den großen Revolutionären nach ihrem Tod widerfährt: Die Bourgeoisie beeilt sich, ihre Fehler auszunutzen, um die Schärfe ihres Gedankens weich zu spülen und ihn in einen neuen Katechismus zu verwandeln, der die Arbeitermassen verblenden und einschläfern soll.

So stilisierte die deutsche Sozialdemokratie in der Absicht, ihr reformistisches Abgleiten zu rechtfertigen, systematisch die wenigen Textstellen im Werk von Marx und Engels hoch, in denen Letztere - fälschlicherweise - von der Möglichkeit eines friedlichen und parlamentarischen Weges zum Sozialismus sprachen, während dieselbe Sozialdemokratie vollständig über alle Texte hinwegging, die auf der Notwendigkeit der Zerstörung des bürgerlichen Staates beharrten. Im gleichen Stil haben die "Leninisten" (Stalinisten, Maoisten und Trotzkisten) mit dem Ziel, ihre nationalistische Politik der Unterstützung imperialistischer Kriege zu "decken", die aufschlussreichen Texte Lenins gegen diese Kriege, gegen die nationale Verteidigung und für den Internationalismus "vergessen". Sie sprechen nur noch über seine Unterstützung des "Selbstbestimmungsrechts der Völker" und erniedrigen ihn zu einem Apostel der Nation. War es nicht der Stalinist Ho Tschi-Minh, der erklärte: "Ich wurde Kommunist an dem Tage, als ich verstand, dass Lenin ein großer Patriot war"?

Deshalb kann sich die Tätigkeit der Kommunisten heute nicht darauf beschränken, die Verfälschungen des Gedankenguts der großen Revolutionäre der Vergangenheit durch die linken oder linksextremen Teile der Bourgeoisie an den Pranger zu stellen. Vielmehr müssen die Revolutionäre heute auch die Fehler ihrer Vorgänger einer unbestechlichen Kritik im Lichte der in der Zwischenzeit durch das Proletariat gemachten Erfahrungen unterziehen. Dies sind die beiden Ziele, die sich diese Broschüre hinsichtlich der nationalen Frage zu setzen versucht:

1. Worin besteht in der Frage der nationalen Kämpfe die klassische Position des Marxismus, welche die Stalinisten und Trotzkisten immer wieder verfälscht haben?

2. Welche Fehler beging die revolutionäre Bewegung in dieser Frage, und wie ist heute die Position der Kommunisten dazu?

Ein halbes Jahrhundert offener oder verdeckter interimperialistischer Konflikte hat Lenin definitiv widerlegt, als er schrieb: "Nationale Kriege der Kolonien und Halbkolonien sind in der Epoche des Imperialismus nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidlich" (Lenin, Über die Junius-Broschüre, Bd. 22 S. 315), und: "Ein nationaler Krieg kann in einen imperialistischen umschlagen und umgekehrt" (ebenda, S. 315).

Was stattdessen bestätigt wurde, war die Richtigkeit von Rosa Luxemburgs Analyse, die davon ausging, dass die Welt heute unter einer Reihe von imperialistischen Großmächte aufgeteilt ist. Jeder

Die vorliegende Broschüre liefert eine Reihe von Beispielen aus der Geschichte, welche die Gültigkeit dieser Behauptungen Rosa Luxemburgs belegen. Darüber hinaus kann man als aktuelles Beispiel Afrika nennen. Nachdem es "in ein Geheg zur Handelsjagd auf Schwarzhäute" (Marx, Das Kapital, Bd. I) verwandelt worden war, wurde dieser Kontinent in den letzten Jahren zu einem Dauerschlachtfeld der imperialistischen Mächte. Unter dem Vorwand der Verteidigung der Rechte des Volkes der Sahara versucht der russische Imperialismus über Algerien die Stellungen des westlichen Imperialismus zu untergraben, der im Nordatlantik solide verankert ist. An der Ostküste ist es hingegen der amerikanische Block, der über von ihm kontrollierte Stellungen in den arabischen Ländern versucht, das pro-russische Äthiopien unter Druck zu setzen, indem er die eritreischen und somalischen "Völker" unterstützt. Auf der anderen Seite des Äquators findet gegenwärtig eine Offensive des amerikanischen Lagers statt, die darauf abzielt, Südafrika und Rhodesien zu zwingen, die "nationalen Interessen" der schwarzen Bevölkerung zu berücksichtigen. Sind dies Anzeichen von Gewissensbissen eines imperialistischen Blocks, der jahrzehntelang die rassistischen Regierungen dieser beiden Länder mit Waffen ausgestattet hat? Mitnichten. Es handelt sich schlicht und einfach um einen Versuch dieses Blocks, die in dieser Region tätigen Guerillas zu kontrollieren, damit die zukünftigen "schwarzen Staaten" auf dem Gebiet dieser Länder nicht dem russischen Lager in den Schoß fallen, wie dies bereits mit Mosambique und Angola geschehen war. Letztgenanntes Land veranschaulichte sehr deutlich den imperialistischen Charakter jedes "nationalen Kampfes" in der heutigen Zeit: Mit zunehmendem Zerfall des portugiesischen Imperialismus in diesem Land beeilten sich die beiden großen imperialistischen Blöcke, dem angolanischen Volk ihre "selbstlose" Unterstützung anzudienen, indem sie die verschiedenen Guerillaorganisationen - UNITA, FLNA und MPLA - mit Waffen belieferten. Um die Kampfkraft ihrer jeweiligen Schützlinge zu stärken, schickten beide Blöcke ihre "zuverlässigsten" Verbündeten zur direkten Intervention ins Gebiet: Kuba im Auftrag der UdSSR, Südafrika im Dienste der USA.

Dies ist der tiefere Sinn der "gerechten nationalen Befreiungskämpfe in Afrika": Sie sind nicht mehr als eine Manövriermasse in der weltweiten Auseinandersetzung zwischen den imperialistischen Blöcken, in der die "Völker" die Rolle des Kanonenfutters, der Bauern auf dem Schachbrett spielen. Diese Tatsache können bürgerliche Strömungen wie die Stalinisten, Maoisten oder Trotzkisten kaum mehr verschleiern. Ihr klassisches Argument, dass es ein "imperialistisches" und ein "antiimperialistisches Lager" gebe, wird immer fadenscheiniger angesichts der imperialistisch motivierten Unterstützung dieses oder jenes "nationalen Kampfes" durch die UdSSR oder China (Eritrea, Ogaden heute, Biafra oder Bengalen vor einigen Jahren). Aber ihre lange Erfahrung mit der Geschichtsfälschung im Interesse des Kapitalismus erlaubt es ihnen, immer wieder auf die Füße zu fallen und die Einwände, die diejenigen vorbringen könnten, die unter ihrem Einfluss stehen, zum Schweigen zu bringen: Für die Stalinisten genügt es zu sagen, dass ein nationaler Kampf, der den Interessen des "sozialistischen Lagers" widerspricht, aufgehört habe, gerecht zu sein, weil er ein Spielball des Imperialismus geworden sei. Auf der anderen Seite müssen jene Strömungen, die anerkennen, dass die so genannten "sozialistischen" Länder genauso imperialistisch sind wie alle andern, viele "dialektische" Verrenkungen anstellen, um in diesen Kämpfen etwas "Nationales" oder "Demokratisches" zu sehen und die Unterstützung für sie zu rechtfertigen. Doch überspannen sie den Bogen, wenn sie anderen Revolutionären vorwerfen, den proletarischen Internationalismus zu verraten, sofern diese die "nationalen Kämpfe" gegen den Imperialismus ihres eigenen Landes nicht unterstützen. In den Augen der "Internationalen Kommunistischen Partei" beispielsweise (die Programme Communiste und Le Prolétaire herausgibt) drückt es den "Chauvinismus" der IKS aus, wenn wir uns weigern, der Expedition der ehemaligen Polizisten von Katanga nach Shaba, ihrer Herkunftsprovinz, gegen das Mobutu-Regime in Zaire unsere Unterstützung zukommen zu lassen. Nach der Logik, dass die "Feinde meiner Feinde meine Freunde" sind, fordere der wahre "Internationalismus" angeblich von uns, dass wir uns für die alten Schergen des "Herrn Registrierkasse", Moise Tchombé, engagieren!

Wenn es darum geht, ihre Positionen zu "begründen", verstecken sich diese Strömungen hinter den Losungen der Revolutionäre während des Ersten Weltkriegs: "revolutionärer Defätismus" und "der Hauptfeind steht im eigenen Land". Dabei treiben sie die Bedeutung von einfachen Agitationsformeln ins Absurde, von denen einige allerdings auch an Klarheit zu wünschen übrig ließen. So schrieb Lenin: "Die revolutionäre Klasse kann in einem reaktionären Krieg nichts anders als die Niederlage der eigenen Regierung wünschen, sie kann den Zusammenhang zwischen militärischen Misserfolgen der Regierung und der Erleichterung ihrer Niederringung nicht übersehen" (Sozialismus und Krieg, Lenin, Werke, Bd. 21, s. 316)

Allerdings ist hier nur von "Wünschen" und nicht von "Herbeiführen" die Rede. Lenin blieb während des ganzen Krieges einem vorbildlichen Internationalismus treu und verurteilte mit der gleichen Unnachgiebigkeit sowohl den deutschen als auch den russischen Imperialismus. Dennoch trifft es zu, dass solche Formeln zu missbräuchlichen Interpretationen verleiten und zu vollkommen irrigen Positionen führen können. So muss man sich einerseits fragen, welches Interesse wir daran haben sollten, darüber zu entscheiden, was nun für die Arbeiterklasse eines Landes "wünschenswert" ist: Entweder hat sie nämlich keine Mittel, um ihren Wunsch zu verwirklichen, und bleibt im Reich der frommen Wünsche – eine Haltung, die bei einem so realistischen Revolutionär wie Lenin überraschen täte; oder aber sie hat die entsprechenden Möglichkeiten, so dass es seltsam erscheint, dass sie die Niederlage der eigenen Regierung nur "wünscht", ohne auch zu versuchen, sie aktiv "herbeizuführen". Andererseits fragt sich, ob es richtig ist, bessere Kampfbedingungen für die Arbeiterklasse des eigenen Landes zu "wünschen" als für die anderen Länder. Ein Kommunist muss vor allem die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse der ganzen Welt im Auge haben. Es kann zwar sein, dass der Ort, an dem die entscheidenden Kämpfe ausbrechen, von Bedeutung ist für die Folgen, die sich daraus für diese Allgemeininteressen ergeben. In diesem Sinne könnte man einem bestimmten Land bessere Bedingungen für den proletarischen Kampf "wünschen" als einem anderen. Aber dies wäre keineswegs unbedingt für das "eigene" Land der Fall, es könnte auch der "Feind des eigenen Landes" sein. Am nützlichsten ist das zitierte Argument Lenins im Grunde genommen nur als Antwort auf die Lügen der so genannten "Arbeiterparteien", die ins Lager der Bourgeoisie übergegangen waren und behaupteten, dass die Niederlage ihres Landes für den Klassenkampf des hiesigen Proletariats nachteilig sei und man daher dieses Land angesichts seiner Feinde nicht mit den heutigen Kämpfen schwächen dürfe, seien doch die Möglichkeiten dafür auch morgen noch vorhanden. Dies ist das alte Argument aus dem bürgerlichen Leierkasten, dem die Revolutionäre schon seit langem entgegenhalten, dass die günstigen Kampfbedingungen von morgen gerade durch den Kampf von heute vorbereitet werden, dass sich das Proletariat gerade hier stärkt, sein Bewusstsein und seine Organisation im Hinblick auf die entscheidenden künftigen Kämpfe schmiedet. Doch um dies zu sagen, war es nicht notwendig, übertriebene und zweideutige Ausdrücke zu verwenden, die zwar nicht die Richtigkeit der internationalistischen Positionen ihres Urhebers in Frage stellen können, aber die Verwirrung und die Manöver seiner Epigonen begünstigten. Im Grunde genommen bringen diese Formulierungen eine Art Patriotismus mit umgekehrtem Vorzeichen zum Ausdruck, dem die Revolutionäre manchmal zum Opfer fallen, wenn sie angesichts des chauvinistischen Gezeters der eigenen Bourgeoisie den Spieß einfach umdrehen wollen. So schrieb Rosa Luxemburg in Die Krise der Sozialdemokratie: (Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre, Bd. 4, S. 147).

"Denn die erste Pflicht gegenüber dem Vaterland in jener Stunde war: ihm den wahren Hintergrund dieses imperialistischen Krieges zu zeigen, das Gewebe von patriotischen und diplomatischen Lügen zu zerreißen, womit dieser Anschlag auf das Vaterland umwoben war (...) dem imperialistischen Programm des Krieges (...) das alte wahrhaft nationale Programm der Patrioten und Demokraten von 1848 (...) die Losung der einigen großen deutschen Republik entgegenzustellen. Das war die Fahne, die dem Lande vorangetragen werden musste, die wahrhaft national, wahrhaft freiheitlich gewesen wäre und in Übereinstimmung mit den besten Traditionen Deutschlands wie mit der internationalen Klassenpolitik des Proletariats (...)

Zwischen den Landesinteressen und dem Klasseninteresse der proletarischen Internationale besteht vielmehr im Krieg wie im Frieden vollkommene Harmonie"

In seiner Schrift Über die Juniusbroschüre stellte Lenin vollkommen zu Recht fest, dass das "Irrige seiner Ausführungen in die Augen" springe, und das Argument widerlegt, mit dem er (Junius) "der fortschrittlichen Klasse" vorschlug, "sich der Vergangenheit und nicht der Zukunft zuzuwenden". Doch auch Lenin war ein Jahr zuvor in diese Falle getappt, als er schrieb:

"Wir sind erfüllt vom Gefühl nationalen Stolzes, denn die großrussische Nation hat gleichfalls eine revolutionärer Klasse hervorgebracht, hat gleichfalls bewiesen, dass sie imstande ist, der Menschheit große Vorbilder des Kampfes für die Freiheit und den Sozialismus zu geben (…) Und wir großrussischen Arbeiter, die wir vom Gefühl nationalen Stolzes erfüllt sind, wollen um jeden Preis ein freies und unabhängige, ein selbständiges demokratisches, republikanisches, stolzes Großrussland, das seine Beziehungen zu den Nachbarn auf dem menschlichen Prinzip der Gleichheit aufbaut und nicht auf dem eine große Nation entwürdigenden fronherrlichen Prinzip der Privilegien. Gerade weil wir ein solches Großrussland wollen, sagen wir: Man kann im 20. Jahrhundert und in Europa (sei es auch im fernen Osteuropa) nur dadurch das ‚Vaterland verteidigen‘, dass man mit allen revolutionären Mitteln gegen die Monarchie, die Gutsbesitzer und Kapitalisten des eigenen Vaterlandes, d.h. gegen die schlimmsten Feinde unserer Heimat kämpft

("Über den Nationalstolz der Großrussen", Lenin, 12.Dez. 1914, Bd. 21, S. 93 ff).

Solche Auszüge zeigen, dass selbst die größten Revolutionäre, die unbeugsamsten Internationalisten nicht davor gefeit sind, Zugeständnisse an die gewaltige nationalistische Ideologie zu machen, welche die Bourgeoisie während des imperialistischen Krieges verbreitet. Deshalb müssen wir, bei aller Begeisterung für ihre Analysen, all die Fehler, die die Bolschewiki begangen haben mögen, und die zweideutigen Formulierungen in ihren Losungen einer schonungslosen Kritik unterziehen. So ist der Losung des "revolutionären Defätismus" eine andere Formulierung vorzuziehen, die einzig Lenin bereits ab 1914 benutzte: "Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg". Der wirklich internationalistische Sinn der Parole "Der Hauptfeind steht im eigenen Land" liegt in der Tatsache, dass das Proletariat - überall auf der Welt - den Kampf dort führen muss, wo es sich befindet, d.h. gegen die eigene Bourgeoisie. Und die einzig richtige Deutung des "revolutionären Defätismus" liegt nicht im "Wunsch" oder in der "Herbeiführung" der Niederlage der Bourgeoisie, sondern im entschlossenen Kampf gegen sie, auch dann, wenn dies ihre Niederlage im imperialistischen Krieg bedeutet.

Trotz einiger zweifelhafter Formulierungen praktizierte Lenin während des Ersten Weltkriegs eine grundsätzlich richtige Politik. Seine heutigen Epigonen dagegen benutzen dieselben Formeln, um eine vollkommen absurde Politik zu betreiben. Wenn man ihren Analysen folgen würde, so hätte man im "Unabhängigkeitskrieg" von Biafra, der von den USA und Frankreich gegen Nigeria unterstützt wurde, dem wiederum die UdSSR und Großbritannien unter die Arme griffen, Folgendes tun müssen:

- Die Mitglieder einer revolutionären Organisation in England hätten Biafra unterstützen müssen.

- Die Mitglieder derselben Organisation in Frankreich hätten Nigeria unterstützen müssen.

Ebenso hätte angesichts der Intervention der Polizisten von Katanga in Shaba:

- die belgische oder französische Sektion einer kommunistischen Organisation die alten Truppen von Tchombé unter die Arme greifen müssen,

- das allfällige Mitglied derselben Organisation in Russland dagegen Mobutus Zaire "unterstützen" müssen, denn offensichtlich war die Expedition von Katanga, die Shaba "befreien" sollte, über die Vermittlung Angolas durch den russischen Imperialismus ferngesteuert.

So sehen also die bemerkenswerten Taktiken aus, die man uns vorschlägt, wenn man vergisst, dass der Kampf gegen die nationale Bourgeoisie, von einem Klassenstandpunkt aus betrachtet, nie bedeutet hat, die ihr feindliche Bourgeoisie zu unterstützen, dass die Verbrüderung mit den "feindlichen" Truppen nicht bedeutet, dass man sich von der Armee dieses Staates rekrutieren lässt, dass die Anprangerung des Imperialismus und der chauvinistischen Vorurteile der Arbeiter im eigenen Land keineswegs heißt, den Imperialismus eines anderen Landes zu unterstützen oder dem Chauvinismus der Arbeiter dieses anderen Landes den Hof zu machen. Letztlich machen die "internationalistischen" Schulmeister mit einer solchen angeblich "radikalen" Politik nichts anderes, als Wasser auf die Mühlen aller nationalistischen Verschleierungsversuche zu lenken. Abgesehen davon ist ihre Haltung gegenüber den "kämpfenden Völkern" zutiefst rassistisch: Was sie für das europäische Proletariat als nicht in seinem Interesse liegend ablehnen würden - verschärfte Ausbeutung, eine intensivere Kontrolle durch den kapitalistischen Staat, Konzentrationslager mit Zwangsarbeit -, empfehlen sie einstweilen den "Völkern des Trikonts".

Der Internationalismus kann einzig und allein in einem unbeugsamen Kampf gegen jede "nationale Bewegung" bestehen, die heute in jedem Fall nichts anderes darstellt als ein Element im Konflikt zwischen Imperialisten - und in einem Kampf gegen all jene, die solche Bewegungen verteidigen. Wie Lenin sagte:

"Wer sich jetzt auf Marx` Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx` Worte ‚Die Arbeiter haben kein Vaterland‘ vergisst – diese Worte, die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche der sozialistischen Revolution –, der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche" (Sozialismus und Krieg, Lenin, Bd. 21, S. 310)

 

November 1977

 

"Der Kapitalismus wird für die Probleme der Dritten Welt keine Lösung liefern. 50 Jahre nationaler Befreiung haben keine wirkliche Entwicklung gebracht, noch weniger Sozialismus. Statt dessen sind künstliche Inseln entstanden mit diktatorischen Regimes, die von den herrschenden Ländern abhängig sind. Die Massaker wie die in Biafra, Bengalen, Vietnam haben zugenommen. . (Auszug aus der Plattform von Révolution Internationale, Dezember 1972).

Die nationalen Befreiungsbewegungen sind somit mehr denn je zu einem Mittel der Rekrutierung von Bauern und Arbeitern der Dritten Welt als Kanonenfutter für die interimperialistischen Schlachten geworden"

" (Die nationale Frage in unserem Programm, Iskra Nr. 44, Lenin Werke Bd. 6, S. 452). « Krieg, mag er auch als ‚nationaler Verteidigungskrieg‘ beginnen" (…) Unsere hausbackenen sozialistischen Chauvinisten aber, Plechanow und wie sie alle heißen, werden sich in dem zuletzt betrachteten, von uns angenommenen Fall als Verräter nicht nur an ihrer Heimat, dem freien und demokratischen Großrussland, erweisen, sondern auch an der proletarischen Verbrüderung aller Völker Russlands, d.h. an der Sache des Sozialismus" , verwandelt sich "gleichfalls automatisch (...) in einen imperialistischen Weltbrand." (Die Krise der Sozialdemokratie). "In der Ära dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen dienen nur als Täuschungsmittel, um die arbeitenden Volksmassen ihrem Todfeind, dem Imperialismus, dienstbar zu machen" (5. These der Gruppe "Internationale", Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie).
(Marx, Engels: Die deutsche Ideologie, A. Die Ideologie überhaupt, namentlich die deutsche)

Erbe der kommunistischen Linke: