Filmkritik - Hannah Arendt: Ein Lob auf das Denken

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Deutschlands leidvolle Geschichte des 20.Jahrhundert ist reich an dramatischen und schrecklichen Themen und eine ganze Anzahl von erfolgreichen Filmen in den letzten Jahren belegt dies eindrucksvoll: so etwa Der Pianist (über das Warschauer Ghetto), Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen (über die DDR und den Fall der Mauer) (1).

Die Regisseurin Margarete von Trotta hat sich bereits mehrmals mit heiklen Themen aus der jüngeren deutsche Geschichte auseinandergesetzt: Die bleierne Zeit (1981), eine dramatisierte Version vom Leben und Sterben der Terroristin Gudrun Ensslin von der Roten Armee Fraktion (die Umstände ihres Todes im Stammheimer Gefängnis konnten nie ganz geklärt werden); eine Filmbiographie über Rosa Luxemburg (1986); der Film Rosenstraße (2003), der sich mit dem Protest deutscher Frauen gegen die Gestapo im Jahre 1943 angesichts der Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner auseinandersetzt. In ihrem neuesten Film Hannah Arendt (2012/13) kehrt von Trotta thematisch zu den Themen Krieg, Shoah und Nazismus zurück, indem sie sich mit einer Episode aus dem Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt auseinandersetzt, die übrigens überzeugend von Barbara Sukowa dargestellt wird.

Hannah Arendt: Ein Lob auf das Denken

Filmkritik

Deutschlands leidvolle Geschichte des 20.Jahrhundert ist reich an dramatischen und schrecklichen Themen und eine ganze Anzahl von erfolgreichen Filmen in den letzten Jahren belegt dies eindrucksvoll: so etwa Der Pianist (über das Warschauer Ghetto), Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen (über die DDR und den Fall der Mauer) (1).

Die Regisseurin Margarete von Trotta hat sich bereits mehrmals mit heiklen Themen aus der jüngeren deutsche Geschichte auseinandergesetzt: Die bleierne Zeit (1981), eine dramatisierte Version vom Leben und Sterben der Terroristin Gudrun Ensslin von der Roten Armee Fraktion (die Umstände ihres Todes im Stammheimer Gefängnis konnten nie ganz geklärt werden); eine Filmbiographie über Rosa Luxemburg (1986); der Film Rosenstraße (2003), der sich mit dem Protest deutscher Frauen gegen die Gestapo im Jahre 1943 angesichts der Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner auseinandersetzt. In ihrem neuesten Film Hannah Arendt (2012/13) kehrt von Trotta thematisch zu den Themen Krieg, Shoah und Nazismus zurück, indem sie sich mit einer Episode aus dem Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt auseinandersetzt, die übrigens überzeugend von Barbara Sukowa dargestellt wird.

Hannah Arendt wurde 1906 als Spross einer jüdischen Familie geboren. Als junge Studentin besuchte sie Seminare und Vorlesungen des Philosophen Martin Heidegger, mit dem sie eine kurze, aber intensive Liebesbeziehung hatte. Die Tatsache, dass sie weder ihre Beziehung zu ihm noch die Person Heidegger abgelehnt hat, obwohl er 1933 der NSDAP beigetreten war(2), wurde ihr später immer wieder massiv zum Vorwurf gemacht. Ihre Beziehungen zu Heidegger und seiner Philosophie sind zweifelsohne komplex und könnten für sich genommen ein ganzes Buch füllen; und die Rückblenden zu ihren Begegnungen mit Heidegger sind vermutlich die am wenigsten gelungenen im Film, da sich von Trotta bei diesen Szenen ihrer zentralen Filmthematik am wenigsten sicher scheint: der „Banalität des Bösen“.

Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 floh Arendt aus Deutschland und emigrierte nach Paris, wo sie, trotz ihrer kritischen Haltung, in der zionistischen Bewegung aktiv war. In Paris heiratete sie 1940 ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher. Im Zuge der deutschen Invasion Frankreichs wurde Arendt vom französischen Staat in einem Lager in Gurs interniert. Von dort gelang ihr die Flucht und nach so mancher Strapaze erreichte sie 1941 schließlich die USA.

Ohne einen Cent in ihren Taschen bei ihrer Ankunft gelang es ihr bald, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, und schließlich erhielt sie als erste Frau überhaupt eine Professur an der renommierten Princeton-Universität. 1960, wo der Film einsetzt, war Arendt bereits eine bekannte und anerkannte Intellektuelle, die schon zwei ihrer bekanntesten Werke veröffentlicht hatte: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) und Vom tätigen Leben (1958).

Obgleich sie sicher keine Marxistin war, interessierte sie sich für die Arbeiten Marx‘ und somit auch für die von Rosa Luxemburg (3). Ihr Ehemann Heinrich war erst ein Spartakist gewesen, dann im Oppositionsflügel der KPD, der sich gegen die Stalinisierung der KPD in den 20ern wandte. Er folgte Brandler und Thalheimer in die KPD-Opposition (aka KPO), nachdem sie aus der Partei ausgeschlossen worden waren (4). Der Film erwähnt Heinrichs Parteimitgliedschaft: Wir erfahren von einem befreundeten amerikanischen Paar, dass „Heinrich bis zum Ende bei Rosa Luxemburg war“. Des Weiteren ist Arendts philosophisches Werk, besonders ihre Analyse der Mechanismen des Totalitarismus ist bis zum heutigen Tag relevant. Ihr rigoroses Denken und ihre Integrität erlaubten es Arendt, die Klischees und Allgemeinplätze der damaligen herrschenden Ideologie zu durchbrechen: Sie (ver-)störte durch ihre Ehrlichkeit.

Die Eingangsszene ruft die Entführung Adolf Eichmanns in Argentinien durch den Mossad in Erinnerung. Während der Nazi-Herrschaft hatte Eichmann zahlreiche wichtige Positionen inne, u.a. organisierte er erst die Deportation der Juden aus Österreich, dann die Durchführung der „Endlösung“, insbesondere den Transport der europäischen Juden in die Todeslager von Auschwitz, Treblinka und andere. Das Ziel David Ben-Gurions, dem damaligen ersten Premierminister von Israel und Verantwortlichen für die Mossad-Operation, war offensichtlich, einen Gerichtsprozess zu inszenieren, der die Fundamente des jungen israelischen Staates zementieren sollte. Außerdem sollten die Juden selbst über einen der Täter ihres Genozids urteilen.

Als Arendt von dem bevorstehenden Eichmann-Prozess erfuhr, meldete sie sich freiwillig für das literarische Magazin The New Yorker, um vom Prozess zu berichten. Ihre detaillierte und akribische Berichterstattung vom Prozess erschien zunächst in einer Serie von Artikeln, schließlich als Buch mit dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Die Veröffentlichung löste einen riesigen Skandal in Israel, aber mehr noch in den USA aus: Arendt sah sich einer unglaublich aggressiven und feindseligen Medienkampagne ausgesetzt: „die sich selbst-hassende Jüdin“ und „die Rosa Luxemburg des Nichts“ waren nur zwei der etwas weniger schlimmen Verleumdungen, die ihr entgegen geschleudert wurden. Ihr wurde nahegelegt, von ihrer Universitätsberufung zurückzutreten, aber sie lehnte dies ab. Es ist eben diese Phase, die die Entwicklung von Arendts Denken und ihre Reaktion gegen jene Medienkampagne markieren, welche das Material für diesen Film liefern.

Arendts Denken und ihre Reaktion auf diese Medienkampagne bilden die Basis für den Film. Wenn man es recht bedenkt, dann ist es wahrlich eine Herausforderung, einen Film über das widersprüchliche Denken und die manchmal schmerzhafte Entwicklung einer Philosophin filmisch zu thematisieren, ohne die Thematik zu trivialisieren. Eine Herausforderung, die von Trotta und Sukowa mit Bravour meistern.

Wie konnte Arendts Bericht überhaupt solch einen Skandal auslösen? (5) Bis zu einem bestimmten Punkt war solch eine Reaktion nachvollziehbar und sogar zwangsläufig: auch wenn Arendt ihre Kritik so präzise wie ein kunstfertiger Chirurg das Skalpell anlegt, waren für viele Menschen der Zweite Weltkrieg und die ungeheuerlichen Leiden der Shoah noch zu nah, die Traumata noch zu aktuell, um sich diesen Ereignissen mit Abstand zu nähern. Doch die lautesten Stimmen waren auch die mit dem größten Interesse; Interesse, dass der Vorhang des Schweigens über die unbequemen Wahrheiten gezogen wird, die Arendts Kritik offenlegte.

Arendt ging ans Eingemachte, als sie Ben-Gurions Versuch, den Eichmann-Prozess zu instrumentalisieren, um Israels Existenz mit dem Leid der Juden während der Shoah zu rechtfertigen, argumentativ auseinander nahm.

Für dieses Vorhaben musste Eichmann regelrecht ein Monster sein, ein „würdiger“ Vertreter der monströsen Verbrechen der Nazis. Auch Arendt selbst hatte erwartet, ein Monster auf der Anklagebank vorzufinden, doch je mehr sie ihn beobachtete, desto weniger war sie nicht von seiner Schuld, aber von seiner „Monstrosität“ überzeugt.

In den Prozessszenen platziert von Trotta Arendt nicht in den Gerichtssaal, sondern in den Presseraum, wo die Journalisten den Prozess über die Videoüberwachung beobachten. Dieser Kunstgriff erlaubt es von Trotta den echten Eichmann im Film zu zeigen (statt eines Schauspielers, der Eichmann darstellt). Wie Arendt sehen und erleben wir als Zuschauer so einen mehr als durchschnittlichen Mann (Arendt verwendet den Begriff „Banalität“ im Sinne von „Durchschnittlichkeit“), der weder etwas mit dem mörderischen Wahnsinn Hitlers noch mit der verrückten Kaltblütigkeit eines Goebbels (die beide im Film „Der Untergang“ von Bruno Ganz und Ulrich Matthes großartig dargestellt wurden) gemeinsam hat. Im Gegenteil, wir sehen uns konfrontiert mit einem kleinen Bürokraten, dessen intellektueller Horizont kaum über die Wände seines Büros hinausreicht, der sich hauptsächlich mit der Hoffnung auf den Aufstieg auf der Karriereleiter und bürokratischen Rivalitäten beschäftigte. Eichmann ist kein Monster, war Arendts Schlussfolgerung: „es wäre sehr beruhigend gewesen, wenn man hätte glauben können, dass Eichmann ein Monster sei (…) Das Problem mit Eichmann war aber eben, dass so viele so sind wie e, und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch war und dass sie noch immer schrecklich und schrecklich normal sind (6).“ (eigene Übersetzung, S.274) Um es auf den Punkt zu bringen: Für Arendt bestand Eichmanns Verbrechen primär nicht darin, dass er im selben Maße wie Hitler für die Vernichtung der Juden verantwortlich war, sondern in erster Linie darin, dass er die Fähigkeit des eigenständigen Denkens abgelegt hat und sich legal und mit ruhigem Gewissen als Rädchen in der totalitären Maschinerie eines verbrecherischen Staates bewegt hat. Der nie in Zweifel gezogene „gesunde Menschenverstand“ der prominenten NS-Führer diente ihm als „moralische Instanz“. Die Wannsee-Konferenz (auf der die logistische Umsetzung der so genannten Endlösung beschlossen wurde) war dementsprechend „ein sehr wichtiger Moment für Eichmann, da er noch nie zuvor mit so vielen Nazigrößen persönlich in Kontakt gekommen war (…) Nun konnte er mit eigenen Augen sehen, dass nicht nur Hitler oder Heydrich oder die ‚Sphinx‘ Müller und nicht nur die SS oder die Partei, sondern die ganze Elite der Bürokratie miteinander in Konkurrenz standen und gegeneinander kämpften, um die Führung in diesen ‚blutigen‘ Angelegenheiten zu übernehmen“ (S.111f, eigene Übersetzung).

Arendt lehnt ausdrücklich die These ab, derzufolge „potenziell alle Deutschen schuldig“ seien oder eine „Kollektivschuld“ trügen. Für Arendt verdiente Eichmann die Hinrichtung für seine Taten (auch wenn dies die Millionen Opfer nicht wieder zum Leben bringen würde). Insgesamt kann man festhalten, dass ihre Analyse eine kühne Absage an die antifaschistische Ideologie ist, die bald offizielle Staatsideologie wurde, besonders in Israel. Aus unserer Sicht ist die Banalität, die Arendt beschreibt, die der kapitalistischen Welt, in der die Menschen verdinglicht und entfremdet werden. Sie werden reduziert auf den Status von Objekten, Waren oder Rädchen im kapitalistischen Getriebe. Dieses maschinelle Funktionieren ist nicht allein charakteristisch für den Nazistaat. Arendt erinnert uns daran, dass die Politik, das eigene Territorium „judenrein“ zu machen, bereits 1937 vom polnischen Staat in Betracht gezogen war, und auch die demokratische französische Regierung – besonders der französische Außenminister Georges Bonnet – hatte vor dem Zweiten Weltkrieg die Ausweisung von 200 000 „nicht-französischer“ Juden nach Madagaskar angedacht (hierzu hatte Bonnet sogar seinen deutschen Amtskollegen Ribbentrop um Rat gefragt). Ferner argumentierte Arendt, dass auch die Nürnberger Prozesse nichts weiter als Schauprozesse der Siegermächte waren, in denen die Richter Länder repräsentierten, die sich ebenfalls Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten: der russische Staat für die Toten im Gulag, der amerikanische Staat für den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.

Auch mit dem israelischen Staat ging Arendt nicht zimperlich um. Im Unterschied zu anderen Berichterstattern betonte sie in ihrem Buch die Ironie des Eichmann-Prozesses, in dem rassistisch motivierte Verbrechen durch einen israelischen Staat angeklagt wurden, der selbst „rassische“ Merkmale in seinen Gesetzen einbaute: „Nach den Rabbinerregeln gilt das Gesetz, dass es jüdischen Bürgern nicht erlaubt ist, Nicht-Juden zu heiraten; Ehen, die im Ausland geschlossen wurden, werden zwar anerkannt, aber die Kinder von ‚Mischehen‘ gelten vor dem Gesetz als illegitim (…) und sollte jemand eine nicht-jüdische Mutter haben, kann er in Israel weder heiraten noch beerdigt werden.“ Es ist in der Tat eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jene, die der Nazipolitik der „Rassenreinheit“ entkommen konnten, dann selbst versuchten, ihre eigene „Rassenreinheit“ im Gelobten Land zu kreieren. Arendt verabscheute Nationalismus im Allgemeinen und den israelischen Nationalismus im Besonderen. Bereits im Jahre 1930 stellte sie sich gegen die zionistische Politik und deren Verweigerung eines gemeinsamen, friedlichen Lebens mit den Palästinensern. Auch zögerte sie nicht, die heuchlerische Politik der Regierung Ben-Gurions öffentlich anzuprangern, die zwar einerseits die Verbindungen zwischen Nazis und einigen arabischen Staaten öffentlich machte, andererseits aber verschwieg, dass in Westdeutschland eine nicht unerhebliche Zahl von Nazigrößen auf verantwortungsvollen Posten schützten.

Ein weiteres Skandalthema war die Frage des Judenrates – die Judenräte waren von den Nazis mit dem Ziel geschaffen worden, die sogenannte Endlösung effizienter umsetzen zu können. Dies füllt nur einige Seiten in ihrem Buch, aber sie gehen ans Herz. Sie schreibt: „Wo immer Juden lebten, stets gab es anerkannte jüdische Anführer, und diese Führerschaft kollaborierte– beinahe ohne Ausnahme – auf die eine oder andere Weise, aus dem einen oder anderen Grund mit den Nazis. Die ganze Wahrheit war, dass, wenn die jüdische Bevölkerung total unorganisiert und führerlos gewesen wäre, es zwar auch Chaos und unglaublich viel Leid gegeben hätte, aber die gesamte Opferzahl hätte kaum zwischen 4½ und 6 Millionen Menschen erreicht (…) Ich habe mich mit diesem Kapitel der Geschichte beschäftigt, weil der Prozess in Jerusalem gescheitert ist, diese wahren Dimensionen vor der Weltöffentlichkeit zu offenbaren. Warum? Nun, es bietet das deutlichste Beispiel für die Erkenntnis, dass der moralische Kollaps in der respektablen europäischen Gesellschaft durch die Nazis ein totaler war“(eigene Übersetzung, S. 123). Sie enthüllte sogar ein Element der Klassenunterscheidung zwischen den jüdischen Anführern und der anonymen Masse: inmitten des allgemeinen Desasters verfügten jene, die entkommen konnten, entweder über hinreichenden Reichtum, mit dem sie ihre Flucht kaufen konnten, oder waren der „internationalen Gemeinschaft“ bekannt genug, um in Theresienstadt, einer Art privilegiertes Ghetto (inhaltlich??), am Leben erhalten zu bleiben. Die Beziehungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und dem Nazi-Regime, und mit anderen europäischen Bevölkerungen war viel komplizierter, als die offizielle manichäische Ideologie der Siegermächte bereit war zuzugeben.

Die Naziherrschaft und die Shoah nehmen einen zentralen Platz in der modernen europäischen Geschichte ein, heute sogar noch mehr als in den 1960ern. Trotz des Bemühens etwa der Autoren des Buches „Schwarzbuch des Kommunismus“, gilt der Nationalsozialismus bis heute als das „ultimative Böse“. In Frankreich bildet die Shoah neben der Résistance einen sehr wichtigen Bestandteil des Lehrplans Geschichte, unter Ausschluss fast aller anderen Aspekte des 2.Weltkrieges. Und doch, zumindest rein rechnerisch war der Stalinismus gemessen an der Anzahl seiner Opfer weit schlimmer: 20 Millionen Tote in Stalins Gulag und mindestens 20 Millionen Tote während Maos „Großem Sprung“. Natürlich hat dies zu einem Gutteil mit der opportunistischen Kalkulation zu tun, dass die Nachfolger Stalins und Maos noch immer an der Macht sind, dass sie Menschen sind, mit denen man „Geschäfte machen“ muss und kann. Arendt setzt sich nicht direkt mit dieser Frage auseinander, aber in einer Erörterung der Anklagepunkte gegen Eichmann besteht sie auf die Tatsache, dass die Naziverbrechen nicht ein Verbrechen gegen die Juden, sondern ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit in Gestalt der jüdischen Menschen gewesen war, gerade weil den Juden die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies abgesprochen wurde; sie wurden als unmenschliches Übel dargestellt, das es auszulöschen galt. Dieser rassistische, fremdenfeindliche und obskure Aspekt des Naziregimes wurde freimütig verkündet, was es Teilen der herrschenden europäischen Klasse, aber auch der Bauernschaft und des Handwerks, die von der Wirtschaftskrise ruiniert worden waren, ermöglichte, sich in ihm bequem zu machen. Auf der anderen Seite hatte der Stalinismus stets behauptet, fortschrittlich zu sein: Man sang noch immer: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“, und das erklärt auch, warum bis zum Fall der Mauer und sogar danach gewöhnliche Menschen weiterhin die stalinistischen Regimes im Namen einer besseren Zukunft verteidigten (7).

Arendts zentrale These ist, dass sowohl die „unvorstellbare“ Barbarei der Shoah als auch die Durchschnittlichkeit der Nazibürokraten ein Produkt der Vernichtung der „Fähigkeit zum Denken“ entspringt. Eichmann „denkt nicht“, er führt die Befehle der Maschinerie aus, kommt seiner Tätigkeit gründlich und gewissenhaft nach, ohne jegliche Skrupel, ohne je die Verbindung zu dem Horror der Konzentrationslager zu sehen, obgleich sie ihm dennoch bewusst war. In diesem Sinne sollte von Trottas Film als eine Eloge des kritischen Denkens gesehen werden.

Hannah Arendt war keine Marxistin, auch keine Revolutionärin. Da sie aber Fragen stellte, die die offizielle antifaschistische Ideologie untergruben, wurde sie so zur Gegnerin des banalen Konformismus und der Abschaffung des kritischen Denkens. Das Verdienst ihrer Analyse besteht darin, dass sie ein Tor zur Reflexion des menschlichen Gewissens öffnet (ähnlich wie die Arbeit des US-Psychologen Stanley Milgram über die Mechanismen der „Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber Autorität“ von Folterknechten, was in Henri Verneuils Film „I wie Ikarus“ filmisch dargestellt wird).

Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Arendts Werk von der demokratischen Bourgeoisie und deren Intelligenz erhielt – für die sie eine Art Ikone wurde –, ist nicht ganz harmlos. Die Wiederaneignung ihrer Analyse des Totalitarismus ist deutlich vom dem Versuch geprägt, eine Kontinuität zwischen den Bolschewiki und der Russischen Revolution von 1917 einerseits und dem totalitärem Apparat des stalinistischen Staates andererseits herzustellen. Die Botschaft lautet: Stalin ist nur Lenins Vollstrecker gewesen, und die Moral der Geschichte: Die proletarische Revolution kann nur zu Totalitarismus und neuen Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen. So manche etablierten bürgerlichen Ideologen wie Raymond Aron haben nicht gezögert, Arendts Analyse des stalinistischen totalitären Staates für ihre Kampagnen während des Kalten Krieges und über den angeblichen Zusammenbruch des Kommunismus nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu benutzen.

Hannah Arendt war eine Philosophin und wie Marx sagte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Der Marxismus ist nicht eine „totalitäre“ Doktrin, sondern vielmehr eine theoretische Waffe der ausgebeuteten Klasse für die revolutionäre Transformation der Welt. Und eben deshalb ist nur der Marxismus wirklich in der Lage, wichtige Beiträge der Kunst, der Wissenschaft sowie der Philosophie aufzugreifen, so etwa frühere Philosophen wie Epikur, Aristoteles, Spinoza, Hegel usw., aber auch jene unserer Zeit wie Hannah Arendt mit ihrem tiefen und kritischen Blick auf die moderne Welt und ihrer Eloge auf das Denken.

Jens

1Siehe unsere Filmkritik in der Nr.113 der englisch-sprachigen International Review (https://en.internationalism.org/ir/113_pianist.html)

2The Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Nazipartei)

3 1966 besprach Arendt JP Nettls Rosa Luxemburg Biographie in der New Yoek Review of Books. In diesem Artikel geißelte sie sowohl die Weimarer als auch die Bonner Regierungen und erklärte, dass die Ermordungen Luxemburgs und Liebknechts ausgetragen wurden „unter den Augen und höchstwahrlich mit Zustimmung der sozialdemokratischen Regierung, die damals an der Macht war (…) Dass die Regierung damals faktisch in den Händen der Freikorps war, weil sie die volle Unterstützung des „Sozialisten“ Noskes genossen, der als Experte der nationalen Verteidigung und zuständig für militärische Angelegenheiten war, wurde erst kürzlich von dem letzten Überlebenden der Attentate, Kapitän Pabst bestätigt. Die Bonner Regierung – in diesem wie in anderen Aspekten folgt sie nur allzu gern den finsteren Spuren der Weimarer Republik – verkündete öffentlich in ihrem Magazin durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, dass die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs absolut legal gewesen seien, „eine Exekution auf der Grundlage des Kriegsrechts.“ Dies war mehr als die Weimarer Republik je behauptet hatte…“.

4Die KPO war eine der Oppositionsgruppen gegen den Stalinismus, welche aber nie völlig mit dem Stalinismus brach. Wie Trotzki konnten sie nie den Gedanken akzeptieren, dass in Russland die Konterrevolution herrschte.

5Wer des Französischen mächtig ist, der sei auf eine interessante Dokumentation verwiesen (bestehend aus Radiointerviews) von France Culture: Hannah Arendt et le procès d'Eichmann [1]

6 Die Zitate sind der Penguin Ausgabe von 2006 entnommen, die von Amos Elon eingeleitet wurde. Eigene Übersetzung der Zitate ins Deutsche.

7Siehe z.B. diese fazinierende Dokuserie (deutsch und englisch) über das Leben in der ehemaligen DDR [2].

Links:
[1] https://www.franceculture.fr/emission-la-fabrique-de-l-histoire-histoire...
[2] https://www.youtube.com/watch?v=7fwQv5h7Lq8

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