Die Dekadenz des Kapitalismus

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Der Artikel ist eine Wiederveröffentlichung aus Révolution Internationale, Nr. 5, 1973. Er wurde als Ergänzung zu unserer Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus" verfasst.

Wenn man den Verteidigern und Fürsprechern der kapitalistischen Gesellschaft glaubt, dann müsste man meinen, der Kapitalismus würde ewig dauern. Keine andere Gesellschaft sei vorstellbar. Die Herrschenden wollen damit auf unserer Unkenntnis der Geschichte bauen. In Wirklichkeit aber ist der Kapitalismus - wie alle anderen, ihm vorausgegangenen Produktionsformen - eine vorübergehende Gesellschaft.

Alle früheren Gesellschaften durchliefen eine aufsteigende und niedergehende Phase, bis sie schließlich von einer neuen Produktionsform abgelöst wurden. So geschah es mit der römischen Sklavengesellschaft und auch mit dem Feudalismus. Der Kapitalismus selber dehnte sich bis zur Jahrhundertwende 19. zum 20. Jahrhundert über den ganzen Erdball aus, bis er nach seiner aufsteigenden Phase in sein Niedergangs Stadium, seine Dekadenz, eingetreten ist.

Im nachfolgenden Artikel stellen wir das Konzept der Dekadenz in der Geschichte dar und gehen auf die Merkmale der kapitalistischen Dekadenz ein, indem wir an die Dekadenzerscheinungen der früheren Gesellschaften anknüpfen.

Dieser Artikel dient als Ergänzung und als Beilage zu unserer Broschüre "DIE DEKADENZ DES KAPITALISMUS", auf die wir unsere Leser hiermit aufmerksam machen möchten.

DER SOZIALISMUS ALS HISTORISCHE NOTWENDIGKEIT

Heute ist der Sozialismus keine historische Notwendigkeit, weil die große Mehrheit der Menschen ausgebeutet und somit entfremdet ist. Ausbeutung und Entfremdung gab es schon in der Zeit der Sklavengesellschaft, unter dem Feudalismus und im Kapitalismus im 19. Jahrhundert, ohne dass aber der Sozialismus die geringste Chance zu seiner Verwirklichung gehabt hätte.

Damit der Sozialismus zu einer Wirklichkeit wird, müssen nicht nur die Mittel zu seinem Aufbau (die Arbeiterklasse - die Produktionsmittel) ausreichend entwickelt sein, sondern auch das System selber, das er überwinden soll - der Kapitalismus - muss aufgehört haben, ein für die Entwicklung der Produktivkräfte unabdingbares System zu sein, um gar zu einer wachsenden Fessel zu werden, d.h. das System selber muss in sein Niedergangs Stadium eingetreten sein.

DER UTOPISCHE SOZIALISMUS

"Als das Schicksal einer Gesellschaftsordnung, die auf Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen beruht, als das Ideal einer kommunistischen Gemeinschaft war der Sozialismus Jahrtausende alt. Bei den ersten Aposteln des Christentums, bei verschiedenen religiösen Sekten des Mittelalters, im Bauernkrieg blitzte die sozialistische Idee immer als radikalste Äußerung der Empörung gegen die bestehende Gesellschaft auf. Allein gerade als ein Ideal, das zu jeder Zeit, in jedem geschichtlichen Milieu empfohlen werden konnte, war der Sozialismus nichts als ein schöner Traum vereinzelter Schwärmer, eine goldene Phantasie, unerreichbar wie der luftige Schein des Regenbogens an der Wolkenwand.

Am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts tritt die sozialistische Idee zuerst mit Kraft und Nachdruck auf, losgelöst von religiös-sektiererischer Schwärmerei, vielmehr als ein Widerschein der Schrecken und Verheerungen, die der aufkommende Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtete. Doch auch jetzt ist der Sozialismus im Grunde genommen nichts anderes als ein Traum, eine Erfindung einzelner kühner Köpfe. Hören wir den ersten Vorkämpfer der revolutionären Erhebungen des Proletariats, Gracchus Babeuf, der während der großen Französischen Revolution einen Handstreich zur gewaltsamen Einführung der sozialen Gleichheit unternahm, so ist die einzige Tatsache, auf die er sich in seinen kommunistischen Bestrebungen zu stützen weiß, die schreiende Ungerechtigkeit der bestehenden Gesellschaftsordnung. Dies in den düstertesten Farben auszumalen, wird er nicht müde in seinen leidenschaftlichen Artikeln, Pamphleten wie in seiner Verteidigungsrede vor dem Tribunal, das ihm das Todesurteil gesprochen hat. Sein Evangelium des Sozialismus ist eine eintönige Wiederholung von Anklagen gegen die Ungerechtigkeit des Bestehenden, gegen die Leiden und Qualen, das Elend und die Erniedrigung der arbeitenden Massen, auf deren Kosten sich eine Handvoll Müßiggänger bereichert und herrscht. Es genügte nach Babeuf, dass die bestehende Gesellschaftsordnung wert ist, zugrunde zu gehen, damit sie auch schon vor hundert Jahren wirklich gestürzt werden konnte, sobald sich nur eine Gruppe entschlossener Männer fände, die sich der Staatsgewalt bemächtigte und das Regime der Gleichheit einführte, so wie die Jakobiner 1793 die politische Macht ergriffen und die Republik eingeführt hatten.

Auf ganz anderen Methoden und doch im wesentlichen auf derselben Grundlage beruhen die sozialistischen Ideen, die von den drei großen Denkern: Saint-Simon und Fourier in Frankreich, Owen in England in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit viel mehr Genie und Glanz vertreten wurden. Freilich, an eine revolutionäre Machtergreifung zur Verwirklichung des Sozialismus dachte auch nicht entfernt einer von den genannten Männern mehr; im Gegenteil waren sie, wie die ganze Generation, die der großen Revolution nachfolgte, enttäuscht von allem sozialen Umsturz und aller Politik, ausgesprochene Anhänger rein friedlicher Propagandamittel. Allein die Basis der sozialistischen Idee war bei allen ihnen dieselbe: Sie war in ihrem Wesen nur Projekt, Erfindung eines genialen Kopfes, der ihn der geplagten Menschheit zur Verwirklichung empfahl, um sie aus der Hölle der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu erlösen.

So blieben denn jene sozialistischen Theorien trotz aller Kraft ihrer Kritiken und des Zaubers ihrer Zukunftsideale ohne namhaften Einfluß auf die wirklichen Bewegungen und Kämpfe der Zeitgeschichte. Babeuf ging mit einem Häuflein Freunde in der konterrevolutionären Sturzwelle unter wie ein schwankendes Schiffchen, ohne zunächst eine andere Spur als eine kurze leuchtende Zeile auf den Blättern der Revolutionsgeschichte zu hinterlassen. Saint-Simon und Fourier haben es nur zu Sekten begeisterter und begabter Anhänger gebracht, die sich nach einiger Zeit zerstreuten oder neue Richtungen einschlugen, nachdem sie reiche und fruchtbare Anregungen an sozialen Ideen, Kritiken und Versuchen ausgestreut hatten. Am meisten hat Owen auf die Massen des Proletariats gewirkt, doch gehen auch seine Einflüsse, nachdem sie eine Elitetruppe der englischen Arbeiter in den 30er und 40er Jahren begeistert hatten, nachmals spurlos verloren.

Eine neue Generation sozialistischer Führer trat in den 40er Jahren auf: Weitling in Deutschland, Proudhon, Louis Blanc, Blanqui in Frankreich. Die Arbeiterklasse hatte bereits ihrerseits den Kampf gegen die Kapitalherrschaft aufgenommen, sie hat in den elementaren Aufständen der Lyoner Seidenweber in Frankreich, in der Chartistenbewegung in England das Signal zum Klassenkampf gegeben. Aber zwischen diesen spontanen Regungen der ausgebeuteten Massen und den verschiedenen sozialistischen Theorien bestand kein unmittelbarer Zusammenhang. Weder hatten die revolutionierten Proletariermassen ein bestimmtes sozialistisches Ziel im Auge, noch suchten die sozialistischen Theoretiker ihre Ideen auf einen politischen Kampf der Arbeiterklasse zu stützen. Ihr Sozialismus sollte durch gewisse schlau ersonnene Einrichtungen, wie die Proudhonsche Volksbank für gerechten Warenaustausch oder die Produktionsassoziationen Louis Blancs, realisiert werden. Der einzige Sozialist, der auf den politischen Kampf als Mittel zur Verwirklichung der sozialen Revolution rechnete, war Blanqui, dadurch der einzige wirkliche Vertreter des Proletariats und seiner revolutionären Klasseninteressen in jener Periode. Allein auch sein Sozialismus war im Grunde genommen ein Projekt, das, jederzeit realisierbar, als eine Frucht des entschlossenen Willens einer revolutionären Minderheit und eines von ihr durchgeführten plötzlichen Umsturzes ins Werk gesetzt werden konnte". ("Rosa Luxemburg, Einführung in die Nationalökonomie, Ges. Werke, Bd. 5, S. 588). 

DER WISSENSCHAFTLICHE SOZIALISMUS

Der unvermeidbare Fehler der Utopisten lag in ihrer Auffassung vom Verlauf der Geschichte. Für alle hing dieser von dem Willen bestimmter Gruppen von Individuen ab: aus Babeufs oder Blanquis Sicht würden einige entschlossene Arbeiter die Entscheidung herbeiführen, Saint Simon, Fourier oder Owen wandten sich gar an den guten Willen der Bourgeoisie für die Verwirklichung ihrer Projekte.

Das Auftauchen des Proletariats als selbständige Klasse während der Revolution von 1848 sollte aufzeigen, dass es eine eigenständige Klasse ist, die den Sozialismus verwirklichen könnte. Dies bestätigte die Auffassung Marens, derzufolge - wie schon im Kommunistischen Manifest verkündet - die Welt in eine Klassengesellschaft gespalten ist, und dass die Geschichte der Menschheit die Geschichte von Klassenkämpfen ist.

Die Entwicklung der Gesellschaften kann deshalb nur verstanden werden, wenn man den Rahmen begreift, der diese Kämpfe bestimmt, d.h. innerhalb der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse, die die Menschen miteinander verbinden und sie in Klassen untereinander aufspalten: die Produktionsverhältnisse.

Zu wissen, ob der Sozialismus möglich ist, erfordert zu bestimmen, ob die Entwicklung der Produktivkräfte - welche die Produktionsverhältnisse bestimmt - die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus durch den Sozialismus unumgänglich macht. Dies wiederum erfordert eine genaue Auffassung von den geschichtlichen Bedingungen, die eine gesellschaftliche Umwälzung verlangt.

"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.

In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, eben sowenig kann man eine solche Epoche von Umwälzungen aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.  Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.... In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden" (Marx, "Zur Kritik der politischen Ökonomie", Vorwort, MEW Bd. 13, S. 7).

Die Phase des Niedergangs eines Systems, die Zeit vor ihrem Niedergang, die auch ihre Überwindung auf die Tagesordnung stellt, entspricht dem Zeitraum, wenn alle Produktionsverhältnisse ihre geschichtlich erforderliche Rolle nicht mehr spielen: die der Entwicklung der Produktivkräfte der notwendigen Güter für das überleben der Gesellschaft. Dies ist der Zeitraum der "gesellschaftlichen Revolutionen".

Um insbesondere die Dekadenz des Kapitalismus festzulegen, müssen wir folgendermaßen vorgehen:

- wir wollen die These von Marx bei den Hauptumwälzungen der Geschichte überprüfen, um daraus das Konzept der Dekadenz eines Systems herauszuarbeiten. Dann werden wir dieses allgemeine Konzept der Dekadenz auf den besonderen Fall des Kapitalismus überprüfen, um daraus dessen spezifische Merkmale und die politischen Konsequenzen abzuleiten.

Wie Marx sagte, muss man "in der Betrachtung solcher Umwälzungen (...) stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten“.

DIE MATERIELLE UMWÄLZUNG DER ÖKONOMISCHEN BEDINGUNGEN

Das Ende des Urkommunismus

Zu Beginn der Menschheit herrschte der Urkommunismus als gesellschaftliche Organisationsform vor. Ungeachtet wichtiger örtlicher Unterschiede, die auf rassen-, klima- oder geschichtlich bedingte Ursachen zurückzuführen waren, bestanden die Wesenszüge der primitiven Gesellschaften im Gemeineigentum der Produktionsmittel (hauptsächlich der Boden) und der gemeinsamen Bearbeitung der Erde und der gemeinsamen Jagd, deren Ernte und Beute gleichmäßig unter der Bevölkerung aufgeteilt wurden. Die Auffassung, derzufolge das Privateigentum eine dem "menschlichen Wesen" innewohnende Eigenschaft sei, ist ein Mythos, der von den bürgerlichen Ökonomen seit dem 18. Jahrhundert verbreitet wird, um das kapitalistische System als das "natürlichste", "selbstverständlichste" darzustellen, das am "besten den tiefsten menschlichen Instinkten" entspricht. Diese Verhältnisse untereinander waren kein Ausdruck einer Ideologie der Brüderlichkeit, auch nicht einer göttlichen Gestaltung, die auf Gleichheit zwischen den Menschen geachtet hätte.

Es war die Hilflosigkeit der Menschen gegenüber einer Natur, die umso feindlicher war, als das Niveau ihrer Technik schwach entwickelt war, und die Notwendigkeit eines Zusammenhaltes, den diese Hilflosigkeit hervorbrachte, welche die Menschen zwang, in festgefügten Gemeinschaften zu leben, in denen die wenigen Produktionsmittel gleichmäßig verteilt benutzt wurden. Die Gleichheitsideologie, die damals bestand, war zunächst eine Folge dieser Verhältnisse und nicht ihre Ursache.

Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (ebenda).

Ebenso waren es nicht ideologische Motive, die ursächlich waren für das Verschwinden des primitiven Kommunismus, sondern das Verschwinden der materiellen Bedingungen selbst hat dies bewirkt. Wenn man untersucht, wie diese ‚Gleichheitsgesellschaften‘ sich in Ausbeutungsgesellschaften verwandelt haben, wie damit die Klassenspaltungen und auch das Privateigentum entstanden sind, stellt man fest, dass sie das Ergebnis des Fortschritts der Produktionstechniken sind.

Wir wollen hier den Fall außer Acht lassen, wo sie das Ergebnis der "zivilisatorischen Wirkung" der Kolonialmassaker durch die Europäer vom 15. Jahrhundert an waren.

Man geht heute davon aus, dass je nach Region auf der Erde und je nach örtlichen historischen Bedingungen die Gesellschaften des primitiven Kommunismus sich aufgelöst haben und entweder von der asiatischen Produktionsweise oder von den Sklavengesellschaften ersetzt wurden.

Die Sklavengesellschaften

Als eine Gemeinschaft feststellte, dass ihre bearbeiteten Felder nicht mehr fruchtbar waren, oder dass es keine Beute mehr zu jagen gab, oder als ihre Bevölkerung zu stark anwuchs, war sie gezwungen, ihren Einzugsbereich auszudehnen oder ihren Herrschaftsbereich auf neue Territorien auszuweiten. In Gebieten, in denen es eine relativ starke Bevölkerungskonzentration gab - z.B. im Mittelmeergebiet -  konnte solch eine Erweiterung nur auf Kosten anderer Gemeinschaften geschehen.

Anfangs konnten die so hervorgerufenen Kriege nur die Form von Morden annehmen, oder es gab auch Kannibalismus, um sich die Böden der besiegten Völker anzueignen. Solange das gesellschaftliche Produktivitätsniveau es den Menschen erlaubte, nur gerade soviel zu produzieren wie nötig für ihr eigenes Überleben, hatte der Sieger kein Interesse daran, "neue Münder" in seine hungrige Gemeinschaft einzugliedern. Dazu musste erst die Arbeitsproduktivität ausreichend ansteigen, um die besiegten Menschen zu zwingen, kostenlos und durch Zwang Arbeit dem Sieger abzuliefern, wobei gleichzeitig das Überleben selbst der Besiegten sichergestellt werden musste. Dies war die Grundlage des Sklaventums.

Die kommunistischen Verhältnisse mussten schließlich ersetzt werden, um auf einem Hintergrund von Kriegen und Eroberungen ein höheres Produktivitätsniveau zu nutzen.

Die asiatische Produktionsweise

Dieses bislang noch wenig ergründete Wirtschaftssystem war im Allgemeinen das Ergebnis des Bedürfnisses bestimmter Gemeinschaften, auf die von der Natur in bestimmten Gegenden aufgeworfenen Probleme zu reagieren (Trockenheit, Überschwemmungen, Monsunregen usw.). In solchen Gegenden wurden die Gemeinschaften sehr schnell gezwungen, die Zyklen der Natur zu untersuchen, Projekte in Angriff zu nehmen, um mit dem Wasser hauszuhalten usw., um ihr Leben zu schützen. Die Komplexität ihrer Arbeiten, die technischen Kenntnisse, die zu diesem Zweck erforderlich waren, sowie die Notwendigkeit einer Autorität, die all diese Arbeiten koordinierte, haben Schichten von Spezialisten (Priester, die sich mehr mit Untersuchungen und der Beobachtung der Natur beschäftigten, standen oft am Anfang der Kastenbildung) hervorgebracht. Mit einer besonderen Aufgabe in den Diensten der Gemeinschaft befasst, neigten diese Spezialisten - die oft als die Schöpfer dieser neuen Reichtümer erschienen - dazu, als herrschende Kaste aufzutreten. Sie eigneten sich schrittweise die erarbeiteten Mehrwerte auf Kosten der Gemeinschaft an. Die Entwicklung der Produktivkräfte wandelte diese Diener der Gesellschaft in deren Ausbeuter um.

Die "asiatische Produktionsweise" ließ jedoch diese "gemeinschaftlichen Produktionsverhältnisse" innerhalb der Bereiche der Produktion selbst fortbestehen. Die herrschende Klasse eignete sich nur den von der Arbeit dieser Gemeinschaften produzierten Mehrwert an. Aber eine erste Überwindung des primitiven Kommunismus fand damit statt. Die Notwendigkeit, neue Produktionstechniken anzuwenden, bewirkte den Übergang zu neuen Produktionsverhältnissen und die Aufgabe der alten. Die Einführung neuer Produktionstechniken löschte schließlich die letzten Reste von "Gleichheit" innerhalb dieser Gesellschaften aus. Das Düngen des Bodens und noch allgemeiner die Notwendigkeit, eine engere Verbindung zwischen den Bewohnern und dem Boden zu schaffen, führten in den meisten Fällen dazu, dass die systematische Neuaufteilung des Lands, die zuvor willkürlich oder den Bedürfnissen der Familien gemäß erfolgte, abgeschafft wurde. Die Notwendigkeit, eine größere Kontinuität bei der Bearbeitung des Bodens zu ermöglichen, manchmal aber auch die Exzesse bei den Steuerbelastungen, brachte ebenso den Übergang vom Gemeineigentum zum Privateigentum mit sich. Und damit entfaltete sich auch langsam die wachsende Ungleichheit, wodurch mit der Zeit ein Teil der Bevölkerung gezwungen wurde, die Böden der Reichen zu bearbeiten, um dafür im Gegenzug einen Teil der Ernte zu erhalten. Es wuchs eine Hierarchie in der Gesellschaft heran, die die Gestalt der Leibeigenschaft oder des Feudalismus annahm.

Die kommunistischen Produktionsverhältnisse brachen unter dem Druck des Fortschritts der Produktivkräfte zusammen, um von der Sklavengesellschaft oder dem östlichen Despotismus (und dieser wiederum von der Leibeigenschaft) abgelöst zu werden, denn die Produktivkräfte kollidierten mit dem alten Rahmen.

"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten" (ebenda).

Das Ende der Sklavengesellschaft

Als Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte in den Gegenden, wo ein Volk ein anderes unterworfen hat, ermöglichte die Sklavengesellschaft die Aneignung der Mehrarbeit durch einen Teil der Bevölkerung, der von dem Rest der Gesellschaft erarbeitet worden war. Als herrschende Klasse, die nach Profiten und Privilegien strebten, wurden die Sklavenherren zu Antreibern der Entwicklung der Produktivkräfte. Aber diese eng mit den Eroberungskriegen verbundene Entwicklung nahm überall die Form der Zunahme der Zahl der Sklaven und der großen Arbeiten an, die die Ausplünderung der eroberten Länder erleichterten. Auf diesem Hintergrund entfalteten sich die Zivilisation in Griechenland und im alten Rom.

Die römische Sklavenwirtschaft - deren Niedergang die Tür öffnete zum Feudalismus - stützte sich auf die Plünderung und die Ausbeutung der unterworfenen Völker. Diese lieferten Rom den Hauptteil der Subsistenzmittel (Lebensmittel, Tributleistungen und Sklaven). Es trat gar häufig auf, dass viele so "importierte" Güter das Ergebnis verschiedener Produktionsformen waren, wie z.B. der "asiatischen Produktionsform". Aber das Zentrum lebte weiter in der Sklavengesellschaft, und sie befasste sich hauptsächlich mit der extensiven Ausbeutung (Olivenbäume und Viehzucht) und den großen Arbeiten. Diese dienten oft militärischen Zielen, die wiederum eine bessere Ausnutzung der Kolonien (Straßen usw.) ermöglichten und dem herrschenden Volk viele Vorteile verschafften.

Die politische Macht floss oft zusammen mit der herrschenden militärischen Macht. Und der wirtschaftliche Wohlstand hing meist von den kriegerischen Fähigkeiten der Metropole ab.

Die große Entfaltung der römischen Zivilisation entsprach dem Zeitraum der großen Siege und Eroberungen Roms. Ihr Höhepunkt war die Phase, als Rom die Gegend des Mittelmeers beherrschte und sie ausbeutete. Gleichzeitig entsprach der Niedergang des Römischen Reiches im 2. Jahrhundert dem Ende der Ausdehnungsphase, und im 3. Jahrhundert gab es dann die ersten Niederlagen des Imperiums (251 wurde der Kaiser Decius besiegt und von den Goten getötet, 260 wurde der Kaiser Valerian gefangengenommen, schließlich vom König der Perser gedemütigt. Und im 3. Jahrhundert brachen überall nahezu gleichzeitig Revolten in den Kolonien des Reiches aus).

Die Schwierigkeit, die Herrschaft in so einem großen Reich mit den damals vorhandenen Mitteln aufrechtzuerhalten, liefert uns zum Teil die Gründe für die Erklärung des Endes der Ausdehnung des Römischen Reiches. Aber vor allem der Abstand zwischen der schwachen wirtschaftlichen Produktivität der Sklavengesellschaft Roms und seiner Kolonien (die sich ohne eine höhere Produktivität mit ihren asiatischen Produktionsweisen entwickelt hatten), musste den Aufstand der letzten erfolgreich enden lassen.

Die Produktionsverhältnisse der Sklavengesellschaft ermöglichten nur eine schwache Arbeitsproduktivität. Unter den damaligen Bedingungen musste ein Ansteigen der Arbeitsproduktivität einhergehen mit der Perfektionierung der Bearbeitung des Bodens, dem Einsatz von Pflügen und Dünger, und der systematischen Bewässerung, d.h. der Schaffung einer engen Verbindung zwischen demjenigen, der den Boden bearbeitete und dem Boden und damit eine gewisse Sorgfalt bei der Arbeit. Dies war für die Einführung der neuen Produktionstechniken erforderlich. Solch ein Fortschritt verlangte die Abschaffung der Sklaverei, in der die Sklavenherren ihre Sklaven unabhängig von ihrer Produktivität unterhielten, und in der nur die Angst vor der Strafe zur Arbeit und Produktion zwang, und damit natürlich mit der geringsten Sorgfalt gearbeitet wurde.

Die Sklaverei war nur lohnend als ein Mittel zur Ausbeutung der eroberten, unterworfenen Völker. Unabhängig davon, ob diese Eroberungen eingestellt wurden oder abnahmen, die Beute damit ausblieb, d.h. die Quelle des Reichtums aus den Tributzahlungen und der Sklavenarbeit versiegte, wodurch der Wert der Sklaven nur noch anstieg, all das änderte nichts daran, dass die Sklaverei zu einem unrentablen System wurde, einer Fessel für die Entwicklung der Produktion.

Die Notwendigkeit, zu einer neuen Form der Produktionsverhältnisse überzugehen, führte im Zentrum des alten römischen Reiches zum Auftauchen von feudalen Ausbeutungsformen (Leibeigenschaft), wo die großen Grundbesitzer Landstücke an "freie" Familien im Austausch für einen Teil ihrer Produktion überließen. Aber die Überwindung der Sklaverei führte auch zur Verwerfung der Privilegien der herrschenden Klasse. Der "Zusammenprall" zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft und den vorhandenen, bis dahin bestehenden Produktionsverhältnissen bewirkte den Niedergang des Römischen Reiches.

"Die Entfaltung der Produktion verlangsamte sich oder kam ganz zum Stillstand. Die reichen Römer strichen die Ausbeute der Minen und die jeweiligen Ernten ein, Weideland und Wälder in halb-trockenen Gebieten verschwanden. Die Arbeitskräfte wurden zügellos ausgebeutet, wodurch Unzufriedenheit und Lustlosigkeit gegenüber der Arbeit hervorgerufen wurde. Neue Arbeitstechniken wurden gar verboten, neue Bewässerungs- und Abwassersysteme vernachlässigt, obgleich diese lebenswichtig waren... Kriege, Epidemien und der Mangel an Lebensmitteln sowie eine wachsende Ablehnung gegenüber kinderreichen Familien sollten die Bevölkerung des Reiches auf über ein Drittel der vorherigen Größe schrumpfen lassen, vielleicht gar noch mehr. Und in Italien sank sie im Laufe des 3 Jahrhunderts noch mehr ab"  

(Shepard B. Clough, "The Rise and Fall of Civilisation", S. 140-142, Editions Payot).

Der Feudalismus

Nach dem Sklaventum oder der asiatischen Produktionsform ermöglichte der Feudalismus jahrhundertelang einen neuen Aufstieg der Produktivkräfte der Gesellschaft.

In den feudalen autarken Beziehungen erreichte die Landarbeit einen bis dahin nicht erreichten Höchststand (Verbesserung der Pflüge, die Hufe der Zugtiere wurden beschlagen, Verbesserung der Gespanne - sie wurden entweder am Kopf oder am Hals anstatt um den Bauchbereich angebracht - Entfaltung der Bewässerungssysteme und des Düngens usw.).  Auch gab es neben der Fortentwicklung der Landarbeit eine umfangreiche Weiterentwicklung der Arbeit der Handwerker. Sie hatte sich als einfaches Anhängsel der Landwirtschaft entfaltet, denn sie lieferte Arbeitswerkzeuge und bestimmte Konsumgüter, die für die herrschende Klasse bestimmt waren (hauptsächlich Kleidung und Kriegswerkzeug). Das Handwerk profitierte von dem Bedürfnis für neue Werkzeuge sowie von dem Anwachsen der Reichtümer der Bodenbesitzer infolge des Ansteigens der Produktivität in der Landwirtschaft. Dieser letzte Faktor spielte eine umso größere Rolle, da die Klasse der Gutsherren, bei der die Akkumulation zum Zwecke der Erweiterung der Produktion noch nicht bekannt war. Dies war ein Wesenszug der bürgerlichen Klasse, denn die Feudalherren verwendeten ihren ganzen Reichtum nur für den persönlichen Konsum.

Aber der Feudalismus traf schon vom 12. Jahrhundert an auf die Grenzen der Ausdehnungsfähigkeit seiner anbaufähigen Landstücke. "Es gibt ausreichend Hinweise auf den Mangel an Böden gegen Ende des 13. Jahrhunderts, um zu der Meinung zu kommen, dass die Ausdehnung der anbaufähigen Landstücke schwächer war als das natürliche Anwachsen der Bevölkerung und dass mit Ausnahme von einigen Orten sie wahrscheinlich unzureichend war, um die Tendenz des Absinkens der Arbeitsproduktivität auszugleichen. Der Druck, der so auf die Böden ca. seit dem Jahre 1.200 in Holland, Sachsen, Rheinland, Bayern und Tirol ausgeübt wurde, war ein Faktor, der zu einer massiven Völkerwanderung nach Osten führte. Und ab dem Ende des 14. Jahrhunderts waren die Grenzen der Waldrodung zum Zweck der Gewinnung von Acker- und Weideland im Nord-Osten Deutschlands und in Böhmen schon erreicht" (Maurice Dobb "Untersuchungen über die Entwicklung des Kapitalismus, S. 59).

"Die Zeitgenossen des Heiligen Ludwig und in einigen Gegenden von Philipp dem Schönen konnten tatsächlich ein Anwachsen des Wertes der Böden feststellen, deren Ertrag bis an ihre Grenzen gelangt waren. Die gewagtesten Rodungen und Urbarmachungen wurden unternommen, weil man immer mehr Menschen ernähren musste, und da man nicht wusste, wie die Bodenerträge gesteigert werden könnten, stützte man sich auf die Erweiterung der Größe des landwirtschaftlich genutzten Bodens. Heide und brachliegende Landstriche wurden für den Ackerbau genutzt. Sumpfgegenden an englischen Küstenstrichen, die Sümpfe um den Poitou wurden trockengelegt und der landwirtschaftlichen Nutzung zugeführt - je nach den technisch vorhandenen Möglichkeiten. Manchmal ging man aber auch zu weit" (J. Favier, "Von Marco Polo zu Christopher Kolumbus", S. 125).

Von da an konnte die Gesellschaft aus dieser Sackgasse nur durch eine neue Entwicklung der Produktivität der Arbeit ausbrechen. Aber diese war innerhalb des Rahmens der Familienmäßigen handwerklichen Ausbeutung auf ihre äußersten Grenzen gestoßen. Nur der Übergang von der individuellen zur assoziierten Arbeit, in der viele Menschen mittels Arbeitsteilung und dem Einsatz von komplexeren Produktionsmitteln zusammenwirkten, konnte unter jenen Bedingungen die notwendige Steigerung der Produktivität ermöglichen.

Die Entfaltung der Handwerksarbeit, die vom Feudalismus bewirkt wurde, schuf damit in den wiedererstarkenden Städten den notwendigen Rahmen für solch eine Arbeitsform.

Aber der feudale Rahmen selber blockierte die Bedingungen, die eine wirkliche Entwicklung dieser Wirtschaftsform ermöglichten:

- einerseits stützte sich der Feudalismus auf die lebenslange Fesselung des Menschen an seine Produktionsmittel sowie an den Gutsbesitzer, wogegen die Manufaktur eine große Mobilität der Arbeitskraft forderte, damit eine Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln,

- andererseits war der Feudalismus das System der lokalen Macht, der Autarkie, des abgeschlossenen Bereiches und der Wegegelder, die für alle Güter erhoben wurden, welche durch die Gutsherrenbesitztümer befördert wurden. Aber die Manufaktur erforderte auch hier die Mobilität der Rohstoffe und der Waren im Allgemeinen, wodurch eine Entwicklung einsetzte, in der sich die Produktion an einem Ort konzentrierte, mit Produkten, die aus allen Himmelsrichtungen kamen, sowie der Absatz dieser Produkte,

- schließlich stützte sich die Manufaktur auf die Akkumulation und die Konzentration der Profite, um die Werkzeuge und die Maschinen besser auszunutzen, zu erneuern und zu erweitern, was nur durch eine arbeitsteilige Produktion möglich ist. Sie erfordert also eine Geisteshaltung der Erfolgssuche, des Gewinnstrebens bei der Arbeit und dies wurde verkörpert durch das Recht, die dadurch erzielten Gewinne selber einzukassieren. Aber die Privilegien der Feudalherren stützten sich wiederum auf die militärische und nicht die wirtschaftliche Stärke und dann ausschließlich auf die Gesetze der Übertragung von Gütern gemäß Erbschaften.

Hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit war der Gutsherr dem Leibeigenen gleichgestellt oder stand sogar unter ihm. Deshalb verachtete die Feudalgesellschaft die Arbeit, die als etwas Erniedrigendes dargestellt wurde.

Für den Feudalherren war es ein Vergnügen, seine Macht zu zeigen, indem er seine ganzen Einnahmen selber verbrauchte. Die Feudalwirtschaft kannte nicht und verwarf die Akkumulation mit Ziel des Anwachsens der Produktion, wodurch wiederum eine Hürde für die Manufaktur aufgestellt wurde.

Nachdem der Feudalismus anfänglich eine neue Entwicklung der Produktivkräfte ermöglicht hatte, wurde er so selber später ca. vom 14. Jahrhundert an zu einem Hindernis für die weitere Entwicklung, denn er war auf die Grenzen der Expansion gestoßen, weil er die bestellbaren, landwirtschaftlich nutzbaren Flächen nicht mehr vergrößern konnte und gleichzeitig eine produktivere Wirtschaftsform behinderte.

"Anfang des 14. Jahrhunderts war das Ende der Ausdehnungsphase der mittelalterlichen Wirtschaft. Bis dahin gab es beständige Fortschritte in der mittelalterlichen Wirtschaft. (...). Aber Anfang des 14. Jahrhunderts war es zum Stillstand dieser Entwicklung, zum Niedergang, zur Dekadenz gekommen. Wenn man sich nicht zurückentwickelt, geht man nicht mehr nach vorne. Europa lebte sozusagen auf der Grundlage der bis dahin erreichte Positionen. Die wirtschaftliche Front stabilisierte sich... Das wirtschaftliche Vorandrängen kam zum Erliegen, weil der Außenhandel auch nicht mehr zunahm... In Flandern und in Brabant hielt die Tuchherstellung noch ihre Blütephase aufrecht, aber ihr Wohlstand nahm nicht mehr zu; gegen Mitte des Jahrhunderts sackte er plötzlich in sich zusammen. In Italien machten die meisten der großen Banken, die so lange den Geldhandel kontrolliert hatten, pleite.... Die Dekadenz der großen Jahrmärkte in der Champagne setzte auch damals zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein. Damals wuchs auch die Bevölkerung nicht mehr, und dies war das klarste Symptom des Zustands einer Gesellschaft, die sich "stabilisiert" hatte und einer Entwicklung, die ihren Höhepunkt erreicht hatte" (H. Pirenne "Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Mittelalters", S. 158 PUF).

Ebenso wie zur Zeit der Sklavengesellschaft rief der Niedergang des Feudalismus Hungersnöte hervor, und das Anwachsen der Produktivkräfte hinkte stark hinter dem Anwachsen der Bevölkerung hinterher. Neben den Hungersnöten gab es meist Epidemien, die sich umso schneller ausbreiten konnten, da die Bevölkerung zumeist unterernährt war. So grassierte zwischen 1315-1317 in ganz Europa eine schreckliche Hungersnot, gefolgt von mehr als 30 Jahren schwarzer Pest, die zwischen 1347-1350 wahrscheinlich mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte.

"Es trifft zwar zu, dass bis dahin Länder, die relativ am Rand gestanden hatten, wie Polen und Böhmen, sich langsam zu aktivieren begannen. Aber ihr spätes Erwachen hat nicht zur Folge gehabt, dass die gesamte westliche Welt dadurch nochmal nach vorne gedrängt worden wäre. Wenn man nur dies berücksichtigt, wird ziemlich deutlich, dass man damals in einen Zeitraum eingetreten war, wo man "mehr aufrechterhielt als man Neues schuf". Die soziale Unzufriedenheit brachte sowohl den Willen und die Unfähigkeit, eine Lage zu verbessern zum Ausdruck, die überhaupt nicht mehr den Bedürfnissen der Menschen entsprach" (Henri Pirenne, ebenda, S. 158).

Die im 14. Jahrhundert eingesetzte Dekadenz des Feudalismus setzte sich fort bis zu den letzten juristischen Umwälzungen durch die bürgerlichen Revolutionen zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert in England und Frankreich. Aber vom 14. Jahrhundert an fing ein neuer Produktionstyp an, die ganze Gesellschaft zu beherrschen: der Kapitalismus. Indem er einen Kampf gegen die feudalen Fesseln entfaltete, war er der große Nutznießer des Auseinanderbrechens im 14. Jahrhunderts, denn er ermöglichte eine Aktivierung des Wirtschaftslebens.

DER WIRTSCHAFTLICHE ASPEKT DES KONZEPTES DER DEKADENZ

Die Entwicklung der Produktivkräfte kann unter zwei Aspekten gesehen werden:

- Ansteigen der Zahl der Arbeiter, die in die Produktion mit einem gegebenen Produktivitätsniveau integriert werden;

- Entwicklung der Produktivität der Arbeit mit einer gegebenen Zahl von Arbeitern.

In Wirklichkeit gibt es in einem sich ausdehnenden System beide Aspekte. Ein in der Krise steckendes System dagegen ist ein System, das auf die Grenzen bei beiden Ebenen gleichzeitig stößt.

Man könnte von einer "äußeren Grenze" für die Ausdehnung des Systems sprechen (der Unfähigkeit, das Einflussgebiet des Systems auszudehnen) und einer "inneren" Grenze (Unfähigkeit, eine bestimmte Stufe der Produktivität zu überwinden). Wenn man das Ende der Sklavengesellschaft betrachtet, das Römische Reich, sieht man, dass die "äußere Grenze" durch die materielle Unmöglichkeit bestimmt wird, den Einzugsbereich des Reiches auszudehnen. Die "innere Grenze" ist die Unmöglichkeit, die Produktivität der Sklaven zu erhöhen, ohne dass das gesellschaftliche System selber umgewälzt wird, ja ohne, dass der Sklavenstatus selber abgeschafft wird. Im Falle des Feudalismus sind dies das Ende der Neulandgewinnung, die Unmöglichkeit, neues bestellbares Land zu gewinnen, was als "äußere Grenze" wirkt. Die "innere" Grenze besteht in der Unfähigkeit, die Produktivität des Leibeigenen oder des einzelnen Handwerkers zu erhöhen, ohne dass sie zu Proletariern würden, ohne für sie die assoziierte Arbeit durch das Kapital einzuführen, d.h. ohne eine grundlegende Umwälzung der feudalen Wirtschaftsstrukturen.

Die Untersuchung dieser beiden Art Grenzen zeigt eine dialektische Verbindung zwischen beiden: Rom konnte sein Reich aufgrund der technischen Grenzen (Produktivität) nicht unbeschränkt ausdehnen; umgekehrt je mehr die Schwierigkeiten der Ausdehnung zunahmen, desto mehr war es gezwungen, seine eigene Produktivität zu erhöhen, wodurch diese wiederum bis an ihre äußersten Grenzen getrieben wurde. Auch die feudalen Neulandgewinnungen, die Rodungen und Urbarmachungen von neuen Feldern waren durch das Niveau der Techniken im Feudalismus begrenzt, und je knapper die Felder wurden, desto mehr versuchte man in den Städten und auf dem Lande, die Produktivität in der Feudalgesellschaft bis an den Rand des Kapitalismus zu treiben.

Letzten Endes wird diese Lage durch die Grenzen hervorgerufen, auf die die Entwicklung der Produktivität innerhalb der alten Gesellschaft stößt. Diese Produktivität ist gerade der Maßstab für die Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. Sie ist der quantitative Ausdruck einer gewissen Kombination der menschlichen Arbeit und der Produktionsmittel, der lebendigen und toten Arbeit.

Jeder Stufe der Entwicklung der Produktivkräfte, d.h. jedem globalen Niveau der Produktivität entspricht ein gewisser Typ der Produktionsverhältnisse. Wenn diese Produktivität auf ihre äußersten möglichen Grenzen innerhalb des ihr entsprechenden Systems stößt, tritt diese Gesellschaft - wenn sie nicht umgewälzt wird - in die Phase ihres wirtschaftlichen Niedergangs. Dann gibt es so etwas wie einen "Schneeballeffekt": die ersten Auswirkungen der Krise wirken als beschleunigende Faktoren. Z.B. sowohl am Ende des Römischen Reiches als auch beim Niedergang des Feudalismus trieb der Rückgang der Einkommen der herrschenden Klassen diese zur Verschärfung der Ausbeutung der Arbeitskräfte bis zu deren Erschöpfung. In beiden Fällen hat dies zur Folge, dass die Arbeiter sich abwenden, kein Interesse zeigen und die Unzufriedenheit zunimmt, was die Profite nur noch weiter fallen lassen wird. Auch die Unmöglichkeit, neue Arbeiter in die Produktion zu integrieren, zwingt die Gesellschaft dazu, für den Lebensunterhalt einer ganzen Schicht von inaktiven Menschen zu sorgen, und die wiederum als eine Last für den Profit wirken.

Hier muss man auch die galoppierende Entwertung der Währungen feststellen, die es gegen Ende des Mittelalters gab: "Rom hatte darauf gehofft, die Regierungsausgaben durch erhöhte Steuern zu decken, aber als sich diese als unzureichend herausstellten, musste man auf die Inflation zurückgreifen (gegen Ende des 2. Jahrhunderts). Dieses erste Mittel wurde hin und wieder während des 3. Jahrhunderts eingesetzt, und bestimmte Währungen verloren mehr als 200 % ihres Wertes. Aus diesem Grund zerfiel die Währung des Reiches, jede Stadt und jede Provinz gab ihre eigene Währung aus" (Shepard und B. Clough, ebenda, S. 141).

Und gegen Ende des Mittelalters:

"In einer Welt, in der die Geldmasse nicht mehr ausreichend war, ließen die Zahlungen (an die Soldaten, welche für den Schutz gegen Banden oder in Kriegen eingesetzt wurden) noch das Bedürfnis nach dem kostbaren Metall ansteigen, damit der Versuch, den Wert der im Kreislauf befindlichen Münzen zu hoch anzusetzen. Der Nennwert und das Gewicht der Münzen nahmen ab, aber die Herrscher traten für eine Erhöhung ihres Zahlungswertes ein. Die Geldmünze, die zwei Sou wert war, enthielt nunmehr weniger reines Silber und mehr Blei und wurde mit 3 Sou gehandelt. Das war die Inflation" (J. Favier, ebenda, S. 127).

Neben diesen ökonomischen Konsequenzen rief die Krise eine Reihe von gesellschaftlichen Erschütterungen hervor, die ihrerseits wiederum die schwache Subsistenzwirtschaft behinderte. Die weitere Entfaltung der Produktivität stieß systematisch mit den vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen zusammen, wodurch in immer stärkerem Maße jede neue Entwicklung der Produktivkräfte unmöglich wurde. Die Überwindung der alten Gesellschaft rückte auf die Tagesordnung.

"Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist..." (ebenda). Tatsächlich hat es nie ein System geschafft, wirklich alle Produktivkräfte zu entwickeln, die es theoretisch entfalten könnte.

Einerseits sind die wirtschaftlichen Konsequenzen und die gesellschaftlichen Katastrophen, welche aus den ersten großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten hervorgehen, die wir oben erwähnt haben, Fesseln, die das System daran hindern, bis an seine äußersten Grenzen zu stoßen. Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass ein Wirtschaftssystem eine Gesamtheit von Produktionsverhältnissen ist, die sich zwischen den Menschen entwickelt haben, unabhängig von ihrem Willen und entsprechend dem Niveau der Produktivkräfte, mit dem Ziel, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Lange bevor das letzte Produktionsinstrument entfaltet wurde, und während der Produktion schon angefangen hat, langsamer als die Bedürfnisse der Bevölkerung zu wachsen, verliert das System seine historische Daseinsberechtigung, und alles in der Gesellschaft drängt auf seine Überwindung.

Andererseits fangen die Grundlagen der neuen Gesellschaft unter dem Druck der Produktivkräfte an, sich innerhalb der alten zu entfalten. Aber dies trifft nur auf die früheren Gesellschaften zu, in denen die Klasse, die die Überwindung eines Systems ermöglicht hat, nie eine ausgebeutete Klasse war. Der Feudalismus entfaltete sich innerhalb der alten Sklavengesellschaft des Römischen Reiches. An der Spitze der ersten feudalen Güter in Rom standen oft alte Mitglieder des Stadtrates, die vor dem Staat flüchteten, welcher sie für das Eintreiben der Steuern verantwortlich gemacht hatte.

Ebenso gegen Ende des Feudalismus wurden Mitglieder des Adels zu Geschäftsleuten, und in den Städten entfalteten sich oft gegen den Widerstand der örtlichen Gutsherren die ersten Manufakturen, die dem Kapitalismus seinen Einzug ermöglichten.

Diese "ersten Zentren des zukünftigen Systems" (große römische Gutshöfe, bürgerliche Städte) entstanden meist als Ergebnis des Zerfalls des alten Systems. Es gab dort jeweils eine Vielzahl von Elementen, die vor dem alten System flüchteten. Als Ergebnisse, Sprösslinge der Dekadenz des Systems, verwandelten sie sich meist schnell zu beschleunigenden Faktoren dieses Niedergangs.

Die materiellen Bedingungen ermöglichten den Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform, die schon in der alten Gesellschaft herangereift war, und der Druck, der von ihnen ausgeübt wurde, reichte meist aus, um die ersten Keime einer neuen Gesellschaft in ihr empor sprießen zu lassen.

"... und neue Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind" (ebenda).

Es reicht nicht aus, dass die Produktion auf die äußersten Grenzen der alten Gesellschaft stößt. Auch müssen die Mittel zu ihrer Überwindung vorhanden sein, oder dabei sein zu entstehen. Wenn diese beiden Bedingungen geschichtlich vorhanden sind, steht die Einführung neuer Produktionsverhältnisse auf der Tagesordnung. Aber der Widerstand der alten Gesellschaft (Widerstand der alten privilegierten Klassen, Trägheit der Sitten und Gewohnheiten, Ideologie und Religion usw.) und der Spalt zwischen der Verwirklichung dieser beiden Bedingungen bewirken, dass der Übergang zur neuen Gesellschaft nicht in einer kontinuierlichen, schrittweisen Art erfolgt.

Die Niedergangs Stufe eines Systems ist der Zeitraum, in der dieser zu verwirklichende geschichtliche Sprung noch nicht gemacht wurde. Sie ist der Ausdruck eines wachsenden Widerspruches zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Es ist, als ob ein Körper in einer Kleidung, einem Korsett steckt, das zu eng geworden ist.

Solange die Gesellschaft in diesen Bedingungen gefangen bleibt, brechen eine Reihe von typischen Phänomenen auf, die alle diesen Widerspruch zum Ausdruck bringen. Wir wollen nun auf diese Merkmale zu sprechen kommen.

DIE UMWÄLZUNG DES ÜBERBAUS

Wenn die Wirtschaft erschüttert wird, gerät der ganze, sie unterstützende Überbau ebenfalls in eine Krise und in Verfall. Die Anzeichen dieses Zerfalls sind alles charakteristische Erscheinungsweisen des Niedergangs eines Systems. Auch sie werden später zu Faktoren, die den Prozess der Dekadenz beschleunigen. Viele bürgerliche Politiker haben darin die Hauptursache, die Hauptantriebskraft des "Endes der Zivilisation" gesehen.

Wir werden uns hier mit vier Phänomenen des "Überbaus" befassen, die sowohl beim Niedergang der Sklavengesellschaft wie bei dem des Feudalismus auftraten. Es handelte sich dabei nicht um einen Zufall der Geschichte, sondern um typische Phänomene für die Dekadenz eines Systems.

Es geht dabei um:

- den Zerfall der herrschenden ideologischen Formen innerhalb der alten Gesellschaft,

- die Entfaltung von Kriegen zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse,

- die Intensivierung und Entwicklung der Klassenkämpfe,

- die Verstärkung des Staatsapparates.

1) DER ZERFALL DER IDEOLOGISCHEN FORMEN

Die herrschende Ideologie in einer in Klassen gespalteten Gesellschaft ist notwendigerweise die Ideologie der herrschenden Klasse. Ob diese sich "erweitern", "bereichern", "entfalten" kann, hängt von der wirklichen Fähigkeit dieser Klasse ab, dass ihre Herrschaft von der gesamten Gesellschaft akzeptiert wird. Eine Gesellschaft akzeptiert nur eine vorhandene Ideologie, wenn ihr Wirtschaftssystem ihren Bedürfnissen entspricht. Je mehr ein Wirtschaftssystem den Wohlstand und die Sicherheit der Menschen garantieren kann, desto mehr akzeptieren die Menschen, die unter diesem System leben, dessen Auffassungen zur Rechtfertigung des Systems. Unter den Bedingungen der Ausdehnung, der aufsteigenden Phase können die Ungerechtigkeiten der wirtschaftlichen Verhältnisse als "ein notwendiges Übel" erscheinen. Die Überzeugung, dass "schließlich jeder auf seine Kosten kommt" ist der Nährboden für das Sprießen von demokratischen Ideologien - vor allem bei dem Teil, der den größten Nutzen daraus zieht, die herrschende Klasse.  

Das Regime der Republik entspricht der Blütezeit der römischen Wirtschaft; in dem sich ausdehnenden Feudalismus übte der König nur die oberste Herrschaft aus, er war der Auserwählte unter Gleichen. Die Gesetzgebung selber war relativ wenig entwickelt, denn das System entsprach den objektiven Bedürfnissen der Gesellschaft, so dass die Mehrzahl der Probleme von "selbst geregelt" werden konnte.

Die Wissenschaften entfalteten sich, die Philosophie neigte zum Rationalismus, zum Optimismus und zur Zuversicht in den Menschen. Das schamhafte Gesicht einer jeden Ausbeutungsgesellschaft war durch die wirtschaftliche Blütephase relativ verwischt worden; die Ideologien standen nicht so sehr vor der Notwendigkeit, die Wirklichkeit zu vertuschen und Unmögliches zu rechtfertigen. Die Kunst selber spiegelte diesen Optimismus wider und es gab "Höhepunkte" der Kunst in den Blütephasen der Wirtschaft (was man seinerzeit "das Goldene Zeitalter" der lateinischen Kunst nannte, ging einher mit der Phase der vollen Ausdehnung des Reiches; in den Blütephasen des 11. und 12. Jahrhunderts z.B. gab es auch im Feudalismus eine künstlerische und geistige Erneuerung).

Aber die Produktionsverhältnisse schlugen um in eine Fessel für die Gesellschaft, und alle, der Vergangenheit zugehörigen Ideologieformen waren entwurzelt, ihres Inhaltes entleert, von der Wirklichkeit selber widerlegt. Im niedergehenden römischen Reich konnte die Ideologie der politischen Macht nur eine immer stärkere "übernatürliche" und diktatorische Form annehmen. Auch in der Niedergangsphase des Feudalismus gab es eine Tendenz, dass der Wesenszug des "Erhabenen" der Monarchie und der adligen Privilegierten mehr an Gewicht annahm, dem jedoch in Wirklichkeit der Boden entzogen wurde durch die Warenbeziehungen, die die Bourgeoisie einführte.

Die Philosophie und die Religionen spiegelten einen wachsenden Pessimismus wider, das Vertrauen in die Menschen wich der Flucht in den Fatalismus und einen wachsenden Obskurantismus (Aufblühen des Stoizismus, schließlich des Neoplatonismus im niedergehenden Römischen Reich. Im Stoizismus sprach man von den Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen durch die Schmerzen, die zweitgenannte Ideologie verwarf die Fähigkeit des Menschen, die Probleme der Welt mit Hilfe des Verstandes zu begreifen).

Am Ende des Mittelalters gab es das gleiche Phänomen:

"In diesem Niedergang gab es ein Aufblühen des Mystizismus in all seinen Formen. Die Darstellung der Kunst des Sterbens und die Imitation Jesus Christus standen im Vordergrund. Aber auf emotionaler Ebene rückten die großen öffentlichen Sympathie- und Mitleidsbekundungen in den Vordergrund, die so betont wurden von den predigenden Mitgliedern der Bettelmönche. Auf dem Lande gab es überall Geißelbrüder, die sich mit Riemenschlägen auf die Brust auf den Dorfplätzen zur Schau stellten, um das menschliche Mitgefühl zu erwecken und die Christen zur Buße aufzurufen. Diese Erscheinungen riefen seltsame Phänomene hervor, wie diese Blutbefleckungen, die den Erlöser darstellen sollen. Sehr schnell brach eine Hysterie aus, und die Kirchenoberen traten auf den Plan, um sich gegen diese "Unruhestifter" zu stellen und zu verhindern, dass ihr Wirken noch die Zahl der Vagabunden anschwellen lässt... Die Kunst des Makaberen blühte auf. Heilige Texte genossen selbst bei den "hellsten und aufgewecktesten Köpfen" große Anerkennung: die Apokalypse" (Favier, ebenda, S. 152).

All dies spiegelt den wachsenden Graben zwischen den Verhältnissen wider, die die Gesellschaft beherrschen und den bis dahin herrschende Ideen.

Die einzigen Ideologien, die in solchen Zeiten einen Aufstieg erleben, sind einerseits das Recht und andererseits die Ideologien, die eine neue Gesellschaft ankündigen.

Das Recht in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft kann nur der Ausdruck der Interessen und des Willens der herrschenden Klasse, eingepackt in Gesetze, sein.  Es sind die Regeln, die das "gute Funktionieren" des Ausbeutungssystems ermöglichen. Am Anfang eines neuen Gesellschaftssystems erfährt der ganze Bereich des Juristischen deshalb einen besonderen Aufschwung, wenn nämlich "neue Spielregeln" eingeführt werden, aber auch am Ende der Gesellschaft, wenn das System immer unpopulärer und immer weniger den Bedürfnissen der Menschen angepasst ist, wird die Entschlossenheit der herrschenden Klasse, ihren "Willen" und ihre Macht gesetzmäßig durchzusetzen, immer stärker. Die Gesetze spiegeln dann die Notwendigkeit wider, den Unterdrückungsapparat zu verschärfen, der für ein überholtes System unerlässlich ist. Deshalb die Weiterentwicklung des juristischen Bereiches während der Niedergangsphase des Römischen Reiches wie auch während des Feudalismus (Diokletius, der größte Herrscher des niedergehenden Reiches, verkündete auch die meisten Erlasse und Verordnungen. Auch vom 18. Jahrhundert an erschienen die ersten Sammlungen des Gewohnheitsrechtes).

Gleichzeitig neben dem Recht der alten Gesellschaft tauchen in der Niedergangsphase derselben Ideen auf, die einen neuen Typ gesellschaftlicher Verhältnisse befürworten. Sie äußern sich in Kritiken, die zunächst noch gemäßigt und beschränkt bleiben, dann aber revolutionär werden. Sie liefern die Rechtfertigung der neuen Gesellschaft. Dieses Phänomen war besonders in Westeuropa vom 15. Jahrhundert an festzustellen. Der Protestantismus, insbesondere der Calvins, mit seiner Religion - der sich dem Katholizismus entgegenstellte - räumte die Möglichkeit eines mit Zinsen behafteten Kredites ein (eine Lebensbedingung des Kapitals). Er bejahte die geistige Bereicherung, die die Arbeit ermöglichte, und er bewunderte den "Menschen, der Erfolg hat" (wodurch man indirekt Stellung bezog gegen die Privilegien des Adels, und man rechtfertigte damit die neue Lage des arrivierten, nichtadligen Bürgerlichen), der die übernatürliche Rolle der katholischen Kirche infrage stellte (die der größte Grundbesitzer war), um die Auslegung der Bibel durch den Menschen selbst ohne Notwendigkeit eines Vermittlers zu betonen. Diese neue Religion stellte ein ideologisches Element dar, das den Kapitalismus ankündigte und als einen Motor für diesen wirkte.

Auch spiegelte die Entfaltung des bürgerlichen Rationalismus, der auch zum Erscheinen der Philosophen und Ökonomen des 17. und 18. Jahrhunderts führte, das revolutionäre Element des Konfliktes wider, in dem sich die Gesellschaft befand.

Der Zerfall der alten herrschenden Ideologie, Entfaltung der Ideologie der neuen Gesellschaft, Obskurantismus gegen Rationalismus, Pessimismus gegen Optimismus. Man fand, wie Marx sagte, all die juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen, philosophischen, kurzum die ideologischen Formen, welche dem Menschen eine Bewusstwerdung des Konfliktes ermöglichten und ihn bis an sein Ende trieben.

2) ENTWICKLUNG VON KRIEGEN ZWISCHEN FRAKTIONEN DER HERRSCHENDEN KLASSE

Die Blütezeit eines Ausbeutungssystems ermöglicht eine relative Harmonie unter den Ausbeutern und damit "demokratische Verhältnisse" unter ihnen. Aber wenn dieses System nicht mehr "rentabel" ist, wenn die Profite fallen, tritt an die Stelle der Harmonie die kriegerische Auseinandersetzung. Neben den Banden, die am Ende des Römischen Reiches und am Ende des Mittelalters tätig waren, gab es mehr Kriege zwischen Fraktionen der herrschenden Klasse.

Vom 2. Jahrhundert an gab es in Rom Kriege zwischen Rittern, Bürokraten, Armeeführern gegen Senatoren und Patrizier. "Zwischen 235 und 285 starben nur 2 von 26 Kaisern eines natürlichen Todes, und manchmal gab es bis zu 30 Thronbewerber" (S.B. Clough, ebenda, S. 142).

Gegen Ende des Mittelalters hatten die Kriege zwischen den Gutsherren solch ein Ausmaß angenommen, dass die westlichen Könige gezwungen waren, sie zu verbieten, und Ludwig IX. ging gar soweit, das Tragen von Waffen zu untersagen. Der Hundertjährige Krieg war ein Teil dieser Erscheinung.

Wenn die herrschende Klasse nicht mehr die Widersprüche des Systems unter Kontrolle halten kann, die zu einem Fall der Profite führen, besteht ihre unmittelbare Lösung darin, dass jede Fraktion versucht, der anderen etwas zu entreißen, oder zumindest Produktionsbedingungen zu ihren Gunsten einzusetzen, die ihr eine Profitsteigerung ermöglichen.

3) INTENSIVIERUNG UND ENTFALTUNG DER KLASSENKÄMPFE

In der Dekadenz eines Systems gibt es drei Phänomene, die die Intensivierung des Klassenkampfes zu einer der Haupteigenschaften dieser Niedergangs Periode machen:

- die Entfaltung der Misere. Wir haben schon gezeigt, dass gegen Ende des römischen Reiches und am Ende des Feudalismus jeweils Hungersnöte auftraten, Epidemien und eine sich ausbreitende Verarmung. Wir haben auch die Konsequenzen desselben für die privilegierte Klasse untersucht, aber natürlich leiden die ausgebeuteten Klassen am stärksten darunter. Dadurch kam es immer häufiger zu Revolten und Aufständen.

- die Verstärkung der Ausbeutung. Wir haben auch aufgezeigt, wie in einem niedergehenden System die Produktivität immer weniger durch technische Mittel erhöht werden kann. Dadurch wurden die herrschenden Klassen gezwungen, dies durch eine verschärfte Ausbeutung der Arbeitskraft auszugleichen. Diese wurde bis zur Erschöpfung eingesetzt. Bestrafungsregelungen für "fehlerhafte Arbeit" wurden verschärft usw...

Neben der Armut konnte dieser verschärfte Druck nur den Kampf der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter verstärken. Die Reaktionen der Arbeiter waren so gewalttätig, und schließlich auch so stark gegen das eigentliche Ziel der Ausbeuter gerichtet, dass die Produktivität weiter untergraben wurde, dass sowohl gegen Ende des Römischen Reiches wie auch gegen Ende des Mittelalters die Strafen durch andere Mittel ersetzt wurden (Befreiung der Sklaven und Leibeigenen).

- der Kampf der Klasse, die Träger der neuen Gesellschaft war. Gleichzeitig neben den Revolten der Ausgebeuteten entfaltete sich der Kampf einer neuen Klasse (große feudale Grundbesitzer gegen Ende des römischen Reiches, Bourgeoisie am Ende des Feudalismus), die anfingen, ihre "eigenen" Ausbeutungssysteme aufzubauen, wodurch die Grundlagen des alten zerstört wurden. Diese Klassen mussten so einen ständigen Kampf gegen die alte privilegierte Klasse führen.

Während dieses Kampfes fanden sie in den Revolten der Arbeiter immer die notwendige Stärke, die ihnen fehlte, um die alten, reaktionär gewordenen Strukturen, niederzuwerfen (nur in der proletarischen Revolution ist die Klasse, welche Trägerin der neuen Gesellschaft ist, gleichzeitig eine ausgebeutete Klasse).

Alle diese Elemente liefern die Erklärung für die Tatsache, dass die Dekadenz einer Gesellschaft notwendigerweise eine Verstärkung des Klassenkampfes mit sich bringt. So führte im niedergehenden Römischen Reich "die Situation, welche durch die Schwächen der Produktion geschaffen worden war, zu einer immer stärkeren Besteuerung, zur Abwertung des Geldes und zu einer immer größeren Unabhängigkeit der Großgrundbesitzer. Dadurch wurde die politische und gesellschaftliche Desorganisation nur noch verstärkt, und die Prinzipien, welche die Beziehungen zwischen den Menschen regelten, verschwanden... Verarmte Eigentümer, ruinierte Geschäftsleute, Arbeiter in den Städten, Sklaven, Siedler, desertierende Aufständische aus der Armee plünderten in Gallien, in Sizilien, Italien, Nordafrika und in Kleinasien. 235 erfasste eine Welle von Plünderungen ganz Norditalien. 238 gab es in Nordafrika Bürgerkrieg. 268 griffen die Siedler Galliens zahlreiche Städte an, und 269 brach in Sizilien eine Sklavenrevolte aus" (Clough, ebenda, S. 142).

"Das Ausmaß der sozialen Bewegungen, die den westlichen Teil des römischen Reiches des 5. Jahrhunderts erfassten, war beeindruckend. Alle Regionen und besonders die Bretagne, der Westen Galliens, der Norden Spaniens und Afrika wurden erschüttert..."(Lucien Musset, Les Invasions, S. 226).

Gegen Ende des Mittelalters das gleiche Bild: "Vom Ende des 13. Jahrhunderts erschütterten Arbeiteraufstände die flämischen Städte. Während des Hundertjährigen Krieges und der italienischen Spaltungen gab es viele städtische Erhebungen infolge der Misere, und vagabundierende Truppen plünderten auf dem Lande. Oft waren es die Gleichen, die Landlosen, die auch erwerbslos geworden waren: Bauernaufstände auf dem französischen Land, Tuchain aus Languedoc, Lollarden aus dem südlichen England, Maillotins aus Paris, Coquillards aus der Bourgogne. Von bestimmten Volkstribunen wurde ihre Lage ausgenutzt; auch wurde manche Revolte für eine Machtpolitik einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe oder von Individuen eingesetzt. Etienne Marcel wollte Dauphin (Gattin des französischen Thronfolgers) die Vorherrschaft einer Fraktion der reichen Bourgeoisie aufzwingen... van Artevelde hatte die Misere der flämischen Arbeiter ausgenutzt, Cola di Renzo als "Volkstribun“ das des "niedrigen Volkes", das der Exzesse der römischen Aristokratie überdrüssig geworden war. In Florenz dienten die Revolten der Ciompi, die Hungerrevolten waren, schließlich den Interessen der Medici... So führten die Kriege und das allgemeine Chaos zu Plünderungen, zu Aufständen und zu Massakern" (Favier, ebenda, S. 137, siehe auch Pirenne, S. 160 ff.).

Die Revolutionen Cromwells 1649 in England und die Französische Revolution von 1789 waren die spektakulären Ergebnisse der Kämpfe, die durch den Niedergang der Feudalgesellschaft und den Aufstieg des Kapitalismus hervorgerufen wurden.

Die Entwicklung, die Aufrechterhaltung und die Überwindung einer gegebenen Gesellschaft sind das Werk einer Gruppe von Menschen, die entschlossen sind, gemäß ihrer eigenen wirtschaftlichen Position innerhalb einer Gesellschaft zu handeln. Die Kraft zur Aufrechterhaltung eines Systems ist zunächst die der Klasse, die daraus am größten Nutzen schlägt. Die Kraft der neuen Gesellschaft ist auch die der Klasse, die davon am meisten profitiert.

So werden in den Handlungen der gesellschaftlichen Klassen alle objektiven Kräfte konkretisiert, die die Gesellschaft in Widersprüche gestürzt haben. Die Klassenkonflikte sind nichts anderes als die, die in der Wirklichkeit die Entwicklung der Produktivkräfte mit den bestehenden Produktionsverhältnissen aufeinanderprallen lassen.

4) DIE VERSTÄRKUNG DES STAATES

Während das Recht in Gestalt von Gesetzen dem Interesse und dem Willen der herrschenden Klasse entspricht, ist der Staat die bewaffnete Macht, um diese Gesetze durchzusetzen. Er ist der "Hüter" der für die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere notwendige Ordnung. Gegenüber den wirtschaftlichen und sozialen Erschütterungen, die typisch sind für die Phase der Dekadenz eines Systems, muss der Staat mit seiner Verstärkung reagieren. "Die Entwicklung der Funktion ruft die Entwicklung des Organs hervor".

GEGEN DIE GESELLSCHAFTLICHE "UNORDNUNG"

Als eine bewaffnete Kraft der herrschenden Klasse entstanden, ist der Staat hauptsächlich ein Diener dieser Klasse. Aber in diesem "Diener" bündeln sich alle Interessen der herrschenden Klasse wieder: seine Aufgabe besteht darin, eine allgemeine, globale Ordnung aufrecht zuhalten. Deshalb muss er eine umfassendere Auffassung von der Funktionsweise des Systems haben - und dessen Bedürfnissen - als die Individuen, die der herrschenden Klasse angehören. Von der Gesamtheit der Gesellschaft getrennt, weil er ein Unterdrückungsorgan in den Diensten einer Minderheit ist, unterscheidet er sich auch von dieser Minderheit durch seinen Charakter als Einheitsorgan gegenüber den verschiedenen Fraktionsinteressen oder individuellen Ausbeuterinteressen. Auch sind die Privilegien der staatlichen Bürokratie eng mit der guten Funktionsweise des Systems als Ganzes verbunden. Deshalb ist der Staat nicht nur als einziger dazu in der Lage, eine ausreichend globale Auffassung von der Wirtschaft zu entwickeln, sondern er ist auch der einzige, für den sich hinter diesen globalen Interessen auch unmittelbare und vitale verbergen.

In den Dekadenzperioden verstärkt sich auch der Staat, nicht nur weil er einer wachsenden Zahl von Revolten der unterdrückten Klasse entgegentreten muss, sondern auch weil er als einziger in der Lage ist, den Zusammenhalt der herrschenden Klasse zu gewährleisten, die sich selbst zerfleischt und bei der jeder gegen jeden kämpft.

Die Entwicklung der Macht der römischen Kaiser vor allem vom 2. Jahrhundert an sowie der Feudalmonarchien konnte sich auf eine wirkliche Rechtfertigung sowohl in ihrem Kampf gegen die Revolten der Aufständischen als auch in ihren Handlungen zum Schutz der "herrschenden Ordnung" stützen, um die Kämpfe zwischen den Teilen der herrschenden Klasse zu bremsen. Der Kaiser Septime der Strenge (193-211) enteignete gar "die Besitztümer der Senatoren und Geschäftsleute der Stadt, um sich die notwendigen Mittel für die Bezahlung der Soldaten zu verschaffen, die für seine Sicherheit und seine Macht sorgten" (Clough). Die Monarchie der Kapetinger musste sich auf Kosten der großen feudalen Grundherren entwickeln.

In den meisten Fällen stellten die Kriege einen mächtigen Faktor beim Prozess der Verstärkung des Staatsapparates dar. Nur die staatliche Autorität kann die Zusammenfassung der dafür erforderlichen Kräfte gewährleisten. Der Staat geht somit immer verstärkt aus einem Krieg hervor. Dieser Faktor hat eine wichtige Rolle bei der Stärkung der Macht der Monarchie, insbesondere in Frankreich gespielt.

GEGEN DIE WIRTSCHAFTLICHE UNORDNUNG

Es gab ein sehr starkes wirtschaftliches Eingreifen des Staates sowohl beim Zerfall des Römischen Reiches wie auch beim Niedergang des Feudalismus.

"Was die Produktion angeht, meinte er (Kaiser Dioticius, 284-305), dass zur Anregung der Produktion eine Art "staatlich gelenkte Wirtschaft" die Aktivität der "Kollegien" regeln würde, die Ausbeutung der großen Güter und eine Preiskontrolle gewährleisten könnte. Schließlich wurden die Steuerbeträge überprüft und Maßnahmen zur Stabilisierung der Währung ergriffen" (Clough, S. 143).

Die feudalen Königreiche verstärkten sich, indem sie eine starke interventionistische Verwaltung schufen. Die Entwicklung der Bürokratie verlief so, dass die Höfe der Feudalherren aufhörten, zu "wandern" und sich in einer Stadt niederließen: Paris, Westminster, Pamplona, Moskau. Der König bediente sich seiner eigenen Beamten (Landvögte und Seneschalle in Frankreich), deren wirtschaftlichen Aufgaben im ganzen Herrschaftsbereich des Königs zunahmen.

Als die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Gesellschaft zu einer Fessel für diejenigen wurden, die in ihnen lebten, vermochte nur noch eine bewaffnete Macht für deren Weiterbestand sorgen. Als bewaffnete Macht und letzte Bündelung der Gesetze des Systems neigte der Staat dazu, die Wirtschaft in seine Hände zu nehmen.

Alles in einer niedergehenden Gesellschaft treibt zum Entstehen dieses Phänomens: die parasitären Kosten der Aufrechterhaltung einer Wirtschaft, die nicht mehr rentabel ist, führt zur Erhebung von Steuergeldern. Nur ein starker Staat kann es schaffen, diese Steuergelder aus einer ausgehungerten und zur Revolte bereiten Bevölkerung herauszupressen. Für die Kaiser des niedergehenden römischen Reiches und Feudalkönige war dies eine der Grundlagen zur Verstärkung ihrer Macht. Die Wirtschaft entsprach nicht mehr den Notwendigkeiten, die durch die gesellschaftliche Wirklichkeit entstanden waren. Die Wirtschaftsinitiativen fanden nicht mehr diesen "natürlichen Kompass" bei der Suche nach Wohlstand und Harmonie mit dem Rest der Welt. Die Intervention des Staates und seiner Kräfte wurde somit zum einzigen Mittel, um die Lähmung der Wirtschaft in einem totalen Chaos zu verhindern. Eine Tendenz zur Bürokratisierung der Gesellschaft und zur systematischen Kontrolle der Individuen entfaltete sich sowohl am Ende der Sklavengesellschaft wie auch in der Endphase des Feudalismus.

Diese Tendenz erreichte erschreckende Ausmaße zur Zeit des niedergehenden Römischen Reiches: "Jeder litt unter dieser Lage und versuchte ihr zu entweichen. Die Bauern flüchteten vom Land, die Arbeiter gaben ihren Beruf auf, die Dekurien zogen sich aus den Stadträten zurück. Die herrschende Macht wusste darauf keine Antwort: jeden an seine Lage binden, die Löcher stopfen, durch die man flüchten konnte. Die Parole hieß damals "Jeder auf seinen Posten", sonst wird die römische Kultur untergehen. Es war der Ausnahmezustand, lebenslang. Die gesellschaftlichen Bedingungen, der Beruf wurden vererbbar. Es entstanden wahre Kastensysteme, hier handelte es sich um kein primitives, spontanes Phänomen, sondern um ein neues, politisches, das von Oben aufgezwungenen war". (F. Lot, "Das Ende der Antike und der Beginn des Mittelalters", S. 109). 

Einigen Arbeitern wurden Brandwunden mit Schmiedeeisen beigebracht, um sie daran zu hindern, dass sie ihren Beruf wechselten. überall gab es Verfolgungen.

Auch gegen Ende des Feudalismus gab es dieses staatliche Eingreifen. Aber es gab einen bedeutenden Unterschied zwischen den wirtschaftlichen Aktionen im ausgehenden Mittelalter und im zerfallenden Römischen Reich.

Als die Sklavengesellschaft auseinanderbrach, trat an ihre Stelle ein System, das sich auf die Autarkie stützte, mit einer stark zerstückelten, zersplitterten wirtschaftlichen Tätigkeit. Es gab also einerseits Versuche der Verstärkung des Staates und mehr Zentralisierung durch denselben, andererseits aufkommender Feudalismus. Zwei gleichzeitige, aber dennoch vollkommen entgegengesetzte Phänomene. Der Feudalismus wiederum wurde durch den Kapitalismus überwunden, d.h. durch ein System, das immer mehr Bündelung und Eingliederung, Zusammenfassung der wirtschaftlichen Aktivität erforderte. Die Zentralisierung und das Eingreifen durch den Feudalstaat, die auf die Notwendigkeit des Überlebenskampfes des zerfallenden Feudalismus zurückgehen, waren somit objektiv Mittel für die Entwicklung der Grundlagen des Kapitalismus.

Mehrere grundlegende Faktoren zwangen die Monarchie, diese doppelte geschichtliche Rolle zu spielen:

1) die Monarchie musste oft Unterstützung in den bürgerlichen Städten zur Verstärkung ihrer Macht suchen,

2) die Klasseninteressen der Adligen als Ausbeuter konnten relativ einfach mit den Interessen der aufsteigenden Bourgeoisie in Einklang gebracht werden,

3) die aufsteigende Stärke der Bourgeoisie, die vom 15. Jahrhundert an die Grundlagen des Kapitalismus schuf, ermöglichte ihr, dem Adel eine Teilung der Macht abzuverlangen.

Die von Edward II. und III. ergriffenen Wirtschaftsmaßnahmen, die merkantilistische Politik Henry VII. in England, die wirtschaftliche Wiederaufrichtung unter Ludwig XV. in Frankreich, die von den französischen und englischen Königen vom 15 Jahrhundert ergriffenen  protektionistischen Maßnahmen, die sich alle als günstig für die wirtschaftliche Entwicklung der Industrie erwiesen, sowie das Akzeptieren der bürgerlichen Parlamente durch die beiden Monarchien zeigen, dass die Feudalmonarchie beim Prozess der ursprünglichen Akkumulation des Kapitalismus eine wichtige Rolle gespielt haben.

Aber es wäre absurd, die Feudalmonarchie nur unter diesem Aspekt zu betrachten. Die Monarchie blieb hauptsächlich feudal, sie war das letzte Bollwerk des Feudalismus. So bewiesen es jedenfalls die Tatsachen wie z.B.: der ständige Kampf zwischen dem König und dem bürgerlichen Parlament; die Verteidigung der Privilegien der Adligen (nur die Nichtadligen zahlten in Frankreich Steuern) durch den König; der Kampf gegen den Protestantismus in Frankreich, der als Religion der Bourgeoisie dargestellt wurde, schließlich die Tatsache selber, dass die Bourgeoisie in England und in Frankreich es nötig hatte, Revolutionen zu machen, um eine wirkliche Entfaltung des Kapitalismus zu ermöglichen.

Trotz dieser doppelten Rolle der feudalen Monarchie bei der Sicherstellung des Überlebens des Systems kam es unaufhaltsam zu einer Verstärkung des Staates, die typisch ist für die Dekadenz einer Gesellschaft.

Wenn man für den Niedergang einer Gesellschaft das Bild von einem Körper nimmt, dem ein für ihn zu klein gewordenes Kleid angelegt werden soll, ist die Entwicklung des Staatsapparates nur ein Versuch desselben, um sich zu verstärken, damit dem Druck, der ihn zum Zerplatzen bringt, besser standgehalten werden kann. Zerfall der herrschenden Ideologie, Entfaltung von Kriegen und Revolutionen, Verstärkung des Staates, dies waren die herausragendsten Merkmale einer niedergehenden Gesellschaft, in der die Produktivkräfte auf immer mehr Schwierigkeiten bei ihrer Entfaltung stoßen. Das Wirtschaftssystem war keine historische Notwendigkeit mehr und wurde zu einer Fessel, die die ganze Gesellschaft in eine wachsende Barbarei versinken ließ.

(aus Révolution Internationale, Nr. 5, 1973).

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Dekadenz