Arbeitslosigkeit

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Die Bourgeoisie handelt vorbeugend gegenüber der steigenden Wut der Arbeiter

Während des Winters 97/98 gab es mehrmals  in den beiden größten westeuropäischen Ländern Mobilisierungen zur Frage der Arbeitslosigkeit. In Frankreich fanden monatelang Straßendemonstrationen in den größten Städten des Landes und Besetzungen von öffentlichen Gebäuden (insbesondere der Institutionen, die mit der Auszahlung von Arbeitslosengeldern befaßt sind) statt. In Deutschland wurde am 5. Februar eine Reihe von Demonstrationen im ganzen Land abgehalten, zu denen Arbeitslosenorganisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatten. Die Mobilisierung erreichte in Deutschland nicht das gleiche Ausmaß wie in Frankreich, aber von den Medien wurde sie sehr ausführlich aufgegriffen. Stellen diese Mobilisierungen einen wirklichen Ausdruck der Kampfbereitschaft der Arbeiter dar? Wir werden später sehen, daß dies nicht der Fall ist. Dennoch ist die Frage der Arbeitslosigkeit für die Arbeiterklasse von grundlegender Bedeutung, denn sie stellt seitens des krisengeschüttelten Kapitals einen der wichtigsten Angriffe gegen  die Arbeiterklasse dar. Gleichzeitig liefert das Ansteigen und die mittlerweile permanent gewordene Arbeitslosigkeit einen der besten Beweise des Scheiterns des kapitalistischen Systems. Und gerade die Brisanz dieser Frage verbirgt sich hinter den gegenwärtigen Mobilisierungen.

Bevor wir die Bedeutung dieser Mobilisierungen untersuchen, müssen wir das Phänomen der Arbeitslosigkeit in seiner Bedeutung für die Weltarbeiterklasse und die Perspektiven dieses Phänomens erkennen.

Die Arbeitslosigkeit heute und ihre Perspektiven

Heute erfaßt die Arbeitslosigkeit große Teile der Arbeiterklasse in den meisten Ländern auf dieser Erde. In der 3. Welt schwankt der Anteil der erwerbslosen Bevölkerung zwischen 30 und 50%. Und selbst in einem Land wie China, das während der letzten Jahre von den ‘Experten’ als einer der großen Wachstumschampions gefeiert wurde, wird es in den nächsten Jahren 200 Millionen zusätzliche Arbeitslose geben (1). In Osteuropa hat der wirtschaftliche Zusammenbruch in den Ländern, die dem früheren Ostblock angehörten, Millionen von Arbeiter auf die Straße geworfen, und wenn in einigen seltenen Fällen wie Polen relativ hohe Wachstumsraten dank der Zahlung von Hungerlöhnen erzielt wurden und dadurch der Schaden eingedämmt werden konnte, stürzen in den meisten dieser Länder, insbesondere in Rußland, ungeheuer große Arbeitermassen in einen Bettlerzustand ab, die für ihr Überleben gezwungen sind,  ‘minderwertige Arbeiten’ anzunehmen, wie z.B. den Verkauf von Plastiktüten in den Gängen der Metro (2).

In den höchst entwickelten Staaten ist die Arbeitslosigkeit, auch wenn die Lage nicht so tragisch ist wie in den oben erwähnten Ländern, zu einer wirklichen Geißel der Gesellschaft geworden. So beträgt der offizielle Prozentsatz der ‘Arbeitssuchenden’ im Verhältnis zur arbeitsfähigen Bevölkerung in der gesamten Europäischen Union 11%, wogegen er 1990 nur 8% ausmachte, d.h. zu einer Zeit, als der amerikanische Präsident Bush nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks eine ‘Phase des Wohlstands’ verkündete.

Die folgenden Zahlen verdeutlichen die Bedeutung der Geißel Arbeitslosigkeit:

Man muß zu diesen Zahlen jedoch folgendes bemerken.

Erstens handelt es sich um offizielle Zahlen, die auf der Grundlage von Kriterien ermittelt wurden, die einen Großteil der Arbeitslosigkeit verdecken. Unter vielen anderen Faktoren berücksichtigen sie nicht:

- die Jugendlichen, die ihre Schulausbildung fortsetzen, weil sie keine entsprechende Beschäftigung finden,

- die Arbeitslosen, die man zur Annahme von unterbezahlten Stellen verpflichtet, weil sie sonst ihre Arbeitslosenunterstützung verlieren würden,

- die Personen, die als Umgeschulte geführt werden, weil sie so angeblich bessere Beschäftigungschancen hätten, was aber nicht stimmt,

- die älteren Arbeitnehmer, die in die Frührente geschickt wurden.

Ebensowenig berücksichtigen diese Zahlen die Teilzeitarbeitslosen, d.h. all die Beschäftigten, die keine feste Vollzeitbeschäftigung finden (z.B. die ständig steigende Zahl von Beschäftigten bei Zeitarbeitsagenturen).

Übrigens sind diese Tatsachen den ‘Experten’ der OECD gut bekannt, die in ihren Fachzeitschriften zugeben müssen, daß „die klassische Arbeitslosenrate... nicht das volle Ausmaß der Unterbeschäftigung erfaßt“. (3)

Zweitens muß man die Bedeutung der Zahlen der sogenannten ‘Klassenbesten’ - der USA und Großbritannien - verstehen. Aus der Sicht vieler Experten seien diese Zahlen der Beweis der Überlegenheit des ‘angelsächsischen Modells’ gegenüber den anderen Modellen der Wirtschaftspolitik. So haut man uns die Ohren voll mit der Tatsache, daß in den USA die niedrigste Arbeitslosenrate seit 25 Jahren erreicht wurde. Es stimmt, daß in den USA gegenwärtig ein höheres Wachstum als in den anderen entwickelten Ländern erzielt wird, und daß während der letzten 5 Jahre 11 Millionen neue Stellen geschaffen wurden. Man muß jedoch präzisieren, daß die meisten dieser Stellen McDonald-Beschäftigungsverhältnisse sind, d.h. alle Art von kleinen, prekären, sehr schlecht bezahlten Jobs, so daß die Armut solche Ausmaße angenommen hat, wie man sie seit den 30er Jahren nicht mehr kannte, mit insbesondere Hunderttausenden Obdachlosen und Millionen von Menschen, die über gar keine Krankenversorgung verfügen.

All das wird von jemandem deutlich zugegeben, der nicht im Verdacht steht, die USA zu verleumden, da er Arbeitsminister während der ersten Amtszeit Bill Clintons war und seit langem dessen persönlicher Freund ist. „Seit 20 Jahren verzeichnet ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung eine Stagnation oder einen Rückgang der Reallöhne aufgrund der Inflation. Für die meisten Beschäftigten hat sich der Lohnverfall trotz des Wiederaufschwungs fortgesetzt. 1996 lag das mittlere Realeinkommen unter dem Niveau von 1989 oder unter dem Niveau der vorherigen Rezession. Zwischen Mitte 1996 und Mitte 1997 sind die Reallöhne nur um 0,3% gestiegen, während sich der Fall der Niedrigstlöhne weiter fortsetzte. Die Zahl der Amerikaner, die gemäß der Definition und den offiziellen Statistiken als arm angesehen wird, ist heute größer als 1989“. (4)

Die Lobredner des US-amerikanischen ‘Modells’ vergessen auch meist zu sagen, daß die 11 Millionen neu geschaffener Arbeitsplätze einem Anstieg von 9 Millionen zusätzlichen arbeitsfähigen Menschen entsprechen. So ist ein sehr großer Teil der ‘wunderbaren’ Erfolge der US-Wirtschaft im Bereich Arbeitslosigkeit auf den Einsatz von künstlichen Mitteln zurückzuführen, die die Wirklichkeit verdecken sollen. In den USA gesteht man übrigens diese Tatsache sowohl in den angesehensten Wirtschaftszeitungen ein als auch seitens der politischen Instanzen selber: „Die offizielle Arbeitslosenrate in den USA liefert immer weniger ein wirkliches Bild über die tatsächliche Situation auf dem Arbeitsmarkt.“ (5) Dieser Artikel zeigt, daß „unter der männlichen Bevölkerung von 16-55 Jahren die offizielle Arbeitslosenrate nur 37% der Beschäftigungslosen als ‘Arbeitslose’ überhaupt erfaßt; die verbleibenden 63%, die zwar weiterhin dem arbeitsfähigen Alter zugerechnet werden, werden jedoch als ‘nicht-beschäftigt’, als ‘außerhalb der aktiven Bevölkerung’ geführt.“ (6)

Die offizielle Zeitschrift des US-Arbeitsministeriums erklärte: „Die offizielle Arbeitslosenrate kommt uns zupaß und ist gut bekannt. Indem wir uns jedoch zu sehr auf diesen einzigen Maßstab richten, entwickelt sich ein entstelltes Bild der Wirtschaft der anderen Länder im Vergleich zu den USA (...). Andere Indikatoren sollten berücksichtigt werden, wenn man die jeweiligen Lagen auf den jeweiligen Arbeitsmärkten wirklich richtig interpretieren will.“ (7)

Tatsächlich kann man ausgehend von Untersuchungen, die nicht von schrecklichen ‘Subversiven’ verfaßt wurden, vermuten, daß in den USA eine Arbeitslosenrate von 13% der Wirklichkeit näher kommt als die von unter 5%, die überall als der Beweis für das ‘amerikanische Wunder’ vorgezeigt wird. Könnte das anders sein, wenn man nur diejenigen als Arbeitslose (gemäß den Kriterien des Internationalen Büros für Arbeit) aufführt, die -

- in der Bemessungswoche weniger als eine Stunde gearbeitet haben,

- die während dieser Woche aktiv eine Arbeit gesucht haben,

- die sofort für die Aufnahme einer Arbeit zur Verfügung stehen.

In den USA, wo die meisten Jugendlichen irgendeine sehr niedrig bezahlte Stelle haben, werden diejenigen nicht als Arbeitslose registriert, die für ein paar Dollar den Rasen des Nachbarn gemäht oder in der Woche zuvor dessen Kinder gehütet haben. Auch derjenige, der die Arbeitssuche nach Monaten und Jahren Bewerbungen bei möglichen Arbeitgebern aufgegeben hat, oder die Alleinerziehende Mutter, die nicht ‘sofort zur Verfügung’ steht, weil es praktisch keine Kindergärten gibt, wo sie ihr Kind unterbringen könnte.

Die ‘Erfolgsgeschichte’ der britischen Bourgeoisie ist von noch viel größeren Lügen geprägt als die der US-Bourgeoisie. Der naive Beobachter wird mit einem Paradox konfrontiert: zwischen 1990 und 1997 ist das Beschäftigungsniveau um 7% gesunken, und trotzdem ist die offizielle Arbeitslosenrate in derselben Zeit von 10 auf 5% gesunken. Wie es eine der ‘seriösesten’ internationalen Finanzinstitutionen formuliert: „der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Großbritannien scheint vollkommen auf die Zunahme des Anteils der inaktiven, nicht mehr Beschäftigten zurückzuführen zu sein.“ (8)

Und um das Mysterium dieser Umwandlung der Arbeitslosen in ‘Inaktive’ zu begreifen, kann man sich auf die Aussage eines Journalisten vom ‘Guardian’ stützen, d.h. einer Zeitung, von der man schlecht behaupten kann, daß sie zur revolutionären Presse gehöre: „Als Frau Margaret Thatcher ihren ersten Wahlerfolg im Mai 1979 feierte, waren im Vereinigten Königreich seinerzeit 1.3 Mio. offiziell registrierte Arbeitslose erfaßt. Wenn man die Berechnungsmethode nicht geändert hätte, gäbe es heute ein wenig mehr als 3 Mio. Arbeitslose. Ein Bericht der Midlands Bank, der vor kurzem veröffentlicht wurde, ging gar von 4 Mio. Arbeitslosen aus, d.h. 14% der aktiven Bevölkerung und damit mehr als in Frankreich oder in Deutschland.

... die britische Regierung berücksichtigt nicht mehr die Arbeitslosen, sondern ausschließlich die Bezieher einer ohnehin immer mehr gekürzten  Arbeitslosenunterstützung. Nachdem man mehr als 32mal die Grundlagen zur Feststellung der Arbeitslosenzahl geändert hat, hat sie beschlossen, Hunderttausende von ihnen dank der neuen Regelung der Zahlung von Arbeitslosenunterstützung aus der Statistik zu streichen, denn die Arbeitslosenunterstützung wird jetzt nach 6 anstatt wie früher nach 12 Monaten eingestellt... Die Mehrzahl der neu geschaffenen Stellen sind Teilzeitstellen. Den Angaben der Arbeitsinspektion zufolge waren 43% der zwischen Winter 1992-93 und Herbst 1996 geschaffenen neuen Stellen Teilzeitarbeitsplätze. Fast ein Viertel der 28 Mio. Beschäftigten haben ein Teilzeitbeschäftigungsverhältnis. In Frankreich und Deutschland sind das nur ca. 15%..“ (9)

Die im großen Maßstab betriebenen Mogeleien, die es der Bourgeoisie dieser beiden angelsächsischen ‘Beschäftigungschampions’ ermöglichen sich zu brüsten, erhalten in den anderen Ländern stillschweigende Unterstützung durch die zahlreichen ‘Wirtschaftsexperten’ und Politiker aller Couleur und insbesondere durch die Massenmedien (nur in den einigermaßen vertraulich gehaltenen Zeitschriften wird der Schleier ein wenig gelüftet). Der Grund dafür ist einfach: man muß die Idee verbreiten, daß die Politik, die im letzten Jahrzehnt mit einer besonderen Brutalität betrieben wurde und jeweils auf eine Kürzung der Löhne und des Sozialschutzes hinauslief und die ‘Flexibilität’ vorantrieb, ein wirksames Mittel zur Schadensbekämpfung der Massenarbeitslosigkeit sei. Mit anderen Worten, man muß die Arbeiter davon überzeugen, daß die Opfer sich ‘auszahlen’ und daß ihnen daran gelegen sein müßte, die Diktate des Kapitals zu akzeptieren.

Und weil die Bourgeoisie nicht alle Eier in einen Korb legt und sie noch mehr Verwirrung in den Köpfen der Arbeiter stiften will, geht sie so vor, daß sie ein wenig Trost spendet und behauptet, daß es einen ‘Kapitalismus mit menschlichen Antlitz’ geben könnte. Aus diesem Grunde wird immer das Beispiel der Niederlande aufgeführt (10). Deshalb kurz einige Worte zum Beispiel des ‘guten Schülers’ Westeuropas, den Niederlanden.

Auch in diesem Fall sind die Arbeitslosenzahlen nicht aussagekräftig. Wie in Großbritannien ist der Rückgang der Arbeitslosenzahlen mit einem Rückgang der Zahl der .... Beschäftigten verbunden gewesen. So ist die Beschäftigtenrate (Prozentsatz der arbeitsfähigen Bevölkerung, der tatsächlich arbeitet) von 60% 1970 auf 50.7% 1994 zurückgegangen.

Das Rätsel löst sich auf, wenn man feststellt, daß „der Anteil der Teilzeitarbeitsplätze an der Gesamtzahl der Arbeitsplätze innerhalb von 20 Jahren von 15 auf 36% angestiegen ist. Und das Phänomen beschleunigt sich, denn ... an 9/10 der in den letzten 10 Jahren neu geschaffenen Arbeitsplätzen wird zwischen 12 und 36 Stunden pro Woche gearbeitet.“ (11) Des weiteren ist ein großer Prozentsatz der Arbeitslosen gestrichen und der zahlenmäßig noch größeren Gruppe der Berufsunfähigen zugeordnet worden. Dies stellt die OECD fest, wenn sie schreibt, daß „die Schätzungen dieses Anteils ‘verdeckter Arbeitsloser’ unter den Berufsunfähigen sehr stark schwankt, von ca. 10% bis ungefähr 50%“. (12)

Wie der Artikel in Le Monde Diplomatique, den wir vorhin zitierten, schrieb: „Es sei denn, man geht davon aus, daß die Menschen hier - und nur hier - von einer genetischen Schwäche erfaßt werden, wie kann man anders erklären, daß es im Land mehr Arbeitsunfähige als Arbeitslose gibt.“ Natürlich konnte solch eine Methode, die es den Arbeitgebern ermöglicht, ihre Unternehmen billig zu rationalisieren, indem ihr alterndes und wenig ‘anpassungsfähiges’ Personal hinausgeschmissen wird, nur dank eines der ‘großzügigsten’ Sozialsysteme auf der Welt angewandt werden. Aber in einer Phase, wo gerade dieses Sozialsystem radikal infrage gestellt wird (wie überall in den fortgeschrittenen Ländern) wird es der Bourgeoisie immer schwerer fallen, die Arbeitslosigkeit so zu übertünchen. Übrigens fordern die neuen Gesetze, daß die Unternehmen 5 Jahre Berufsunfähigkeitsrente zahlen, was sie davon abhalten wird, die Beschäftigten als berufsunfähig zu melden, die sie loswerden wollen. Jetzt schon wird der Mythos vom ‘Sozialparadies’, als das die Niederlande dargestellt werden, ernsthaft angekratzt, wenn man weiß, daß einer europäischen Untersuchung zufolge (sie wurde am 28. April 97 vom Guardian kommentiert), 16% der niederländischen Kinder in als ‘arm’ eingestuften Familien leben, wogegen der Prozentsatz in Frankreich 12% beträgt. Was das ‘Wunderland’ Großbritannien angeht, leben dort 32% der Kinder in armen Familien.

So gibt es keine Ausnahmen beim Ansteigen der massiven Arbeitslosigkeit in den höchst entwickelten Ländern. Jetzt schon erreicht die Arbeitslosenquote dort (wobei all die nicht gewollten Teilzeitbeschäftigungen und all diejenigen, die die Suche aufgegeben haben, mitgezählt werden müssen) ein Niveau von 13-30%. Diese Zahlen nähern sich immer mehr den Größenordnungen, die es in den 30er Jahren während der großen ‘Depression’ in den Industriestaaten gab. Damals kletterten die Arbeitslosenquoten auf 24% in den USA, 17,5% in Deutschland und 15% in Großbritannien. Abgesehen von den USA kann man feststellen, daß die anderen Länder schon auf diese traurigen ‘Rekorde’ zusteuern. In einigen Ländern hat die Arbeitslosigkeit schon das Niveau der 30er Jahre übertroffen. Insbesondere in Spanien, in Schweden (dort gab es 1933 8%), in Italien (1933=7%), Frankreich (1936=5%, und diese Zahl ist vermutlich tiefgestapelt). (13)

Schließlich darf man sich durch den geringfügigen Rückgang der Arbeitslosenzahlen im Jahre 1997 nicht täuschen lassen, auf den die Bourgeoisie heute verweist (und der in der Tabelle ersichtlich wird). Wie vorhin aufgezeigt, sagen die offiziellen Zahlen kaum etwas aus; dieser Rückgang, der zurückzuführen ist auf ‘den Wiederaufschwung’ der Weltproduktion während der letzten Jahre, wird sehr schnell wieder dahinschmelzen, sobald die Weltwirtschaft erneut in eine offene Rezession eingetreten sein wird wie 1974, 1978, Anfang der 80er und der 90er Jahre. Solch eine Rezession ist unvermeidlich, weil die kapitalistische Produktionsform völlig unfähig ist, die Ursache all der Erschütterungen, von denen sie während der letzten 30 Jahre erfaßt wurde, auszulöschen: die generalisierte Überproduktion, ihre historische Unfähigkeit, ausreichend Märkte für ihre Produkte zu finden. (14)

Der Freund Clintons, den wir vorhin zitierten, äußerst sich klar zu diesem Thema: „Der Wirtschaftsaufschwung ist vorübergehend. In den USA gibt es gegenwärtig eine sehr hohe Wachstumsrate, von der ein Großteil Europas Nutzen zieht. Aber die in Asien aufgetretenen Störungen sowie die wachsende Verschuldung der US-Verbraucher veranlassen uns zu glauben, daß die Vitalität dieser Phase des Zykluses nicht sehr lange dauern wird.“

Ohne natürlich zu wagen, bis zum logischen Ende der Argumentation zu kommen, hebt dieser ‘Spezialist’ genau die grundlegenden Eckpfeiler der gegenwärtigen Lage der Weltwirtschaft hervor:

- Der Kapitalismus konnte seinen ‘Aufschwung’ seit 30 Jahren nur fortsetzen, indem sich alle möglichen Käufer mehr und mehr astronomisch verschuldeten (vor allem die Haushalte und die Firmen, die unterentwickelten Länder während der 70er Jahre, die hochentwickelten Länder, allen voran die USA in den 80er Jahren, die ‘Schwellenländer’ Anfang der 90er Jahre...).

- Der Bankrott dieser Schwellenländer, der seit dem Sommer 1997 eingetreten ist, hat Auswirkungen weit über deren Grenzen hinaus. Er spiegelt den Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems wider, der dadurch wiederum verstärkt wird.

Die Massenarbeitslosigkeit, die direkt auf die Unfähigkeit des Kapitalismus zurückzuführen ist, die in ihm verwurzelten Widersprüche zu überwinden, wird weder verschwinden noch zurückgehen. Sie wird sich unerbittlich weiter erhöhen, egal welche Kunstgriffe die Bourgeoisie vollziehen wird, um sie zu übertünchen. Immer mehr Massen von Arbeitern werden auf die Straße fliegen und in die unerträglichste Armut stürzen.

Die Arbeiterklasse und die Frage der Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosigkeit ist eine Geißel für die gesamte Arbeiterklasse. Sie trifft nicht nur die Arbeiter, die jetzt ohne Arbeit dastehen, sondern alle Arbeiter sind von ihr betroffen. Einerseits führt sie zu einer radikalen Verarmung der Arbeiterfamilien - in einem immer größeren Ausmaß -, wo ein oder mehrere Familienmitglieder arbeitslos sind. Andererseits führt sie zu erhöhten Abgaben für die Arbeitslosenversicherung. Schließlich wird sie von den Kapitalisten dazu benutzt, die Arbeiter hinsichtlich des Lohns und der Arbeitsbedingungen zu erpressen. Während der letzten Jahre, seitdem die offene Krise dem illusorischen ‘Wohlstand’ des Kapitalismus ein Ende bereitet hat, hat die Bourgeoisie der höchst entwickelten Länder vor allem mittels der Arbeitslosigkeit die Arbeits- und Lebensbedingungen der Ausgebeuteten angegriffen. Sie wußte aufgrund der massiven Streiks,  die Europa und die Welt von 1968 an erschütterten genau,  daß offene Kürzungen des direkten Lohnes zu sehr gewalttätigen und massiven Reaktionen der Arbeiter führen würden. Deshalb hat sie ihre Angriffe auf den indirekten Lohn konzentriert, der vom ‘Wohlfahrtsstaat’ bezahlt wird, indem immer mehr alle Sozialleistungen gekürzt werden, insbesondere im Namen der ‘Solidarität mit den Arbeitslosen’, und die Lohnmasse ist stark gesenkt worden, indem Dutzende von Millionen Arbeiter auf die Straße gesetzt wurden.

Aber die Arbeitslosigkeit ist nicht nur die Speerspitze der Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus gegen die Ausgebeuteten. Sobald die Arbeitslosigkeit dauerhaft und massenhaft wird, die unwiderruflich gewaltige Arbeitermassen aus der Lohnarbeit rausschmeißt, stellt sie den offensten Beweis des endgültigen Bankrotts, der Sackgasse einer Produktionsform dar, dessen historische Aufgabe gerade darin bestanden hatte, überall auf der Erde eine wachsende Masse von Menschen zu Lohnabhängigen zu machen. Obwohl die Arbeitslosigkeit für Millionen von Menschen eine wirkliche Tragödie bedeutet, wo die wirtschaftliche Not noch durch die moralische Not erschwert wird, kann die Arbeitslosigkeit in einer Welt, wo die Arbeit das Hauptintegrationsmittel in die Gesellschaft und das Hauptmittel gesellschaftlicher Anerkennung darstellt, ein mächtiger Faktor der Bewußtwerdung der Arbeiterklasse über die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus werden. Auch wenn die Arbeitslosigkeit den Arbeitern die Möglichkeit vorenthält, Streiks als Kampfmittel einzusetzen, sind sie damit noch nicht zur Hilflosigkeit verdammt. Der Klassenkampf des Proletariats gegen die Angriffe des krisengeschüttelten Kapitalismus bietet den Arbeitern das Hauptmittel, ihre Kräfte zusammenzuschweißen und ihr Bewußtsein über die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems zu entwickeln. Aber dieser Klassenkampf kann sehr wohl andere Kampfformen annehmen als Streiks. Die Straßendemonstrationen, wo Arbeiter zusammenkommen, ohne auf die Fabrikzugehörigkeit oder die Branchenspaltungen zu achten, sind eines der wichtigsten Instrumente, die auch in revolutionären Perioden umfassend eingesetzt wurden. Und bei diesen Demonstrationen können die Arbeitslosen ihren Platz einnehmen. Auch können die Arbeitslosen, wenn sie fähig sind, sich außerhalb der Kontrolle der bürgerlichen Überwachungs- und Kontrollorgane zu organisieren, auf der Straße zusammenkommen und ihre Kräfte mobilisieren, um Wohnungsräumungen und das Abschalten von Strom zu unterbinden, um Rathäuser zu besetzen oder andere öffentliche Plätze, um die Zahlung von Geldern zu erzwingen. Wie wir oft geschrieben haben, „wenn die Arbeitslosen die Fabrik verlieren, gewinnen sie die Straße“ (15),  und sie können einfacher die Branchenspaltungen überwinden, die die Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse insbesondere dank der Gewerkschaften aufrechthält. Hier geht es keineswegs um abstrakte Hypothesen, sondern um konkrete Erfahrungen der Arbeiterklasse, insbesondere während der 30er Jahre in den USA, wo zahlreiche Arbeitslosenkomitees außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften gebildet worden waren.

Obgleich sich die Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren massiv zugespitzt hat, ist es nirgendwo zur Bildung von bedeutenden Arbeitslosenkomitees gekommen (sondern nur zu einigen ansatzweisen Versuchen, die von den Gruppierungen der Extremen Linken schnell unterwandert und damit abgewürgt wurden), und noch weniger zu massiven Mobilisierungen von Arbeitslosen. Dabei waren dies Jahre, in denen sich wichtige Arbeiterkämpfe entfaltet hatten, die es immer mehr schafften, sich aus dem Würgegriff der Gewerkschaften zu lösen. Wenn es bislang im Gegensatz zu den 30er Jahren noch nicht zu wirklichen Mobilisierungen der Arbeitslosen gekommen ist, dann gibt es dafür mehrere Gründe.

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit seit Beginn der 70er Jahre verlief eher stufenweise, anders als während der ‘großen Depression’. Damals gab es nach dem wilden Durcheinander in der Anfangsphase der Krise eine wahre Explosion der Arbeitslosigkeit (in den USA z.B. stieg die Arbeitslosenquote von 3% 1929 auf 24% 1932). Auch wenn in der gegenwärtigen zugespitzten Krise die Arbeitslosigkeit immer wieder hochschnellte (insbesondere Mitte der 80er Jahre und während der letzten Jahre), war die Bourgeoisie noch dazu in der Lage, den Rhythmus des Zusammenbruches der Wirtschaft zu verlangsamen und die Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu strecken, insbesondere bei der Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus hat die Bourgeoisie in den fortgeschrittenen Ländern mittlerweile gelernt, dem Problem der Arbeitslosigkeit viel geschickter entgegenzutreten als in der Vergangenheit. Indem z.B. ‘plötzliche’ Entlassungen vermieden werden und statt dessen ‘sozial abgefederte’ Sozialpläne zum Zuge kommen, wo viele Arbeiter eine Zeitlang zu Umschulungen geschickt werden, bevor sie dann doch auf der Straße landen, indem sie zeitlich begrenzte Zahlungen erhalten, die ihnen eine Zeitlang ermöglichen zu überleben, hat die herrschende Klasse in einem beträchtlichen Maße die Bombe der Arbeitslosigkeit entschärft. In den meisten Industriestaaten steht der Arbeiter meist erst nach 6 Monaten oder einem Jahr völlig ohne Arbeitslosengeld da. Nachdem er zuvor schon isoliert und atomisiert wurde, ist es dann viel schwerer, sich mit seinen Klassenbrüdern zusammenzuschließen, um gemeinsam zu handeln. Schließlich ist die Unfähigkeit dieses zahlenmäßig großen Teils der Arbeiterklasse, nämlich  der Arbeitslosen, sich zusammenzuschließen, auch durch die allgemeine Lage des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft begründet, der die Tendenz des „jeder für sich“ und die Verzweiflung fördert.

‘Einer der verschlimmernden Faktoren dieser Lage ist natürlich die Tatsache, daß ein bedeutender Teil der jungen Arbeitergenerationen voll von der Geißel der Arbeitslosigkeit getroffen wird, bevor sie überhaupt die Gelegenheit gehabt haben, am Arbeitsplatz Erfahrungen mit einem gemeinsamen Klassenleben gesammelt zu haben. Während die Arbeitslosigkeit als direktes Ergebnis der Wirtschaftskrise als solche kein Ausdruck des Zerfalls ist, führt sie dennoch in dieser besonderen Phase der Dekadenz zu besonders schwerwiegenden Auswirkungen des Zerfalls. Während die Arbeitslosigkeit im allgemeinen die Unfähigkeit des Kapitalismus aufzeigen kann, den Arbeitern überhaupt eine Zukunft anbieten zu können, stellt sie ebenfalls heute einen wichtigen Faktor der Lumpenisierung bestimmter Teile der Klasse dar, insbesondere unter den jungen Arbeitern, wodurch die gegenwärtigen und zukünftigen politischen Fähigkeiten der Klasse geschwächt werden. Dies spiegelt sich darin wider, daß es zwar ein stetes Ansteigen der Arbeitslosigkeit in den 80er Jahren gab, aber gleichzeitig gab es keine bedeutenden Bewegungen oder wirkliche Organisationsversuche seitens der Arbeitslosen selber.’(16)

Aber die IKS ist nie davon ausgegangen, daß die Arbeitslosen sich nicht in den Kampf ihrer Klasse integrieren könnten. Wie wir schon 1993 schrieben: „Die massive Entwicklung von Arbeiterkämpfen wird als kraftvoller Gegenpol gegen die zerstörerischen Auswirkungen des Zerfalls auftreten, wodurch schrittweise durch die Klassensolidarität die Atomisierung, die Tendenz des ‘jeder für sich’ und all die Spaltungen überwunden werden können, unter denen das Proletariat zu leiden hat. Es ist näm­lich in Kategorien, in Indu­striebranchen, in Immigranten und "Einheimische", in Arbeitslose und Be­schäftigte, die noch eine Arbeit ha­ben, gespalten. Aufgrund des Ge­wichtes des Zerfalls haben die Ar­beitslosen während der letzten 10 Jahre im Gegensatz zu den 30er Jahren nicht in den Kampf treten können (wenn, dann nur sehr beschränkt), und sie werden auch keine den Soldaten in der Russischen Revolution von 1917 ver­gleichbare Rolle spielen, obwohl man das hätte glauben können. Aber die massive Entwicklung der  Arbeiter­kämpfe wird es ihnen ermöglichen, insbesondere bei den Straßendemos sich dem allgemeinen Kampf der Klasse anzuschließen. Dabei wird der Teil derjenigen, die schon eine Arbeit und damit Erfahrung in der asso­ziierten Arbeit und in Kämpfen ge­macht haben,  ansteigen. Allgemein kann man sagen, daß die Arbeitslosig­keit kein be­sonderes Problem der Ar­beitslosen ist, sondern ein Problem, vor dem die ganze Arbeiterklasse steht, weil die Arbeitslo­sigkeit ein tra­gischer und offensichtlicher Ausdruck des historischen Bankrotts des Kapita­lismus ist. Und gerade diese glei­chen Kämpfe werden es in der Zukunft er­möglichen, daß dieser Punkt immer mehr verstanden wird.“ (Internationale Revue Nr. 14, Resolution zur Internationalen Situation, Punkt 21). Und gerade weil die Bourgeoisie diese Bedrohung verstanden hat, unterstützt sie heute die Mobilisierungen der Arbeitslosen.

Die wahre Bedeutung der ‘Arbeitslosenbewegungen’

Um die Bedeutung der Ereignisse der letzten Monate zu verstehen, müssen wir einen wichtigen Faktor hervorheben: diese ‘Bewegungen’ waren keineswegs ein Ausdruck einer wirklichen Mobilisierung der Arbeiterklasse auf ihrem Klassenterrain. Als Beweis genügt es festzustellen, daß die bürgerlichen Medien diese Mobilisierungen ungeheuer stark ins Rampenlicht gerückt haben, wobei sie manchmal deren Ausmaß völlig übertrieben haben. Und das trifft nicht nur auf die Länder zu, wo es diese ‘Mobilisierungen’ gab, sondern auch auf internationaler Ebene. Seit Anfang der 80er Jahre, insbesondere als es im Herbst 1983 mit dem Streik im öffentlichen Dienst in Belgien zu einem Wiedererstarken der Klassenkämpfe kam, hat die Erfahrung gezeigt, wenn die Arbeiterklasse ihre Kämpfe auf ihrem Klassenterrain aufnimmt, und diese Kämpfe dann tatsächlich die Interessen der Bourgeoisie bedrohen, verhängt die herrschende Klasse ein vollständiges Black-out in den Medien. Wenn die Fernsehnachrichten lange und ausführlich über die Arbeitslosenproteste berichten, wenn das deutsche Fernsehen demonstrierende französische Arbeitslose zeigt, und das französische Fernsehen kurze Zeit später mit großem Aufwand über die deutschen Arbeitslosen berichtet, kann man sicher sein, daß der Bourgeoisie sehr daran gelegen ist, diesen Ereignissen einen möglichst großen Medienaufwand zu widmen. Tatsächlich gab es diesen Winter eine kleine ‘Wiederauflage’ der Ereignisse vom Winter 1995 in Frankreich, als es im Dezember 95 im öffentlichen Dienst Streiks gab, die seinerzeit auch überall in der Welt in den Medien groß herausgeputzt wurden. Damals ging es darum, international ein Manöver zu inszenieren, bei dem das Ansehen der Gewerkschaften aufpoliert werden sollte, bevor diese schließlich als ‘soziale Brandlöscher’ tätig werden, wenn sich nämlich wieder neue massive Klassenkämpfe entfalten würden. Der wahre Charakter dieser Manöver stellte sich schnell heraus, als die Gewerkschaften in Belgien die Streiks im Dezember 1995 in Frankreich nachahmen wollten und bewußt vom ‘französischen Beispiel’ sprachen. Einige Monate später wurde im Mai und Juni 1996 das Manöver dann in Deutschland neu aufgelegt, als die Gewerkschaftsführer offen dazu aufriefen, als sie die ‘größte Demonstration in der Nachkriegsgeschichte’ am 15. Juni 1996 vorbereiteten und dazu aufforderten, ‘machen wir es so wie in Frankreich’ (17). Auch diesmal wieder haben sich die Gewerkschaften und die Arbeitslosenverbände in Deutschland ausdrücklich auf das ‘französische Beispiel’ berufen, und am 6. Februar wurden dann auch am Arbeitslosenprotesttag an vielen Orten blau-weiß-rote Fahnen getragen.

Die Frage lautet deshalb nicht, ob die Arbeitslosenbewegung in Frankreich und Deutschland eine wirkliche Klassenmobilisierung zum Ausdruck bringt, sondern welches Ziel die Bourgeoisie damit verfolgt, wenn sie diese organisiert und so ‘populär’ macht.

Denn es ist die Bourgeoisie, die hinter der Organisierung dieser Bewegung steckt. Ein Beweis? In Frankreich ist einer der Hauptorganisatoren der Proteste die CGT, die Gewerkschaftszentrale, die von der ‘Kommunistischen’ Partei gesteuert wird, welche drei Minister in der Regierung hat, und die für die Verwaltung und Verteidigung der Interessen des nationalen Kapitals tätig ist. In Deutschland waren auch die traditionellen Gewerkschaften, deren Zusammenarbeit mit dem Arbeitgeberlager offensichtlich ist, mit von der Partie. An deren Seite wirkten ‘radikalere’ Organisationen mit wie z.B. in Frankreich die Bewegung AC (Action contre le Chomage /Aktion gegen die Arbeitslosigkeit), die hauptsächlich von der Ligue Communiste Révolutionnaire (einer trotzkistischen Organisation) ferngesteuert wird und sich als eine Art ‘loyale’ Opposition gegenüber der sozialistischen Regierung versteht.

Was war also das Ziel der herrschenden Klasse bei der Förderung dieser Bewegung? Ging es darum, einer unmittelbaren Gefahr einer wirklichen Mobilisierung der Arbeitslosen zuvorzukommen? In Wirklichkeit verfolgte die Bourgeoisie ein doppeltes Ziel.

Einerseits ging es gegenüber den Beschäftigten, deren Unzufriedenheit in Anbetracht der immer heftiger werdenden Angriffe nur zunehmen kann, darum, für eine Ablenkung zu sorgen, um insbesondere bei ihnen ein Schuldgefühl für die Lage derjenigen hervorzurufen, die ‘nicht das Glück haben, eine Arbeit zu haben’. Im Falle Frankreichs war dieses Aufbauschen der Frage der Arbeitslosigkeit ein ausgezeichnetes Mittel, um das Interesse der Arbeiter an den Regierungsprojekten der Einführung der 35-Stunden-Woche zu verstärken (denn die Arbeiter lassen sich nicht dafür begeistern), von der behauptet wird, sie würde angeblich viele Arbeitsplätze schaffen (wodurch aber vor allem die Löhne blockiert und die Arbeitsintensität erhöht werden).

Andererseits ging es der Bourgeoisie darum, genauso wie sie es schon 1995 gemacht hatte, einer Situation zuvorzukommen, der sie in der Zukunft wird entgegentreten müssen. Auch wenn es heute keine Mobilisierungen und Kämpfe seitens der Arbeitslosen wie in den 30er Jahren gibt, heißt dies nicht, daß die Kampfbedingungen heute ungünstiger sind als damals. Im Gegenteil. All die Kampfbereitschaft, die die Arbeiter in den 30er Jahren (z.B. im Mai und Juni 1936 in Frankreich, im Juli 1936 in Spanien) zeigten, vermochte die erstickende Last der Konterrevolution nicht zu überwinden, die auf das Weltproletariat niedergegangen war. Diese Kampfbereitschaft war dazu verurteilt, auf das Terrain des Antifaschismus und der ‘Verteidigung der Demokratie’ abgelenkt zu werden, wodurch der imperialistische 2. Weltkrieg vorbereitet werden konnte. Heute dagegen hat das Proletariat die Konterrevolution (18) überwunden, und auch wenn es nach dem Zusammenbruch der angeblich ‘kommunistischen’ Regime einen ernsthaften politischen Rückschlag erlitten hat, hat die Bourgeoisie es nicht geschafft, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen, die den historischen Kurs hin zu Klassenzusammenstößen infragestellt.

Und dies weiß die herrschende Klasse sehr wohl. Sie weiß, daß sie auf neue Klassenkämpfe stoßen wird, die als Reaktion auf die immer brutaler werdenden Angriffe seitens des Kapitals gegen die Ausgebeuteten entstehen werden. Und sie weiß, daß diese zukünftigen Kämpfe, die von den Beschäftigten geführt werden werden, Gefahr laufen, immer mehr Arbeitslose in ihren Bannkreis zu ziehen und mit sich zu reißen. Aber bislang wird dieser Teil der Klasse erst sehr wenig von gewerkschaftlichen Organisationen kontrolliert. Die Bourgeoisie legt Wert darauf, dass diese Bereiche der Arbeiterklasse, wenn sie in den Kampf treten und sich dem Kampf der Beschäftigten anschließen, nicht den Kontrollorganen entweichen, die dazu da sind, die Arbeiterklasse zu kontrollieren und ihre Kämpfe zu sabotieren: die Gewerkschaften aller Couleur, die radikalsten unter ihnen eingeschlossen. Insbesondere geht es darum, daß das gewaltige Potential der Kampfbereitschaft, das in den Arbeitslosen steckt, die wenigen Illusionen, die sie über den Kapitalismus haben (die sich im Augenblick in der Gestalt von Hoffnungslosigkeit äußert), ‘infizierend’ auf die Beschäftigten wirkt, wenn diese ihre Kämpfe entfalten. Mit den Mobilisierungen in diesem Winter hat die Bourgeoisie diese Politik des Ausbaus ihrer Kontrolle über die Arbeitslosen mittels der Gewerkschaften und der jetzt bekannt gewordenen ‘Dachverbände’ begonnen.

Auch wenn diese Mobilisierungen bürgerliche Manöver sind, sind diese dennoch ein zusätzlicher Beweis für die Tatsache, daß die herrschende Klasse selber sich nicht nur keine Illusionen über ihre Fähigkeit macht, die Arbeitslosigkeit einzudämmen, geschweige denn die Krise zu überwinden, sondern daß sie immer heftigere Kämpfe seitens der Arbeiterklasse erwartet.       Fabienne  März 1998

(1) „Die überflüssigen Arbeitskräfte auf dem Lande schwanken zwischen 100 und 150 Millionen Menschen. In den Städten zählt man zwischen 30-40 Millionen Arbeitslose, ob zeitweilig oder ganz arbeitslos. Dabei sind natürlich die riesigen Massen Jugendlicher nicht mit gerechnet, die bald auf dem Arbeitsmarkt auftauchen werden.“ (Paradoxe Modernisierung Chinas, Le Monde Diplomatique, März 1997)

(2) Die Arbeitslosenstatistiken dieses Landes sind überhaupt nicht aussagekräftig. So betrug 1996 die offizielle Zahl 9.3%, während das BSP in Rußland zwischen 1986 und 1996 ungefähr um 45% gefallen ist. In Wirklichkeit halten sich zahlreiche Beschäftigte an den Arbeitsplätzen auf, ohne zu arbeiten (weil es keine Aufträge für die Betriebe gibt), gegen Bezahlung eines Hungerlohns (der im Vergleich zu den Arbeitslosenzahlungen der westlichen Staaten viel niedriger liegt), der sie zur Schwarzarbeit, zur Annahme einer zweiten Stelle, zwingt, um überleben zu können.

(3) Beschäftigungsperspektiven, Juli 1993

(4) Robert B. Reich, ‘Kann eine offene Wirtschaft den sozialen Zusammenhalt aufrechterhalten?’, Bilanz der Welt, Ausgabe 1998

(5) Unemployment and Non-employment, American Economic Review, Mai 1997

(6) ‘Die Beschäftigungslosen in den USA’, ‘Die Lage der Welt 1998’, Editions La Découverte, Paris,

(7) ‘International Comparisons of Unemployment Indicators’, Monthly Labor Review, Washington, März 1993

(8) Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Jahresbericht, Basel, Juni 1997

(9) Seumas Milne, „Wie London die Statistiken manipuliert“, Le Monde Diplomatique, Mai 97

(10) „Frankreich sollte sich durch das niederländische Wirtschaftsmodell inspirieren lassen“ (Jean-Claude Trichet, Gouverneur der Banque de France, zitiert in Le Monde Diplomatique, Sept. 97, „Die Beispiele Dänemarks und der Niederlande beweisen, daß es möglich ist, die Löhne zu reduzieren und relativ stabile Löhne zu behalten“ (Jahresbericht der Bank für internationalen Zahlungsausgleich, Basel, Juni 97)

(11) ‘Ein Wunder oder Trugbild in den Niederlanden’, Le Monde Diplomatique, Juli 97

(12) ‘Die Niederlande 1995-96’, Wirtschaftsberichte der OECD, Paris 1996

(13) Quelle: Enzyklopädie Universalis, Artikel über ‘Die Wirtschaftskrisen’, und Maddison ‘Economic Growth in the West’, 1981

(14) siehe „Bericht zur Wirtschaftskrise für den 12. Kongreß der IKS“, in dieser Nummer der Imternationalen Revue.

(15) siehe insbesondere unsere Beilage: ‘Der Kapitalismus hat für die Arbeitslosigkeit keine Lösung’, Mai 1994 franz.

(16) „Der Zerfall - letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus“, Internationale Revue Nr. 13

(17) siehe dazu unsere Artikel in der Revue Internationale Nr. 84, 85, 86 (frz., engl., span.)

(18) siehe dazu den Artikel zu Mai 1968 in der Revue Internationale Nr. 93 (frz., engl., span.

Theoretische Fragen: