Die Arbeiterklasse Deutschlands: Zwischen Prekarisierung und Desillusionierung

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Nach dem Begeisterungstaumel während der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer dieses Jahres ist überall im Lande wieder breite Ernüchterung eingetreten. Die von der deutschen Bourgeoisie angestrebte nationale Aufbruchstimmung, als deren Auftakt das Spektakel der Fußballweltmeisterschaft dienen sollte, hat sich in nichts aufgelöst. Auch der Klassenkampf schwelt weiter - wie die Proteste des Krankenpflegepersonals der Berliner Charité sowie der Allianz-Beschäftigten an mehreren Standorten oder auch die Warnstreiks der Stahlkocher zeigen.  Es gibt verschiedene indirekte Hinweise darauf, dass der Prozess der Desillusionierung in der Arbeiterklasse weiter voranschreitet.

Die deutsche Bourgeoisie: Der Wolf hat Kreide gefressen

Im Verlauf der letzten zwölf Monate hat es eine wichtige Änderung in der Ausrichtung der Propaganda der herrschenden Klasse gegenüber der Bevölkerung in Deutschland gegeben. Noch vor den Bundestagsneuwahlen Ende letzten Jahres lautete der jahrelange Grundtenor der öffentlichen Meinung, dass Deutschland ein krankes Land sei, das dringend einschneidende Reformen benötige. Scharf wurden jene angeprangert, die sich aus "egoistischem Besitzstandsdenken" den "Reformen" widersetzten. Dem deutschen Wohlfahrtsstaat stehe eine brutale Rosskur bevor, wurden die bürgerlichen Meinungsmacher nicht müde zu wiederholen, wenn Deutschland nicht ins Hintertreffen geraten wolle. Kern dieser "Blut, Schweiß und Tränen"-Kampagne war die Botschaft an die Arbeiterklasse, dass jeder Opfer bringen müsse, um die Karre gemeinsam wieder aus dem Dreck zu ziehen.

Doch spätestens mit den letzten Bundestagswahlen und der Inthronisierung der Großen Koalition haben diese Stimmen deutlich an Gewicht verloren. Nach den Kassandrarufen und der Schwarzmalerei der letzten Jahre ist nun plötzlich Optimismus - oder sollen wir sagen: eine Art heiterer Nationalismus? - angesagt. Schon früh in diesem Jahr setzte die Bundesregierung eine millionenschwere Kampagne mit dem Motto: "Du bist Deutschland" in Gang, um ein neues, ein positives "Wir-Gefühl" zu suggerieren. Ihren Höhepunkt fand diese Kampagne während der Fußball-WM, als ganz Deutschland in einem Fahnenmeer von Schwarz-Rot-Gold versank und Millionen von Einheimischen zusammen mit den ausländischen Fans friedlich feierten. Kaum  lief die erste Kampagne aus, folgte ihr schon die nächste auf den Fuß. Mit ihrem Motto: "Deutschland - Land der Ideen" steht auch diese in auffälligem Kontrast zur Propaganda der letzten Jahre, die kein gutes Haar am "Standort Deutschland" ließ.

Doch die maßgeblichen Kreise der deutschen Bourgeoisie sind heute nicht nur auf kultureller Ebene darum bemüht, eitel Sonnenschein zu verbreiten. So verbreiteten die Medien in letzter Zeit zunehmend auch gute Nachrichten aus der Wirtschaft: In puncto Konjunktur und Arbeitslosigkeit sei eine "Trendwende" erreicht, die aktuelle Konjunktur sei "selbsttragend", und sogar die Arbeitsagenturen vermeldeten einen Gewinn. Statt diese angebliche Trendwende mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Mehrwertsteuererhöhung im nächsten Jahr für die diesjährige Konjunkturentwicklung zu relativieren, vermeinen die Ton angebenden Kräfte der Bourgeoisie einen Silberstreif am Horizont, eine Wende zur Besserung zu sehen.

Stellt sich die Frage, wie dieser geradezu zwanghafte Optimismus, der heute die "öffentliche Meinung" beherrscht, zu erklären ist. Ist alles doch nur halb so schlimm? Gibt es doch eine Zukunft im Kapitalismus ohne weitere Einschränkungen, ohne wachsende Armut und Massenarbeitslosigkeit?

Die Arbeiterklasse Deutschlands: Zwischen Prekarisierung und Desillusionierung

Auslöser dieser Kehrtwende in der bürgerlichen Propaganda ist sicherlich das Ergebnis der letzten Bundestagswahlen gewesen. Spätestens das Fiasko Merkels, die einen neoliberalen "Wahlkampf der Wahrheit" angeführt und mit Pauken und Trompeten durchgefallen war, zeigte der Bourgeoisie deutlich, dass ihre bisherige Reformkampagne an ihre Grenzen gestoßen war.

Kein Wunder, denn wo ist das "Jobwunder" geblieben, das bei Einführung von Hartz IV versprochen wurde? "Fordern und Fördern" hieß das zynische Motto damals - geblieben davon ist nur das "Fordern": eine unerhörte Prekarisierung eines immer größer werdenden Teils der Arbeiterklasse. Seither hat die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs dramatisch abgenommen, während die sog. prekären Jobs sprunghaft angestiegen sind - Jobs ohne jeglichen Kündigungsschutz oder irgendwelchen Zuschlägen, mit einer Bezahlung unterhalb des Existenzminimums. Dabei sind es nicht mehr nur ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen in Industrie und Handel, die unter diesen Bedingungen ihre Arbeitskraft verhökern müssen, sondern auch junge, hoch qualifizierte Menschen. Schon geht das Wort von der "Generation P" um, einer Generation von akademisch ausgebildeten Arbeiter/Innen, die sich von einem Praktikum zu nächsten hangeln - ohne Aussicht auf eine Festanstellung oder einen lebenserhaltenden Lohn.

Gerade jenen, von der Prekarisierung erfassten Teilen der Arbeiterklasse mussten die Wehklagen über den "Standort Deutschland", über dessen zu hohe Löhne und zu teure Sozialleistungen wie blanker Hohn vorkommen. Stellvertretend für die gesamte Klasse mussten sie die bittere Erfahrung machen, dass trotz Hartz IV und all der anderen Kürzungen eine Wende zur Besserung, wie sie ihnen von den "Reformern" versprochen wurde, überhaupt nicht absehbar ist. Unter diesen Umständen konnte es nicht überraschen, dass die Desillusionierung in der Klasse in der Zwischenzeit zügig voran schritt. Die Angriffe von Staat und Kapital in den letzten Jahren haben das Vertrauen großer Teile der Arbeiterklasse auf eine Perspektive innerhalb des Kapitalismus bis ins Mark erschüttert.

So machte denn das Ergebnis der Bundestagswahlen vor einem Jahr den bürgerlichen Ideologen und Meinungsmachern mit einem Schlag klar, dass die Bevölkerung "reformmüde" sei, dass es "keine Mehrheiten für Reformen" gebe, kurzum: dass ihre neoliberale Negativkampagne zunehmend auf taube Ohren stieß. Es sind diese Umstände gewesen, die dazu führten, dass die Meinungsmacher der herrschenden Klasse ihre Tonlage änderten - und nicht etwa eine reelle und dauerhafte Besserung unserer Lage, wie sie uns vorgegaukelt werden soll. Denn auch wenn die Bourgeoisie ihre Sprache geändert hat und von der "sozialen Gerechtigkeit" statt vom Tal der Tränen redet, das sie uns noch vor Jahresfrist prophezeit hatte, so hat sie nicht innegehalten bei ihren Angriffen gegen die Arbeiterklasse.

Die politische Klasse der Bourgeoisie: Die Linke in den Startlöchern

Man kann getrost davon ausgehen, dass die bürgerlichen Drahtzieher realistisch genug sind, um zu wissen, dass auch eine sozial gefärbte Propaganda die Arbeiterklasse auf Dauer nicht besänftigen kann. Die Herrschenden rechnen durchaus mit der Zunahme von sozialen Konflikten in naher Zukunft. Für diese Fälle haben sie bereits ihre Bataillone in Stellung gebracht. So ist im Rahmen der Bekämpfung des islamischen Terrorismus der Repressions- und Überwachungsapparat sowohl logistisch als auch rechtlich erheblich gestärkt worden. Doch vor allem rückt jener Teil der politischen Klasse der Bourgeoisie allmählich wieder in den Vordergrund, der sich am besten auf die Sabotierung solcher Kämpfe versteht - die Sozialdemokratie mitsamt ihren Gewerkschaften und linksextremistischen Anhängseln.

Wir konnten bereits bei der Bildung der Großen Koalition vor einem Jahr eine Aufwertung der SPD erleben; trotz ihrer Wahlniederlage war sie von Anbeginn nicht Juniorpartner der stärkeren CDU/CSU, sondern besetzte im Gegenteil die Schlüsselressorts dieser Koalition - das Auswärtige Amt, das Finanz- und das Sozialministerium.  Seither waren wir Zeuge einer langsamen, aber stetigen Stärkung der SPD zu Lasten ihres Koalitionspartners, eine Stärkung, zu der nicht zuletzt die günstige Darstellung der SPD-Minister Müntefering, Steinbrück & Co. durch die Medien beitrug. Auch in den Gewerkschaften scheint es eine Art Linksrutsch zu geben. Nachdem die Gewerkschaftsbasis schon von Anfang an mit der im vergangenen Herbst gegründeten Linkspartei/PDS geliebäugelt hat und durch den Eintritt etlicher Gewerkschaftsaktivisten in die neue Linkspartei auch personell mit ihr verbunden war, haben nun auch die Gewerkschaftsspitzen von IG Metall und Ver.di der Linkspartei ein offizielles Gesprächsangebot gemacht.

All dies - die weichgespülte Propaganda der Herrschenden, der wir derzeit ausgesetzt sind, die stärkere Profilierung der SPD in der Koalition bzw. der Kräfte links von ihr in den Gewerkschaften - ist Ausdruck der Bemühungen der Bourgeoisie, den Prozess der Desillusionierung innerhalb der Arbeiterklasse aufzuhalten. Denn nichts müssen die Herrschenden derzeit mehr fürchten als den Verlust ihrer Glaubwürdigkeit und Legitimität in der Arbeiterklasse. Ein Prozess, der mit raschen Schritten voranschreitet.

Denn auch die Auguren der Bourgeoisie, die sog. Meinungsforschungsinstitute, wollen inzwischen festgestellt haben, dass ein wachsender Anteil insbesondere unter den jüngeren Arbeitern die Demokratie nicht mehr für die beste aller Gesellschaftsformen hält, ja dass laut Meinungsumfragen immer mehr junge Arbeiter insbesondere in Westdeutschland die Auffassung haben, dass der Kommunismus, wie Marx ihn vertreten hat, für eine mögliche Perspektive halten - dem erschreckenden Beispiel des ehemaligen Ostblocks zum Trotz. Und wem das nicht reicht, der sei auf das Ergebnis der Landtags- bzw. Senatswahlen von Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hingewiesen. Es bestätigt den schon während der letzten Bundestagswahlen deutlich gewordenen Trend zur Erosion der sog. Volksparteien. Darüber hinaus zeigt auch die geringe Wahlbeteiligung, die mit diesen Wahlen einen historischen Tiefstand erreicht, wie weit die Desillusionierung über den parlamentarischen Zirkus um sich gegriffen hat.

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Streit in den Großen Koalition um die sog. Gesundheitsreform verstehen. Die heftige Auseinandersetzung in der Koalition um die Frage, ob die Zusatzbeiträge für den sog. Gesundheitsfonds auf einen oder zwei bzw. drei Prozent begrenzt werden sollen, ist in gewisser Hinsicht ein  Placebo. Es soll der Arbeiterklasse den Eindruck vermitteln, dass ihre Interessen gut aufgehoben sind im Parlament, selbst um den Preis der Reformfähigkeit der Großen Koalition, die die Kommentatoren der bürgerlichen Presse wortreich beklagen. Der Streit um die sog. Gesundheitsreform zeigt gleichzeitig aber auch deutlich die Grenzen dieser Koalition auf. Sie hat immer mehr Schwierigkeiten, den Balanceakt zwischen der Fortsetzung der Reformpolitik und dem Erhalt der Glaubwürdigkeit der großen Parteien SPD und CDU im Besonderen und des Parlamentarismus im Allgemeinen zu bewältigen.    26.09.06