Die Arbeiteraristokratie - Eine soziologische Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse

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Es gibt einen Klassengegensatz innerhalb der Arbeiterklasse, einen Widerspruch zwischen den "am meisten Ausgebeuteten" und den "privilegierten" Schichten. Es gibt eine "Arbeiteraristokratie", die höhere Löhne erhält und unter besseren Bedingungen arbeitet; ein Sektor der Arbeiterklasse, der einen Anteil der Extra-Profite erhält, den "sein Imperialismus"  aus den Kolonien zieht. So gibt es also eine Schicht in der Arbeiterklasse, die eigentlich nicht der Arbeiterklasse angehört, sondern der Bourgeoisie: eine Schicht von "Bürger-Arbeitern.»

Dies sind die Hauptaussagen, die alle Theorien über die "Arbeiteraristokratie" gemeinsam haben. Es handelt sich um ein theoretisches Werkzeug, das es ermöglicht, die Linie zu verwischen, die die Arbeiterklasse vom globalen Kapitalismus trennt - in welchem Umfang auch immer man es für nötig hält.

Diese Theorie macht es möglich, ganze Teile der Arbeiterklasse (Arbeiter der höchst industrialisierten Länder z.B.) als "bürgerlich" zu verurteilen und bürgerliche Organisationen (die "linken" Parteien und die Gewerkschaften z.B.) als "Arbeiterklasse" zu definieren.

Der Ursprung dieser Theorie lässt sich auf die Analyse zurückführen, die Lenin im Ersten Weltkrieg entwickelt hatte und die von der Dritten Internationalen aufgegriffen worden war. Einige proletarische, politische Strömungen, die sich selbst den seltsamen Titel "leninistisch"  geben, klammern sich noch immer an diese theoretische Kuriosität, ohne damit etwas Genaues anfangen zu können, abgesehen davon, daß sie eine große Verwirrung über grundsätzliche Fragen des Klassenkampfes stiften. Auch die Stalinisten haben seit Jahrzehnten Gebrauch von dieser Theorie gemacht, indem sie das Prestige Lenins ins Feld führten, um ihre konterrevolutionäre Politik zu legitimieren.

Aber diese Theorie ist auch, in vielfältigen Formen, von Gruppen aufgegriffen worden, die - via Maoismus - aus dem Stalinismus kamen und mit vielen der schlimmsten Lügen des offiziellen Stalinismus (insbesondere mit dem Mythos der Existenz sozialistischer Staaten, sei es die UdSSR, China oder andere) gebrochen hatten.
Diese Gruppen, wie OPERAI E TEORIA in Italien, LE BOLCHEVIK in Frankreich (mittlerweile Groupe Ouvriere Internationaliste, die REVOLUTION MONDIAL veröffentlicht) und MARXIST WORKERS' COMITTEE in den USA, treten mit sehr radikalen Positionen gegen die Gewerkschaften und die linken Parteien auf. Auf diese Weise erlangten sie einen gewissen Einfluß unter einigen Gruppen von militanten Arbeitern. Doch für diese Strömungen, ehemalige "Drittwelt"-Aktivisten, beruht die Kritik an den Gewerkschaften und den linken Parteien auf die begeisterte Unterstützung einer Spaltung der Arbeiterklasse zwischen den "niedrigsten Schichten" - ihnen zufolge das wirkliche Proletariat - und der "Arbeiteraristokratie".

So formuliert OPERAI E TEORIA diese Theorie der Spaltung der Arbeiterklasse: "Wenn man weder das Vorhandensein einer internen Spaltung in den Reihen der produktiven Arbeiter, die Bedeutung des Kampfes gegen die Arbeiteraristokratie, noch die Notwendigkeit sieht, daß die Revolution auf einen Bruch, eine Loslösung der Interessen der untersten Schichten von der Arbeiteraristokratie hinarbeiten muß, hat man nicht nur ein Ereignis in der Geschichte der Arbeiterbewegung nicht verstanden, sondern läßt auch auch das Proletariat hinter der Bourgeoisie herlaufen - und das ist viel schlimmer." (OPERAI E TEORIA, Nr. 7, Okt./Nov. 80.) (1)

In diesem Artikel wollen wir uns nicht so sehr mit den theoretischen Widersprüchen der "leninistischen" Gruppen befassen. Unsere Absicht ist es, die theoretische Inkonsequenz und die politischen Gefahren der Theorie der Arbeiteraristokratie zu demonstrieren, so wie sie von etlichen maoistischen und ex-maoistischen Gruppen vertreten wird, die oftmals innerhalb der kämpferischsten Sektionen der Arbeiterklasse wirken. Wir wollen aufzeigen, daß:

-    diese Theorie auf einer soziologischen Untersuchung beruht, die den historischen Klassencharakter des Proletariats außer Acht läßt;
-    die Definition oder eher die Definitionen der "Arbeiteraristokratie" noch fehlerhafter und widersprüchlicher werden vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Spaltungen, die der  Kapitalismus innerhalb der Arbeiterklasse gesät hat;
-    die praktische Schlußfolgerung dieser Auffassung nur zu einer Spaltung der Arbeiter in ihren Kämpfen, zur Isolierung der "meist ausgebeuteten" Arbeiter vom Rest der Klasse führen kann;
-    diese Konzeptionen zu Konfusionen über den Charakter der Gewerkschaften und der linken Parteien führen - namentlich zur Konfusion, daß sie "bürgerliche Arbeiterorganisationen" sind (diese Zweideutigkeit bestand schon in der Kommunistischen Internationalen);
-    sie sich zu Unrecht auf Marx, Engels oder Lenin berufen. Auch wenn Letztere mehr oder weniger präzise über eine "Arbeiteraristokratie" oder über die "Verbürgerlichung" der englischen Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert gesprochen haben, so unterstützten sie nie auch nur eine Theorie, die eine Spaltung der Arbeiterklasse für notwendig hält. Ganz im Gegenteil.

I. Eine soziologische Theorie

Man kann die Arbeiterklasse auf zweierlei Weise betrachten. Entweder man betrachtet sie, wie sie die meiste Zeit ist, das heißt, geknechtet, gespalten und in Millionen von Einzelindividuen atomisiert, die kein Verhältnis untereinander haben.

Oder man blickt auf die Arbeiterklasse von einem historischen Standpunkt aus. Man sieht sie als eine gesellschaftliche Klasse mit einer Geschichte von mehr als zwei Jahrhunderten des Kampfes und mit einer Zukunft als Impulsgeber der weitreichendsten Revolution in der Geschichte der Menschheit.

Die erste Vision ist die Vision des Unmittelbaren, die Sichtweise einer besiegten Klasse, während die zweite eine Vision des Klassenkampfes ist. Die zweite ist die marxistische Vision, die versteht, daß die Arbeiterklasse mehr ist, als was sie jetzt ist; das heißt vor allem, wie sie zu werden gezwungen ist. Der Marxismus ist keine soziologische Untersuchung eines besiegten Proletariats. Sein Ziel ist es, den proletarischen Klassenkampf zu begreifen, was etwas ganz anderes ist.

Die Theorie, daß es grundlegende Antagonismen innerhalb der Arbeiterklasse gibt, beruht auf einer Auffassung, die nur die unmittelbare Realität einer geschlagenen, atomisierten Arbeiterklasse berücksichtigt. Jeder, der die Geschichte der Arbeiterrevolutionen kennt, weiß, daß die höchsten Momente des proletarischen Kampfes nur durch die weitest mögliche Generalisierung der Arbeitereinheit erreicht werden konnten. Zu behaupten, daß die Einheit zwischen den am meisten Ausgebeuteten und den am wenigsten Ausgebeuteten unmöglich ist, bedeutet die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung zu verkennen. Die Geschichte zeigt, daß auf jeder wichtigen Stufe ihres Kampfes die Arbeiterklasse mit dem Problem konfrontiert ist, wie der größtmögliche Grad an Einheit erreicht werden kann.

Es gibt eine fundamentale Tendenz in der Entwicklung von den ersten Assoziationen von Handwerker-Arbeitern über die Gewerkschaften bis zu den Sowjets. Diese Tendenz ist das Streben nach einer immer größeren Einheit. Die Arbeiterräte, die  zum ersten Mal 1905 in Rußland von den Arbeitern spontan geschaffen wurden, sind die höchste Form der Einheitsorganisation, die vorstellbar ist. Da sie auf den Vollversammlungen der Arbeiter beruhen, ermöglichen sie der größtmöglichen Anzahl von Arbeitern, sich am Kampf zu beteiligen.

Diese Entwicklung spiegelt nicht nur eine Weiterentwicklung des Klassenbewußtseins, des Verständnisses der Notwendigkeit der Klasseneinheit wider. Die Entwicklung dieses Verständnisses ist selbst eine Widerspiegelung der weiterentwickelten materiellen Bedingungen, unter denen die Proletarier arbeiten und kämpfen.

Die Entwicklung der Manufakturindustrie zerstörte die Spezialisierungen, die vom feudalen Handwerker der Vergangenheit übernommen worden waren. Sie  führte die Uniformität des Proletariats herbei und wandelte die Arbeiterklasse in eine Ware um, die in der Lage ist, ebenso leicht Schuhe wie Kanonen herzustellen, ohne die Dienste eines Schusters oder Schmieds in Anspruch zu nehmen.

Ferner brachte die Entwicklung des Kapitalismus die Entwicklung von gigantischen urbanen Industriezentren mit sich, wo Millionen von Arbeitern auf engstem Raum zusammengepfercht sind. In diesen Zentren nimmt der Kampf aufgrund der Geschwindigkeit, in der sich die Millionen von Menschen für eine einheitliche Handlung organisieren und koordonieren können, einen explosiven Charakter an.

"Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedrigeres Niveau herabdrückt."  (Kommunistisches Manifest, Bourgeois und Proletarier).

In den jüngsten Kämpfe in Polen, in denen die Arbeiter ihre Fähigkeit, sich zu vereinen und selbst zu organisieren, auf eine Weise demonstriert haben, die die Welt in Erstaunen versetzt hat, hat es kein Anzeichen für einen Kampf zwischen unqualifizierten und qualifizierten Arbeitern gegeben. Stattdessen erlebten wir eine Vereinigung aller Sektoren in den Massenversammlungen, im Kampf und für den Kampf.

Um aber solche "Wunder" zu verstehen, darf man seinen Blick nicht wie die Soziologen auf die unmittelbare Wirklichkeit der Arbeiterklasse fixieren, wenn diese nicht kämpft. Wenn das Proletariat nicht kämpft, wenn es der Bourgeoisie gelingt, die Löhne auf das absolute Existenzminimum zu reduzieren, dann ist die Arbeiterklasse in der Tat völlig gespalten.

Seit ihren Ursprüngen hat die Arbeiterklasse, die der letzten, aber auch der absolutesten Form der Ausbeutung, die die Geschichte je gekannt hat, ausgesetzt ist, auf die eine Weise existiert, wenn sie passiv und unterwürfig gegenüber der Bourgeoisie blieb, und auf eine völlig andere Weise, wenn sie sich gegen ihre Unterdrücker erhob.

Diese Trennung zwischen zwei Existenzformen (vereint und im Kampf oder gespalten und passiv) hat sich im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus nur weiter verschärft. Mit Ausnahme der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, als das Proletariat für einen gewissen Zeitraum in der Lage war, die Bourgeoisie zu zwingen, die Existenz von authentischen Gewerkschaften und Massenparteien zu akzeptieren, hat der Grad der Einheit, den die Arbeiterklasse in Zeiten des Kampfes erlangte, tendenziell stets zugenommen, aber ebenso die Spaltung und Atomisierung der Arbeiterklasse in Zeiten des "sozialen Friedens".

Dieselben Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse, die sie zu einem viel stärker vereinten Kampf zwingt, führt außerhalb von Kampfperioden zur Spaltung und Atomisierung der Arbeiterklasse in eine Masse von Einzelindividuen, wie wir sie heute kennen.

Die Konkurrenz unter den Arbeitern außerhalb von Kampfperioden ist ein Merkmal des Proletariats seit seinem Entstehen. Aber sie war weniger stark ausgeprägt im frühen Kapitalismus, als die Arbeiter "einem Handwerk nachgingen", als noch keine allgemeine Schulbildung bestand und als die Fertigkeiten eines jeden Arbeiters unverzichtbares "Handwerkszeug" waren. Der Weber konkurrierte nicht mit dem Schmied. Doch in dem Maße, wie "jeder alles produzieren kann", entsprechend dem Fortschritt in Industrie und Bildung, wird dies im Kapitalismus zunehmend durch eine Situation widergespiegelt, in der "jeder den Job des anderen übernehmen kann".

Angesichts des Problems, Arbeit zu finden,  weiß der Arbeiter im Industriekapitalismus, daß dies davon abhängt, wieviel Bewerber es für denselben Job gibt. Marx beschrieb diesen Prozeß folgendermaßen:

"Das Anwachsen des Produktivkapitals begreift in sich die Akkumulation und Konzentration der Kapitalien. Die Zentralisierung der Kapitalien hat eine größere Arbeitsteilung und eine größere Anwendung von Maschinen zur Folge. Die größere Teilung der Arbeit zerstört die besondere Geschicklichkeit des Arbeiters; und indem sie an die Stelle dieser besonderen Geschicklichkeit eine Arbeit setzt, die jedermann verrichten kann, vermehrt sie die Konkurrenz unter den Arbeitern." (Marx in "Rede über die Frage des Freihandels", MEW Band 4, S. 451)

Die Entwicklung der Industrie schafft also die materiellen Bedingungen für die Existenz einer vereinten und bewußten Menschheit, aber gleichzeitig erzeugt sie innerhalb des Rahmens der kapitalistischen Gesetze, wo das Überleben des Arbeiters von seiner Fähigkeit abhängt, seine Arbeitskraft zu verkaufen, eine bislang ungekannte Konkurrenz.

Der Versuch, die Theorie des Klassenkampfes des Proletariats auf eine Momentaufnahme eines gespaltenen und geschlagenen Proletariats zu stützen, dabei die historischen Erfahrungen der vergangenen Kämpfe ignorierend, führt unvermeidlich zur Auffassung, daß die Einheit der Arbeiter nie möglich sein wird. Und je mehr man Zuflucht in eine unhistorische, auf das Unmittelbare fixierte Betrachtungsweise - unter dem Vorwand, man müsse "konkret sein", man müsse etwas machen, das unmittelbare Ergebnisse hat -  sucht, desto mehr wird ein jegliches Verständnis des Proletariats auf den Kopf gestellt.

Eine Auffassung, die die Möglichkeit der Einheit der Arbeiterklasse leugnet, ist letztendlich eine Theoretisierung der Niederlage des Proletariats, in Zeiten, in denen es nicht kämpft. Es ist eine bürgerliche Vision des Proletariats als ignorante, gespaltene, atomisierte und geschlagene Individuen. Es ist eine Züchtung der Soziologie.

Eine "ouvrieristische" Auffassung

Da diese Konzeption die Arbeiterklasse nicht als eine historische Kraft betrachtet, begreift sie die Arbeiterklasse als eine Summe von revolutionären Individuen. Der Ouvrierismus (etwa: Arbeitertümelei) basiert nicht auf der These vom revolutionären Charakter der Arbeiterklasse, sondern ist ein soziologischer Kult des individuellen Arbeiters. Durchdrungen von dieser Vision, messen politische Strömungen mit maoistischen Ursprüngen der sozialen Herkunft von Mitgliedern politischer Organisationen große Bedeutung zu. Das geht so weit, daß ein Großteil ihrer Mitglieder aus dem bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Milieu - vor allem seit 1968 - ihr Studium auf gab, um Jobs in Fabriken anzunehmen (was nur dazu diente, den Arbeiterkult weiter zu verstärken).

So schrieb das Marxist Workers' Committee - eine Gruppe, die sich bis zu dem Punkt weiterentwickelt hat, daß sie heute davon ausgeht, daß es keine Arbeiterstaaten mehr gibt und daß Rußland seit 1924 (seit dem Tod Lenins) kapitalistisch ist - in einem Artikel der ersten Ausgabe MARXIST WORKER (Sommer 79) unter dem Titel "25 Jahre Kampf - Unsere Geschichte":

"Unsere Erfahrung in der alten revisionistischen Kommunistischen Partei der USA und in der American Workers' Communist Party (Maoist) hat uns zu der Schlußfolgerung geführt, daß die Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus Recht hatten, als sie behaupteten, daß eine wirkliche Arbeiterpartei eine Kadergruppe von theoretisch fortgeschrittenen Arbeitern entwickeln muß, da nicht nur die Gesamtheit ihrer Mitglieder, sondern auch ihre Führung in erster Linie aus der Arbeiterklasse stammen muß."

Welche Auffassung von der Arbeiterklasse kann man wohl von einer bürgerlichen, stalinistischen Organisation "lernen"? Erinnern wir uns hier an zwei Beispiele aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die die Konsequenzen des ouvrieristischen Prinzips demonstrieren:

Erinnern wir uns zunächst des Kampfes des "Arbeiters" Tolain (französischer Delegierter auf den ersten Kongressen der Internationalen Arbeiterassoziation), der dagegen war, Marx als Delegierten zu akzeptieren. Tolain argumentierte gegen die Aufnahme von Marx auf der Grundlage des Prinzips, daß "die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann", denn Marx war kein Arbeiter. Nach einer Debatte wurde Tolains Antrag abgelehnt. Wenige Jahre später fand sich Tolain, der Arbeiter, auf der Seite der Versailler wieder, die gegen den Arbeiteraufstand kämpften,  der die Kommune von Paris errichtete.

Erinnern wir uns auch daran, wie es der deutschen Sozialdemokratie im November 1919 gelang, Rosa Luxemburg daran zu hindern, auf dem Kongreß der Arbeiterräte zu sprechen, weil sie keine Arbeiterin sei, und wie sie einige Wochen später auf Anordnung des Arbeiters Noske von den Freikorps  ermordet wurde, die auch den Aufstand im Januar 1919 in Berlin blutig niederschlugen. Nicht der einzelne Arbeiter ist revolutionär, sondern die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit.

Der Ouvrierismus versteht diesen Unterschied nicht, und deshalb begreift er weder den individuellen Arbeiter noch die Arbeiterklasse als Klasse.

II. Die Arbeiteraristokratie: eine unmögliche Definition

Es ist selbstverständlich, daß es innerhalb der Arbeiterschaft Lohnunterschiede, unterschiedliche Arbeits- und Lebensbedingungen gibt. Es ist ebenfalls eine Banalität zu sagen, daß je komfortabler die Lage für ein Individuum ist, Letzteres umso mehr darum bestrebt ist, diese Lage zu bewahren. Aber daraus auf die Existenz einer stabilen Schicht innerhalb des Proletariats zu schließen, deren Interessen jenen des Rests der Klasse entgegenstehen und sich den Interessen der Bourgeoisie angleichen, oder gar auf eine mechanische Verbindung zwischen der Ausbeutung und dem Bewußtsein sowie der Kampfbereitschaft zu schließen heißt, einen theoretischen Bocksprung voller Gefahren zu machen.

Im Frühkapitalismus, als ein Großteil der Arbeiter noch mehr oder weniger  Handwerker war - mit besonderen Fähigkeiten und mit ständischen Vorrechten -, war es zu bestimmten Zeitpunkten, d.h. in Zeiten der wirtschaftlichen Prosperität,  möglich, vielleicht noch Sektionen in der Arbeiterklasse mit besonderen Privilegien ausmachen.

So konnte Engels nebenbei in einem Brief von einer "Arbeiteraristokratie" von "Mechanikern, Zimmerleuten und Tischlern, Bauarbeitern" sprechen, die im 19. Jahrhundert weitestgehend organisiert waren und bestimmte Privilegien genossen, die aus der Wichtigkeit ihrer Qualifikationen und dem Monopol, das sie in diesen Qualifikationen verfügten, herrührten.

Aber angesichts der Entwicklung des Kapitalismus, einerseits mit der De-Qualifizierung der Arbeit und andererseits mit der Vervielfachung künstlicher Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse, den Versuch zu unternehmen, eine "Arbeiteraristokratie" im Sinne einer präzisen Schicht zu definieren, die über Privilegien verfügt, welche sie qualitativ von den anderen Arbeitern unterscheidet, ist eine völlig willkürliche Übung. Der Kapitalismus hat die Arbeiterklasse systematisch gespalten mit dem Ziel, Situationen zu schaffen, in denen die Interessen der einen Arbeiter den Interessen der anderen entgegengesetzt sind.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie die Entwicklung der Maschinen in Zeiten des sozialen Friedens durch die Zerstörung der spezialisierten Fertigkeiten des Arbeiters zur Entwicklung der Konkurrenz zwischen den Arbeitern geführt hat. Jedoch gibt sich der Kapitalismus nicht mit den Spaltungen zufrieden, die durch den Produktionsprozeß selbst erzeugt werden können. Wie alle ausbeutenden Klassen in der Geschichte kennt und wendet die Bourgeoisie das alte Prinzip "Teile und herrsche" an. Und sie tut dies so zynisch und methodisch, auf eine Weise, die beispiellos ist in der Geschichte.

Der Kapitalismus hat Nutzen aus den "natürlichen" Spaltungen des Geschlechts und des Alters gezogen, die er von den vergangenen Gesellschaften übernommen hatte. Obwohl die privilegierte Stellung des Mannes aufgrund seiner Körperkraft mit der Entwicklung der Industrie zunehmend verschwindet, hält das Kapital bewußt diese Spaltungen mit dem Ziel aufrecht, die Arbeitskraft zu spalten und niedrigere Löhne für Frauen, Kinder und Alte zu rechtfertigen.

Der Kapitalismus hat aus der Vergangenheit auch die rassischen oder geographischen Spaltungen übernommen. In seinen Ursprüngen ist das Kapital, damals noch hauptsächlich in Gestalt eines kommerziellen Kapitals, durch den Sklavenhandel reich geworden. In seiner höchstentwickelten Form greift das Kapital weiterhin auf die rassischen oder nationalen Unterschiede zurück, um einen ständigen Druck auf die Löhne auszuüben. Von der Behandlung der irischen Arbeiter in England im 18. und 19. Jahrhundert bis zu jener der türkischen oder jugoslawischen Arbeiter in der BRD 1980 - der Kapitalismus hat stets dieselbe Politik zur Spaltung der Arbeiterklasse verfolgt. Das Kapital weiß sehr gut, wie es von den Spaltungen zwischen den Stämmen in Afrika, den religiösen Differenzen in Ulster, den Kastenunterschieden in Indien oder den rassischen Unterschieden in den USA und in den wichtigen europäischen Mächten profitieren kann, die mit der Hilfe eines massiven Importes von Arbeitern aus Asien, Afrika und den weniger entwickelten Ländern Europas (Türkei, Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien. etc.) wiederaufgebaut worden waren.

Doch der Kapitalismus gibt sich nicht damit zufrieden, die sogenannten "natürlichen" Spaltungen innerhalb der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten und zu fördern. Durch die Ausdehnung der Lohnarbeit und die "wissenschaftliche" Organisierung der Ausbeutung in der Fabrik (Taylorismus, Prämiensystem usw.) hat die Aufgabe der Spaltung der Arbeiterklasse den Status eines Berufs erlangt: Soziologen, Psychiater, Gewerkschaftssekretäre arbeiten Hand in Hand mit den Personalchefs zusammen, um "rentable" Methoden zur Organisierung der Produktion auszuarbeiten und um zu gewährleisten, daß das Gesetz des "Jeder für sich selbst" in den Fabriken und Büros herrscht, sodass jeder denkt, seine Interessen stünden im Gegensatz zu den Interessen eines jeden anderen.  Im Kapitalismus kommt der berühmte Satz "Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf" der Wirklichkeit am nächsten. Indem der Lohn von der Produktivität anderer abhängig gemacht wird, indem alle Arten von Lohngefälle für dieselbe Arbeit geschaffen werden (was nun durch den Gebrauch von Computern im Management an seine Grenzen stößt), schafft der Kapitalismus mehr Spaltungen in der ausgebeuteten Klasse denn je.

Unter diesen Umständen ist es fast unmöglich, nicht für jede Kategorie von Arbeitern eine andere Kategorie zu finden, die mehr oder weniger "privilegiert" ist.

Wenn man all die Privilegien berücksichtigt, die einem Arbeiter aufgrund seines Alters, seines Geschlechtes, seiner Rasse, seiner Erfahrung, der Art seiner Arbeit (Hand- oder Kopfarbeit), seiner Stellung in der Produktion, der Prämien, die er verdient, usw. gewährt werden, könnte man unendlich viele Definitionen einer "Arbeiteraristokratie" finden. Wenn man so verfährt, kommt man dem Verständnis des revolutionären Charakters der Arbeiterklasse nicht einen Schritt näher.

Folgt man der Logik ihrer "anti-arbeiteraristokratischen" Haltung, so beinhalten die Perlen der maoistischen Weisheiten über das Subjekt der Arbeiteraristokratie die Notwendigkeit, das "wahre Proletariat", die "am meisten Ausgebeuteten" zu organisieren. Diese Gruppen sind also dazu gezwungen, nicht nur eine adäquate Definition für die Arbeiteraristokratie zu finden, sondern auch eine entsprechende Definition für die "rein proletarischen" Schichten. Sie widmen einen Großteil ihrer "theoretischen" Arbeit hierfür, wobei sich die Ergebnisse je nach Gruppe, Tendenz, Land, Zeitraum usw., den/die sie betreffen, unterscheiden.

So seien beispielsweise in Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland die "Gastarbeiter" die wirklichen Proletarier und die weißen Arbeiter die Aristokratie. In den USA könnte die gesamte Arbeiterklasse dieser Logik zufolge als "verbürgerlicht" angesehen werden (der Lebensstandard eines schwarzen Arbeiters in den USA kann bis zu 100 mal höher sein als der eines Arbeiters in Indien), aber derselben Logik zufolge kann man auch folgern, daß nur die weißen Arbeiter zur Aristokratie gehören. Von der einen Seite aus betrachtet, sind schwarze amerikanische Arbeiter Aristokraten, aber von der anderen Seite aus gesehen, sind sie "am meisten ausgebeutet". Für OPERAI E TEORIA setzt sich die "wirkliche Arbeiterklasse" aus Arbeitern zusammen, die am Fließband arbeiten. Einige Gruppen jedoch klassifizieren die Industriearbeiter der unterentwickelten Länder als "Aristokraten", weil ihr Lebensstandard wesentlich höher ist als der der arbeitslosen Massen, die in den Elendsvierteln am Rande der Großstädte hausen.

Die Definitionen dieser berühmten "Aristokratie" können somit von einer Gruppe zur anderen ganz unterschiedlich sein und mal 100 Prozent der Arbeiter, mal 50 oder 20 Prozent umfassen, je nach Laune  der Theoretiker.

III. Eine Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse

Zusammen mit ihren Versuchen, ihre vielen soziologischen Definitionen von Schichten innerhalb des Proletariats auszutüfteln oder zu klären, bezweckt die Intervention dieser Organisationen gegenüber der Arbeiterklasse mehr oder weniger, die Arbeiter zu spalten - wie sie selbst zugeben.

Dies stützt sich auf die Bildung von Organisationen, die nur jene Arbeiter sammelt, von denen sie glauben sicher zu sein, daß sie nicht der "Arbeiteraristokratie" angehören: Organisationen schwarzer Arbeiter oder von Fließbandarbeitern, von Arbeitsimmigranten usw.

Dies beispielsweise ist der Ursprung einer besonderen Form des Rassismus, die sich in einigen Gruppen innerhalb der Immigranten-Communities in den höchst industrialisierten Ländern Europas ausgebreitet hat und die den herkömmlichen Rassismus gegen die Weißen durch einen "marxistisch-leninistischen" Rassismus gegen die weiße Arbeiteraristokratie ersetzt hat. In den weniger industrialisierten Ländern, die Exporteure von Arbeitskräften sind, machen sich die Befürworter dieser Theorie daran, Feindseligkeiten unter den weniger qualifizierten Arbeitern gegenüber den qualifizierten Arbeitern zu schüren.

Innerhalb dieser Organisationen wird eine Feindschaft gegenüber der "Arbeiteraristokratie" kultiviert, die bald schon als Sündenbock für all das Mißgeschick herhalten muß, das die am "meisten Ausgebeuteten" ereilt.

Im besten Fall gibt man vor, daß die eigene Einheit der am meisten ausgebeuteten Sektoren der Klasse als ein Beispiel dient und eine Stimulanz für eine breitere Vereinigung der Klasse ist. Aber damit verkennt man völlig, wie die Klasseneinheit eigentlich herbeigeführt wird.

Das lebendige Beispiel von Polen 1980 verdeutlicht dies ganz klar. Die Klasseneinheit der Arbeiter ist nicht der Kulminationspunkt einer Reihe von Teilvereinigungen, einer der anderen folgend, Sektor für Sektor, nach Jahren systematischer Vorarbeit. Im wirklichen Leben findet diese Vereinigung auf explosive Weise, in ein paar Tagen oder Wochen statt. Der Ausbruch des Klassenkampfes und seine Generalisierung sind das Produkt vieler unterschiedlicher, unvorhersehbarer Faktoren.

Doch Polen hat übrigens nur einmal mehr bestätigt, was all die Explosionen des Klassenkampfes seit den Kämpfen 1905 in Rußland gezeigt hatten. Seit 75 Jahren hat es keine Klasseneinheit der Arbeiter gegeben, außer im und für den Kampf. Aber wenn die Arbeiterklasse sich vereint, tut sie dies mit einem Male und im größtmöglichen Maßstab. Seit 75 Jahren erblickt man, wenn Arbeiter auf ihrem Klassenterrain kämpfen, nicht einen Kampf zwischen den verschiedenen Teilen der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil eine Tendenz zu einer immer größeren Einheit. Das Proletariat ist die erste Klasse in der Geschichte, die nicht durch reale wirtschaftliche Antagonismen in sich selbst gespalten ist. Im Gegensatz zu den Bauern und Handwerkern besitzt das Proletariat seine Produktionsmittel nicht. Es besitzt nur seine Arbeitskraft, und diese zeichnet sich durch ihren kollektiven Charakter aus.

Die einzige Waffe des Proletariats gegen die Bourgeoisie ist seine schiere Anzahl. Doch Zahlen ohne Einheit sind nichts. Die Erlangung dieser Einheit ist der fundamentale Kampf des Proletariats, um seine Macht zu bekräftigen. Es ist kein Zufall, daß die Bourgeoisie dies mit allen Kräften zu verhindern versucht.

Es bedeutet, die Welt auf den Kopf zu stellen, wenn man wie OPERAI E TEORIA behauptet, die Idee von der Notwendigkeit der Einheit der Arbeiterklasse sei bürgerlich:

"Heute git es keine Stimme in der Bourgeoisie, die diese Spaltung unterstützt (zwischen den untersten Schichten und der 'Aristokratie'), im Gegenteil, es gibt einen Tenor in der bürgerlichen Propaganda, der für  die Notwendigkeit von Opfern argumentiert, 'weil wir alle im gleichen Boot sitzen'." (OPERAIO E TEORIA, Nr. 7, S. 10).

Die Bourgeoisie aller Länder spricht nicht von der Einheit der Arbeiterklasse, sondern von der nationalen Einheit. Was sie sagt, ist nicht: "Alle Arbeiter sitzen im gleichen Boot", sondern: "Die Arbeiter sitzen im gleichen Boot wie die Bourgeoisie". Und das ist überhaupt nicht dasselbe. Doch dies ist für jene schwer zu begreifen, die ihren Marxismus von Nationalisten wie Mao, Stalin und Ho Tschi Minh "gelernt" haben. Gegen all diese stalinistischen Verdrehungen können die Kommunisten nur die Lehren aus den praktischen Erfahrungen des Proletariats bekräftigen. Wie schon das Kommunistische Manifest 1848 befürwortete: "Die Kommunisten (heben) (...) die gemeinsamen (...) Interessen des gesamten Proletariats hervor und bringen sie zur Geltung."

IV. Eine zweideutige Auffassung von Parteien und Gewerkschaften

Wie konnte eine solche Auffassung auch nur das geringste Echo in der Arbeiterklasse haben?

Wahrscheinlich liegt der Hauptgrund, warum diese Auffassung auf so viel Gehör bei einigen Arbeitern trifft, ohne Gelächter oder Verärgerung zu erzeugen, darin, daß sie eine Erklärung dafür zu geben scheint, warum und wie die sogenannten "Arbeiter"-Gewerkschaften ihre widerwärtige Sabotage gegen den Klassenkampf ausführen.

Dieser Theorie zufolge sind die Gewerkschaften sowie die linken Parteien der Ausdruck der materiellen Interessen bestimmter Schichten des Proletariats, d.h. der privilegiertesten Schichten. In Zeiten des "sozialen Friedens" mag diese Theorie einigen Arbeitern, die Opfer des Rassismus weißer Arbeiter oder der Geringschätzun durch höher qualifizierter Arbeiter sind, oder angewidert von der Art und Weise sind, wie die linken Parteien und Gewerkschaften im Management des Kapitalismus involviert sind, einerseits als kohärente Erklärung dieser Phänomene erscheinen und andererseits eine unmittelbare Handlungsperspektive bieten: sich von den "Aristokraten" getrennt zu organisieren. Leider ist diese Auffassung theoretisch falsch und politisch gefährlich.

Hier ein Beispiel, wie LE BOLCHEVIK in Frankreich diese Idee formuliert:

"Die Kommunistische Partei (Frankreichs) ist keine Arbeiterpartei. Durch ihre Zusammensetzung, größtenteils intellektuellen und kleinbürgerlich, und vor allem durch ihre reformistische, ultrachauvinistische politische Linie ist die KP von Marchais und Seguys  eine bürgerliche Partei.

Sie ist nicht der politische und ideologische Repräsentant der Arbeiterklasse. Sie repräsentiert die oberen Schichten des Kleinbürgertums und der Arbeiteraristokratie." (LE BOLCHEVIK, Nr. 112, Feb. 1980).

Anders ausgedrückt: die Interessen eines Teils der Arbeiterklasse, der "Arbeiteraristokratie", sind die gleichen wie die der Bourgeoisie, da die Partei, die sie vertritt, "bürgerlich" ist. Diese Identität der politischen Linie zwischen den Parteien der Arbeiteraristokratie und der Bourgeoisie beruhe auf einer ökonomischen Basis: Die "Aristokratie" erhalte ein paar Krümel aus den Extra-Profiten,  die das nationale Kapital aus den Kolonien und Halbkolonien herausgepreßt hat.

Lenin vertrat eine ähnliche Theorie, um den Verrat der Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg zu erklären:

"Der Opportunismus (so nennt Lenin die reformistischen Tendenzen, die die Arbeiterorganisationen beherrschten und am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben, d. IKS) wurde im Laufe von Jahrzehnten durch die Besonderheiten jener Entwicklungsepoche des Kapitalismus hervorgebracht, in der die verhältnismäßig friedliche und zivilisierte Existenz einer Schicht privilegierter Arbeiter diese 'verbürgerlichte', ihnen Brocken von den Profiten des eigenen nationalen Kapitals zukommen ließ und sie von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriß (...) Die ökonomische Grundlage des Chauvinismus und des Opportunismus in der Arbeiterbewegung (ist) ein und dieselbe: das Bündnis der zahlenmäßig geringen Oberschichten des Proletariats und des Kleinbürgertums, für die Brocken von den Privilegien 'ihres' nationalen Kapitals abfallen, gegen die Masse der Proletarier, die Masse der Werktätigen und Unterdrückten überhaupt." (Lenin, "Der Zusammenbruch der II. Internationale", Werke, Bd. 21, S. 238 und 240).

Eine Kritik an Lenins Erklärung für den Verrat der Zweiten Internationalen

Bevor wir auf die Theorie seiner Epigonen eingehen, wollen wir kurz innehalten und einen Blick auf die Auffassung werfen, die von Lenin entwickelt wurde, um den neuen Klassencharakter der sozialdemokratischen Arbeiterparteien nach ihrem Verrat an das proletarische Lager zu erklären.

Die Geschichte stellte den Revolutionären folgende Frage: Jahrzehntelang hatte die europäische Sozialdemokratie, die von Marx, Engels und anderen gegründet worden war und die aus einem erbitterten und langwierigen Kampf hervorgegangen war, ein wirkliches Instrument zur Verteidigung der Interessen der Arbeiterklasse gebildet. Doch nun hatte sich eigentlich die gesamte sozialdemokratische Bewegung, einschließlich sowohl der Massenparteien als auch der Gewerkschaften, mit der nationalen Bourgeoisie ihres jeweiligen Landes gegen die Arbeiter anderer Länder verbündet. Wie konnte man den Klassencharakter dieses monströsen Produktes der Geschichte definieren?
Um einen Eindruck des Schocks zu vermitteln, den dieser Verrat unter der ganz kleinen Minderheit hervorgerufen hatte, die noch immer auf internationale, revolutionäre Positionen beharrte, können wir zum Beispiel Lenins Überraschung in Erinnerung rufen, als er die Ausgabe des VORWÄRTS (Publikation der deutschen Sozialdemokratischen Partei) las, die die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten verkündete. Er dachte, daß dies eine Fälschung sei, die lanciert wurde, um der Kriegspropaganda Schützenhilfe zu leisten. Wir können auch an die Schwierigkeiten der deutschen Spartakisten, angeführt von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, erinnern, um endlich die Nabelschnur zu durchschneiden, die sie organisch mit der "Mutterorganisation" verband.

Als der Krieg ausbrach, war die Politik der Sozialdemokratie ganz offen bürgerlich, aber die Mehrheit ihrer Mitglieder sowohl in der Partei als auch in den Gewerkschaften setzte sich noch aus Arbeitern zusammen. Wie war solch ein Widerspruch zu erklären?

Die Sozialdemokraten, nun Patrioten, sagten: "Hier ist der Beweis dafür, daß der Internationalismus keine wirkliche Arbeiteridee ist." In seiner Ablehnung dieser Analyse antwortete Lenin, derselben Logik folgend, daß nicht alle Arbeiter den Internationalismus abgelehnt hätten, sondern nur eine "privilegierte Minderheit", die sich "von dem Elend, den Leiden und den revolutionären Stimmungen der verelendeten und bettelarmen Masse losriß". Lenins Anliegen war völlig richtig: Der Hinweis auf die Tatsache, daß das europäische Proletariat es zugelassen hatte, sich in den imperialistischen Krieg ziehen zu lassen, bedeutete nicht, daß Kriege dieser Art den Interessen der Arbeiterklasse in den verschiedenen betroffenen Ländern entsprachen. Jedoch waren die Argumente, die er benutzte, falsch, was von der Realität bestätigt wurde. Lenin sagte, daß die "patriotischen" Arbeiter gemeinsame Interessen mit "ihrem" nationalen Kapital hatten, die eine "Arbeiteraristokratie" bestach, indem es ihnen "ein paar Krümel des Profits" hinwarf.

Wie groß ist dieser korrumpierte Sektor der Arbeiterklasse? "Ein verschwindender Teil", sagt Lenin in "Der Krieg und die Zweite Internationale"; "die Arbeiterführer und die Oberschicht der Arbeiteraristokratie", sagt er im Vorwort zu "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus".

Doch in Wirklichkeit zeigte sich:

1. daß nicht eine "verschwindende" Minderheit des Proletariats von der Expansion des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts/Anfang des 20. Jahrhunderts profitierte, sondern alle Industriearbeiter. Die Abschaffung der Kinderarbeit, die Beschränkung der weiblichen Erwerbstätigkeit, die Verkürzung des Arbeitstages auf zehn Stunden, die Schaffung von Schulen und öffentlichen Krankenhäusern, etc. - von all diesen Maßnahmen, die der Arbeiterkampf dem Kapitalismus in Zeiten einer rapiden Expansion abgerungen hatte, profitierten vor allem die "niedrigsten", am meisten ausgebeuteten Schichten der Arbeiterklasse;

2. daß Lenins Sichtweise einer verschwindenden Minderheit von korrupten Arbeitern, isoliert inmitten einer gigantischen Massen von leidenden Arbeitern, die von "revolutionären Stimmungen" ergriffen waren, am Vorabend des I. Weltkriegs reine Einbildung war. Nahezu alle Arbeiter in den Ländern der Hauptmächte - arme oder reiche, qualifizierte wie ungelernte, gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche - folgten dem Ruf zu den Waffen und wollten den "Feind" besiegen und massakrieren, um "ihre" nationalen Herren zu verteidigen;

3. daß die "ökonomische Grundlage" für die "Brocken aus dem Profit", die von den imperialistischen Mächten unter ihre qualifizierten Arbeitern verteilt wurden, keinen Sinn ergibt. In erster Linie weil es, wie wir gesehen haben, nicht eine winzige Minderheit war, deren Bedingungen sich in den Zeiten der kapitalistischen Expansion verbessert hatten, sondern alle Arbeiter in den Industrieländern. Zweitens, weil die Kapitalisten ihre Profite wie auch ihre Extraprofite erklärtermaßen nicht mit jenen teilen, die sie dafür ausbeuten.

Die Lohnzuwächse und die weitestgehend verbesserten Lebensbedingungen der Arbeiter in den Industrieländern waren nicht das Resultat der Großzügigkeit der Kapitalisten, die bereitwillig ihre Profite teilen, sondern des erfolgreichen Drucks, den die Arbeiter damals auf ihren nationalen Kapitalismus auszuüben in der Lage waren. Der wirtschaftliche Wohlstand des Kapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts führte allerorts zu einer Verringerung der Zahlen von beschäftigungslosen Arbeitern in der "Reservearmee" des Kapitalismus. Die Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt wurde knapper und somit teurer, da immer mehr Fabriken errichtet wurden und bereits existierende Fabriken voll ausgelastet waren. Dies war der Zustand während dieser Periode. Die Arbeiter waren, indem sie selbst auf limitierte Weise (in Gewerkschaften und Massenparteien) organisierten, in der Lage, ihre Arbeitskraft zu einem höheren Preis zu verkaufen und wirkliche Verbesserungen in ihren Existenzbedingungen zu erlangen.

Die Erschließung des Weltmarktes durch einige Industriezentren, die sich mehr oder weniger auf Europa und Nordamerika beschränkten, erlaubten es dem Kapitalismus, sich mit unbändiger Kraft zu entwickeln. Die periodischen Krisen der Überproduktion wurden mit einer anscheinend immer höheren Geschwindigkeit und Energie überwunden. Die Industriezentren expandierten, indem sie eine immer größere Anzahl von Bauern und Handwerker absorbierten, die damit in Arbeiter, in Proletarier umgewandelt wurden. Die Arbeitskraft der qualifizierten Arbeiter, die sich ihre Fertigkeiten über viele Jahre angeeignet hatten, wurden zu einer kostbaren Ware für die Kapitalisten.

So gibt es gewiss eine Verknüpfung zwischen der globalen Expansion des Kapitalismus und dem wachsenden Lebensstandard der Industriearbeiter, aber es ist nicht die Verknüpfung, die von Lenin geschildert wird. Die Verbesserung der proletarischen Bedingungen betrafen nicht eine "verschwindende" Minderheit, sondern die gesamte Arbeiterklasse. Sie war nicht das Resultat der "Bestechung" von Arbeitern durch ihre kapitalistischen Herren, sondern der Arbeiterkämpfe in Zeiten der kapitalistischen Prosperität.

Wenn die europäischen und amerikanischen Arbeiter sich en masse mit den Interessen des nationalen Kapitals identifizierten und dabei der Führung ihrer politischen und gewerkschaftlichen Organisationen folgten, dann geschah dies, weil sie jahrzehntelang im größten materiellen Wohlstand gelebt hatten, den die Menschheit jemals erlebt hat. Wenn die Idee von der Möglichkeit eines friedlichen Übergangs zum Sozialismus solch große Wirkung in der Arbeiterbewegung erzielt hat, dann geschah dies, weil der gesellschaftliche Wohlstand oftmals als Ergebnis bewusster Kräfte in der Gesellschaft auftrat. Die Barbarei des I. Weltkrieges ertränkte diese Illusionen im Schlamm der Schützengräben von Verdun. Doch nichtsdestotrotz gestatteten diese Illusionen den kapitalistischen Generälen, mehr als zwanzig Millionen Männer im inter-imperialistischen Gemetzel in den Tod zu schicken.

Der Weltmarkt markierte das endgültige Ende jeglicher Möglichkeit einer Kohabitation zwischen den "Reformisten" und den Revolutionären innerhalb der Arbeiterbewegung. Indem sie sich in Rekrutierungsoffiziere für die imperialistischen Armeen verwandelte, lief die Mehrheit der reformistischen Strömungen in der II. Internationalen mit Mann und Maus ins Lager des Kapitalismus über.

Von diesem Standpunkt aus waren sie keine Tendenzen der Arbeiterklasse mehr, die stark von der Ideologie der herrschenden Klasse beeinflusst waren, sondern Zahnräder im politischen Apparat der Bourgeoisie. Die sozialdemokratischen Parteien sind nicht mehr "verbürgerlichte Arbeiterorganisationen", sondern bürgerliche Organisationen innerhalb der Arbeiterklasse. Sie repräsentieren nicht mehr die Arbeiterklasse oder auch nur einen Teil von ihr. Sie sind die Inkarnation der Interessen des nationalen Kapitals in seiner Gesamtheit.

Die Sozialdemokratie ist genausowenig "Arbeiterklasse", weil sie Arbeiter enthält, wie die Gitterstäbe des Käfigs "Tiere" sind, weil sie Tiere enthalten. Das Massaker an den deutschen Arbeitern nach dem Krieg durch die sozialdemokratische Regierung war ein blutiger Beweis dafür, welcher Seite die Sozialdemokratie von nun an angehörte.(2)

Die Theorie, daß die linken Parteien und ihre Gewerkschaften die Interessen der "Arbeiteraristokratie" vertreten, beinhalten stets, in der einen oder anderen Weise, den Gedanken, daß sie immerhin Arbeiterorganisationen seien.

Die praktische Bedeutung dieser theoretischen Frage wird deutlich, wenn die Arbeiterklasse mit einem Angriff von einer Sektion der Bourgeoisie gegen diese Organisationen konfrontiert ist. Es geschah im Namen der Verteidigung dieser "Arbeiterorganisationen", daß die "westliche Demokratie" Arbeiter in den Kampf "gegen den Faschismus" führte - von 1936 bis Hiroshima.

Diese Zweideutigkeit erweist sich für Lenins Epigonen heute als sehr nützlich. Die maoistische Strömung kam aus den Kommunistischen Parteien hervor. Die Maoisten sind Späne aus dem stalinistischen Block, die unter dem Druck der Entwicklung der inter-imperialistischen Konflikte (besonders zwischen China und Rußland) und der Intensivierung des Klassenkampfes abgesprengt wurden.

Viele Gruppen maoistischen Ursprungs gehen durchaus davon aus, daß die KPs "bürgerliche" Organisationen sind, aber sie machen schnell klar, daß die KPs sich auf die "Arbeiteraristokratie" stützten; aus diesem Grunde seien sie teilweise "verbürgerlichte Arbeiterorganisationen"... Man sieht, welche Bedeutung diese "Nuance" für Gruppen haben kann, die, wie das Marxistische Arbeiterkomitee, vehement ihre "25 Jahre Kampf"(3) verteidigen, von denen sie mehr als drei Viertel in der stalinistischen Partei verbracht haben. Laut ihrer Theorie haben sie diese Jahre nicht damit verbracht, für die Bourgeoisie zu arbeiten, sondern für.... die "Arbeiteraristokratie".

Jegliche Zweideutigkeit darüber, auf welcher Seite der Barrikade die linken Parteien stehen, kann für die Arbeiterklasse tödliche Folgen haben. In den letzten 60 Jahren ist nahezu jede wichtige Bewegung der Arbeiterklasse von der Linken oder mit ihrer Beihilfezerschlagen worden. Die Theorie der "Arbeiteraristokratie" entwaffnet durch die Kultivierung dieser Zweideutigkeit die Klasse und verschleiert die eine Frage, die so klar wie möglich sein muß, ehe man sich in einem Kampf engagiert: Wer ist der Feind?

V. Eine grobe Verzerrung des Marxismus

Wir haben gezeigt, wie die Theorie der Arbeiteraristokratie, wie sie von maoistischen und ex-maoistischen Gruppen vertreten wird, ein soziologisches Verständnis der Arbeiterklasse verrät, eine Vision, die diese Strömungen durch ihre Erfahrungen mit dem Stalinismus erworben haben.

Das Verständnis dieser Erfahrung wird ersetzt durch eine quasi-religiöse Untersuchung bestimmter Texte der "proletarischen Evangelisten", aus denen Auszüge zitiert werden, die als absoluter Beweis für die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen dienen sollen.(Die Entwicklung der maoistischen Gruppen kann an der Anzahl der Konterfeis ihrer Evangelisten, die aus ihrer Ikonographie entfernt wurden, abgelesen werden: Am Anfang gab es Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Mao wurde als erster entfernt, dann, in einem etwas fortgeschritteneren Stadium, wurde auch Stalin eliminiert. Doch gleichzeitig wurde der religiöse Status der verbliebenen drei noch weiter erhöht.)

Um herauszufinden, ob diese oder jene politische Position richtig oder falsch ist, stellen sich diese Organisationen nicht die Frage: Ist dies durch die reale, lebendige Praxis der Arbeiterkämpfe in der Vergangenheit bewiesen worden? Sondern: Kann dies durch ein Zitat von Marx, Engels oder Lenin belegt werden?

Um also den Beweis für die Richtigkeit der Theorie der Arbeiteraristokratie "wissenschaftlich" zu demonstrieren, bombardieren diese Gruppe ihre Leser mit bewußt ausgewählten Zitaten von Marx, Engels oder Lenin.

Diese ultra-leninistischen Gruppierungen stützen sich auf die Fehler Lenins in der Frage der "Aristokratie", aber sie vergessen, daß Lenin nie solch irrtümliche Schlüsse daraus zog wie OPERAI E TEORIA, denen zufolge die Revolutionäre nicht mehr "die gemeinsamen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen" dürfen, wie es das Manifest sagt, sondern "auf eine Spaltung, einen deutlichen Bruch zwischen den Interessen der unteren Schichten und denen der Aristokratie" (OPERAI E TEORIA) hinarbeiten müssen.

Lenin hat nie die Arbeiter dazu aufgerufen, sich unabhängig von und gegen den Rest ihrer Klasse zu organisieren. Im Gegenteil, Lenins Attacken gegen die sozialdemokratischen Patrioten als politische Strömung deckten sich mit seinem Beharren auf die Notwendigkeit einer Einheit aller Arbeiter in ihren Einheitsorganisationen. Der Schlachtruf "Alle Macht den Räten", d.h. alle Macht den breitesten und einheitlichsten Organisationen, die die Arbeiterklasse zu bilden in der Lage ist - ein Schlachtruf, den Lenin mit am standhaftesten vertrat -, war kein Aufruf zur Spaltung der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil zur größtmöglichen Einheit zum Zwecke der Machtübernahme.

Was die Hinweise dieser Strömungen auf bestimmte Zitate von Engels anbetrifft, so sind diese nur der Versuch, in die aus dem Zusammenhang gerissenen Äußerungen von Engels etwas hineinzuinterpretieren, was er nie gesagt hatte. Engels spricht an etlichen Stellen von einer "Aristokratie" innerhalb der Arbeiterklasse. Aber worüber sprach er genau?

In einigen Fällen bezieht er sich auf die englische Arbeiterklasse, die im Ganzen einen höheren Lebensstandard und bessere Arbeitsbedingungen genoss als die Arbeitern anderer Länder. In anderen Fällen bezieht er sich auf die spezialisierteren Arbeiter in der britischen Arbeiterklasse selbst, die ihre handwerklichen Fertigkeiten noch erhalten konnten (Mechaniker, Zimmerleute, Schreiner, Bauarbeiter). Doch dabei war es sein Ziel, jegliche Illusionen zu vertreiben, die die englische Arbeiterklasse noch hinsichtlich ihrer "aristokratischen" Stellung haben konnte. Weiter unterstrich er die Tatsache, daß die Entwicklung des Kapitalismus vor allem durch Wirtschaftskrisen stattfand, die ihn zwingen, die Bedingungen aller Arbeiter auf das niedrigste gemeinsame Niveau zu drücken und die materiellen Grundlagen der "Privilegien" minoritärer Arbeitergruppen zu zerstören, auch in der Arbeiterklasse in Großbritannien. So sagte er in einer Debatte in der Internationalen Arbeiterassoziation (Erste Internationale):

"Das (die Einwilligung des Antrages von Haies über die Irische Sektion der IAA, d.IKS) würde die unter den englischen Arbeitern nur zu sehr verbreitete Meinung sanktionieren, daß sie, verglichen mit den Iren, überlegene Wesen wären und ebensolche Aristokraten wie jene, für die sich die niederträchtigen Weißen in den Sklavenhalterstaaten den Negern gegenüber hielten." (F.Engels, MEW. Bd. 18, S. 80).

Und Engels erläuterte, wie die Wirtschaftskrise dazu tendiert, diese Auffassung zu untergraben, die viel zu lange verbreitet war:

"Mit dem Zusammenbruch des Monopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren. Sie wird sich allgemein - die bevorrechtete und leitende Minderheit nicht ausgeschlossen - eines Tages auf das gleiche Niveau gebracht sehen wie die Arbeiter des Auslandes." (F. Engels, Vorwort zur 2. Ausgabe der "Lage der arbeitenden Klasse", MEW 22, S. 328)

Und Bezug nehmend auf die alten Gewerkschaften, die eifersüchtig ihre Stellung als Organisationen ausschließlich der spezialisiertesten Arbeiter verteidigten:

"Schließlich muß (die akute Krise des Kapitalismus) ausbrechen, und es ist zu hoffen, daß dies den alten Gewerkschaften ein Ende machen wird." (4)

Die praktische Erfahrung der Arbeitskämpfe im 20. Jahrhundert, die zu "neuen" Organisationsformen führten, welche auf Vollversammlungen basierten, mit Delegierten für die Komitees oder Räte, hat nicht nur den alten Gewerkschaften der spezialisierten Arbeiter effektiv ein Ende bereitet, sondern auch allen anderen Gewerkschaften, die immer auf rein beruflichen Kategorien gegründet sind.

Engels sprach von einer Art von "Arbeiteraristokratie", um zu bezwecken, daß die Bewegung in Richtung einer unerlässlichen Einheit der Arbeiterklasse gestärkt wird. Daraus die Notwendigkeit der Spaltung der Arbeiterklasse zu lesen ist eine grobe Fälschung.

Um diese "marxistischen" Referenzen zu beenden, noch ein Wort zur Untersuchung von OPERAI E TEORIA, die vorgibt, eine Erklärung bei Marx für die Antagonismen, die die Arbeiter angeblich gegeneinander aufhetzen, gefunden zu haben.

"Alle (Arbeiter) produzieren als organisches Ganzes Mehrwert, aber nicht alle produzieren die gleiche Quantität, denn sie unterliegen nicht alle der massiven Auspressung von relativem Mehrwert."

Anscheinend haben sich diese Leute nicht einmal die Mühe gegeben herauszufinden, was der "relative Mehrwert" eigentlich bedeutet. Marx benutzte dieses Terminus, um Phänomen des wachsenden Anteils der Arbeitszeit zu definieren, die das Kapital der Arbeiterklasse durch das Mittel der Produktivitätssteigerung stiehlt.

Im Gegensatz zur Auspressung des "absoluten Mehrwerts", der hauptsächlich von der Dauer der Arbeitszeit abhängt, hängt der "relative Mehrwert" in erster Linie von der gesellschaftlichen Produktivität der Gesamtheit der Arbeiterklasse ab.

Die Produktivitätssteigerung findet ihren Ausdruck in der Tatsache, daß zur Herstellung einer gleichen Menge von Gütern weniger Arbeitszeit benötigt wird. Die gesellschaftliche Produktivitätssteigerung drückt sich durch die Tatsache aus, daß weniger gesellschaftliche Arbeitszeit benötigt wird, um die Subsistenzmittel zu produzieren.

Die für die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft notwendigen Erzeugnisse, die der Arbeiter mit seinem Lohn kaufen muß, enthalten einen immer geringeren Wert. Selbst wenn er sich nun zwei Hemden anstatt wie früher eins kaufen kann, haben diese Hemden dank der Produktivitätssteigerungen  weniger Arbeit gekostet als früher ein einziges. Die Differenz zwischen dem von dem Arbeiter erzeugten Wert der Arbeit und dem "Gegenwert", den er in Gestalt des Lohnes erhält - diese Differenz, die der vom Kapitalisten angeeignete Mehrwert ist -, vergrößert sich, selbst wenn die absolute Dauer seiner Arbeit unverändert bleibt.

Der relative Mehrwert ist die Ausbeutung durch die Verstärkung der Herrschaft des Kapitals über das gesamte gesellschaftliche Leben (5). Es ist die "kollektivste" Ausbeutungsform, die in einer Klassengesellschaft möglich ist (weshalb sie auch die letzte Form der Ausbeutung ist).

In diesem Sinne leiden alle Arbeiter im gleichen Maße darunter.

Die wachsende Abhängigkeit des Kapitalismus vom relativen Mehrwert führt nicht zu einer Herausbildung von ökonomischen Antagonismen innerhalb der Arbeiterklasse, wie es OPERAI E TEORIA behauptet, sondern im Gegenteil zur wachsenden Gleichförmigkeit der objektiven Lage der Arbeiter im Verhältnis zum Kapital.

Man kann Marx nicht mit den Augen eines stalinistischen Sozilogen lesen.

Einige politische Strömungen, die aus dem Maoismus hervorgegangen sind, tragen eine radikal anti-gewerkschaftliche Haltung zur Schau. Dies erweckt Illusionen, als handle es sich um einen Schritt nach vorn in Richtung Klassenpositionen. Aber die ihrer Position zugrundeliegende Theorie wie auch die politischen Konsequenzen, zu denen sie führt, machen aus diesem Anti-Gewerkschaftstum ein neues Instrument zur Spaltung der Arbeiterklasse.

Vom Standpunkt des Klassenkampfes aus ist die gewerkschaftliche Organisationsform historisch tot, eben weil sie nicht zu einer wirklichen Klasseneinheit führt. Die Organisierung nach Industriezweigen und Berufen auf streng ökonomischer Ebene ist keine Grundlage mehr für die Einheit, die für den Kampf im totalitären Kapitalismus unverzichtbar ist.

Die Gewerkschaften abzulehnen, nur um auf andere Weise die Arbeiterklasse zu spalten - das ist das Resultat eines Anti-Gewerkschaftstums, das sich als Opposition zur "Arbeiteraristokratie" begreift.

R.V. (Aus der Internationalen Revue Nr. 25, 2. Quartal 1981, deutsche Ausgabe Nr. 8, 1982)

 

Fußnoten:

(1) Dies ist einem Artikel entnommen, in dem OPERAI E TEORIA auf die Kritik von BATTAGLIA COMUNISTA (Partito Comunista internationalista) zu antworten versucht, die, auch wenn sie selbst "Leninisten" sind, OPERAI E TEORIA vorwerfen:

-  "den kapitalistischen Prozeß der Spaltung der Arbeiterklasse zu beschleunigen",

-  ihre Theorie auf der "objektiv unrichtigen Idee der Privilegien" in der Klasse zu stützen;

-  nicht "die Tendenz des Kapitalismus in der Krise (zu verstehen), die Existenzbedingungen des gesamten Proletariats auszuhöhlen und somit seine wirtschaftliche Vereinheitlichung herbeizuführen".

Battaglia hat vollkommen recht mit seiner Kritik, doch führt sie dies nicht zu ihrem logischen Schluß, aus Angst, das Wort ihres "Meisters" Lenin in Frage stellen zu müssen.

(2) Die "Kompromisse", die die Dritte Internationale auf Kosten der Strömungen in der Arbeiterklasse, denen "ultra-linke" Tendenzen vorgeworfen wurden,  mit den sozialdemokratischen Parteien nach 1920 sich zu schließen bemüßigt fühlte, fanden ihre theoretische Rechtfertigung in der Zweideutigkeit des Begriffs "bürgerliche Arbeiterparteien", den man für die patriotischen Sozialdemokraten verwendete. So kam Lenins Internationale dazu, die britischen Kommunisten zum Eintritt in die "Labour"-Party aufzufordern!

(3) MARXIST WORKER, Nr. 1, 1979, "25 years of struggle. Our history".

(4)Teil einer Intervention auf dem Treffen des Generalrats der IAA im Mai 1872.

(5) Die Vorherrschaft des relativen Mehrwerts über den absoluten Mehrwert ist eine der grundlegenden Eigenschaften dessen, was Marx die "wirkliche Herrschaft des Kapitals" nennt.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

Theoretische Fragen: 

Erbe der kommunistischen Linke: