Gespeichert von Weltrevolution am
Der Februaraufstand hatte eine Doppelmacht entstehen lassen: die der Arbeiterklasse, die in ihren Arbeiter- und Soldatenräten organisiert war, und die der Bourgeoisie, die durch die provisorische Regierung vertreten und von den menschewistischen und sozialrevolutionären ‘Versöhnlern’ unterstützt wurde, insbesondere innerhalb des Exekutivkomitees, das von den Räten gewählt worden war (1). Diese Situation der Doppelmacht wurde umso unhaltbarer, je mehr sich die revolutionären Lage entwickelte.
Die aufsteigende Revolution
Nachdem sie anfänglich von den nie eingehaltenen Versprechungen der menschewistischen und sozialrevolutionären Demagogen über einen Frieden, ‘die Lösung der Agrarfrage’, die Einführung des 8-Stundentages usw. illusioniert und eingeschläfert worden waren, fingen die Arbeiter, insbesondere diejenigen Petrograds an sich bewußt zu werden, daß das Exekutivkomitee der Sowjets in keiner Weise auf ihre Forderungen einging. Sie merkten, daß dieses im Gegenteil als Schutzschild für die provisorische Regierung diente, damit diese ihre Ziele umsetzte, d.h. vor allem die Wiederherstellung der Ordnung hinter der Front und an der Front selber, um den imperialistischen Krieg fortzusetzen. In ihrer radikalsten Hochburg, in Petrograd, wurde sich die Arbeiterklasse mehr und mehr bewußt, daß sie hinters Licht geführt und getäuscht wurden von denjenigen, denen sie die Führung der Räte übertragen hatte. Wenngleich noch auf eine sehr verworrene Art und Weise neigte die revolutionäre Avantgarde dazu, die wirkliche Frage aufzuwerfen: wer übt wirklich die Macht aus, die Bourgeoisie oder die Arbeiterklasse?
Die Radikalisierung der Arbeiter und die Bewußtwerdung darüber, was wirklich auf dem Spiel stand, beschleunigte sich ab Mitte April, nachdem der liberale Minister Miljukow eine provozierende Note verfaßt hatte, in der er die Kriegsbeteiligung Rußlands bei der Fortsetzung des imperialistischen Krieges an der Seite der Alliierten beteuerte. Durch die zahlreichen Entbehrungen aller Art stark angespannt, reagierten die Arbeiter und Soldaten sofort durch spontane Demonstrationen, massive Versammlungen in den Arbeitervierteln und den Fabriken. Am 20. April bewirkte eine Massendemonstration den Rücktritt Miljukows. Die Bourgeoisie mußte bei ihren Kriegsplänen (vorübergehend) zurückstecken. Die Bolschewiki spielten bei dieser Gärung der Arbeiterklasse eine sehr aktive Rolle und ihr Einfluß stieg stetig in den Reihen der Arbeiter an. Die Radikalisierung der Arbeiterklasse vollzog sich um den Schlachtruf, den Lenin in seinen Aprilthesen (1) aufgestellt hatte: ‘Alle Macht den Räten’, auf das sich im Mai und Juni alle Bestrebungen der großen Arbeitermassen ausrichteten. Während des Monats Mai erschien die Bolschewistische Partei immer mehr als die einzige Partei, die an der Seite de Arbeiter kämpft. In allen Teilen Rußlands entfaltete die Partei eine frenetische Aktivität und brachte somit die revolutionäre Gärung zum Ausdruck. Das geduldige Erklären der Parole ‘alle Macht den Räten’ und ihr Engagement dafür, trug ihre Früchte darin, daß die Bolschewiki bei der Konferenz der Industriearbeiter von Petrograd - diesem kämpferischsten Teil des Proletariats - Ende Mai die Mehrheit in den Fabrikkomitees eroberten. Im Juni kam es zu einer intensiven politischen Agitation, die sehr spektakulär ihren Höhepunkt in einer gewaltigen Massendemonstration am 18. Juni erreichte. Obwohl ursprünglich die Menschewiki dazu aufgerufen hatten, um die provisorische Regierung, nachdem diese soeben eine neue militärische Offensive angeordnet hatte, zu unterstützen sowie das Exekutivkomitee des Sowjets von Petrograd, das sie noch beherrschten, wandte sich diese Demonstration gegen die ‘Versöhnler’. Tatsächlich griff die Demonstration in ihrer überwältigenden Mehrheit den bolschewistischen Schlachtruf auf: ‘Nieder mit der Offensive’. ‘Nieder mit den 10 kapitalistischen Ministern’. ‘Alle Macht den Räten’.
Die Bolschewiki vermieden die Falle des verfrühten Zusammenstoßes
Während die Nachrichten vom Scheitern der militärischen Offensive in der Hauptstadt eintrafen und somit das revolutionäre Feuer anfachten, waren sie in den anderen Landesteilen noch nicht eingetroffen. Um gegenüber dieser sehr gespannten Lage zu reagieren, fädelte die Bourgeoisie eine verfrühte Revolte in Petrograd ein, damit die Arbeiter und Bolschewiki dort niedergeworfen würden, und die Verantwortung für das Scheitern der militärischen Offensive dem Proletariat der Hauptstadt aufgebürdet werde, da dieses den an der Front kämpfenden Soldaten ‘einen Dolchstoß verpaßt habe’.
Solch ein Manöver war durch die Tatsache möglich geworden, daß die Bedingungen der Revolution noch nicht reif waren. Obgleich die Unzufriedenheit überall im Land unter den Arbeitern und Soldaten zunahm, hatte diese bei weitem noch nicht das Niveau, die Tiefe und die Homogenität wie in Petrograd erreicht. Die Bauern hatten noch Vertrauen in die provisorische Regierung. Unter den Arbeitern selber, auch unter den Petrogradern, war die vorherrschende Idee noch immer, daß man nicht die Macht ergreifen müsse, sondern daß man durch eine gewaltsame Aktion die ‘sozialistischen’ Führer dazu zwingen müßte, ‘wirklich die Macht zu ergreifen’. Es stand fest, daß eine in Petrograd niedergeschlagene Revolution und zahlenmäßig dezimierte Bolschewistische Partei es ermöglicht hätte, daß das so enthauptete Proletariat in Rußland bald insgesamt besiegt worden wäre.
Petrograd war in Gärung. Die MG-Schützen, die neben den Matrosen von Kronstadt ein Vorposten der Revolution in der Armee waren, wollten sofort losschlagen. Streikende Arbeiter begaben sich zu den Regimenten und forderten sie auf, sich auf der Straße zu versammeln und Treffen abzuhalten. In dieser Situation reichten einige von der Bourgeoisie getroffenen Maßnahmen aus, um die Revolte in der Hauptstadt auszulösen. So beschloß die Kadettenpartei, ihre vier Minister aus der ‘provisorischen’ Regierung zurückzuziehen, um wieder unter den Arbeitern und Soldaten die Forderung nach der unmittelbaren Macht der Sowjets aufzugreifen. Die Weigerung der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre, den Schlachtruf ‘Alle Macht den Räten’ zu übernehmen, weil sie an der Notwendigkeit festhielten, mit den Vertretern der ‘demokratischen Bourgeoisie’ zusammenzuarbeiten, konnte jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden. Neben vielen anderen Provokationen drohte die Regierung jetzt damit, sofort kämpferische revolutionäre Regimenter von der Hauptstadt an die Front zu verlagern. Innerhalb weniger Stunden erhob sich die Arbeiterklasse der ganzen Stadt, bewaffnete sich und versammelte sich um den Schlachtruf ‘Alle Macht den Räten’.
Schon bei der Demonstration am 18. Juni hatten die Bolschewiki die Arbeiter öffentlich vor verfrühtem Handeln gewarnt. Da sie meinten, daß es nicht möglich wäre, die Bewegung zu stoppen, entschlossen sie sich, an deren Spitze zu treten durch ihre Unterstützung, indem sie der bewaffneten Demonstration von 500.000 Arbeitern und Soldaten einen ‘friedlichen und organisierten’ Charakter verliehen. Am gleichen Abend merkten die Arbeiter, daß sie in einer vorübergehenden Sackgasse stecken, da es unmittelbar unmöglich war, die Macht zu ergreifen. Am darauffolgenden Tag blieben sie den Anweisungen der Bolschewiki folgend zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt trafen in Petrograd ‘neue’ Truppen ein, die die Kräfte der Bourgeoisie und ihre menschewistischen und sozialrevolutionären Anhänger unterstützen sollten. Um sie vor dem Einfluß der Bolschewiki zu ‘impfen’, wurden sie von Provokateuren unter Beschuß genommen, die im Dienst der Bourgeoisie standen, aber als Bolschewiki dargestellt wurden. Daraufhin setzte die Repression ein. Die Bourgeoisie organisierte neben dieser Repression eine Kampagne, die die Bolschewiki als ‘deutsche Agenten’ präsentierte, um die Soldaten gegen sie zu hetzen. Daraufhin mußten Lenin und andere bolschewistische Führer in den Untergrund gehen, während Trotzki und andere verhaftet wurden: ‘Der Schlag, der im Juli den Massen und der Partei zugefügt wurde, war sehr empfindlich. Aber es war kein entscheidender Schlag. Die Opfer zählen nach Zehnern, nicht nach Zehntausenden. Die Arbeiterklasse ging aus der Prüfung weder enthauptet noch verblutet hervor. Sie hatte ihre Kampfkader unversehrt erhalten, und diese Kader hatten vieles gelernt.’ (Geschichte der Russischen Revolution, Bd. 2, S. 475)
Die Lehren aus den Juli Ereignissen 1917
Gegenüber all den gegenwärtigen Kampagnen der Bourgeoisie, die Oktober 1917 als einbolschewistisches Komplott gegen die ‘junge Demokratie’ darstellen, welche die Februarrevolution hervorgebracht habe, und gegen die demokatischen Parteien, welche danach an die Macht kamen, Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki, beweisen gerade die Juli-Ereignisse das Gegenteil. Sie belegen, daß die das Komplott betreibenden Kräfte gerade diese demokratischen Parteien waren, die in enger Zusammenarbeit mit den anderen reaktionären Teilen der russischen politischen Klasse waren und mit der Bourgeoisie der mit Rußland verbündeten imperialistischen Länder, um zu versuchen, der Arbeiterklasse eine entscheidende Niederlage beizufügen.
Juli 1917 bewies ebenfalls, daß die Arbeiterklasse gegenüber all den früheren Arbeiterparteien, die verraten haben, mißtrauisch sein und jede Illusion gegenüber ihnen über Bord werfen muß. Während der Juli-Tage gab es noch viele solcher Illusionen in der Arbeiterklasse. Aber die Erfahrung im Juli hat endgültig aufgezeigt, daß die Menschewiki und Sozialrevolutionäre unumkehrbar in das Lager der Konterrevolution übergewechselt waren. Schon Mitte Juli zog Lenin daraus eindeutig die Lehren: ‘Nach dem 4. Juli hat sich die konterrevolutionäre Bourgeoisie, Hand in Hand mit den Monarchisten und Schwarzhunderten, den kleinbürgerlichen Sozialrevolutionäre und Menschewiki einverleibt, nachdem sie diese zum Teil eingeschüchtert hatte, und sie hat die wirkliche Staatsmacht in die Hände der Cavaignac gelegt, in die Hände einer Militärclique, die die Gehorsamsverweigerer an der Front erschießt und die Bolschewiki in Petrograd niederschlägt.’ (Zu den Losungen, Lenin, Ges. Werke, Bd. 25, S. 183)
Die Geschichte belegt, daß eine gefährliche Taktik der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse darin besteht, verfrühte Konfrontationen zu provozieren. 1919 und 1921 kam es dadurch in Deutschland zu einer blutigen Niederschlagung der Arbeiterklasse. Wenn die russische Revolution die einzige große Ausnahme ist, wo die Arbeiterklasse dazu in der Lage war, solch eine Falle und eine blutige Niederlage zu vermeiden, dann vor allem weil die Bolschewistische Partei ihre entscheidende Rolle als Vorhut, als politische Führung spielen konnte.
Die Bolschewistische Partei war überzeugt davon, daß sie ständig das Kräfteverhältnis zwischen den beiden gegnerischen Klassen untersuchen muß, um dazu in der Lage zu sein, zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung des Klassenkampfes richtig intervenieren zu können. Sie wußte, daß sie unbedingt das Wesen, die Strategie und die Taktik der Feindesklasse untersuchen mußte, um ihre Manöver zu erkennen, zu begreifen und ihnen entgegentreten zu können. Sie wurde von dem marxistischen Verständnis geleitet, daß der revolutionäre Aufstand eine Kunst oder Wissenschaft ist, und sie war sich darüber im klaren, daß die Wahl des falschen Zeitpunktes für den Aufstand so fatale Auswirkungen haben kann wie das Scheitern des Versuchs der Machtübernahme zum richtigen Zeitpunkt. Das tiefgreifende Vertrauen der Partei in die Arbeiterklasse und den Marxismus, ihre Fähigkeit, sich auf die Kraft zu stützen, die sie historisch darstellen, ermöglichten ihr, den Illusionen in der Arbeiterklasse entschlossen entgegenzutreten. Auch vermochten sie damit dem Druck der Anarchisten und den Gelegenheitsdeutern der Empörung der Massen, wie Trotzki sie nannte, standzuhalten, die, angetrieben von ihrer kleinbürgerlichen Ungeduld, die Massen dazu aufstachelten, unmittelbar zu handeln.
Aber in den Juli-Tagen war das tiefgreifende Vertrauen der russischen Arbeiter in ihre Klassenpartei grundsätzlich entscheidend, denn dies ermöglichte es derselben, in der Arbeiterklasse zu intervenieren und gar die Führungsrolle zu übernehmen, obgleich für jeden erkennbar war, daß die Bolschewiki weder die unmittelbaren Ziele noch die Illusionen der Arbeiter teilten.
Die Bolschewik traten der Repression entgegen, die am 5. Juli einsetzte. Dabei hatten sie keine Illusionen über die Demokratie und kämpften gegen die Verleumdungen an, zu deren Zielscheibe sie geworden waren. Heute, d.h. 80 Jahre später, hat die herrschende Klasse ihr Wesen nicht geändert, sondern sie ist im Gegenteil noch erfahrener und zynischer; mit der gleichen ‘Logik’ betreibt sie eine Kampagne gegen die Kommunistische Linke, genauso wie die Herrschenden im Juli 1917 solch eine gegen die Bolschewiki anleierten. Im Juli 1917 wollten sie glauben machen, daß die Bolschewiki, weil sie sich weigerten, die Entente zu unterstützen, notwendigerweise auf Seite Deutschlands stünden.
Heute will die herrschende Klasse die Idee verbreiten, wenn die Kommunistische Linke sich weigerte, das imperialistische ‘antifaschistische’ Lager im 2. Weltkrieg zu unterstützen, dann weil sie damals und ihre Nachfolger heute auf Seiten der Nazis stünden. Die Revolutionäre, die heute die Bedeutung solcher Kampagnen unterschätzen, welche nur eine Vorbereitung auf zukünftige Pogrome sind, müssen noch viel aus der Erfahrung der Bolschewiki lernen, die nach den Juli-Tagen alles unternommen haben, um ihren Ruf innerhalb der Arbeiterklasse zu verteidigen.
Während jener Juli-Tage ermöglichte die Intervention der Bolschewiki der aufsteigenden Revolution, die von der Bourgeoisie gestellten Fallen zu umgehen. Dabei gab es keinen vorher festgelegten Plan eines Generalstabs, der außerhalb der Arbeiterklasse gestanden hätte, wie heute die Bourgeoisie beim Thema Oktoberrevolution zu sprechen pflegt. Die Handlungen der Bolschewiki waren im Gegenteil ein lebendiger Ausdruck der Arbeiterklasse. Denn noch drei Monate zuvor hatten die Bolschewiki nicht verstanden, daß die Februarrevolution die Frage der Machtergreifung in Rußland durch die Arbeiterklasse auf die Tagesordnung gestellt hatte; damals steckte sie noch in einer tiefgreifenden Verwirrung. Nachdem sie aber eine klare Orientierung eingeschlagen hatte, wobei sie sich auf ihre eigene Erfahrung stützte und die der gesamten Arbeiterbewegung, konnte sie die Verantwortung erfüllen, indem sie die politische Führung des Kampfes übernahm. KB