Gespeichert von Weltrevolution am
Als im Mai 1968 in Frankreich über 10 Millionen Arbeiter in den Streik traten und deren Bewegung nur durch die Sabotagetaktik der Gewerkschaften abgewürgt werden konnte, war klar geworden, dass diese Bewegung eine gewaltige internationale Ausstrahlung haben sollte. Denn im Anschluss an die Arbeiter in Frankreich fing ein Teil der Arbeiterklasse nach dem anderen an, sich zu erheben. Ob in Grossbritannien oder in den USA, ob in Argentinien oder in Italien im Sommer 69, wo eine Reihe von Streiks das ganze Land erschütterten - das Signal, das die Arbeiter in Frankreich gesetzt hatten, wurde weltweit aufgegriffen.
Die Arbeiterklasse war aus einer nahezu fünfzigjährigen Konterrevolution auferstanden, die die herrschende Klasse den Arbeitern zugefügt hatte, nachdem die revolutionären Kämpfe von 1917-23 mit einer Niederlage endeten. Nahezu 50 Jahre lang hatten Sozialdemokratie, Stalinismus und Faschismus die Arbeiterklasse am Boden halten können. Diese internationale Welle des Klassenkampfes hat das Kräfteverhältnis zugunsten der Arbeiterklasse geändert und damit die Phase der Konterrevolution beendet. Von nun an musste die herrschende Klasse wieder mit dem wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse rechnen.
Die Arbeiterkämpfe in Deutschland – ein Teil des internationalen Wiedererwachens der Arbeiterklasse
Auch wenn die Arbeiterklasse in Deutschland noch nicht sofort im gleichen Jahr dem Beispiel der Arbeiter in Frankreich folgte, trat die Arbeiterklasse in Deutschland ab dem Sommer 1969 massiv auf den Plan.
Deutschland war neben Russland das Zentrum der revolutionären Kämpfe von 1917-23 gewesen. Um so stärker hatte die Konterrevolution dort gewütet, und die Arbeiterklasse hatte eine um so größere Niederlage erlitten. Obwohl die Arbeiterkämpfe 1969 in Deutschland nicht so massiv und umfangreich waren wie z.B. in Frankreich, Italien oder Polen, war gerade die Beteiligung des Proletariat in Deutschland an der internationalen Kampfeswelle ein schlagender Beweis dafür, dass die Konterrevolution weltweit zu Ende ging. Tatsächlich lieferte Deutschland mit der Rezession von 1967 eine der ersten Verdeutlichungen der Tatsache, dass mit dem Ende der Nachkriegswiederaufbauphase die offene Weltwirtschaftskrise wieder ihren Einzug hielt. Auch wenn die Arbeiter dies noch nicht klar verstanden, waren die Kämpfe der Arbeiter Ende der 60er Jahre in Wahrheit eine Antwort auf das Wiederauftauchen der Krise, insbesondere gegenüber den damals hohen Preissteigerungen.
Die Septemberstreiks – Die Arbeiterklasse tritt eigenständig massiv in den Kampf
Schon ab dem Frühjahr riss die Reihe von kleineren und beschränkten spontanen Arbeitsniederlegungen, die sich alle um Lohnforderungen drehten, nicht mehr ab. Ab Anfang September löste sich eine Streiklawine los, die die Hauptindustriezentren in Westdeutschland in Windeseile erfasste. Im Mittelpunkt stand die Stahl- und Metallindustrie.
Nachdem am 2. September 27.000 Stahlkocher von Hoesch-Dortmund spontan für 2 Tage in den Streik traten, legte eine Belegschaft nach der anderen in den großen Werken die Arbeit nieder.
Um das ganze Ausmaß der Streikbewegung zu vermitteln, nennen wir einige der Zentren:
4. - 5. September Rheinstahl – Mülheim/Ruhr mit 2.900 Streikenden,
5. - 6. September 12.00 Streikende bei Mannesmann - Duisburg, 1.000 Streikende bei AEG Mülheim;
5. - 9. September: 3.300 Streikende bei Rheinstahl Gelsenkirchen
Vom 9.-11.September legten 10.000 Bergarbeiter der Ruhrkohle AG die Arbeit nieder.
Auch wenn der Schwerpunkt im Ruhrgebiet lag, wurden Arbeiter in anderen Städten mit in den Kampf gerissen. Am 8.-9. streikten bei Rheinstahl Brackwede (in der Nähe von Bielefeld) 1.800 Arbeiter, in Sulzbach –Rosenberg traten bei der Maximiliamshütte am 8. September spontan 3.000 Beschäftigte in den Streik, bei den Klöckner-Werken ruhte die Arbeit vom 5.-13. September, weil in Bremen und in der Georgsmarienhütte/ Osnabrück jeweils 3.000 – 6.000 Beschäftigte streikten.
Ein anderer Schwerpunkt war das Saarland: hier traten 6.000 Stahlkocher bei den Neunkircher Eisenwerken vom 4.-8. September, und 20.000 Bergarbeiter vom 6.-11. September in den Ausstand.
Vom 9. – 19. September folgten die Howaldt Werke in Kiel mit 7.000 Schiffsbauern.
Auch wenn die Lage in Süddeutschland ruhiger blieb, reagierten auch hier Tausende Arbeiter: Bei den Heidelberger Druckmaschinen in Geisslingen legten über 1.000 Beschäftigte am 5. September die Arbeit nieder, und bei Daimler Benz – Sindelfingen kam es zu mehreren Kurzstreiks.
Ob im Ruhrgebiet, wo auch der Funken auf kleinere Betriebe mit nur einigen Hundert Beschäftigten übergesprungen war, oder außerhalb der Großstädte (z.B. Hueck Lippstadt oder die Textilindustrie im Münsterland), oder im öffentlichen Dienst, wo ab Mitte September in einer Reihe von Städten – von Berlin über das Ruhrgebiet bis nach Süddeutschland jeweils einige Hundert Beschäftigte der Verkehrsbetriebe und der Stadtreinigung streikten – die massive Welle von Streiks brachte ans Tageslicht, dass die Arbeiterklasse in Deutschland wieder die Stirn bot.
Spontanes Wiederauftauchen der klassischen Kampfesmittel des 20. Jahrhunderts
Mehr als 140.000 Streikende in mehr als 70 Betrieben hatten bewiesen, dass auch die Arbeiterklasse in Deutschland den gleichen Weg eingeschlagen hatte wie ihre Klassenbrüder weltweit.
Überall erhoben die Arbeiter ähnliche Forderungen: Lohnerhöhungen, Bezahlung der Streiktage, keine Repression gegen Streikteilnehmer.
Überall ein ähnlicher Ablauf der Streiks: Arbeiter legen spontan die Arbeit nieder – gegen das Votum der Betriebsräte & Vertrauensleute und der Gewerkschaften.
Bei Hoesch in Dortmund versammelten sich die Arbeiter spontan um einen Werksfeuerwehrwagen mit Lautsprecher und fassten in einer nahezu ständig tagenden Vollversammlung gemeinsam Beschlüsse.
Bei Rheinstahl in Gelsenkirchen aber auch im Saarland zogen die Arbeiter mit Demonstrationszügen durch das Werk machten und forderten die anderen Beschäftigten zur Niederlegung der Arbeit auf, um dann anschließend in die Stadt zu ziehen. Bei der Ruhrkohle AG zog ein Protestzug spontan vor das Verwaltungsgebäude.
Die Arbeiter ergriffen jeweils selbst die Initiative, nahmen den Streik selbständig in die Hand und liessen sich nicht hinter den Werkstoren einsperren.
An die zuvor jahrelang durch die Konterrevolution begrabene Tradition anknüpfend, standen Ausdehnung und Selbstorganisierung der Streiks, Zusammenkommen zu Demonstrationen, gemeinsame Entscheidungen in Vollversammlungen, die Wahl von Streikkomitees mit abwählbaren Delegierten im Vordergrund.
Genauso wie in Frankreich und Italien griff die Arbeiterklasse in Deutschland – wenn auch noch unerfahren – zu den Waffen des Klassenkampfes im 20. Jahrhundert.
Überall die gleichen Gegner: In mehreren Städten (Saarbrücken, Osnabrück, Dortmund usw.) zogen die Arbeiter vor die Gewerkschaftshäuser und protestierten gegen deren Politik. So wollten in Dortmund Hunderte von wütenden Stahlkochern in das Gewerkschaftshaus eindringen und deren Dienste für das Kapital anprangern. Als auf Vollversammlungen wie bei Hoesch-Dortmund Arbeiter die Sabotagetaktik der Gewerkschaften entblößten, versuchte der Betriebsrat das Mikrofon abzustellen. "Danach sprach ein DKP-Mitglied und führte aus. Er sei der Meinung, dass jedermann seine Sorgen und Auffassungen am Lautsprecher vortragen könne, aber wir werden von nun an niemanden mehr sprechen lassen, der gegen den Betriebsrat und die Gewerkschaften auftritt." (zitiert aus "Die Septemberstreiks 1969" des DKP-nahen Pahl-Rugenstein Verlags, S. 61)
In mehreren Betrieben verhandelten die Streikleitungen neben dem Betriebsrat (BR) und den Gewerkschaften mit den Unternehmern, wobei ihnen jeweils der BR und die Gewerkschaften in den Rücken fielen.
Die historische Bedeutung des Wiedererstarkens der Arbeiterklasse in Deutschland
Die Arbeiterklasse, die zuvor jahrelang von der Studentenbewegung verspottet worden war, indem sie im Stile Marcuses die Arbeiter als "verkauft & verbürgerlicht" präsentierte, stand plötzlich wieder im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Der Klassenkampf war zurückgekehrt und hatte die Ideologie des sozialen Friedens und der Sozialpartnerschaft (‚wir sitzen alle in einem Boot‘) mit einem Paukenschlag zerfetzt.
Auch wenn diese Bewegung in Westdeutschland noch nicht so weit vorangeschritten war wie in Frankreich und Italien, und wenn die Arbeiter es in der BRD in dieser ersten Welle von Kämpfen noch nicht geschafft hatten, sich branchenübergreifend zusammenzuschließen, lieferten diese Kämpfe einen wichtigen Beitrag zur Fortsetzung und Stärkung dieser ersten internationalen Welle von Kämpfen. Denn nahezu wie bei einem Stafettenlauf hatte die Arbeiterklasse in Deutschland den Stab weitergereicht. Im Sommer 1970 prallten die Arbeiter in Polen mit der staatskapitalistischen Gomulka-Regierung zusammen, bis 1972 setzte sich dann diese erste Welle von Kämpfen vor allem in Europa fort.
Auch in Deutschland selber hatten diese Kämpfe eine große Ausstrahlung. Zigtausende - vor allem junge Leute – fühlten sich nunmehr durch die international wiedererstarkende Kampfkraft der Arbeiterklasse angezogen. Viele neu politisierte Elemente fingen an, sich wieder mit den Erfahrungen der Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Die Arbeiterräte, die im Mittelpunkt der revolutionären Welle von 1917-23 gestanden hatten, wurden plötzlich wieder zum Bezugspunkt für viele neu Politisierte (siehe dazu unsere Artikel in Weltrevolution Nr. 93 & 94). Ein Großteil der neu politisierten Elemente wurde allerdings in den Fangarmen der K-Gruppen (die Gruppen der bürgerlichen extremen Linken – Trotzkisten, Maoisten, Stalinisten usw.) erwürgt.
Die Kampfwelle, die 1968-69 weltweit eingesetzt hatte, dauerte bis 1972-73 an. Ihr Ausläufer in Deutschland war der große wilde Streik bei Ford-Köln 1973. Diese Welle der Arbeiterkämpfe flaute allerdings nicht spontan ab, sondern wurde politisch abgewürgt. An erster Stelle dadurch, dass ab 1969 unter Brandt/Scheel eine sozialdemokratisch angeführte Regierung gebildet wurde, die versprach, die Probleme, welche die Arbeiter veranlasst hatten in Streiks zu treten, mittels des bürgerlichen Staates abzustellen. Das Gegenteil geschah, so dass die Arbeiter Ende der 70er Jahre sich erneut gezwungen sahen, in einer zweiten internationalen Welle zu kämpfen, deren Höhepunkt im Sommer 1980 durch den Massenstreik in Polen erreicht wurde. Da die Arbeiter durch die Regierungsversprechungen der SPD nicht mehr aufzuhalten waren, wechselte die SPD wieder in die Opposition, um von dort die Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse besser zu sabotieren.
Die heutige Generation der Arbeiterklasse, die sich mit den Angriffen der rot-grünen Regierung ausgesetzt sieht, muss wissen, dass unsere Klasse seit 30 Jahren über eine Erfahrung der Sabotage des Klassenkampfes durch die Linken verfügt, die wir in den kommenden Kämpfen dringend benötigen werden. Nicht zuletzt darin liegt die Aktualität der Kämpfe von 1969.