Gespeichert von Weltrevolution am
In einer aktuellen Diskussion auf der Libcom-Website wurde die Frage nach der Rolle derRolle der bolschewistischen Partei in der Russischen Revolution aufgeworfen. Alle Fraktionen der Kommunistischen Linken, die mit der Komintern gebrochen hatten, werteten die Erfahrungen von einer marxistischen Perspektive aus, um die Lehren für die zukünftigen Kämpfe der Arbeiterklasse und die revolutionäre Partei zu ziehen. Die IKS hat dabei stets versucht, sich auf die klarsten Beiträge der italienischen, deutschen und holländischen Linken zu beziehen (siehe zum Beispiel unsere Broschüre „Die Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Kommunismus"). Der hier veröffentlichte Artikel wurde von einem engen Sympathisanten der IKS verfasst.
Ein häufig auftauchender Kritikpunkt von Anarchisten, sowohl der linksbürgerlichen wie der internationalistischen, ist, dass die Bolschewiki direkt nach der Oktoberrevolution damit begannen, die Organe der Arbeiterkontrolle zu demontieren. Die populärste unter diesen Kritiken präsentiert einen naiven Gegensatz zwischen dem utopischen Bild einer durch die Arbeiter selbst organisierten Ökonomie und der grotesk anmutenden Beherrschung des Staates durch bösartige Bolschewiki, die die Eigenaktivitäten der Arbeiterklasse an sich gerissen hätten.
Vieles an dieser Kritik erscheint oberflächlich wahr zu sein: Tatsächlich begannen die Bolschewiki die Organe der Arbeiter zu demontieren und sie dem zunehmend mächtigeren zentralen Apparat zu unterstellen. Die Frage für Kommunisten ist aber, welche materiellen Spannungen diesen Prozess antrieben - und ob diese Tendenzen völlig negativ waren.
Die ökonomischen und die politischen Strukturen wurden zwischen den beiden Polen des Lokalismus und Zentralismus hin und her gerissen. Zum Beispiel tauchte 1918 ein Moskauer Gebietssowjet der Volkskommissare auf. Dieser lokal gegründete Sowjet kopierte die Funktionen sowohl des Stadtsowjets als auch des nationalen Sowjets und des von ihm gebildeten Rates der Volkskommissare. Dies ging so weit, dass der Moskauer Gebietssowjet ein eigenes außenpolitisches Sekretariat besaß! Ein Rat wie dieser tendierte, im Gegensatz zu der vereinheitlichenden Entwicklung der Sowjets, in hohem Maße zum Lokalismus – indem er faktisch versuchte, einen Moskauer Stadtstaat zu etablieren. Die Organisation der Rätegesellschaft in dieser frühen Phase, die zweifellos auch die revolutionäre Energie des Proletariats ausdrückte, schuf viele Organe, ohne klare Vorstellungen, wie all diese in einen Zusammenhang gebracht werden sollen.
Gleichzeitig waren die Fabrikkomitees zwischen Hammer und Amboss gefangen, zwischen der Leitung von im Wesentlichen kapitalistischen Unternehmen inmitten einer schweren Krise einerseits und der Wut der Arbeiter andererseits. Die russische Wirtschaft, schon längst in ernsthafter Bedrängnis, brach in den sechs Monaten nach der Revolution praktisch zusammen. Die Komitees selbst waren auf Initiative von Arbeitern entstanden, um die Wirtschaftskrise zu bewältigen, die bereits seit dem Februar 1917 um sich gegriffen hatte. Trotz ihrer extremen Machtfülle und ihrem großen Einfluss und obwohl sie wirkliche Ausdrücke der Eigenaktivitäten der Arbeiterklasse darstellten, waren sie niemals etwas anderes als unmittelbare Adhoc-Arrangements zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Ihr eigentliches Fundament, die Aufrechterhaltung der Produktion in den Fabriken, machte sie für die Einflüsse des Lokalismus und den Illusionen der Arbeiterselbstverwaltung anfällig.
Als die Krise sich ausbreitete, konnte selbst den Mindestforderungen der Arbeiterklasse nicht mehr entsprochen werden. Viele Faktoren, nicht zuletzt die der Entscheidung der neuen proletarischen Macht, die militärische Produktion völlig abzuschaffen, führten dazu, dass etliche Fabriken geschlossen werden mussten. In Petrograd, wo die Industrie von der Waffenproduktion dominiert wurde, stieg die Arbeitslosigkeit auf 60 Prozent! Betriebe begannen bewaffnete Wachen aufzustellen, um die Arbeitslosen draußen zu halten. Angesichts des extremen sozialen Drucks begann die Arbeitersolidarität sich aufzulösen. Die Fabriken sandten Beschaffungsteams aus, die Nachschub besorgen sollten und die, häufig genug bewaffnet, des öfteren in Konflikt mit ähnlichen Gruppen aus anderen Fabriken gerieten.
Die politische Macht während der Wirtschaftskrise
Während dieser Periode existierten fünf Machtzentren, die in der Ökonomie aufeinander stießen: die Fabrikkomitees, die kapitalistischen Eigentümer, die Wirtschaftsverwaltungen der Sowjets, die Gewerkschaften und der Staat! Als sich die Krise verschärfte, standen all diese Organe unter extremem Druck. Aufgebrachte Arbeiter wählten Fabrikkomitees, die sie schon in der nächsten Woche wieder abwählten, beschuldigten sie des Machtmissbrauchs und der Unfähigkeit, die Krise zu meistern. In einigen Fabriken wechselten die Komitees nahezu täglich, was einen äußerst zerstörerischen Kreislauf schuf.
Sowohl die Sowjets als auch die Fabrikkomitees forderten zentralisierte Staatsinterventionen, um die Wirtschaft zu koordinieren und das wachsende Chaos zu ordnen. Aber auch die Antwort des von den Bolschewiki kontrollierten Staates war konfus. Tatsächlich waren es die ersten bolschewistischen Dekrete des nationalen Rates der Volkskommissare gewesen, die den Fabrikkomitees direkt die ökonomische Macht übertragen hatten, womit sie allerdings lediglich einen schon bestehenden Zustand nachträglich legalisierten.
Hinter dieser Kulisse des Chaos, in dem niemand mehr die Kontrolle über die allgemeinen ökonomischen Prozesse inne hatte – nicht die Kapitalisten, sicherlich nicht die Arbeiterklasse, nicht einmal die Bolschewiki –, gab es das wachsende Problem von Hungersnöten. Die landwirtschaftliche Produktion war von den Kleinbauern übernommen worden, die kaum bereit waren, die Arbeiter freiwillig mit Lebensmitteln zu versorgen, als diese aufgrund des faktischen Zusammenbruchs der Industrieproduktion nicht mehr in Lage waren, sich Nahrungsmittel leisten zu können. Die Zentralregierung war zudem mit dem fortdauernden Krieg mit Deutschland (der erst im März 1918 durch den Frieden von Brest-Litowsk beendet wurde), mit verschiedenen Anschlagsversuchen, marodierenden Kosakenbanden und einem weit verbreiteten Banditenwesen konfrontiert.
Mitte 1918 war Lenin völlig desillusioniert bezüglich der Kompetenz der Arbeiterklasse (zumindest in Russland), die Wirtschaft zu leiten. Die Partei, die stets als Avantgarde des Proletariats wahrgenommen worden war, wurde nun als radikale Sozialdemokratie verstanden, d.h. als diejenige, die Staat und die Wirtschaft zugunsten der Arbeiterklasse lenkt - bis die Revolution sich über Europa ausbreiten und die erfahreneren Arbeiter des Westens dem russischen Proletariat zu Hilfe eilen würde. Die organisatorischen Strukturen der Partei - die in der Zeit nach der Oktoberrevolution praktisch aufgelöst waren - wurden reorganisiert und eine neue Disziplin eingeführt. Von nun an hatten die Parteidirektiven für die Mitglieder Vorrang, ungeachtet ihrer Posten im Sowjetstaat. Die Partei wurde also zum Mittel der Ausübung administrativer Macht umorganisiert, entgegen der Rolle, die die Partei in der vorrevolutionären Epoche gespielt hatte, als sie die Arbeiterkämpfe mit einer politischen Orientierung versorgte.
Als die klassenbewusstesten Arbeiter zu den verschiedenen Fronten abrückten oder in den Organen des sich entwickelnden Sowjetstaates zu arbeiten begannen, schickten sich Fabrikkomitees und Sowjets an, eine weitaus menschewistischere Färbung anzunehmen. Einzelne Fabrikkomitees forderten die Reetablierung der alten Kommunalbehörden, d.h. die Rückkehr des bürgerlichen und zaristischen Staatsapparates! Andere verabschiedeten Resolutionen zugunsten einer Beendigung des Bürgerkriegs, d.h. für ein Entgegenkommen gegenüber denselben Weißen, die überall, wo sie ihrer habhaft wurden, kommunistische Arbeiter (buchstäblich) kreuzigten. In dieser Periode befürchteten die Bolschewiki vor allem anderen den Zusammenbruch der Revolution, und sie begannen, den Staat zu stärken, um die grundlegenden Errungenschaften der Revolution zu beschützen. Sie waren auch darauf vorbereitet, dies gegen die Opposition der Masse der Arbeiterklasse zu bewerkstelligen, weil sie (mit einiger Berechtigung in dieser Zeit) glaubten, dass die heftigste Opposition von den rückständigsten und degeneriertesten Teilen des Proletariats kommt.
Die Haltung der zeitgenössischen Anarchisten
Die Anarchisten verweisen heute auf diese Praktiken, um den bürgerlichen Charakter der Bolschewiki zu beweisen. In Wirklichkeit aber schwankten die Anarchisten damals selbst zwischen drei Hauptpositionen:
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Offene Unterstützung der Provisorischen Regierung unter Kerenski - sie sahen in der Februarrevolution mit ihrem kleinbürgerlich-demokratischen Charakter das wahre Ziel der Russischen Revolution. Beispielsweise diente Kropotkin als Berater der Kerenski-Regierung, obwohl er alle Posten in ihr ablehnte. Diese Anarchisten waren im Kern Menschewiki.·
Unterstützung der bolschewistischen Revolution - die besten Elemente des Anarchismus schlossen sich zumindest anfangs mit den Bolschewiki zusammen. Viele, wie etwa Victor Serge, blieben für den Rest ihres Lebens loyal zur Revolution und den ursprünglichen Inhalten des Bolschewismus und schlossen sich in ihrer Kritik an der Degeneration der Revolution den besten Elementen des Linkskommunismus an.·
Opposition gegenüber den Bolschewiki auf der Basis eines falschen Radikalismus, der jegliche Art der „Autorität" zurückwies. Diese Anarchisten teilten den Irrtum der damaligen Linkskommunisten bei ihrer Ablehnung des Friedens von Brest-Litowsk. Doch anders als die Kommunistische Linke, die sich dem demokratischen Willen der Sowjets unterordnete, versuchten Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre, den Konflikt mittels Agitation an der Front und Attentaten auf prominente Deutsche neu zu entfachen. Dies sollte der Auslöser für den Versuch einer „Dritten" Russischen Revolution sein, um die „bolschewistische Diktatur" abzusetzen. Der Führer der Hauptkraft dieses Aufstandes war faktisch der linke Sozialrevolutionär Popow, der persönlich weit entfernt davon war, den Gebrauch der Staatsmacht zu verschmähen – war er doch damals leitender Funktionär der TSCHEKA!Diese Schwankungen im anarchistischen Milieu sind auch in ihrer theoretischen Annäherung gegenüber der Oktoberrevolution gewärtig. Ihr Fetisch der Fabrikkomitees verrät ihre „kommunistische" Gesellschaftsvision: eine lockere Föderation genossenschaftlicher und miteinander Handel treibender Betriebe. Eine solche Vorstellung widerspricht aber keineswegs, was Marx als „Zellform des Kapitalismus" bezeichnete - die Warenproduktion. Welche Behauptungen auch immer bezüglich der „Arbeiterkontrolle" aufgestellt werden mögen, die wirklichen Herrscher bleiben immer der Markt, die Anarchie der Produktion und das Wertgesetz. Dies ist nicht die Vision des Proletariats, sondern die der Bauern, Handwerker und des Kleinbürgertums. Während die Kritik des modernen Anarchismus an der Degeneration der Russischen Revolution eine genuine proletarische Opposition zum Stalinismus enthält, gibt es in ihr auch ein starkes Element der bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Ressentiments gegen die Zentralisierung, gegen die Unterordnung der Teile unter dem Ganzen und ihre allgegenwärtige reaktionäre Selbstgefälligkeit.
Lehren für die Zukunft
Der wirkliche Kommunismus kann das Wertgesetz nicht durch die Gründung eines Netzwerks von freien Handel treibenden Genossenschaften überwinden, sondern lediglich durch die rigorose Unterordnung der Produktion unter einen international koordinierten Plan. Dies bedeutet keineswegs die Herrschaft eines Staates, sondern die Mobilisierung der Weltarbeiterklasse nach dem Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen". Diese wirklich proletarische Vision bedarf nicht des Handels, sondern nur der Verteilung, auch nicht der Rivalität zwischen dieser oder jener Fabrikgenossenschaft, sondern der Harmonie und Einheit aller Arbeiter, Betriebe und geographischen Regionen des „Kommune-Staates", indem sie ihre eigenen Bedürfnisse dem Ganzen unterordnen, denn dies ist der einzige Weg, auf dem die Bedürfnisse aller befriedigt werden können.
Dennoch darf dieses Verständnis und das natürliche Bedürfnis, den Bolschewismus gegenüber seinen Verleumdern zu verteidigen, uns nicht blind machen bezüglich seiner sehr realen Unzulänglichkeiten. Das Proletariat hat keine Angst vor der Konfrontation mit seinen vergangenen Misserfolgen. Die Bolschewiki begingen viele schwere Irrtümer beim Versuch der Zentralisierung der Wirtschaft und der Verteidigung der Revolution gegen die Bourgeoisie. Insbesondere waren sie nicht in der Lage zu erkennen, dass ihr zunehmendes Vertrauen in die staatliche Repression die eigentliche Bedrohung schuf, gegen die sie zu kämpfen meinten. Außerdem produziert die Zentralisierung der Wirtschaftsorgane der Gesellschaft nicht aus sich heraus den Sozialismus. Was die Russische Revolution zu einer wirklichen Revolution machte, war nicht die Tatsache, dass Arbeiter in ihrem Bemühen, sich gegen die fortschreitende kapitalistische Krise zur Wehr zu setzen, Komitees gründeten (2). Auch wenn sie ein Ausdruck des Klassenkampfes waren, können diese Organe nicht als endgültige Form der proletarischen Kontrolle über die Gesellschaft angesehen werden. Dies aus dem einfachen Grund, dass – auch wenn sie wichtig sind, um die lokalen Aspekte der Wirtschaftsaktivitäten in den Gang zu bringen – ihr Charakter sie von der Leitung der Wirtschaft für das gemeinsame Wohl der gesamten Gesellschaft ausschließt. Der wirklich revolutionäre Inhalt des Roten Oktober bestand in der Tatsache, dass die Arbeiterklasse sich nicht lediglich als fähig zur Kontrolle über die Fabriken mit dem Ziel ihres eigenen unmittelbaren Überlebens begriff, sondern auch als eine Klasse, die die politische Macht der Bourgeoisie, wie sie durch den kapitalistischen Staat verkörpert wurde, zerstören und schließlich beginnen kann, die Gesellschaft als Ganzes zu leiten. Die Bolschewiki begannen diese Revolution als Ausdruck dieses Prozesses, aber als das Klassenbewusstsein zurückging, begingen sie den Fehler, zu glauben, dass sie selbst die Arbeiterklasse ersetzen können.
Wie können die Klasse und ihre revolutionären Minderheiten sich auf solche zukünftigen Belastungen vorbereiten? Der erste prinzipielle Punkt - eine Lehre aus den Erfahrungen der Russischen Revolution – ist, dass die Revolution nicht durch das Handeln einer revolutionären Avantgarde gerettet werden kann, die sich, mit oder ohne Macht des Staates in ihren Händen, als Ersatz für die Klasse ansieht. Solche Aktionen dienen nur der Demoralisierung der Klasse, der Trennung von ihren bewusstesten Minderheiten und der Zerstörung des wesentlichen Inhalts einer Revolution – der Selbsttätigkeit der Arbeiter. Kommunisten müssen akzeptieren, dass die Klasse Fehler machen wird und dass oftmals ihre Ansichten innerhalb der Klasse in der Minderheit sein werden. Gelegentlich wird die Arbeiterklasse zögern und die Macht wieder in die Hände der Bourgeoisie zurückgeben, der sie sie gerade abgenommen hatte. Kommunisten können auf diese Zögerlichkeit nur so antworten, wie es die Bolschewiki taten, als sie sich den von den Menschewiki dominierten Sowjets in den ersten Etappen der Revolution gegenübersahen: durch beharrliche, aber energische Agitation. Konfrontiert mit der unvermeidlichen Konfusion des Lokalismus, müssen Kommunisten der Methode von Marx folgen und die Interessen des Proletariats als Ganzes propagieren. DG, 16/11/06