Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen

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Der immer apokalyptischere Charakter des gesellschaftlichen Lebens auf der ganzen Erde ist weder eine natürliche Fatalität noch das Ergebnis irgendeiner sog. "menschlichen Torheit". Auch ist er kein Kennzeichen, das den Kapitalismus seit seiner Entstehung geprägt hat. Er ist ein Ausdruck der Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise, die, nachdem sie vom 16. Jahrhundert bis Beginn des 20. Jahrhunderts ein mächtiger Faktor in der ökonomischen und politischen Entwicklung war, zu einer immer stärker wirkenden Fessel für ihre weitere Entwicklung geworden ist - gefangen in ihren eigenen Widersprüchen .
Durch diese Polemik mit einer Gruppe namens GCI (1), die behauptet marxistisch zu sein, aber vehement die Idee einer "Dekadenz" ablehnt, wollen wir die Grundlagen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und ihrer brisanten Aktualität Mitte der 80er Jahre unterstreichen, wo das Weltproletariat einmal mehr sein Haupt erhoben hat und entscheidende Schlachten für seine Emanzipation führt.
Warum stellt sich die Menschheit die Frage, ob sie dabei ist, sich in einer wachsenden Barbarei selbst zu zerstören, wo sie doch einen Entwicklungsgrad der Produktivkräfte erreicht hat, der es ihr ermöglichen würde, eine Welt ohne materiellen Mangel aufzubauen, eine vereinigte Gesellschaft, die ihr Leben zum ersten Mal in der Geschichte nach ihren Bedürfnissen, ihrem Bewußtsein, ihren Wünschen  ausrichten könnte?
 Bildet also das Proletariat, die Weltarbeiterklasse, die revolutionäre Kraft, die die Menschheit aus der Sackgasse herausführen kann, in die der Kapitalismus sie getrieben hat? Und warum können die Kampfformen des Proletariats in unserer Epoche nicht mehr die des vergangenen Jahrhunderts sein (gewerkschaftlicher und parlamentarischer Kampf, Kampf um Reformen usw.)?  Es ist unmöglich, sich in der gegenwärtigen historischen Situation zu orientieren und noch weniger eine Vorreiterolle zu spielen sowie eine Orientierung für die Arbeiterkämpfe zu geben, wenn man nicht eine globale, kohärente Auffassung hat, die es ermöglicht, auf diese elementaren wie entscheidenden Fragen zu antworten.
Der Marxismus - der historische Materialismus - ist die einzige Weltanschauung, die dies ermöglicht. Seine klare und einfache Antwort kann mit den folgenden Worten zusammengefaßt werden: genauso wie die anderen vorhergehenden Produktionsweisen  (primitiver Kommunismus, orientalischer Despotismus, Sklavengesellschaft, Feudalismus) ist auch der Kapitalismus kein ewig währendes System.
Die Entstehung des Kapitalismus und seine spätere Beherrschung der Welt waren das Ergebnis einer umfangreichen Evolution der Menschheit und der Weiterentwicklung der Produktivkräfte: die Tretmühle entsprach der Sklavengesellschaft, die Wassermühle dem Feudalismus, die Dampfmaschine dem Kapitalismus, schrieb Marx. Aber nachdem sie einmal einen bestimmten Entwicklungsgrad überwunden haben, sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Seitdem ist die Menschheit in diesen überkommenen Produktionsverhältnissen gefangen, die alle Lebensbereiche in eine wachsende Barbarei stürzen. Das Aufeinanderfolgen von Krisen, Weltkriegen, Wiederaufbau, Krisen während der letzten 80 Jahre ist der klarste Ausdruck dafür. Dies ist die Dekadenz des Kapitalismus. Von nun an besteht der einzige Ausweg in einer vollständigen Zerstörung dieser Gesellschaftsverhältnisse durch eine Revolution, deren Führung nur das Proletariat übernehmen kann, denn es ist die einzige Klasse, die dem Kapital antagonistisch gegenübersteht. Er besteht in einer Revolution, die zu einer kommunistischen Gesellschaft führen kann, weil der Kapitalismus zum ersten Mal in der Geschichte die materiellen Möglichkeiten für solch ein Unterfangen geschaffen hat.
Solange der Kapitalismus eine historisch fortschrittliche Rolle in der Entwicklung der Produktivkräfte spielte, konnten die Arbeiterkämpfe nicht in einer siegreichen weltweiten Revolution münden, doch konnten sie mit Hilfe der Gewerkschaften und des Parlamentarismus reale Reformen und dauerhafte Verbesserungen der Existenzbedingungen der ausgebeuteten Klasse erwirken. Von dem Punkt an, wo der Kapitalismus in seine dekadente Phase eintrat, wurde die kommunistische Revolution zu einer Notwendigkeit und Möglichkeit, und dies wiederum änderte völlig die Kampfformen des Proletariats, selbst auf der Ebene des Kampfes um die unmittelbaren  Forderungen (Massenstreik).
Seit den Tagen der Kommunistischen Internationalen, die, gegründet auf dem Gipfel der internationalen revolutionären Welle, dem Ersten Weltkrieg ein Ende machte, ist diese Analyse, der Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenzphase, zu einem gemeinsamen Erbgut der kommunistischen Strömungen geworden, denen es dank dieses "historischen Kompasses" gelungen war, kompromißlos auf einem kohärenten Klassenterrain zu verbleiben. Die IKS hat diese Erbgut lediglich wieder aufgegriffen und weiterentwickelt, wie es auch von den Strömungen der deutschen, italienischen (BILAN) kommunistischen Linken in den 30er Jahren, dann von der Kommunistischen Linken Frankreichs (INTERNATIONALISME) in den 40er Jahren überliefert und bereichert worden war (2).
Heute, wo sich unter dem Druck einer beispiellosen Wirtschaftskrise seit mehr als fünfzehn Jahren die Manifestationen der Dekadenz beschleunigen und die Klassenantagonismen zuspitzen und das Weltproletariat in die Spur des Kampfes zurückgefunden hat,  dabei mit tausend Widrigkeiten und mit tausend Waffen der herrschenden Klasse konfrontiert, und dies mit einer internationalen Simultaneität, wie sie noch nie da gewesen ist - heute ist es ausschlaggebend, daß revolutionäre Organisationen ihren Aufgaben gewachsen sind.
Weil wir auf entscheidenden Kämpfe zusteuern, ist es heute unverzichtbarer denn je, daß sich die Arbeiterklasse ihre eigene Weltanschauung wiederaneignet, so wie sie im Laufe von zwei Jahrhunderten von Arbeiterkämpfen und theoretischer Arbeit durch ihre politischen Organisationen ausgearbeitet wurde.
Mehr als je zuvor ist es für das Proletariat unerläßlich zu begreifen, daß die gegenwärtige Zunahme der Barbarei, die ununterbrochene Verschärfung seiner Ausbeutung nicht "natürlich" vorbedingt sind, sondern die Konsequenzen aus der kapitalistischen Ökonomie und der gesellschaftlichen Gesetze,  die weiterhin die Welt regieren, obgleich sie seit Anfang dieses Jahrhunderts historisch obsolet geworden sind.
Mehr denn je muß die Arbeiterklasse verstehen, daß die Kampfformen, die sie im 19. Jahrhundert gelernt hatte (Kampf um Reformen, Unterstützung für die Schaffung von großen Nationalstaaten - die Akkumulationspole des sich entwickelnden Kapitalismus ) und die eine Relevanz hatten, als sich die Bourgeoisie historisch noch entwickelte und die Existenz eines organisierten Proletariats innerhalb der Gesellschaft dulden konnte, im dekadenten Kapitalismus nur in die Sackgasse führen können.
Mehr denn je ist es entscheidend, daß die Arbeiterklasse begreift, daß die kommunistische Revolution - deren Träger sie ist - kein versponnener Traum, keine Utopie ist, sondern eine Notwendigkeit und Möglichkeit, deren wissenschaftliche Grundlagen im Verständnis der Dekadenz der herrschenden Produktionsweise liegen, eine Dekadenz, die sich vor unseren Augen verschärft.
"Es gibt keine revolutionäre Praxis  ohne revolutionäre Theorie", sagte Lenin. Diese Aussage muß heute umso mehr bekräftigt werden, da die herrschende Klasse sich nicht mehr ideologisch durch die Erarbeitung von neuen Theorien mit einem Mindestmaß an Stimmigkeit verteidigt, sondern durch eine Art "Nihilismus" des Bewußtseins, der Ablehnung jeder Theorie als "ideologischen Fanatismus". Sich schadlos haltend am gerechtfertigten Mißtrauen der Ausgebeuteten gegenüber den Theorien der "Linken", die, von der Sozialdemokratie bis zum Stalinismus, jahrzehntelang als Instrumente der Konterrevolution benutzt worden waren, unfähig, irgendeine Zukunft in einer zerfallenden gesellschaftlichen Realitat anzubieten, hat die herrschende Klasse nichts anderes anzubieten als eine Vogel-Strauß-Politik: kein Nachdenken, Resignation, Fatalismus.
Als die Bourgeoisie eine historisch revolutionäre Klasse gewesen war, brachte sie Männer wie Hegel hervor, die so entscheidende Türen aufstießen für das Verständnis der Evolution der Menschheit; als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre Macht stabilisierte, entwickelte sie sich zurück zu den positivistischen Auffassungen eines Auguste Comtes. Heute bringt sie nicht einmal mehr Philosophen hervor, die mit irgendeinem  Geschichtsverständnis aufwarten könnten. Die herrschende Ideologie ist das Nichts, die Verneinung von Bewußtsein.
Doch so wie diese Verneinung des Bewußtseins ein Ausdruck der Dekadenz ist, die wiederum zu einem Instrument zur Verteidigung der herrschenden Klasse wird, so ist für Revolutionäre ein Bewußtsein ihres historischen Daseins ein entscheidendes Instrument für ihren Kampf.

   

DIE "ANTI-DEKADENTISTEN"

Diese Tendenz zum Nihilismus des Bewußtseins manifestiert sich auch bei proletarischen politischen Gruppen, oft paradoxerweise bei den Gruppen mit einem theoretischen Anspruch.
So veröffentlichte die GCI Ende 1985 in der Nummer 23 ihres Organs LE COMMUNISTE einen Artikel, dessen Inhalt perfekt vom zweiten Teil seines Titels illustriert wird: "Theorien der Dekadenz, Dekadenz der Theorie". Dieser Text, in einer hochtrabenden Sprache und in einem "marxistischen" Duktus geschrieben, Marx und Engels drauflos zitierend, behauptet zu zerstören, was er die "dekadentistischen Theorien" nennt. Deren Vertreter ordnet er ein auf der "Seite all dieser reaktionären Schakale, die von den Zeugen Jehovas über die euro-zentristischen Neo-Nazis und den Anhängern der Moon-Sekte bis hin zu den 'neuen Philosophen'  den Ruf der 'Dekadenz des Westens' ausstießen!" Aber sonst geht's noch?
Diesem Text gelingt das Kunststück, auf fünfzehn Seiten die Hauptmißverständnisse zu komprimieren, die man in der Geschichte der Arbeiterbewegung hinsichtlich der historischen Evolution des Kapitalismus und der objektiven Grundlagen für die Herausbildung einer kommunistischen Gesellschaft finden kann. Das Ergebnis ist ein ebenso spitzfindiger wie unausgegorener Mischmasch, der all die Themen miteinander vermanscht, die Marx so erbittert bekämpft hatte - jene des utopischen Sozialismus, des Anarchismus ... und neuerdings die bordigistische Theorie aus den 50er Jahren über die "Invarianz des Marxismus und der kontinuierlichen Entwicklung des Kapitalismus seit 1848"!
Unsere Absicht hier ist es, die Hauptirrtümer dieses Dokuments zu enthüllen, nicht so sehr wegen  der GCI für sich genommen, deren immer tieferes Absacken in die Inkohärenz wenig Aufmerksamkeit verdient, sondern weil ihre Verteidigung  einiger Klassenpositionen, ihre radikale Sprache und ihre theoretischen Ambitionen Illusionen unter den neuen Elementen, die eine theoretische Kohärenz suchen, verbreiten können - u.a. unter jenen, die aus dem Anarchismus kommen.(3)
Dies wird es uns ermöglichen, einige grundlegende Elemente in der marxistischen Analyse der Evolution von Gesellschaften nochmals zu bekräftigen und so aufzuzeigen, was es mit der Dekadenz des Kapitalismus auf sich hat.

 
GIBT ES EINE HISTORISCHE ENTWICKLUNG? GIBT ES EINE AUFSTEIGENDE PHASE DES KAPITALISMUS?

Die GCI ist nicht bescheiden. Im Stile Dührings, der behauptete, die Wissenschaft umzuwälzen, wälzt die GCI den Marxismus um. Sie will marxistisch sein, vorausgesetzt sie kann all jene in das Lager der "reaktionären Schakale" absondern, die seit der II. Internationalen den Marxismus bereichert haben, indem sie die Ursachen und die Entwicklung der Dekadenz des Kapitalismus untersuchten... und, wie wir sehen werden, indem sie das Werk von Marx selbst ignorieren oder vollkommen zu ändern.
Die große Entdeckung der GCI, die die Bolschewisten, die Spartakisten, die deutsche Linke in der KAPD, die italienische Linke um BILAN - die alle die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus ausgearbeitet und geteilt haben - auf eine Stufe mit den Anhängern der Moon-Sekte stellt - die große Wahrheit der GCI läuft darauf hinaus: es gibt keine Dekadenz des Kapitalismus, weil es nie eine aufsteigende, "fortschrittliche" Phase des Kapitalismus gab. Es gibt keine Barbarei der Dekadenz, weil der Kapitalismus immer schon barbarisch war.
Da muß man erst drauf kommen! Und was ist mit den vor-marxistischen Sozialisten und ihren anarchistischen Nachfahren, die nie verstanden hatten, warum man seine Zeit damit verschwenden soll, über die Gesetze der historischen Entwicklung nachzudenken, da es ausreichte, zu "rebellieren", und der Kommunismus immer auf der Tagesordnung der Geschichte stand: waren es nicht diese Strömungen, die genau dasselbe gegen den Marxismus einwendeten?
Aber knüpfen wir uns die Hauptargumente der GCI etwas näher vor:
"Fast alle Gruppen, die heute behaupten, eine kommunistische Perspektive zu vertreten, klammern sich an der dekadentistischen Vision nicht nur der kapitalistischen Produktionsweise, sondern aller Klassengesellschaften (Wertzyklus), und dies dank zahlloser 'Theorien', die von der 'Sättigung der Märkte' bis zum 'Imperialismus als höchster Stufe des Kapitalismus' reichen, vom 'dritten Zeitalter des Kapitalismus' zur 'realen Vorherrschaft', vom 'Stillstand in der Entwicklung der Produktivkräfte' bis zum 'tendenziellen Fall der Profitrate'... Worauf es uns hier zunächst ankommt, ist der gemeinsame Inhalt all dieser Theorien: die moralisierende und zivilisatorische Vision, die sie beinhalten" ("Theorie der Dekadenz: Dekadenz der Theorien", Le Communiste, Nr. 23, S. 7, Nov. 1985).
Inwiefern drückt die Feststellung, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einer Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte wurden, eine "moralisierende und zivilisatorische Auffassung" aus? Weil dies beinhaltet, daß es eine Zeit gab, als dies nicht der Fall war und diese Verhältnisse einen Fortschritt darstellten, einen Schritt vorwärts in der Menschheitsgeschichte. Mit anderen Worten: weil es eine "aufsteigende" Phase des Kapitalismus gegeben habe. Nur war für die GCI dieser "Fortschritt" eine bloße Verstärkung der Ausbeutung:
"... man muß sehen, wie der Gewaltmarsch des Fortschritts und der Zivilisation stets mehr Ausbeutung, die Produktion von Mehrarbeit (und für den Kapitalismus ausschließlich die Umwandlung dieser Mehrarbeit in Mehrwert) in Wirklichkeit die Verstärkung der Barbarei durch die immer totalitärere Herrschaft des Wertes bedeutet hat" (ebenda; die GCI verwendet hier den Begriff "Barbarei", ohne zu wissen, worum es sich handelt; wir kommen später darauf zurück). Daß der Kapitalismus seit seiner Entstehung immer ein Ausbeutungssystem gewesen ist - das höchst entwickelte und unbarmherzigste - ist weder falsch noch neu, doch es dabei zu belassen hieße, sich der idealistischen Sichtweise - der "moralischen" im eigentlichen Sinne des Wortes - anzuschließen, derzufolge nur jene Dinge, die die "soziale Gerechtigkeit" unmittelbar voranbringen, als historischer Fortschritt zählen. Dies erklärt sicherlich nicht, warum die Behauptung, daß das Auftauchen dieser Ausbeutungsweise einen historischen Fortschritt markiert, eine "moralisierende und zivilisatorische Auffassung" ist. Die GCI erklärt:
"Die Bourgeoisie stellte (...) alle vorherigen Produktionsformen als 'barbarisch' und 'primitiv' dar, die mit dem Voranschreiten der historischen Evolution immer 'zivilisierter' werden. Die kapitalistische Produktionsweise ist selbstredend die endgültige und höchste Verkörperung von Zivilisation und Fortschritt. Die evolutionäre Auffassung entspricht also durchaus dem 'gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus'; und es kommt nicht von ungefähr, daß diese Sichtweise auf alle Wissenschaften angewendet wird (d.h. auf all die Teilinterpretationen der Realität vom bürgerlichen Standpunkt aus): Naturwissenschaften (Darwin), Demographie (Malthus), logische Geschichte, Philosophie (Hegel)..." (ebenda)
Am Anfang ihres Textes hatte die GCI in Großbuchstaben den ambitiösen Untertitel: "Erster Beitrag: die Methodologie" gestellt. Der Happen, den wir gerade zitiert haben, ist ein Vorgeschmack darauf, was uns auf diesem Gebiet noch angeboten wird.
"Die Bourgeoisie", stellt die GCI fest, "stellt die kapitalistische Produktionsweise als das finale Ergebnis der Zivilisation und des Fortschritts dar". Daraus schließt sie, "daß die evolutionäre Sichtweise dem gesellschaftlichen Wesen des Kapitalismus entspricht".
Das übertrifft selbst die dümmste Plattheit. Mit solch einer "Methodologie" könnte man sich ebenso fragen, ob die "fixistische" Theorie ("nichts Neues unter der Sonne") nicht dem "gesellschaftlichen Wesen des Proletariats" entspricht. Die Bourgeoisie behauptete, daß die Welt sich bewegt und die Geschichte sich entwicklt. Die GCI leitet daraus ab, daß dies allein deshalb falsch sei, weil die Bourgeoisie es sagt: die Welt bewegt sich also nicht. So abwegig dies auch erscheint, aber genau dazu führt diese "Methode" der GCI, wie wir später in Hinblick auf ihre Vision der "Invarianz" noch sehen werden.
Der Marxismus lehnt natürlich die Vorstellung ab, daß der Kapitalismus das Endergebnis der menschlichen Entwicklung darstellt. Aber er lehnt nicht die Idee ab, daß die Menschheitsgeschichte einer Entwicklung gefolgt ist, die rational erklärt werden kann und deren Gesetze nur entdeckt werden müssen. Zu ihrer Zeit erkannten Marx und Engels das wissenschaftliche Verdienst von Darwin an und erhoben Anspruch auf den rationalen Kern der Hegelianischen Dialektik (Malthus, den die GCI zitiert, hat hier nichts zu suchen). Sie waren in der Lage, hinter diesen Bemühungen, eine Evolution, eine dynamische Vision der Geschichte zu definieren, den Ausdruck des bürgerlichen Kampfes zur Verteidigung ihrer Macht gegen die feudale Reaktion zu sehen, mit all ihren Fortschritten und Beschränktheiten, die damit verbunden sind. . So spricht Engels im Anti-Dühring über Darwin: "Hier ist vor allen Darwin zu nennen, der der metaphysischen Naturauffassung den gewaltigsten Stoß versetzt hat durch seinen Nachweis, daß die ganze heutige organische Natur, Pflanzen und Tiere und damit auch der Mensch, das Produkt eines durch Millionen Jahre fortgesetzten Entwicklungsprozesses ist." (MEW Bd. 19, S. 205)
Und über Hegel: "Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selber..." (Anti-Dühring, I. Allgemeines, S. 23, MEW 20)
Was der Marxismus an Hegels Sichtweise ablehnt, ist dessen immer noch vorherrschender idealistischer  Charakter (die Darstellung der Geschichte als nichts anderes als die Verwirklichung der Geschichte selbst), seine bürgerlichen Beschränkungen (der kapitalistische Staat als Inkarnation der Vernunft), aber selbstverständlich nicht den Gedanken, daß es eine historische Entwicklung gibt, die notwendige Etappen durchläuft. Im Gegenteil, Marx steht das Verdienst zu, den roten Faden in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften entdeckt und auf dieser Grundlage die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit des Kommunismus gegründet zu haben:
"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen (...) in großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden. Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." (Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie)

 
STAND DER KOMMUNISMUS SCHON IMMER AUF DER TAGESORDNUNG DER GESCHICHTE ?

In ihrem "anti-dekadentistischen" Delirium meint die GCI, daß jene, die heute die Analyse der Dekadenz des Kapitalismus vertreten, nur vom Niedergang des Kapitalismus in unserer Epoche  reden, um "pro-kapitalistisch" zu sein... ein Jahrhundert zuvor! "Die Dekadentisten sind also für die Sklaverei bis zu einem bestimmten Datum, pro-feudal bis zum nächsten... pro-kapitalistisch bis 1914! Sie sind aufgrund ihrer Fortschrittsverehrung also jedesmal gegen den Klassenkrieg, den die Ausgebeuteten dem Willen der kommunistischen Bewegung zum Trotz führen und der unglücklicherweise in der 'falschen' Periode ausbricht." (GCI, ebenda, S. 19)
Trotz ihres großspurigen, radikalen Gestus tut die GCI nichts anderes, als die idealistische Auffassung wiederzubeleben, nach der der Kommunismus jederzeit möglich sei.
Wir wollen hier nicht auf die Frage der Besonderheiten des Arbeiterkampfes in der aufsteigenden Phase des Kapitalismus eingehen, sondern darauf, warum das KOMMUNISTISCHE MANIFEST sagt: "Auf dieser Stufe bekämpfen die Proletarier also nicht  ihre Feinde, sondern die Feinde ihrer Feinde, die Reste der absoluten Monarchie, die Grundeigentümer, die nichtindustriellen Bourgeois, die Kleinbürger." (Bourgeois und Proletarier, MEW 4, S. 470) Warum und wie nahmen die Arbeiterkämpfe der folgenden Phase das Ziel der Durchsetzung von Reformen und die "immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter" in Angriff? Warum waren Gewerkschaften, Massenparteien und Sozialdemokratie Ende des 19. Jahrhunderts proletarische Instrumente...? All diesen Kampfformen, die die GCI nicht verstehen kann und ein Jahrhundert später als bürgerlich ablehnt, werden wir uns in einem späteren Artikel widmen, der sich mit der Frage des proletarischen Charakters der Sozialdemokratie befaßt.
Für den Moment ist es wichtiger, die marxistische Geschichtsauffassung und die Bedingungen der kommunistischen Revolution zu verstehen.
Marx und die Marxisten haben sich nie darauf beschränkt zu sagen, der Kapitalismus sei ein Ausbeutungssystem, das zerstört werden müsse und nie hätte bestehen dürfen, da der Kommunismus zu jedem Zeitpunkt möglich sei. Genau in dieser Frage vollzog der Marxismus einen Bruch mit dem "utopischen" oder "sentimentalen" Sozialismus; genau in dieser Frage vollzog der Marxismus auch den Bruch mit dem Anarchismus. Sie war zudem das Thema der Debatte zwischen Marx und Weitling 1846, die in der Konstituierung der ersten marxistischen politischen Organisation mündete: der Bund der Kommunisten. Aus Weitlings Sicht hieß es: "Die Menschheit ist notwendig immer reif oder sie wird es nie." (zitiert bei B. Nicolaevsky, K. Marx, Eine Biographie, S. 115)
Das gleiche Problem war auch der Grund für die Divergenzen zwischen Marx/Engels und der Willich-Schapper-Tendenz innerhalb des Bundes der Kommunisten. Wie Marx formulierte: "An die Stelle der kritischen Anschauung setzt die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution."
Was die GCI ablehnt, ist das Konzept des historischen Materialismus, des wissenschaftlichen Sozialismus. So setzte sich Engels im Anti-Dühring mit einem grundlegenden Aspekt der Bedingungen des Kommunismus auseinander:
"Die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, eine herrschende und eine unterdrückte Klasse war die notwendige Folge der frühern geringen Entwicklung der Produktion. Solange die gesellschaftliche Gesamtarbeit nur einen Ertrag lieferte, der das zur notdürftigen Existenz aller Erforderliche nur um wenig übersteigt, solange also die Arbeit alle oder fast alle Zeit der großen Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder in Anspruch nimmt, solange teilt sich die Gesellschaft notwendig in Klassen (...) Aber wenn hiernach die Einteilung in Klassen eine gewisse geschichtliche Berechtigung hat, so hat sie eine solche doch nur für einen gegebnen Zeitraum, für gegebne gesellschaftliche Bedingungen. Sie gründete sich auf die Unzulänglichkeit der Produktion; sie wird weggefegt werden durch die volle Entfaltung der modernen Produktivkräfte." (Anti-Dühring, II. Theoretisches, S. 262, MEW Bd. 20)
In diesem Sinn sprach Marx von den "Wundern" der Bourgeoisie und dem "großen zivilisatorischen Einfluß des Kapitals". "Erst hat sie (die Bourgeoisie) bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke  vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge." (Marx & Engels, Kommunistische Manifest, MEW Bd.4, S. 465)
"Hence the great civilising influence of capital (etwa: daher der große zivilisatorische Einfluß des Kapitals); seine Produktion einer Gesellschaftsstufe, gegen die alle frühren nur als lokale Entwicklungen der Menschheit und als Naturidolatrie (etwa: Naturverehrung) erscheinen. Die Natur wird erst rein Gegenstand für den Menschen, rein Sache der Nützlichkeit; hört auf als Macht für sich anerkannt zuwerden..." (Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, "Das Kapitel vom Kapital", Zweiter Abschnitt: "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals)
Wenn die GCI konsequent wäre, wenn sie sich um ein Mindestmaß an theoretischer Kohärenz bemühen würde, würde sie nicht zögern, nicht nur die Kommunistische Linke, Trotzki, Lenin, Luxemburg und die gesamte II. Internationale in den bürgerlichen Mülleimer zu werfen, sondern auch die alten Marx und Engels, dafür daß sie leidenschaftliche Vertreter dessen waren, was die GCI "evolutionistische" und "zivilisatorische" Konzepte nannte.
Dann vielleicht könnte die Gruppe RAIA, die ihre eigene Vertiefung der "Marx-Bakunin-Frage" unternommen hat, plausibel machen, daß das, was sie vertritt, nichts anderes ist als die alte, fade Leier des Utopismus und Anarchismus, garniert -aus welchen Gründen auch immer - mit marxistischem Wortgeklingel.

 

DIE DEKADENZ DES KAPITALISMUS - "EINE ZEIT DER GESELLSCHAFTLICHEN REVOLUTION"

An welchem Punkt wurde die kommunistische Revolution zu einer historischen Möglichkeit? Marx antwortete:
"Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolutionen ein." (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort)
Der Marxismus nennt keinen Tag, keine Stunde, ab der die kommunistische Revolution objektiv möglich wird. Er legt die allgemeinen Bedingungen - auf der Ebene des Gerüstes der Gesellschaft, die Wirtschaft - fest, die eine "Periode" charakterisieren, eine historische Ära, in welcher der Kapitalismus auf eine qualitativ andere Weise mit seinen eigenen Widersprüchen zusammenstößt und sich in eine Fessel für die Entwicklung der Produktivkräfte umwandelt.
Die Manifestationen dieser neuen historischen Lage treten hauptsächlich auf wirtschaftlicher Ebene auf (Wirtschaftskrisen, Verlangsamung des Wachstums der Produktivkräfte), aber auch in anderen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens, die letztendlich durch das Wirtschaftsleben der Gesellschaft beeinflußt werden. Marx spricht von "den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten" (Vorwort).
Marx und Engels glaubten mehrfach im Verlaufe der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, daß der Kapitalismus diesen Punkt erreicht hatte, besonders während der großen zyklischen Wirtschaftskrisen, die damals das System erschütterten. Aber sie erkannten jedesmal, daß dies nicht der Fall war. So schrieb Marx 1850 nach der Überwindung der Wirtschafts- und Gesellschaftskrise von 1848:
"Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig erst entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution überhaupt keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktivkräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten (...) Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis, sie ist aber auch ebenso sicher wie diese." (Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, MEW 7, S. 98)     
Tatsächlich waren die Krisen des Kapitalismus noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts Wachstumskrisen, die schnell vom System überwunden wurden. Erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden auffällige und unmißverständliche Symptome ersichtlich, die darauf hindeuteten, daß die Entwicklung der inneren Widersprüche des Kapitalismus eine qualitativ neue Stufe erreicht hatte.
Die revolutionären Marxisten, die Linke der II. Internationalen - dieselben, die jahrelang die revisionistischen Strömungen Bernsteins bekämpft hatten, der die Theorie aufgestellt hatte, daß der Kapitalismus keine Krisen mehr erleben würde und daß man  schrittweise und friedlich zum Sozialismus gelangen könnte - erkannten sofort das Auftreten einer neuen historischen Lage: den Eintritt des Kapitalismus in seine Niedergangsphase.
Der Ausbruch der Russischen Revolution und - in ihrem Kielwasser - die Welle internationaler, revolutionärer Kämpfe bestätigten unmißverständlich die marxistische Perspektive.
Auf diese Analyse berufen wir uns heute: eine Analyse, die die vergangenen 70 Jahre, welche von zwei Weltkriegen, zwei Wiederaufbauphasen und zwei großen Weltwirtschaftskrisen (1929-1939 und 1967 bis heute) gekennzeichnet waren - 70 Jahre einer beispiellosen Barbarei auf dem ganzen Planeten -, in Gänze bestätigt haben.

 

EINE SINNLOSE KRITIK

Bei ihrer Ablehnung dieser Analyse schreibt die GCI den "Dekadentisten" eine absurde Idee zu, die sie sich schlicht selbst ausgedacht hat und die sie dann ausführlich kritisiert.
Laut GCI wird in der Analyse der Dekadenz behauptet, daß das System während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus keine Widersprüche gehabt habe; diese Widersprüche tauchten erst in der dekadenten Phase auf. Und sie antwortet: "Es gibt somit  keine zwei Phasen: eine, in welcher der Klassenwiderspruch (mit anderen Worten der Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) nicht existiert -  eine fortschrittliche Phase, in der die 'neue' Produktionsweise  ihre zivilisatorischen Wohltaten ohne Antagonismen entwickelt (...) und eine Phase, in der sie nach der 'fortschrittlichen' Entwicklung ihrer Wohltaten veraltet und zu verfallen beginnt und erst an diesem Punkt das Aufkommen eines Klassenantagonismus beinhaltet."
Dies schrieben wir in unserer Broschüre Die Dekadenz des Kapitalismus über diese Frage:
"Marx und Engels hatten den genialen Scharfsinn, in den Wachstumskrisen des Kapitalismus all das Wesentliche dieser Krisen herauszuarbeiten, und sie kündigten somit den zukünftigen Generationen die Grundlagen der tiefgreifenden Zerrüttung der Gesellschaft an. Sie waren zu dieser Einsicht in der Lage, weil eine Gesellschaftsform von Anfang an die Keime all der Widersprüche in sich trägt, die sie in ihren Tod treiben werden. Aber solange diese Widersprüche sich nicht soweit entwickelt haben, daß sie auf ständige Weise ihr Wachstum hemmen, stellen sie selbst die Antriebskraft dieses Wachstums dar." (Die Dekadenz des Kapitalismus, Broschüre der IKS, deutsche Ausgabe, S. 25)
Die GCI weiß nicht, wovon sie redet.

 

DIE  "INVARIANZ"

Nachdem sie mit der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus all die konsequenten marxistischen Strömungen der letzten 50 Jahre über Bord geworfen hat und aus Furcht davor, als anarchistisch betrachtet zu werden, sucht die GCI in den Theorien Bordigas aus den 50er Jahren nach einer "marxistischen" Rechtfertigung für ihr libertäres Geschwafel: es handelt sich um die Theorie der "Invarianz (Unveränderbarkeit) des kommunistischen Programmes seit 1848".
Das Paradoxon ist nur scheinbar eines. Der Anarchismus, der die historische Entwicklung im allgemeinen außer Acht läßt, kann sich mit der bordigistischen Auffassung anfreunden, die unter dem Vorwand der "Invarianz" alle grundlegenden Änderungen ignoriert, die die Evolution des Kapitalismus seit seinen Ursprüngen kennzeichnen.
Doch auch wenn die Theorie Bordigas noch so abwegig ist, so hat sie zumindest das Verdienst, eine gewisse Kohärenz mit den politischen Positionen aufzuweisen, die sie vertritt: der Bordigismus geht davon aus, daß die Kampfformen des 19. Jahrhunderts, wie der gewerkschaftliche Kampf oder die Unterstützung neuer Staatsgründungen, auch in unserer Epoche noch gültig seien. Für die GCI dagegen, die diese Kampfformen ablehnt, wird die Theorie zur Quelle der Inkohärenz. Sie ist gezwungen, die Sozialdemokratie des 19. Jahrhundert dem Lager der Bourgeoisie zuzuordnen und erfindet einen anti-gewerkschaftlichen, anti-parlamentarischen, anti-demokratischen Marx; ein bißchen wie der Stalinismus, der die Geschichte der Russischen Revolution in Übereinstimmung mit den Bedürfnissen seiner unmittelbaren Politik neu erfand.
Aber schauen wir uns Bordigas Kritik an der Theorie der Dekadenz und der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus etwas näher an, hinter der die GCI ihre anarchistische Rückentwicklung zu verbergen sucht. Bordiga, den die GCI im fraglichen Artikel zitiert, schrieb:
"Die Theorie der aufsteigenden Kurve vergleicht die historische Entwicklung mit einer Sinuskurve: jede Herrschaft, auch die bürgerliche Herrschaft z.B. fängt mit einer aufsteigenden Phase an, erreicht einen Höhepunkt, steigt danach ab bis zu einem Tiefpunkt, von dem an eine neue, andere Herrschaft ihren Aufstieg einleitet. Dies ist die Auffassung des gradualistischen Reformismus, keine Erschütterungen, kein Sprung. Die marxistische Auffassung dagegen kennt (zum Zweck der Klarheit und Genauigkeit) viele aufsteigende, ihren Höhepunkt erreichende  Kurven, denen ein gewalttätiger, fast vertikaler Sturz folgt, und an dessen Ende angelangt, eine neue gesellschaftliche Herrschaft entsteht. Es setzt eine andere, historisch aufsteigende Kurve ein (...) Die geläufige Behauptung, daß der Kapitalismus in seiner niedergehende Kurve sei und nicht mehr aufsteigen könne, enthält zwei Fehler: der eine ist der Fatalismus, der andere der Gradualismus..." (Treffen in Rom, 1951). An anderer Stelle schrieb Bordiga: "Aus Marxens Sicht wächst der Kapitalismus unaufhaltsam über alle Grenzen hinaus..." ("Dialog mit den Toten")
Bevor wir auf die fantasierenden Beschuldigungen des "Gradualismus" und des "Fatalismus" zu sprechen  kommen, wollen wir kurz die Auffassung Bordigas der Wirklichkeit gegenüberstellen.
Zunächst eine wichtige Bemerkung: Bordiga spricht von der auf- oder absteigenden "Kurve" eines Regimes. Eines muß klar sein: wenn Marxisten über eine "aufsteigende" oder "dekadente" Phase sprechen, dann geht es ihnen nicht schlicht um eine statistische Erhebung, um die Produktion als solche zu messen. Wenn man die Entwicklung der Produktion als ein Element ins Auge fassen will, um zu bestimmen, ob eine Produktionsweise in ihrer dekadenten Phase ist oder nicht, - d.h. um festzustellen, ob die Produktionsverhältnisse eine Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte geworden sind oder nicht -, muß man zunächst wissen, um welche Produktion es geht: die Produktion von Waffen oder anderer unproduktiver Güter und Dienstleistungen sind kein Beweis für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte, sondern im Gegenteil für ihre Zerstörung. Des weiteren ist nicht das Niveau der Produktion als solches bedeutsam, sondern ihr Entwicklungsrhythmus, und dieser auch nicht absolut gesehen, sondern selbstverständlich im Verhältnis zu den materiellen Möglichkeiten, die von der Gesellschaft erreicht wurden.
Nach dieser Präzisierung sehen wir, daß hinter der Behauptung Bordigas, "die "marxistische Auffassung" (als deren "invarianter" Verteidiger er sich ausgibt) "kennt (...) viele aufsteigende, ihren Höhepunkt erreichende Kurven, denen ein gewalttätiger, fast vertikaler Sturz folgt", zwei falsche Aussagen stecken.
Es ist unwahr zu behaupten, daß dies eine marxistische Auffassung ist. Marx drückte sich sehr klar über das Ende des Feudalismus und die Geburt des Kapitalismus aus, und zwar in einem Text, der hinlänglich bekannt ist:  das Kommunistische Manifest:
"Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt." ("Bourgeois und Proletarier")
Es handelte sich hier allerdings um eine ganz andere Situation als jene, die das Ende des Kapitalismus begleitet, da der Kommunismus nicht innerhalb der alten Gesellschaft errichtet werden kann. Aber im Falle des Feudalismus wie auch des Kapitalismus stellt sich die Frage des Sturzes  der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse, wenn letztere zu einer "Fessel" geworden sind, wenn sie die wirtschaftliche Weiterentwicklung zurückhalten statt weiterbringen.
Ebenso falsch ist es zu behaupten, daß die Geschichte sich entwickelt hat, indem sie dem Schema einer Serie von stetig-wachsenden Kurven folgte. Insbesondere in dem Fall, der uns hier am meisten interessiert - der Kapitalismus.
Man muß entweder mit Blindheit geschlagen oder durch die Propaganda  der dekadenten  Bourgeoisie geblendet sein, um nicht den Unterschied zwischen dem Kapitalismus seit dem Ersten Weltkrieg und dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts zu erkennen und dann zu behaupten, daß die kapitalistischen Produktionsverhältnisse im 20. Jahrhundert nicht eine größere Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte sind, als sie es im 19. Jahrhundert waren.
Wirtschaftskrisen, Kriege, das Gewicht der unproduktiven Ausgaben - all das gab es sowohl im 19. als auch im 20. Jahrhundert, doch der Unterschied zwischen beiden Epochen ist quantitativ so groß, daß er zu einer neuen Qualität wird. (Die GCI, die das Wort "dialektisch" überall in ihrem Text benutzt, muß zumindest von der Umwandlung von Quantität in Qualität gehört haben).
Die hemmenden Auswirkungen auf die Entwicklung der Produktivkräfte, hervorgerufen durch die Zerstörungen und die Verschwendung der materiellen und menschlichen Ressourcen in den beiden Weltkriegen, unterscheiden sich qualitativ davon, was zum Beispiel im Krimkrieg (1853-56) oder im deutsch-französischen Krieg (1870-1871) stattfand. Was die Wirtschaftskrisen anbetrifft, sind die zyklischen Krisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum mit jenen von 1929-39 und 1967-87 vergleichbar, weder in ihrer geographischen Ausbreitung noch in ihrer Dauer (siehe dazu den Artikel in Internationale Revue Nr. 8: "Der Kampf des Proletariats im dekadenten Kapitalismus", wo diese Frage gesondert behandelt wird). Was das Gewicht der unproduktiven Kosten und ihrer sterilisierenden Wirkung auf die Produktion angeht, so liegt auch hier ein qualitativer Unterschied im Vergleich zum 19. Jahrhundert vor:

  • die  permanente Rüstungsproduktion, die wissenschaftliche Forschung für militärische Zwecke, der Unterhalt von Armeen (1985 sprachen offizielle Regierungszahlen von weltweit mehr als 1,5 Mio. Dollar Rüstungsausgaben pro Minute!);
  • die unproduktiven Dienstleistungen (Banken, Versicherungen, die meisten staatlichen Verwaltungen, Werbebranche usw.).

Die GCI zitiert einige Zahlen zum Produktionswachstum des 19. und 20. Jahrhunderts, die angeblich das Gegenteil beweisen. Wir können hier nicht in die Einzelheiten gehen (siehe dazu  unsere Broschüre "Die Dekadenz des Kapitalismus"). Einige kurze Bemerkungen müssen allerdings gemacht werden.
Die Zahlen der GCI vergleichen die Produktion zwischen 1950 und 1972 mit dem Zeitraum von 1870 und 1914. Das ist eine ziemlich krude Irreführung. Man muß nur vergleichen, was man vergleichen kann, damit das Argument in sich zusammenfällt. Wenn man statt der oben genannten Zeiträume, die den Zeitraum zwischen 1914 und 1949 (zwei Weltkriege und die Krise der 30er Jahre) aus der Dekadenzphase ausklammern, die Periode zwischen 1840 und 1914 mit 1914-1983 vergleicht, schmilzt der Unterschied dahin... Und außerdem bestand die Produktion im 19. Jahrhundert hauptsächlich in der Produktion von Produktionsmitteln  und Konsumgütern, während sie im 20. Jahrhundert einen stetig wachsenden Anteil von Zerstörungsmitteln oder anderen unproduktiven Elementen umfaßt (heute gibt es eine Anhäufung von Zerstörungskraft, die vier Tonnen Dynamit pro Mensch entspricht, und in der "Buchführung" des Staates  wird von einem Bürokraten ausgegangen, der das Äquivalent seines Gehalts produziert). Schließlich und vor allem wird der Vergleich zwischen der tatsächlich realisierten Produktion und dem, was in Anbetracht des technischen Entwicklungsstands in dieser Zeit hätte produziert werden können, völlig außer Acht gelassen.
Aber abgesehen von den Unwahrheiten, die in der Behauptung enthalten sind, daß "der Kapitalismus Marx zufolge  unaufhörlich, über alle Grenzen hinaus wächst", wendet sich die Auffassung Bordigas von den marxistischen, materialistischen Grundlagen der Möglichkeit der Revolution ab.
Wenn der "Kapitalismus unaufhörlich, über alle Grenzen hinauswächst", warum sollten sich dann eines Tages Hunderte von Millionen Menschen dazu entscheiden, in einem Bürgerkrieg ihr Leben zu riskieren, um das eine System durch ein anderes zu ersetzen? Wie Engels sagte:
"Solange eine Produktionsweise sich im aufsteigenden Ast ihrer Entwicklung befindet, solange jubeln ihr sogar diejenigen entgegen, die bei der ihr entsprechenden Verteilungsweise den kürzern ziehn." (Anti-Dühring, Politische Ökonomie, I. Gegenstand und Methode, MEW 20, S. 138)


GRADUALISMUS UND FATALISMUS

Die Theorie des "Gradualismus" behauptet, daß gesellschaftlichen Umwälzungen nur langsam, durch eine Reihe von kleineren Änderungen zustandekommen: "Keine Erschütterungen, keine Sprünge", wie Bordiga sagt. Die Analyse der Dekadenz besagt, daß sie sich durch die Eröffnung einer "Ära von Kriegen und Revolutionen" (Manifest der Kommunistischen Internationale) äußert. Sofern man nicht Kriege und Revolutionen als schmerzlos, als sanften Wechsel darstellt, dreschen Bordiga und die GCI bloß mit Phrasen.
Was die Beschuldigung des "Fatalismus" angeht, so ist diese auch nicht viel ernstzunehmender. (4)
Der Marxismus behauptet nicht, daß die Revolution unausweichlich sei. Er leugnet nicht den Willen als Faktor in der Geschichte, aber er zeigt auf, daß dieser Wille nicht ausreicht, daß er sich in einem materiellen Rahmen verwirklichen muß, der von einer Entwicklung, von einer historischen Dynamik bewirkt wird, welche man berücksichtigen muß, wenn Ersterer seine Wirksamkeit entfalten kann . Die Bedeutung, die der Marxismus dem Verständnis der "wirklichen Bedingungen", den "objektiven Bedingungen" beimisst, ist nicht die Verneinung des Bewußtseins und des Willens, sondern im Gegenteil die einzige konsequente Bestätigung dieser Faktoren. Ein klarer Beweis hierfür ist die Bedeutung, die der kommunistischen Propaganda und Agitation zugeschrieben wird.
Es gibt keine unvermeidliche Entwicklung von Bewußtsein in der Klasse. Die kommunistische Revolution ist die erste Revolution in der Geschichte, in der das Bewußtsein eine wirklich entscheidende Rolle spielt, und sie ist genauso wenig unvermeidlich wie dieses Bewußtsein.
Dagegen folgt die ökonomische Entwicklung objektiven Gesetzen, die, solange die Menschheit unter materiellem Mangel leidet, den Menschen unabhängig von ihrem Willen aufgezwungen werden.
In der Schlacht, die die Linke in der II. Internationalen gegen die revisionistischen Theorien Bernsteins führte, stand die Frage des unvermeidlichen Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft im Mittelpunkt der Debatte, was an der Bedeutung ersichtlich wird, die Rosa Luxemburg dieser Frage in Reform oder Revolution? beimaß, einem Werk, das von der gesamten Linken in Deutschland wie in Rußland (besonders von Lenin) begrüßt wurde.
Die "marxistische", religiöse Orthodoxie Bordigas ignoriert Marx und Engels, die furchtlos schrieben:
"Die Universalität, nach der es unaufhaltsam hintreibt, findet Schranken an seiner eigenen Natur, die auf einer gewissen Stufe seiner Entwicklung es selbst als die größte Schranke dieser Tendenz werden erkennen lassen und daher zu seiner Aufhebung durch es selbst hintreiben." (Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, "Der Zirkulationsprozeß des Kapitals")
".... diese Produktionsweise durch ihre eigne Entwicklung dem Punkt zutreibt, wo sie sich selbst unmöglich macht." (Anti-Dühring, ebenda)
Der Marxismus behauptet nicht, daß der Triumph der kommunistischen Weltrevolution unvermeidlich ist, sondern daß, wenn das Proletariat sich seiner historischen Aufgabe nicht als ebenbürtig erweist, die Zukunft nicht ein Kapitalismus ist, der "unaufhörlich, über alle Grenzen hinaus wächst", wie Bordiga behauptete, sondern die Barbarei - die reale Barbarei: jene Art, die sich seit 1914 unaufhörlich ausgebreitet hat; die Art, deren Bilder Verdun, Hiroshima, Biafra, den Iran-Irak-Krieg, die letzten zwanzig Jahre eines ununterbrochenen Wachstums in der Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Drohung eines Nuklearkrieges umfaßt, der die menschliche Spezies ausrotten würde.
Sozialismus oder Barbarei: zu begreifen, daß dies die Alternative für die Menschheit ist, heißt, die Dekadenz des Kapitalismus zu begreifen.


R.V.

 

(1) Groupe Communiste Internationaliste: BP 54, BXL 31, 1060 Bruxelles, Belgien,
(2) Die theoretischen Grundlagen der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus sind in der Einleitung der Broschüre der IKS zur "Dekadenz des Kapitalismus" dargelegt.
(3) So haben wir eine kleine Gruppe in Belgien gesehen, die den Bruch mit dem Anarchismus anstrebt und noch die "Marx-Bakunin-Frage zu vertiefen" hat, wie sie sich ausdrückt, die aber aus ihrem Elfenbeinturm der Ignoranz und in ihrem ehrfürchtigen Studium der GCI über die Dekadenztheorie richten will:
"Die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus! Aber was zum Teufel will denn diese Theorie aussagen? Kurzum, wir können sie als die wundervollste, fantastischste Geschichte seit dem Alten Testament bezeichnen. Den Propheten der IKS zufolge teilt sich die Lebenslinie des Kapitalismus in zwei unterschiedliche Teile auf. Am schicksalhaften Tag des 4. August 1914 (sic!) (um die genaue Uhrzeit zu erfahren, möge man sich bitte an die Auskunft wenden) hörte das kapitalistische System auf, in seiner 'aufsteigenden Phase' zu sein, und trat in die Phase der furchtbaren, tödlichen Erschütterungen ein, die die IKS mit dem Namen 'Dekadenzphase des Kapitalismus' getauft hat. Offensichtlich haben wir es hier mit einer wahren Psychose zu tun!" (RAIA, Nr. 3, BP 1724, 1000 Bruxelles)
(4) Die GCI scheint nicht den Widerspruch zu bemerken, wenn sie im gleichen Atemzug Bordigas Formulierung aufgreift und behauptet, daß man "den Kommunismus als etwas bereits Geschehenes betrachten" könne!

Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir10/1988_poldekadenz

 

Erbe der kommunistischen Linke: