Im Alter von 91 Jahren starb Cajo Brendel am 25. Juni 2007. Er war der letzte lebende Vertreter der holländischen „Rätekommunisten“. Cajo war uns ein enger Freund und Weggefährte im Klassenkampf, der einerseits seine politischen Positionen klar verteidigte, andererseits aber zugleich sehr fröhlich, herzlich und höflich im Umgang war. Anlässlich seines 90sten Geburtstags haben wir letztes Jahr einen Artikel in Wereldrevolutie Nr. 107 veröffentlicht. An dieser Stelle möchten wir nun etwas ausführlicher auf sein Leben und auf unsere Verbindungen mit Cajo eingehen.
Cajo erachtete die IKS als eine Strömung, die sich auf “rückwärts gewandte Positionen” bezieht, etwa auf die der KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands) aus den frühen 1920er Jahren. Aber Cajo zufolge wurden diese Positionen durch die Groep van Internationale Communisten (Gruppe Internationaler Kommunisten, GIC) überwunden. Zudem nannte er unsere Position zur Dekadenz des Kapitalismus während einer Diskussion in Amsterdam „Humbug“. Trotz gewisser Unterschiede in politischen Einschätzungen überwog jedoch das Gemeinsame. So war Cajo vor allen Dingen ein konsequenter und überzeugter Internationalist. Dies verbindet uns. Seine internationalistische Haltung haben wir stets mit Bewunderung und Respekt vernommen. Wie bereits angedeutet, gab es auch unterschiedliche Auffassungen, unter anderem zur Frage der Gewerkschaften, welche Cajo zufolge von Anbeginn „kapitalistisch“ gewesen seien. Oder auch zur nationalen Frage. Hier vertat er die Auffassung, dass „bürgerliche Revolutionen“ noch immer möglich seien. So stufte er den Bürgerkrieg in Spanien 1936 und die Veränderungen in China unter Mao-Tse-tung ebenso wie die proletarische Revolution in Russland 1917-1923 als bürgerliche Revolutionen ein.
Während sein Freund Jaap Meulenkamp politische Arbeit als ein “sozial motiviertes Hobby” bezeichnete, bedeutete es für Cajo weitaus mehr: Es war eine lebenslange Überzeugung, der er sich unermüdlich verschrieben hatte, und er versuchte stets diese Überzeugung mittels Argumenten Anderen ebenfalls nahe zu bringen. Trotzdem er mit Otto Rühle der Meinung war, „die Revolution ist keine Parteisache“, so hielt ihn dies dennoch nicht davon ab, unablässig Propaganda für die Positionen der Kommunistischen Linken zu betreiben und sie auf diversen Kontinenten bekannt zu machen. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen wir mit Cajo solidarisch debattierten und polemisierten. Das erste Mal war im Mai 1968 in Paris, und damals waren die Diskussionen besonders hitzig. Während aber andere Vertreter von Daad en Gedachte (Tat und Gedanke), wie Jaap, sich „aus Prinzip“ weigerten, mit Organisationen oder Gruppen zu diskutieren, die sich als „politische Vorhut“ des Proletariats sahen, nahm Cajo 1973 an zahlreichen Konferenzen in Dendermonde und Langdorp, Belgien teil. Dort war der Communistenbond Spartacus (Kommunistische Liga Spartakus) vertreten, aber auch diejenigen Gruppen, welche im Jahr darauf die Sektion der IKS in Belgien bilden würden. Diese Auseinandersetzungen spiegeln sich auch in Daad en Gedachte von 1973-1975 wider.
Geboren wurde Cajo am 2. Oktober 1915 in Den Haag. Er entstammte, seinen eigenen Worten zufolge, einer „kleinbürgerlichen Familie“, die sich nach dem Börsenkrach von 1929 mit massiven finanziellen Problemen konfrontiert sah. Cajo begann sich bald für soziale Fragen zu interessieren. Anfänglich sympathisierte er mit dem Trotzkismus, nachdem er 1934 mit David Wijnkoop diskutiert hatte, der Stalinist geworden war. Dann aber lernte Cajo zwei Arbeiter in Den Haag kennen, Aries und Gees, und schließlich machte er Bekanntschaft mit Stientje. Es stellte sich heraus, dass sie frühere Mitglieder der Kommunistische Arbeiderspartij van Nederland (Kommunistische Arbeiterpartei der Niederlande) gewesen waren und nun die Haager Sektion der Groep van Internationale Communisten, GIC bildeten. Im Jahre 1933 hatten sie die Zeitung De Radencommunist (Der Rätekommunist) herausgegeben. Monatelang debattierte Cajo jeden Abend mit ihnen, bis er sich, gerade mal 19 Jahre alt, von ihren Argumenten im September überzeugen ließ. Jahre später erzählte er, dass diese Entwicklung so vonstatten ging „als ob er direkt vom Kindergarten zur Universität“ übergegangen sei. Durch sie kam er in Kontakt mit der GIC-Sektion in Amsterdam, in welcher Leute wie Henk Canne Meijer und Jan Appel eine recht bedeutende Rolle spielten, und mit denen Anton Pannekoek in Kontakt war. Zudem wurde Cajo auch stark von Paul Mattick und Karl Korsch beeinflusst. In dieser krisengeschüttelten Zeit führte der ebenso junge wie arme Cajo eine, wie man sagt, farbenfrohe Existenz. Nachdem 1935 die Gruppen in Leiden, Den Haag und Groningen sich von der GIC abspalten hatten, weil sie letztere als zu „theoretisch“ ansah, brachte Cajo mit der Gruppe in Den Haag zunächst die Zeitschrift Proletariër und dann 1937-1938 Proletarische Beschouwingen (Proletarische Überlegungen) heraus. 1938-1939 schrieb Cajo wöchentlich Artikel für die anarchistische Zeitschrift De Vrije Socialist (Der Freie Sozialist) von Gerhard Rijnders, der angeblich keine Probleme mit Cajos Marxismus hatte. Dann wurde Cajo 1940 als Soldat eingezogen und er verteilte internationalistische Flugblätter unter den Soldaten, allerdings ohne auf nennenswerten Widerhall zu treffen. Schließlich kam er als Kriegsgefangener nach Berlin, kam dann wieder nach Holland und versteckte sich Zeitweise in Redaktionsräumen. Nach Kriegsende kam er bei einer Zeitung in Utrecht als Journalist unter. Auf persönlicher Ebene brachen nun etwas ruhigere und glücklichere Tage an.
Im Jahre 1952 schloss sich Cajo dem Communistenbond Spartacus an, wo er Teil des Reaktionsteams wurde. Es war in eben diesem Jahr, dass er auch Anton Pannekoek kennen lernte. In den nun folgenden zwölf Jahren schrieb Cajo zahlreiche Artikel, ebenso Pamphlete wie De opstand der arbeiders in Oost-Duitsland (Der Arbeiteraufstand in Ostdeutschland) and Lessen uit de Parijse Commune (Lehren der Pariser Kommune), beide 1953 verfasst. Während der Krise von 1964, als eine ganze Reihe von Mitgliedern vom Communistenbond ausgeschlossen wurden (insbesondere Theo Maassen, der zuvor bereits von der GIC ausgeschlossen worden war), versuchte Cajo es zunächst mit einer schlichtenden Haltung, schloss sich letztendlich aber doch wieder der Gruppe an, welche ab Januar 1965 mit der Veröffentlichung von Daad en Gedachte beginnen würde, die sich "den Problemen der unabhängigen Arbeiterkämpfe annahm".
Einen Namen machte sich Cajo mit seiner Veröffentlichung Anton Pannekoek, theoreticus van het socialisme (1970). Dieses Buch beeinflusste in den Niederlanden eine ganze Generation von Menschen, die auf der Suche nach marxistischen Positionen waren. Das Buch wurde 2001 auch auf Deutsch unter dem Titel Pannekoek, Denker der Revolution veröffentlicht. Ab 1970 konnte man international ein wiedererwachendes Interesse am Linkskommunismus feststellen. Im Jahre 1974, dem Jahr als Theo Maassen starb, wurden Stellingen over de Chinese revolutie (Thesen über die Chinesische Revolution) und in deutscher Sprache die Broschüre Autonome Klassenkämpfe in England 1945-1972 veröffentlicht; letztere wurde inzwischen auch auf Französisch veröffentlicht. Als Cajo dieses Buch 1971 verfasste, verbrachte er einige Zeit bei den Bergarbeitern in Wales. Von großer Bedeutung ist auch sein sehr beachtenswertes Buch Revolutie en contrarevolutie in Spanje (Revolution und Konterrevolution in Spanien) von 1977, das bedauerlicherweise bis heute nicht in andere Sprachen übersetzt worden ist. Cajo war sehr sprachbegabt. Obgleich die meisten seiner Schriften auf Holländisch veröffentlicht worden sind, publizierte er auch auf Deutsch, Englisch und Französisch; zudem wurden zahlreiche seiner Schriften in weitere Sprachen übersetzt. So wuchs sein Einfluss international, nicht zuletzt auf Grund seiner Beiträge im Magazin Echanges et Mouvement, (auf Englisch und Französisch veröffentlicht) und seiner regelmäßigen Teilnahme an internationalen Konferenzen, wie etwa 1978 in Paris.
Als 1981 in Amsterdam eine Konferenz internationalistischer Gruppen organisiert wurde, beschloss Daad en Gedachte nicht teilzunehmen. Ein Mitglied der Gruppe jedoch nahm auf eigene Faust teil und sowohl Cajo als auch Jaap sicherten die Präsenz ihrer Position, indem sie wichtige Beiträge für die Diskussion einreichten. Während des Massenstreiks in Polen 1981 verteidigte Cajo in gutgefüllten Sälen in Amsterdam den Standpunkt, dass die Klassengrenze „nicht zwischen dem polnischen Staat einerseits und den Arbeitern mit Solidarnosc anderseits verläuft, sondern vielmehr zwischen dem polnischen Staat und der Solidarnosc auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Arbeitern“. Eine Position, die wir uneingeschränkt teilten und teilen. Als Cajo 1983 in Antwerpen sein Buch Blaffende bonden bijten niet (Bellende Hunde beißen nicht) vorstellte, das voller Verweise auf die Presse der IKS ist, wies er vor einer gegnerischen Zuhörerschaft von Linken richtigerweise den Vorwurf vehement von sich, dass dieses Buch „der politischen Rechten in die Hände spielen würde“: die rechten Arbeitgeber waren sich über die Bedeutung der Gewerkschaften für ihre eigenen Interessen bewusst wie kaum andere; jedenfalls unterstützten wir Cajo so viel es ging. Dass Cajo in aller erster Linie ein überzeugter Internationalist war, wurde wieder im Jahre 1987 sehr deutlich, als die IKS, einige ihrer Genossen und auch ihrer Sympathisanten mehr oder weniger aus versehen eingeladen wurden, an einer Konferenz der Gruppe Daad en Gedachte teilzunehmen. Einige von uns nahmen denn auch an der Konferenz teil, und dank unserer Beharrlichkeit wurde der proletarische Internationalismus auf die Tagesordnung gesetzt. Zu unserer großen Überraschung standen wir in dieser Frage gemeinsam mit Cajo und Jaap allen „Jüngeren“ in der Gruppe gegenüber, die ziemlich ‚anti-faschistisch’ eingestellt waren und daher letztlich die bürgerliche Demokratie verteidigten. Wir haben seinerzeit darüber in unserer Presse berichtet. Es wurde deutlich, dass sobald eine Gruppe diese zentrale Frage des proletarischen Internationalismus lediglich als sekundär behandelte, sie in journalistischen Akademismus abdriften musste und so vermutlich auch nicht mehr allzu lange existieren würde. Cajo und Jaap waren ihr ganzes Leben lang Internationalisten gewesen und hatten stets ohne Unterscheidung sowohl die Faschisten, Stalinisten als auch das demokratische Lager gleichermaßen an den Pranger gestellt. Es zeigte sich jedoch, dass sie nicht in der Lage gewesen waren – zumindest in der eigenen Gruppe – diese Lehre an die nachfolgende Generation weiterzugeben. Die jüngeren Leute begannen schließlich die Gruppe zu verlassen. Dies wurde mit dem Zusammenbruch des Ostblocks noch verstärkt, als alles, was auch nur dem Anschein nach was mit Marxismus zu tun hatte, anrüchig wurde.
Zum 25jährigen Bestehen der Gruppe Daad en Gedachte im Jahre 1990 wurde ein „Rückblick“ mit all deren Positionen und Hintergründen veröffentlicht und besprochen. Aber im Gegensatz zur ursprünglichen Intention, regte dies weder eine neue interessierte Leserschaft an, noch bescherte er der Gruppe neue Mitstreiter. Was wir schon innerhalb der Gruppe Communistenbond Spartacus 1981 beobachten konnten – dass also die ‘Jungen’ ausstiegen, während die ‚Älteren’ weiteragieren wollten, sollte sich dann zehn Jahre später innerhalb der Gruppe Daad en Gedachte wiederholen. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1991 besuchten wir Cajo und diskutierten mit ihm das Manifest des 9ten Kongresses der IKS, das eben den Zusammenbruch des Ostblocks und des Stalinismus behandelt. Zudem versuchten wir Cajo davon zu überzeugen, zum selbigen Thema eine Einleitung auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung der IKS zu halten. Er war sehr gerührt wie aufgeregt und erklärte: „Ich bin mit eurer Einschätzung überhaupt nicht einverstanden, aber ich finde es überaus wichtig, dass ein solches Dokument international Verbreitung findet.“ Dies war 1992 ebenfalls seine Haltung, als er sich bemühte uns zu helfen, dass unser Buch über die Holländische Linke auch auf Holländisch erscheinen könnte, denn es sei „…die einzige Studie, die dieses Thema umfassend behandelt.“ Auch wenn er in einigen Aspekten nicht die Einschätzungen unseres Buches teilte, so hatte er uns unzählige Informationen und Dokumente für dieses Buch zukommen lassen, und schließlich stellte sich heraus, dass unsere Auffassungen zu diesem Thema doch viel näher lagen als zunächst gedacht. Jedenfalls wurde das Magazin Daad en Gedachte schließlich noch bis 1997 herausgebracht, allerdings mit immer weniger Mitstreitern. Zudem machte es die organisatorische Struktur der Gruppe – ein informaler Zirkel von Freunden – immer schwerer, kohärente Positionen aufrechtzuerhalten. Nach der Krankheit und dann dem Tod von Jaap blieb Cajo fast ganz alleine mit all der Arbeit. Wir brachten in unserer Presse einen Aufruf, nach Möglichkeit die Herausgabe dieses Magazins nicht einzustellen, da es sonst zu einer großen Schwächung in der Bekanntmachung internationalistischer Positionen der Holländischen Linken kommen würde. Leider blieb unser Aufruf ohne Folgen und das Magazin erschien nicht mehr. Wir schrieben damals: „Auch wenn es Positionen und Analysen gibt, die wir nicht teilen, so denken wir, dass diese politische Strömung ein überaus wichtiger Zweig des historischen Erbes der Arbeiterbewegung insgesamt ist. Zudem hat sie zahlreiche Beiträge geliefert, um den theoretischen und praktischen Fortschritt der Arbeiterbewegung voranzutreiben.“ (Wereldrevolutie, no 85, Dezember 1998).
Im November 1998 hielt Cajo, inzwischen 83 Jahre alt, eine Reihe von Vorträgen in Deutschland, auf denen wir anwesend waren, und über die wir ausgiebig in unserer Presse berichtet haben (so etwa in Weltrevolution Nr. 92, Wereldrevolutie Nr. 92, Internationalisme Nr. 255, World Revolution Nr. 228 ). Diese Vorträge füllten Säle mit z. T. Hunderten von interessierten Zuhörern und Diskussionsteilnehmern. Die Genossen der IKS in Deutschland waren besonders beeindruckt von Cajos scharfen Analysen und seinen großen menschlichen Qualitäten. Sein ganzes Leben lang hat er Vorträge gehalten, und immer gab es genügend Zeit zur Diskussion, nicht bloß Zeit, um lediglich Fragen zu stellen. Solche Vorträge hielt er nicht nur in Holland, sondern auch in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien, in den skandinavischen Ländern sowie in den USA, Russland und Australien. Im Jahre 2000 luden wir Cajo zu einer unserer öffentlichen Diskussionsveranstaltungen in Amsterdam zum Thema „Rätekommunismus, eine Brücke zwischen Marxismus und Anarchismus?“ ein. Leider konnte Cajo nicht teilnehmen, aber angesichts gewisser Versuche, die Holländische Linke in den Anarchismus zu integrieren, schrieb uns Cajo - und wir begrüßten in unserer Presse seine Auffassung - „Ich bin auf keinen Fall ein Anarchist“ und „Über die Methode von Marx, die er in seinen Analysen anwandte und über jedwede Dialektik oder über eine wirkliche Einsicht was der Marxismus wirklich ist, darüber haben die Anarchisten nicht den blassesten Schimmer.“ (Wereldrevolutie Nr. 91).
Zuletzt besuchten wir Cajo im Jahre 2005. Einmal bei ihm daheim, und wenige Monate später in einem Pflegeheim. Da hat er uns dann nicht mehr erkannt, aber bei unserem Besuch wenige Monate zuvor sprach er noch immer viel über seine Aktivitäten, auch wenn er Namen und Orte durcheinander brachte. Entgegen Berichten in der anarchistischen Presse lebte er zuletzt nicht in „erschreckenden Umständen“. Im Pflegeheim hat man sehr gut für ihn gesorgt, und auch seine Kinder sahen dies so. Nichtsdestotrotz hat er danach nicht mehr viel Besuch von Genossen erhalten.
Cajos Archiv, eine wahre Fundgrube von fast sechs Metern Länge, wird nun im International Institute for Social History in Amsterdam aufbewahrt. Aber es waren insbesondere die mehr als 70 Jahre, in denen Cajo mit seinen vielen Fähigkeiten und Kräften im allgemeinen „gegen den Strom“ schwamm, die so imposant sind. Es war besonders das Hochhalten des proletarischen Internationalismus, welches ihn in der Geschichte der Holländischen Linken so herausragen lässt, dessen letzter Vertreter er war.
IKS, 29. Juli 2007.