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Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern auch eine materielle Notwendigkeit
Der Artikel in dieser Ausgabe kehrt zum Werk des jungen Marx 1843 zurück, um die Ursprünge seiner Methoden zur Erarbeitung des kommunistischen Programms zu untersuchen. Wir hoffen, dass diese Zusammenfassung älterer Artikel die Leser dazu animieren wird, zu den Originalartikeln zurückzugehen, die wir auf Englisch in Form eines Buches veröffentlichten, aber auch online stellten. Die in Punkt 1 bis 7 zusammengefassten Artikel sind in voller Länge in Deutsch als Broschüre und Online auf unserer Web-Site erhältlich. Bisher hat es nur wenig Reaktionen aus dem politischen proletarischen Milieu zu den Artikeln gegeben. Dennoch bieten wir sie all jenen als eine Quelle der Untersuchung und Reflexion an, die danach streben, die wahre Bedeutung und den wirklichen Inhalt der kommunistischen Revolution zu klären.
Der erste Band konzentriert sich - mit Ausnahme des ersten Artikels, der das kommunistische Gedankengut vor dem Erscheinen des Kapitalismus betrachtet und mit den frühesten Formen des proletarischen Kommunismus schließt - im Wesentlichen auf die Evolution des kommunistischen Programms in der Epoche des im Aufstieg befindlichen Kapitalismus, als die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand. Der Titel des Bandes ist eine polemische Entgegnung auf all jene, die zwar anerkannt haben, dass der so genannte Kommunismus der stalinistischen Regimes nicht gerade dem entspricht, was Marx und andere im Kopf hatten, die aber pro-kommunistische Argumente mit der Äußerung abtun, dass der Kommunismus in der Theorie zwar eine schöne Idee sein mag, aber niemals in der realen Welt funktionieren könne. Im Gegensatz dazu sind Marxisten der Ansicht, dass der Kommunismus nicht in dem Sinne eine schöne Idee ist, dass er von guten Geistern oder von einzelnen Genies erfunden wurde. Der Kommunismus ist fraglos eine Theorie oder - besser - eine Bewegung, die die theoretische Dimension mit beinhaltet. Dennoch rührt die kommunistische Theorie aus der realen Praxis einer revolutionären gesellschaftlichen Kraft her. Und zentraler Bestandteil dieser Theorie ist es, dass der Kommunismus als Gesellschaftsform an dem Punkt zu einer Notwendigkeit wird, wo der Kapitalismus nicht mehr funktioniert, wo er in wachsendem Maße in Widerspruch zu den menschlichen Bedürfnissen gerät. Doch lange bevor dieser Punkt erreicht war, waren das Proletariat und seine politischen Minderheiten nicht nur dazu gezwungen gewesen, die allgemeingültigen, historischen Ziele ihrer Bewegung in großen Zügen zu skizzieren, sondern sahen sich auch dazu veranlasst, das kommunistische Programm im Lichte der Erfahrungen zu erarbeiten, die durch die praktischen Kämpfe der Arbeiterklasse gemacht wurden.
1. „Vom primitiven Kommunismus zum utopischen Sozialismus" (International Review, Nr. 69)
Ein flüchtiger Blick auf das Inhaltsverzeichnis dieser Internationalen Revue (engl., franz. und span. Ausgabe), die im ersten Quartal 1992 herauskam, erinnert uns an den historischen Kontext, in dem diese Reihe begann. Der Leitartikel konzentriert sich auf die Explosion der UdSSR und auf die Massaker in Jugoslawien; ein anderer Text trägt den Titel: „Bemerkungen zum Imperialismus und Zerfall: hin zum größten Chaos in der Geschichte". Kurz, die IKS hatte erkannt, dass der Zusammenbruch des Ostblocks endgültig eine neue Phase im Leben (oder Tod) des dekadenten Kapitalismus eröffnet hatte, die Zerfallsphase - eine Phase, die neue Gefahren und Prüfungen für die Arbeiterklasse und somit für ihre revolutionären Minderheiten mit sich brachte. Gleichzeitig erlaubte der spektakuläre Niedergang der stalinistischen Regimes den Herrschenden, eine massive Propagandakampagne auszulösen, in der Absicht, die Arbeiterklasse, deren Kämpfe sie die letzten beiden Jahrzehnte geplagt hatten, abzustumpfen und zu demoralisieren. Ausgehend von der völlig falschen Annahme, dass Stalinismus = Kommunismus sei, wurde uns mit arroganter Selbstverständlichkeit erklärt, dass wir Zeuge des Endes des Kommunismus, des endgültigen Bankrotts des Marxismus, des Verschwindens der Arbeiterklasse, ja des Endes der Geschichte seien... Die Kommunismus-Reihen waren daher anfangs als eine Antwort auf diese bösartigen Kampagnen gedacht und konzentrierten sich auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem Stalinismus und der authentischen Vision des Kommunismus in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie wurden als kurze Artikelreihen von fünf oder sechs Artikeln ins Auge gefasst. Doch schon die ersten Artikel zeigten, dass eine gründlichere Vorgehensweise erforderlich war, und zwar aus zwei Gründen. Erstens war die Aufgabe, die Ziele des Kommunismus zu klären, von Beginn an ein ständiges Anliegen der revolutionären marxistischen Bewegung gewesen; diese Aufgabe bleibt auch heute gültig und ist nicht abhängig von den Erfordernissen unmittelbar historischer Ereignisse, seien sie noch so epochal wie der Zusammenbruch des Ostblocks. Zweitens ist die Geschichte des Kommunismus an sich nicht nur die Geschichte des Marxismus oder der Arbeiterbewegung, sondern auch die Geschichte der Menschheit.
In besagtem Artikel in der Internationalen Revue, Nr. 39, widmeten wir unsere besondere Aufmerksamkeit einem Satz, der im Brief von Marx an Ruge 1843 stand: „Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen." Der erste Artikel versucht also, die kommunistischen Träume der Menschheit zusammenzufassen. Diese Träume wurden in theoretischer Form zunächst in den antiken Gesellschaften entwickelt; doch wir mussten noch weiter zurückgehen, weil diese frühen Spekulationen in gewissem Maße auf einer realen Erinnerung an den realen, wenn auch beschränkten Kommunismus in den primitiven Stammesgesellschaften beruhten.
Die Entdeckung, dass menschliche Wesen Zigtausende von Jahren in einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat gelebt hatten, sollte sich als mächtige Waffe in den Händen der Arbeiterbewegung erweisen, denn sie schuf ein Gegengewicht zu all den Behauptungen, dass die Liebe zum Privateigentum und die Notwendigkeit einer hierarchischen Vorherrschaft ein dem menschlichen Wesen innewohnendes Bedürfnis seien. Gleichzeitig besaß die Vorgehensweise der kommunistischen Vordenker ein stark rückwärts gewandtes, mythisches Element, das sich im Nachtrauern einer unwiederbringlich verloren gegangenen Gemeinschaft äußerte. Dies war zum Beispiel im „Urkommunismus" der frühen Christen oder in den von Spartacus angeführten Sklavenaufständen der Fall, die von der Suche nach dem verlorenen Goldenen Zeitalter angetrieben wurden. Es traf auch in einem großen Umfang auf die kommunistischen Predigten von John Ball während des englischen Bauernaufstandes zu, wenngleich es hier schon klar war, dass das einzige Heilmittel gegen die gesellschaftliche Ungerechtigkeit das Gemeineigentum des Landes und der Produktionsinstrumente war.
Die kommunistischen Ideen, die im aufkeimenden Kapitalismus aufkamen, waren schon eher in der Lage, einen vorwärts gewandten Standpunkt zu entwickeln, der sich sukzessive von dieser Fixierung auf eine mythische Vergangenheit freimachte. Von der annabaptistischen Bewegung, die von Münzer im 16. Jahrhundert in Deutschland angeführt wurde, über Winstanley und die Diggers im englischen Bürgerkrieg bis hin zu Babeuf und der „Verschwörung der Gleichen" in der Französischen Revolution gab es eine Bewegung weg von der religiös-apokalyptischen Sichtweise des Kommunismus und hin zu einer wachsenden Betonung der Fähigkeit der Menschheit, sich selbst von einer ausbeuterischen Gesellschaftsordnung zu befreien. Dies wiederum spiegelte den historischen Fortschritt wider, der vom Kapitalismus ermöglicht wurde, insbesondere die Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltanschauung und das allmähliche Auftauchen des Proletariats als eine besondere Klasse in der neuen Gesellschaftsordnung. Diese Entwicklung erreichte mit dem Erscheinen der utopischen Sozialisten wie Robert Owen, Saint-Simon und Fourier ihren Höhepunkt, die eine durchdringende Kritik an den Schrecken des Industriekapitalismus übten und die Möglichkeiten, darüber hinauszugehen, bereits als gegeben ansahen, ohne allerdings in der Lage zu sein, die reale Gesellschaftskraft zu erkennen, die im Stande ist, eine menschlichere Gesellschaft herbeizuführen - das moderne Proletariat.
2. „Wie das Proletariat Marx für den Kommunismus gewonnen hatte" (International Review, Nr. 69)
Der Kommunismus war also im Gegensatz zur vulgären Interpretation keine Bewegung, die von Marx „erfunden" wurde. Wie der erste Artikel zeigte, geht der Kommunismus dem Proletariat und der proletarische Kommunismus Marx voraus. Doch so wie der Kommunismus des Proletariats einen qualitativen Sprung über alle vorherigen Formen des Kommunismus hinaus repräsentierte, so verkörperte der „wissenschaftliche" Kommunismus, der von Marx und anderen entwickelt wurde, die nacheinander seine Methoden aufgriffen, einen qualitativen Fortschritt gegenüber den Hoffnungen und Spekulationen der Utopisten.
Dieser Artikel folgt den Spuren, auf denen sich Marx, ausgehend von der kritischen Hegelianischen Philosophie und der radikalen Demokratie, in Richtung Kommunismus begeben hatte. Wie wir in der Internationalen Revue Nr. 39, betonten, handelte es sich hier um eine sehr schnelle, aber keinesfalls willkürliche Entwicklung: Marx beharrte auf eine gründliche Untersuchung aller existierenden kommunistischen Strömungen, die in Deutschland und Frankreich zu blühen begonnen hatten, besonders in Paris, wohin Marx 1844 gezogen und wo er mit Gruppen kommunistischer Arbeiter in Kontakt gekommen war. Diese Gruppen laborierten notgedrungen an einer Fülle von Konfusionen und Ideologien, die sie von den Revolutionen der Vergangenheit geerbt hatten. Doch zusammen mit den ersten embryonalen Anzeichen eines allgemeineren Klassenkampfes der Arbeiter reichten diese Manifestationen einer zutiefst historischen Bewegung aus, um Marx davon zu überzeugen, dass das Proletariat die gesellschaftliche Kraft ist, welche nicht nur, was einmalig ist, in der Lage ist, eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu etablieren, sondern auch durch ihre eigentliche Natur gezwungen ist, so zu handeln. So wurde Marx vom Proletariat für den Kommunismus gewonnen und brachte die theoretischen Waffen mit, die er von der Bourgeoisie erhalten hatte.
Von Anfang an (besonders in Die deutsche Ideologie, die sich gegen die idealistische Philosophie richtete, die das Bewusstsein als etwas betrachtete, was außerhalb der ungehobelten materiellen Wirklichkeit steht) bestand Marx darauf, dass das kommunistische Bewusstsein aus dem Proletariat kommt und dass die kommunistische Avantgarde ein Produkt dieses Prozesses ist, nicht sein Schöpfer, auch wenn sie produziert wurde, um ein aktiver Faktor in eben diesem Bewusstseinsprozess zu werden. Dies allein war bereits eine Widerlegung der These, die ein halbes Jahrhundert später von Kautsky aufgegriffen wurde, derzufolge es die sozialistische Intelligenzia sei, die das kommunistische Bewusstsein „von außen" in die Arbeiterklasse injiziere.
3. „Die Entfremdung der Arbeit ist eine Voraussetzung
für ihre Emanzipation" (International Review,
Nr. 70)
Nachdem er diesen fundamentalen Wechsel zum Standpunkt des Proletariats vollzogen hatte, begann Marx die Vision eines gewaltigen Projektes der menschlichen Emanzipation zu entwickeln, die die Existenz der revolutionären proletarischen Bewegung nun von einem schönen, aber unerreichbaren Traum in ein realisierbares gesellschaftliches Ziel umwandeln sollte. Die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte (ÖPM) von 1844 enthalten einige von Marx‘ kühnsten Einsichten über den Charakter des menschlichen Handelns in einer wirklich freien Gesellschaft. Es ist argumentiert worden, dass diese Notizbücher „vor-marxistisch" seien, da sie sich noch mit im Grunde philosophischen Konzepten wie die Entfremdung befassten, die ein Schlüsselbegriff in Hegels philosophischem System war. Und es trifft zu, dass das Konzept der Entfremdung des Menschen, der von seinen realen Kräften ferngehalten wird, nicht nur bei Hegel, sondern mehr oder weniger die ganze Geschichte hindurch existiert hatte, selbst in den frühesten Formen der Mythologie. Auch ist es natürlich richtig, dass es noch viele andere fundamentale Entwicklungen im Denken von Marx in den folgenden Jahrzehnten geben sollte. Dennoch herrscht grundsätzlich eine Kontinuität zwischen den Schriften des frühen Marx und jenen des späten Marx, der große „wissenschaftliche" Werke wie das Kapital produzierte. Als Marx die Entfremdung in den ÖPM analysierte, hatte er sie bereits aus den Wolken der Mythologie und Philosophie auf die konkrete Ebene des realen gesellschaftlichen Lebens des Menschen und seiner produktiven Tätigkeiten heruntergeholt; überdies gründeten sich seine anregenden Bilder, die er von der kommunistischen Menschheit zeichnete, auf reale menschliche Fähigkeiten. Spätere Werke wie die Grundrisse gingen vom gleichen Ausgangspunkt aus.
In den ÖPM schuf Marx die Bühne, um diese befreite Menschheit zu schildern, indem er eingehend die Natur des Problems analysiert, dem sich die Spezies gegenübersieht - ihrer Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft.
Marx identifiziert vier Facetten der Entfremdung, alle verwurzelt im fundamentalen Arbeitsprozess:
- die Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Produkt, so dass die Schöpfungen der Menschen zu Kräften werden, die ihn beherrschen: Die Maschine, die vom Arbeiter gebaut und in Bewegung gesetzt wird, kettet den Arbeiter an ihren höllischen Rhythmus; der gesellschaftliche Reichtum, der vom Arbeiter geschaffen wurde, wie das Kapital, wird zu einer unpersönlichen Macht, die das gesamte Gesellschaftsleben tyrannisiert;
- die Entfremdung von seiner produktiven Tätigkeit, so dass die Arbeit jeden Anschein eines schöpferischen Vergnügens verliert und zu einer Qual für den Arbeiter wird;
- die Entfremdung gegenüber anderen Menschen: Die entfremdete Arbeit basiert auf der Ausbeutung der einen Klasse durch eine andere, und diese fundamentale Teilung zieht viele andere nach sich, insbesondere unter der Herrschaft einer universellen Warenproduktion, in der die Gesellschaft zu einem Krieg des Jeder-gegen-jeden tendiert;
- die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen spezifischen Natur, die eine soziale und schöpferische ist und in beispielloser Weise durch die bürgerlichen Produktionsverhältnisse entleert worden ist.
Doch in der marxistischen Analyse der Entfremdung steckt kein Nachtrauern früherer, weniger deutlicher Formen der Entfremdung und auch kein Anlass zur Verzweiflung: Denn obwohl die ausbeutende Klasse ebenfalls entfremdet ist, wird erst mit dem Proletariat die Entfremdung zur subjektiven Grundlage eines revolutionären Angriffs gegen die kapitalistische Gesellschaft.
4. „Der Kommunismus: Der wahre Beginn der menschlichen Gesellschaft" (International Review, Nr. 71)
Die Schriften des frühen Marx, die diese Krankheit analysierten, zeigten auch, wie das Wohlergehen der Spezies aussehen könnte. Entgegen dem Begriff der „Egalisierung" nach unten weist Marx darauf hin, dass der Kommunismus einen riesigen Fortschritt für die Menschheit darstellt, die Lösung von Konflikten, die sie nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die gesamte Geschichte hindurch geplagt hatten - „die Auflösung des Rätsels der Geschichte". Der Mensch im Kommunismus wird nicht reduziert, sondern erhöht werden; doch er wird sich innerhalb der Möglichkeiten seiner eigenen Natur erheben. Marx unterstreicht die vielfältigen Dimensionen im gesellschaftlichen Handeln des Menschen, wenn einmal die Ketten des Kapitals abgeschüttelt sind:
- Wenn die Arbeitsteilung und vor allem die Produktion unter der Herrschaft des Geldes und Kapitals die Menschheit in eine Unendlichkeit von miteinander wetteifernden Atomen teilt, so stellt der Kommunismus die gesellschaftliche Natur des Menschen wieder her, so dass ein Teil der eigentlichen Befriedigung der Arbeit das Verständnis ist, dass sie für die Bedürfnisse anderer unternommen wird.
- Desgleichen muss die Arbeitsteilung in einzelne Individuen unterbunden werden, so dass die Produzenten nicht wie angewachsen an eine einzige Form der Tätigkeit, ob geistig oder manuell, gebunden sind: Der Produzent wird zu einem Allround-Individuum, dessen Arbeit geistige, physische, künstlerische und intellektuelle Tätigkeiten miteinander kombiniert.
- Befreit von der Not und der Knute der Zwangsarbeit, öffnet sich der Weg zu einer neuen und erhellenden Erfahrung der Welt, zu einer „Emanzipation aller Sinne"; desgleichen erlebt der Mensch sich selbst nicht mehr als ein atomisiertes Ego, das im „Gegensatz" zur Natur steht, sondern erfährt ein neues Bewusstsein von seiner Einheit mit der Natur.
5. „1848: Der Kommunismus als politisches Programm" (International Review, Nr. 72)
Diese frühen Schriften enthalten bereits ein Verständnis für die Zentralität der Produktionsverhältnisse bei der Bestimmung menschlicher Handlungen, doch war dies noch nicht zu einer kohärenten und dynamischen Darstellung der historischen Evolution ausgereift. Dies sollte bald darauf der Fall sein, in Werken wie Die deutsche Ideologie, wo Marx erstmals die Methode skizzierte, die später als historischer Materialismus bekannt wurde. Gleichzeitig war das Bekenntnis zum Kommunismus und zur proletarischen Revolution nicht „bloß" theoretischer Art; es beinhaltete notwendigerweise ein militantes, politisches Bekenntnis. Dies spiegelte den eigentlichen Charakter des Proletariats als eigentumslose Klasse wider, die innerhalb der alten Gesellschaft nicht zu wirtschaftlicher Stärke gelangen kann, sondern sich nur im Gegensatz zu ihr behaupten kann. Somit konnte der kommunistischen Transformation nur eine politische Revolution vorausgehen, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse. Und um sich darauf vorzubereiten, musste das Proletariat seine eigene politische Partei schaffen.
Es gibt viele heute, die ihre Anhängerschaft zu den Ideen von Marx bekunden, die aber, traumatisiert durch die Erfahrungen aus dem Stalinismus, keine Notwendigkeit erblicken, auf kollektive, organisierte Weise zu handeln. Dies ist sowohl dem Marxismus als auch dem Dasein des Proletariats wesensfremd, das als kollektive Klasse keine anderen Mittel für seine Sache besitzt als die Bildung von kollektiven Assoziationen; und es ist unvorstellbar, dass die höchstentwickelten Schichten der Klasse, die Kommunisten, irgendwie außerhalb dieses tiefen Bedürfnisses stünden.
Von Anfang an war Marx ein Vorkämpfer der Arbeiterklasse. Sein Ziel war es, an der Bildung einer kommunistischen Organisation mitzuwirken. Daher die Intervention von Marx und Engels in jener Gruppe, die zum Bund der Kommunisten werden sollte und 1847, auf dem eigentlichen Höhepunkt der Welle von revolutionären Erhebungen, als das Proletariat zum ersten Mal als eine separate politische Kraft auftrat, das Kommunistische Manifest veröffentlichte.
Das Manifest beginnt damit, indem sie die neue Theorie kurz umreißt, und zählt kurz die Chronik des Aufstiegs und Falls der verschiedenen Formen der Klassenausbeutung auf, die dem Erscheinen des modernen Kapitalismus vorausgegangen waren. Der Text macht keinen Hehl aus seiner Anerkennung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie, diente diese doch der globalen Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise; gleichzeitig weist er mit der Identifizierung der Widersprüche des Systems, insbesondere der ihm innewohnenden Tendenz zur Überproduktionskrise, darauf hin, dass auch der Kapitalismus, wie das Römische Reich oder der Feudalismus vor ihm, nicht für immer währen wird, sondern durch eine höhere Form des gesellschaftlichen Lebens ersetzt wird.
Das Manifest bekräftigt diese Möglichkeit, indem es auf einen zweiten fundamentalen Widerspruch im System hinweist - auf den Klassenwiderspruch zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. Die historische Entwicklung spaltet die kapitalistische Gesellschaft in zwei sich bekriegende Lager, deren Kampf entweder zur Gründung einer höheren Gesellschaftsform führt oder zum „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen".
Tatsächlich sind dies Indikatoren, die bereits die Zukunft des Kapitalismus anzeigen: eine Epoche, in der der Kapitalismus nicht mehr dem menschlichen Fortschritt dient, sondern zu einer Fessel der Produktivkräfte wird. Das Manifest ist allerdings nicht konsequent in diesem Punkt: Es sieht zwar noch immer die Möglichkeit eines Fortschritts unter der Bourgeoisie, besonders bei der Überwindung der Überreste des Feudalismus; doch an anderer Stelle nimmt es an, dass das System bereits in den Niedergang umgekippt sei und dass die proletarische Revolution bevorstehe. Nichtsdestotrotz bleibt das Manifest ein Werk wirklich gesellschaftlicher „Prophezeiungen": Nur einige Monate nach seiner Veröffentlichung bewies das Proletariat in der Praxis, dass es die neue revolutionäre Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft ist. Dies war der Beweis für die Solidität der historischen Methode, die das Manifest verkörpert.
Das Manifest war der erste richtige Ausdruck eines neuen politischen Programms und wies auf die Schritte hin, die das Proletariat unternehmen musste, um die neue Gesellschaft einzuleiten:
- die Eroberung der politischen Macht. Der Klassenkampf wird als mehr oder weniger verhüllter Bürgerkrieg beschrieben; die Revolution wird als gewaltsamer Sturz der Bourgeoisie ins Auge gefasst. Damals gab es die Idee, dass die Klassengewalt des Proletariats auf die Eroberung des bestehenden Staatsapparates abzielt; und es wurde sogar von einer friedlichen Eroberung der Macht durch „die Erkämpfung der Demokratie" gesprochen. Diese Vorgehensweise gegenüber dem bürgerlichen Staat wurde jedoch im Lichte weiterer Erfahrungen gründlich revidiert;
- die Eroberung der Macht durch das Proletariat muss auf internationaler Ebene stattfinden. Dies ist der Text, in dem Marx und Engels den unsterblichen Ruf erhoben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland" und darauf beharrten, dass die „vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder (...) eine der ersten Bedingungen seiner (des Proletariats, Red.) Befreiung" ist;
- das langfristige Ziel ist die Ersetzung eines auf Klassenteilung beruhenden Systems durch eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Vorbedingung für die freie Entwicklung aller ist". Diese Gesellschaft bedarf keines weiteren Staates mehr und wird die abstumpfende Arbeitsteilung und die Trennung zwischen Stadt und Land überwinden.
Das Manifest bildet sich nicht ein, dass eine solche Gesellschaft über Nacht erbaut werden kann; es berücksichtigt eine mehr oder weniger lange Übergangsperiode. Viele der unmittelbaren Maßnahmen, die vom Manifest als Verkörperung „despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse" vorgestellt werden - wie die Verstaatlichung der Banken und die Durchsetzung einer starken Progressivsteuer - sind mittlerweile völlig vereinbar mit dem Kapitalismus, besonders mit dem Kapitalismus in seiner Niedergangsepoche, die sich durch eine totalitäre Vorherrschaft des Staates auszeichnet. Auch hier hat die revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse mittlerweile einen viel größeren Grad an Klarheit über den ökonomischen Inhalt der proletarischen Revolution gezeitigt. Doch das Manifest bekräftigt völlig richtig das allgemeine Prinzip, dass das Proletariat nur durch die Zentralisierung der Produktivkräfte unter seiner Kontrolle zum Kommunismus gelangen kann.
6. „Die Revolution von 1848: Die kommunistische Perspektive tritt zutage" (International Review, Nr. 73)
Die realen Erfahrungen aus der Revolution von 1848 machten die Dinge klarer. In der Erkenntnis, dass eine breite soziale Erhebung bevorstand, antizipierte das Manifest bereits ihren hybriden Charakter zwischen der großen bürgerlichen Revolution von 1789 und der zukünftigen kommunistischen Revolution, indem es eine Reihe von taktischen Maßnahmen vorschlug, die dazu bestimmt waren, der Bourgeoisie und dem radikalen Kleinbürgertum in ihrem Kampf gegen den Feudalismus beizustehen und gleichzeitig den Boden für eine proletarische Revolution zu bereiten, die es unmittelbar nach dem Sieg der Bourgeoisie folgen sah.
In der Tat stand diese Perspektive nicht außerhalb der Ereignisse. Das politische Auftreten des Proletariats in den Straßen von Paris - parallel dazu in England der Aufstieg der ersten wirklichen Arbeiterpartei, der Chartisten - verbreitete Angst und Schrecken in der Bourgeoisie. Letztere realisierten, dass solch eine aufsteigende Kraft nicht leicht kontrolliert werden kann, wenn sie erst einmal gegen die feudalen Mächte losgelassen worden war. So sah sich die Bourgeoisie dazu gedrängt, Kompromisse mit dem Ancien Regime einzugehen, besonders in Deutschland. Das Proletariat war damals politisch noch nicht reif genug, um die Richtung der Gesellschaft zu bestimmen: Die kommunistischen Bestrebungen der Pariser ProletarierInnen waren eher unbewusst als beabsichtigt. Und in vielen anderen Ländern befand sich das Proletariat noch im Stadium der Herausschälung aus den sich auflösenden früheren Ausbeutungsformen.
Die Bewegungen von 1848 waren eine Feuertaufe des erst kurz zuvor gebildeten Bundes der Kommunisten. Indem er versuchte, die im Manifest befürworteten Taktiken auszuführen, widersetzte sich der Bund dem oberflächlichen Revolutionismus jener, die behaupteten, dass die proletarische Diktatur eine unmittelbare Möglichkeit sei, oder die sich in militärischen Träumereien der Befreiung Deutschlands durch das französische Bajonett verloren. Der Bund dagegen versuchte, das taktische Bündnis mit den Radikaldemokraten in Deutschland in die Tat umzusetzen. Jedoch ging er dabei zu weit; der Bund löste sich in den Demokratischen Vereinigungen auf, die von den radikalbürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien aufgestellt worden waren.
Im Lichte dieser Irrtümer und als Resultat des Denkprozesses hinsichtlich der schlimmen Repression gegen die Pariser Arbeiter und des Verrates der deutschen Bourgeoisie an ihrer eigenen Revolution zog der Bund der Kommunisten, besonders im Text von Marx über die „Klassenkämpfe in Frankreich", einige wichtige Lehren:
- die Notwendigkeit einer proletarischen Autonomie. Die Niedertracht der Bourgeoisie war zu erwarten und war beabsichtigt. Letztere würde unvermeidlich entweder einen Kompromiss mit der Reaktion eingehen oder, falls siegreich, sich gegen die Arbeiter wenden. Somit war es wichtig für die Arbeiter, ihre eigene Organisation im Verlauf der bürgerlichen Revolution zu erhalten. Dies betraf sowohl die kommunistische Avantgarde als auch die allgemeineren Organisationen der Klasse („Vereine, Komitees, etc.");
- diese Organe müssen bewaffnet werden und sogar darauf vorbereitet sein, eine Arbeiterregierung zu bilden. Darüber hinaus begann Marx zu dämmern, dass solch eine neue Macht erst durch die „Zerschmetterung" des bereits existierenden Staatsapparates entstehen kann - eine Lehre, die von den Erfahrungen der Pariser Kommune 1871 voll und ganz bestätigt wurde.
Was die Perspektive anging, so blieb es bei einer „permanenten Revolution": ein unmittelbarer Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution. Allerdings waren diese Lehren eher für die Epoche der proletarischen Revolution relevant, wie die Ereignisse in Russland 1917 zeigen sollten. Und innerhalb des Bundes der Kommunisten selbst gab es in der Tat hitzige Debatten über die Aussichten für die Arbeiterklasse nach den Niederlagen von 1848. Eine immediatistische Tendenz, die von Willich und Schapper angeführt wurde, nahm an, dass die Niederlage nur geringe Konsequenzen hatte und dass der Bund sich auf neue revolutionäre Abenteuer vorbereiten solle. Doch die Tendenz um Marx dachte tiefer über die Ereignisse nach. Sie begriff nicht nur, dass die Revolution nicht wie Phönix aus der Asche der Niederlage entstehen kann, sondern auch, dass der Kapitalismus selbst noch nicht reif war für die proletarische Revolution, die nur aus einer neuen kapitalistischen Krise kommen kann. Daher hatten es die Revolutionäre mit der Aufgabe zu tun, die Lehren aus der Vergangenheit zu bewahren und eine ernsthafte Untersuchung über das kapitalistische System anzustellen, um sein tatsächliches Schicksal zu verstehen. Diese Differenzen mündeten in der Auflösung des Bundes und für Marx in eine Periode profunder theoretischer Arbeit, die seinem Meisterstück, das Kapital, zum Leben verhalf.
7. „Das Studium des Kapitals und die kommunistischen
Grundlagen"
Teil 1: „Der geschichtliche Hintergrund" (International Review, Nr. 75)
Der Schlüssel, um die Tür zur Zukunft des Kapitalismus aufzuschließen, lag auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Zu ihren revolutionärsten Zeiten haben die Nationalökonomen der Bourgeoisie, insbesondere Adam Smith, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Charakters der kapitalistischen Gesellschaft geliefert, insbesondere zur Entwicklung der Theorie des Arbeitswertes, der die bürgerlichen „Wirtschaftsexperten" heute, in der Niedergangsepoche des Kapitalismus, den Rücken zugekehrt haben. Doch auch damals waren die besten bürgerlichen Ökonomen nicht in der Lage, diese ersten Einblicke bis zu ihrer letzten Konsequenz weiterzuentwickeln, da ihre Klassenvorurteile im Weg standen. Die tatsächliche innere Funktionsweise des Kapitals konnte sich nur vom Standpunkt des Proletariats aus erschließen, das scharfsinnige Schlussfolgerungen ziehen konnte, die für die Bourgeoisie und ihren Apologeten ungenießbar waren: Der Kapitalismus ist nicht nur eine Gesellschaft, die auf Klassenausbeutung fußt, er ist auch die letzte Form der Klassenausbeutung in der menschlichen Geschichte und hat sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit für seine Verdrängung durch eine klassenlose kommunistische Gesellschaft geschaffen.
Doch bei der Untersuchung des Charakters und Schicksals des Kapitals blieb Marx nicht an den Grenzen der kapitalistischen Epoche stehen. Im Gegenteil, der Kapitalismus konnte nur vor dem Hintergrund der gesamten menschlichen Geschichte richtig verstanden werden. So kehren das Kapital und sein „Entwurf", die Grundrisse, mit Hilfe einer fortgeschritteneren historischen Methode zu den anthropologischen und philosophischen Anliegen zurück, die die ÖPM angeregt hatten:
- die Bestätigung der Existenz einer menschlichen Natur: Der Mensch ist ist kein unbeschriebenes Blatt Papier, in jeder ökonomischen Formation aufs Neue geboren; stattdessen entwickelt der Mensch sein Wesen durch sein eigenes Handeln in der Geschichte weiter;
- die Bestätigung des Konzeptes der Entfremdung, die auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung gesehen wird: Die kapitalistische Lohnarbeit verkörpert die fortgeschrittenste Form der Entfremdung der Arbeit und ist gleichzeitig die Voraussetzung für ihre Emanzipation. Daher die Ablehnung einer rein linearen Sichtweise der Geschichte als reibungsloser Fortschritt und stattdessen die Befürwortung einer dialektischen Methode, die den historischen Fortschritt als etwas betrachtet, das durch einen widersprüchlichen Prozess geht, der auch Phasen der Regression und des Niedergangs beinhaltet.
In diesem Rahmen betrachtet, bewirkt die Dynamik der Geschichte eine wachsende Auflösung der ursprünglichen gesellschaftlichen Bande des Menschen durch die Verallgemeinerung der Warenverhältnisse: Der primitive Kommunismus und der Kapitalismus stehen an den antithetischen Enden dieses historischen Prozesses und ebnen den Weg für die kommunistische Synthese. Innerhalb dieses breiten Rahmens ist die Bewegung der Geschichte synonym für den Aufstieg und Niedergang unterschiedlicher antagonistischer Gesellschaftsformationen. Das Konzept des Aufstiegs und der Dekadenz von aufeinander folgenden Produktionsweisen ist vom historischen Materialismus nicht zu trennen; und im Gegensatz zu manch kruden Fehlkonzeptionen beinhaltet die Dekadenz eines Gesellschaftssystems überhaupt nicht einen völligen Stopp im Wachstum.
Teil 2: „Die Abschaffung des Warenfetischismus" (International Review, Nr. 76)
Bei all seiner Gründlichkeit und Komplexität ist das Kapital im Wesentlichen ein polemisches Werk. Es ist eine Tirade gegen die „wissenschaftlichen" Apologeten des Kapitalismus und somit „das sicherste Geschoß, das den Bürgern (Großgrundbesitzer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist", um die Worte von Marx zu gebrauchen.
Ausgangspunkt von Das Kapital ist die Enträtselung der Mystifikation der Ware. Der Kapitalismus ist ein System der universellen Warenproduktion: Alles ist käuflich. Die Herrschaft der Ware zieht einen Schleier über die wahre Funktionsweise des Systems. Es war somit notwendig, das Geheimnis des Mehrwerts zu enthüllen, um zu demonstrieren, dass alle kapitalistische Produktion ohne Ausnahme auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft basiert und somit die wahre Quelle aller Ungerechtigkeit und Barbarei im Leben des Kapitalismus ist.
Gleichzeitig heißt das Geheimnis des Mehrwerts zu begreifen, zu demonstrieren, dass der Kapitalismus mit tiefen Widersprüchen belastet ist, die unvermeidlich zu seinem Niedergang und schließlichem Ableben führt. Diese Widersprüche sind im eigentlichen Charakter der Lohnarbeit eingeflochten:
- die Krise der Überproduktion. Die Mehrheit der Bevölkerung im Kapitalismus ist durch den eigentlichen Charakter der Mehrarbeit Überproduzent und Unterkonsument in einem. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, alle Werte, die er produziert, innerhalb des geschlossenen Kreislaufes seiner Produktionsverhältnisse zu realisieren;
- der tendenzielle Fall der Profitrate. Nur die menschliche Arbeitskraft kann neue Werte schaffen, und dennoch zwingt die nie nachlassende Konkurrenz den Kapitalismus dazu, den Anteil menschlicher Arbeit im Verhältnis zur toten Arbeit der Maschinen zu reduzieren.
In der aufsteigenden Epoche, in der Marx gelebt hatte, konnte der Kapitalismus seine inneren Widersprüche immer wieder aufschieben, indem er immer weiter in die unermesslichen vor-kapitalistischen Regionen, die ihn umgaben, expandierte. Das Kapital begriff bereits die Realität dieses Prozesses und seiner Grenzen, doch es musste ein unvollständiges Werk bleiben, nicht nur wegen der persönlichen Einschränkungen, denen sich Marx gegenübersah, sondern auch, weil nur die reale Entwicklung des Kapitalismus den tatsächlichen Prozess klären konnte, durch den das kapitalistische System in die Epoche seines Niedergangs eintrat. Das Verständnis der Phase des Imperialismus, der kapitalistischen Dekadenz, konnte daher erst von den Nachfolgern Marx‘ - insbesondere von Rosa Luxemburg - entwickelt werden.
Die Widersprüche des Kapitalismus weisen auch auf ihre wahre Lösung hin - den Kommunismus. Eine Gesellschaft, die durch das Gesetz der Marktverhältnisse dem Chaos entgegen treibt, kann nur von einer Gesellschaft ersetzt werden, die die Lohnarbeit und die Produktion für den Austausch abschafft, einer Gesellschaft von „frei assoziierten Produzenten", in der die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr obskur, sondern einfach und klar sind. Aus diesem Grund ist das Kapital auch eine Beschreibung des Kommunismus; größtenteils im negativen Sinn, aber auch im direkteren und positiven Sinn einer Skizzierung, wie eine Gesellschaft von frei assoziierten Produzenten funktionieren könnte. Und darüber hinaus kehren das Kapital und die Grundrisse zur inspirierten Vision der ÖPM zurück, indem sie versuchen, das Reich der Freiheit zu beschreiben - um uns einen Einblick in das freie, kreative Handeln zu verschaffen, das die Essenz der kommunistischen Produktion ist.
8. „1871: die erste proletarische Revolution" (International Review, Nr. 77)
1864 fand die Periode des Rückzugs der Arbeiterklasse ein Ende. Die Arbeiter Europas und Amerikas organisierten sich in Gewerkschaften, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen. Es wurde zunehmend von der Streikwaffe Gebrauch gemacht; und die Arbeiter mobilisierten sich auch auf dem politischen Terrain, um fortschrittliche Anliegen wie den Krieg gegen die Sklaverei in den USA zu unterstützen. Diese Unruhe in der Klasse verhalf der Internationalen Arbeiterassoziation zu ihrer Existenz, wobei die Fraktion rund um Marx eine aktive Rolle bei ihrer Bildung spielte. Marx und Engels erkannten die Internationale als authentischen Ausdruck der Arbeiterklasse an, auch wenn sie sich aus vielen diversen und oft konfusen Strömungen zusammensetzte. Die marxistische Fraktion in der Internationale setzte sich dabei in vielen kritischen Debatten mit diesen Strömungen auseinander, insbesondere:
- über das Prinzip der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse gegen wohlmeinende bürgerliche Reformer, die die Klasse von oben befreien wollten, und über das Prinzip der Klassenautonomie gegenüber bürgerlichen Nationalisten wie Mazzini;
- über die Verteidigung einer proletarischen Politik und zentralisierten Organisation gegen die antipolitische Attitüde und die föderalistischen Vorurteile der Anarchisten.
Die Debatte über die Notwendigkeit für das Proletariat, die politische Dimension seines Kampfes anzuerkennen, war in einem gewissen Sinn eine Debatte darüber, ob man auf dem Gebiet der bürgerlichen Politik, des Parlaments und der Wahlen agieren soll oder nicht, und somit über die historische Perspektive der Revolution: Für die Marxisten war der Kampf um Reformen noch auf der Tagesordnung, da das kapitalistische System noch nicht in seine „Epoche der sozialen Revolution" eingetreten war. Doch 1871 tat die reale Klassenbewegung einen historischen Schritt nach vorn: die erste politische Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, die Pariser Kommune. Auch wenn Marx den „frühreifen" Charakter dieser Erhebung erkannte, war sie ein enorm wichtiger Vorläufer, der in der Frage des Verhältnisses zwischen Proletariat und bürgerlichem Staat neue Klarheit schuf. Während im Kommunistischen Manifest die Perspektive in der Übernahme des existierenden Staates bestand, bewies die Pariser Kommune, dass dieser Teil des Programms nun obsolet war und dass das Proletariat nur durch die gewaltsame Zerstörung des kapitalistischen Staates an die Macht gelangen konnte. Weit davon entfernt, die marxistische Methode zu falsifizieren, war dies eine eindrucksvolle Bestätigung Letzterer.
Diese Klärung kam nicht aus heiterem Himmel: Die marxistische Kritik am Staat geht zurück auf Marx‘ Schriften von 1843; das Manifest erblickte im Kommunismus eine staatenlose Gesellschaft; und in den Lehren des Bundes der Kommunisten aus den Erfahrungen von 1848 wurde bereits die Notwendigkeit einer autonomen proletarischen Organisation betont, ja wurde vom Zerschlagen des bürokratischen Apparates gesprochen. Doch nach der Kommune konnte dies nun in einer höheren Synthese eingegliedert werden.
Der heroische Kampf der Kommunarden machte deutlich, was die Arbeiterrevolution bedeutete:
- die Auflösung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch die Bewaffnung des Proletariats;
- die Ersetzung der privilegierten Bürokratie durch öffentliche Angestellte, die mit einem durchschnittlichen Arbeiterlohn bezahlt werden; die Ersetzung aller parlamentarischen oder semiparlamentarischen Körperschaften durch Organe der Arbeiterklasse, die die Legislative und Exekutive miteinander verbinden; und am wichtigsten von allen das Prinzip der Wahl und jederzeitigen Abwählbarkeit aller verantwortlichen Positionen der neuen Macht.
Diese neue Macht schuf den organisierten Rahmen:
- für das Bemühen, die anderen nicht-ausbeutenden Klassen hinter das Proletariat zu ziehen;
- für den Beginn der ökonomischen und sozialen Umwandlung, der den Weg zum Kommunismus anzeigte, auch wenn Letzterer in dieser Epoche und in solch einem begrenzten geographischen Kontext noch nicht verwirklicht werden konnte.
Die Kommune war also bereits ein „Halbstaat", der historisch dazu bestimmt ist, den Weg zur staatenlosen Gesellschaft freizugeben. Doch schon damals waren Marx und Engels in der Lage, einen Blick auf die „negative" Seite des Kommune-Staates zu werfen: Marx betonte, dass die Kommune nur einen organisierten Rahmen schaffen konnte, aber nicht in sich selbst die Bewegung für die soziale Emanzipation des Proletariats war; Engels beharrte darauf, dass dieser Staat ein „notwendiges Übel" blieb. Spätere Erfahrungen - die Russische Revolution von 1917-27 - sollten den Scharfsinn der beiden beweisen und enthüllen, wie wichtig es für das Proletariat war, seine eigenen autonomen Klassenorgane zu schmieden, um den Staat zu kontrollieren - Organe wie die Arbeiterräte, die unter den semi-handwerklichen Proletariern von 1871 noch nicht vorstellbar waren.
Schließlich zeigte die Kommune an, dass die Zeit der Nationalkriege in Europa vorüber war: Angesichts des Gespenstes der proletarischen Revolution vereinigten die Bourgeoisien von Frankreich und Preußen ihre Kräfte, um ihren Hauptfeind niederzuschlagen. Für das Proletariat Europas war die nationale Verteidigung zu einer Maske geworden, hinter der sich Klasseninteressen verbargen, die sich ihren eigenen gegenüber völlig feindlich verhielten.
9. „Kommunismus gegen ‚Staatssozialismus‘"(International Review, Nr.78)
Mit der brutalen Niederschlagung der Kommune sah sich die Arbeiterbewegung einer neuerlichen Periode des Rückzugs gegenüber. Die Internationale sollte dies nicht lange überleben. Für die marxistische Strömung war dies erneut eine Zeit der intensiven politischen Auseinandersetzung mit Kräften, die zwar innerhalb der Bewegung agierten, aber mehr oder weniger den Einfluss und die Weltanschauung anderer Klassen zum Ausdruck brachten. Es war eine Auseinandersetzung einerseits mit den explizit bürgerlichen Einflüssen des Reformismus und des „Staatssozialismus" und andererseits mit den kleinbürgerlichen und deklassierten Ideologien des Anarchismus.
Die Identifikation des Staatskapitalismus mit dem Sozialismus lag der großen Lüge des 20. Jahrhunderts zugrunde, dass Stalinismus gleich Kommunismus ist, so wie auch den etwas milderen „sozialdemokratischen" Versionen des gleichen Schwindels. Einer der Gründe, warum diese Lüge solch ein großes Gewicht besitzt, besteht darin, dass sie sich aus einst ehrlichen Konfusionen innerhalb der Arbeiterbewegung speist. In der aufsteigenden Periode, als sich der Kapitalismus größtenteils im Gewand der Privatkapitalisten manifestierte, konnte man leicht behaupten, dass die Zentralisierung des Kapitals, die vom Staat repräsentiert wird, einen Schlag gegen das Kapital darstelle (wie wir zum Beispiel im Kommunistischen Manifest sahen). Nichtsdestotrotz schufen marxistische Theoretiker bereits die Grundlage für eine Kritik an dieser Behauptung, indem sie demonstrierten, dass das Kapital kein rechtliches, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis ist, so dass es wenig Unterschied macht, ob der Mehrwert von einem individuellen oder von einem kollektiven Kapitalisten extrahiert wird. Darüber hinaus hatte Engels, als der Staat Ende des 19. Jahrhunderts immer energischer in die Wirtschaft zu intervenieren begann, diese bisher unausgesprochene Kritik bereits ausdrücklich artikuliert.
In der Periode nach der Auflösung der Internationale rückte die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Deutschland in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die rückständigen politischen Bedingungen, die hier noch immer herrschten, wurden auch von der Rückständigkeit der Strömung um Lassalle reflektiert, die sich durch eine abergläubische Verehrung des Staates und insbesondere des halbfeudalen Bismarck'schen Staates auszeichnete. Und selbst die von Bebel und Liebknecht angeführte marxistische Fraktion war nicht völlig frei von solchen Vorurteilen. Der Kompromiss zwischen diesen beiden Gruppen verhalf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum Leben. Das Programm der neuen Partei (1875) sah sich einer vernichtenden Kritik durch Marx (in seiner Kritik am Gothaer Programm) ausgesetzt, die die marxistische Vorgehensweise gegenüber dem Problem der Revolution und des Kommunismus, wie es damals existierte, zusammenfasste. So:
- warnte Marx gegen die Tendenz des Gothaer Programms, unmittelbare Reformen mit dem langfristigen Ziel des Kommunismus zu verwechseln, sowie vor dem Vertrauen der deutschen Partei in den Ausbeuterstaat, der angeblich nicht nur die Ausgebeuteten beschützte, sondern auch die Gesellschaft zum Sozialismus mitnehmen sollte;
- beharrten die Marxisten - für die die Bezeichnung „Sozialdemokratie" ein völlig unzureichender Begriff war - entgegen der Tendenz, die Sozialdemokratie zu einer Mehrklassenpartei der demokratischen Reform zu machen, auf den Klassencharakter der Partei als ein gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft unversöhnliches Element;
- bestanden die Marxisten entgegen substitutionistischen Ideen der Partei als eine gebildete bürgerliche Elite, die den unbedarften Arbeitern Heilung verschafft, darauf, dass Elemente aus anderen Klassen sich nur dann der proletarischen Bewegung anschließen konnten, wenn sie ihre bürgerlichen Vorurteile ablegten;
- bestanden die Marxisten entgegen den Illusionen über den Begriff eines „Volksstaates", der stückweise Reformen bringen könne, die möglicherweise zum Sozialismus führten, darauf, dass der Kommunismus eine radikale gesellschaftliche Umwälzung bedeutete und dass er erst nach einer Periode der proletarischen Diktatur, die das ultimative Verschwinden jeglicher staatlichen Form anstrebt, eingeleitet werden könne. Das Prinzip der proletarischen Diktatur wurde durch die Praxis der Pariser Kommune vollkommen bestätigt;
- bestand Marx entgegen der Forderung des Gothaer Programms nach „gerechter Verteilung" des gesellschaftlichen Produkts darauf, dass der Schlüssel jeder Bewegung zum Kommunismus die Abschaffung des Tausches und des Wertgesetzes sei;
- sprach Marx über eine Bewegung von der niederen zur höheren Stufe des Kommunismus, während das Gothaer Programm Sozialismus mit Staatseigentum verwechselte. In der ersten Stufe sei die Gesellschaft noch vom Mangel und durch das Gepräge der alten Gesellschaft gezeichnet. Die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse müssen mit Maßnahmen bekämpft werden, die die Rückkehr des Strebens nach Wertanhäufung verhindern. Solch eine Übergangsmaßnahme war das System der Arbeitsgutscheine, in denen Marx einen Schritt zur Abschaffung des Lohnsystems sah, auch wenn dies noch von „bürgerlichem Recht" eingeschränkt war.
10. „Anarchismus oder Kommunismus" (International Review, Nr. 79)
Der Kampf gegen die offen bürgerlichen Einflüsse des „Staatssozialismus" ging mit dem Kampf gegen die Überbleibsel der im Anarchismus verkörperten kleinbürgerlichen Ideologie einher. Dies war keine neue Auseinandersetzung: In Werken wie Das Elend der Philosophie hatte sich der Marxismus bereits gegen die proudhonistische Nostalgie für eine Gesellschaft von unabhängigen Produzenten, vermittelt durch den „gerechten Austausch", ausgesprochen. Ab den 1860er Jahren schien sich der Anarchismus weiterentwickelt zu haben, betrachtete sich doch zumindest Bakunins Strömung nun als kollektivistisch, ja kommunistisch. Doch in Wahrheit war auch der Bakunismus in seinem Kern der Arbeiterbewegung nicht weniger fremd als die proudhonistische Ideologie, abgesehen vom Nachteil, dass Ersterer nicht mehr als Ausdruck der Unreife der Arbeiterbewegung betrachtet werden kann, sondern sich von Anfang an gegen den fundamentalen Fortschritt richtete, der von der marxistischen Weltanschauung verkörpert wurde.
Der Konflikt zwischen Marxismus und Bakunismus, zwischen dem proletarischen und dem kleinbürgerlichen Standpunkt wurde auf mehreren Ebenen ausgefochten:
- die Frage der Organisation: Bakunins Beitrag zum Leben der Internationale bestand darin, als Verteidiger der Freiheit und lokalen Autonomie gegen übertrieben zentralistische Tendenzen, die sich im Zentralrat der Internationale ausdrückten, zu posieren. Doch die Zentralisierung ist ein organischer Ausdruck des Bedürfnisses des Proletariats nach Einheit, wohingegen die Bakunisten den Zentralrat auf einen bloßen Briefkasten stutzen wollten, um die Fähigkeit der Internationale, mit einer Stimme gegen den Klassenfeind zu sprechen, zu liquidieren. Dieses Projekt konnte nur Unordnung in den Reihen der proletarischen Bewegung stiften. Gleichzeitig waren seine Reden über Freiheit und Autonomie reine Heuchelei, da das ganze Ziel des Bakunismus darin bestand, die Internationale via eines äußerst „autoritären" Geheimordens zu infiltrieren, der auf dem freimaurerischen Modell basierte, mit „Bürger B" - Bakunin - an seiner Spitze. Der Kampf für organisatorische Prinzipien des Proletariats - der auf Transparenz und klaren Richtlinien für die Verantwortlichkeiten fußt - gegen die kleinbürgerlichen Intrigen des Bakunin-Clans war die Schlüsselfrage auf dem Kongress der Internationale 1872;
- die historische Methode: Während die marxistische Strömung für die Methode des historischen Materialismus stand, für das Verständnis, dass das Handeln der Arbeiterbewegung im Verhältnis zu den objektiven historischen Bedingungen, mit denen sie konfrontiert ist, definiert werden muss, lehnte Bakunin dieses Vorgehen ab und befürwortete den Gedanken einer ewig gültigen Freiheit und Gerechtigkeit, wobei er argumentierte, dass die Revolution jederzeit möglich sei;
- das Subjekt der Revolution: Während der Marxismus erkannt hatte, dass die Klasse, die einzig und allein dazu bestimmt ist, die Revolution anzuführen - das moderne Proletariat -, sich noch im Formierungsprozess befand, standen die Bakunisten, für die die Revolution ein Großbrand war, der gleichermaßen von Bauern, Halbproletariern und Banditen-Rebellen wie von Arbeitern entfacht werden konnte, dem gleichgültig gegenüber;
- der politische Charakter des Klassenkampfes: Da für die Marxisten die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand, war es für die Arbeiterklasse notwendig, sich selbst als politische Kraft innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu konsolidieren, was bedeutete, sich selbst in Gewerkschaften und ähnlichen Verteidigungsorganen zu organisieren und auf dem bürgerlichen politischen Terrain des Parlaments zu intervenieren, um die eigenen Interessen auf legale Weise durchzusetzen. Die Bakunisten jedoch lehnten jegliche parlamentarische Tätigkeit prinzipiell und - oberflächlich zumindest - überhaupt jeglichen Kampf ab, der nicht der Abschaffung des Kapitalismus galt; ferner erforderte - nach ihnen - der Sturz des Kapitalismus nicht die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, sondern die unmittelbare „Auflösung" jeglicher Staatsform. Die Marxisten dagegen zogen die wirklichen Lehren aus der Kommune: dass die Arbeiterrevolution in der Tat die Ergreifung der politischen Macht bedeutet, dass aber diese Macht neuartig ist - eine Macht, mit der das gesamte Proletariat, besser als jede privilegierte Elite, direkt die Verwaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens ausüben kann. Und in der Praxis erwiesen sich die ultrarevolutionären Sprüche der Anarchisten als dünnes Furnier über ihrer opportunistischen Rolle als Wurmfortsatz der Bourgeoisie, wie sich in Spanien zeigte, wo sie sich an den lokalen Behörden beteiligten, die sich keineswegs vom kapitalistischen Staat getrennt hatten;
- die Frage der künftigen Gesellschaft: Der wahre Charakter des Anarchismus als Widerspiegelung der konservativen Weltanschauung kleinbürgerlicher Schichten, die von der Kapitalkonzentration ruiniert worden waren, war nirgendwo deutlicher als in ihrer Vision einer künftigen Gesellschaft. Dies trifft auf die „kollektivistischen" Bakunisten nicht weniger zu als auf Proudhon: Besonders Guillaumes Text „Über den Aufbau der neuen Gesellschaft" betont, dass die vielen Produzenten-Assoziationen und Kommunen, die nach der Revolution ins Leben gerufen werden, mit den guten Diensten einer „Tauschbank" verknüpft werden sollten, die das Geschäft des Kaufs und Verkaufs für die Gesellschaft organisiert. Im Gegensatz dazu beharrten die Marxisten darauf, dass in einer wirklich „kollektivistischen" Gesellschaft die Produzenten nicht ihre Produkte austauschen, da diese bereits Produkt und „Eigentum" der Gesamtheit der Gesellschaft sind. Die Fortführung der Warenverhältnisse kann nur eine Reflexion auf die Existenz von Privateigentum sein und dient als Humus für das Wachsen neuer Formen des Kapitalismus.
11. „Der späte Marx: vergangener und zukünftiger Kommunismus" (International Review, Nr. 81)
Während seiner letzten Lebensjahre widmete Marx einen Gutteil seiner intellektuellen Energie dem Studium archaischer Gesellschaften. Die Veröffentlichung von Morgans Ancient Society und Fragen, die ihm von der russischen Arbeiterbewegung über die Perspektive einer Revolution in Russland gestellt wurden, veranlassten ihn zu einem intensiven Studium, das uns zwar sehr unvollständige, aber äußerst wichtige Ethnologische Notizbücher hinterlassen hat. Diese Studien regten auch Engels‘ großes anthropologisches Werk Über die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates an.
Morgans Werk über die nordamerikanischen Indianer war für Marx und Engels eine klare Bestätigung ihrer Thesen über den primitiven Kommunismus: Entgegen der konventionellen bürgerlichen Vorstellung, dass Privateigentum, gesellschaftliche Hierarchie und geschlechtliche Ungleichheit der menschlichen Natur immanent sind, enthüllte Morgans Untersuchung: Je älter die Gesellschaftsformation, desto mehr Gemeineigentum, desto kollektiver der Entscheidungsprozess, desto mehr fußte das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf gegenseitigem Respekt. Dies bedeutete eine ungeheure Unterstützung für das kommunistische Argument gegen die Mythen der Bourgeoisie. Gleichzeitig befand sich das Hauptobjekt von Morgans Untersuchungen - die Gesellschaft der Irokesen - bereits im Übergang von der früheren Form der „Wildheit" zur Stufe der Zivilisation oder Klassengesellschaft; und die Formen des Erbrechts, die im Clan bzw. im Gens-System eingepflanzt waren, stellten schon die Keime des Privateigentums dar, der den Humus für die Entstehung der Klassen und des Staates bilden sowie für die „historische Niederlage des weiblichen Geschlechts" sorgen sollte.
Marx‘ Annäherung an die primitive Gesellschaft basierte auf seiner materialistischen Methode, die die historische Entwicklung von Gesellschaften als in letzter Instanz durch die Änderungen in ihrer ökonomischen Produktionsweisen bestimmt sieht. Diese Änderungen brachten das Ableben der primitiven Gemeinde mit sich und ebneten den Weg für das Erscheinen entwickelterer Gesellschaftsformationen. Doch diese Sichtweise des historischen Fortschreitens war dem kruden bürgerlichen Evolutionismus radikal entgegengesetzt, der einen rein linearen Aufstieg aus der Dunkelheit ans Licht sah, welcher in der blendenden Pracht der bürgerlichen Zivilisation kulminierte. Marx‘ Sichtweise war vollkommen dialektisch: Weit davon entfernt, die primitive kommunistische Gesellschaft als halb-menschlich abzutun, drücken die Notizbücher einen tiefen Respekt für die menschlichen Qualitäten der Stammesgemeinschaft aus: ihre Fähigkeit zur Selbstregierung, die unvorstellbare Kraft ihrer künstlerischen Kreationen, ihre Geschlechtergleichheit. Die einschränkenden Begleiterscheinungen der primitiven Gesellschaft - insbesondere die Restriktionen für das Individuum und die Separierung der Menschheit in getrennte Stammeseinheiten - wurden vom historischen Fortschritt überwunden. Doch die positive Seite dieser Gesellschaften wird in der kommunistischen Zukunft auf einer höheren Ebene wiederhergestellt werden müssen.
Im Gegensatz zu jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels zu treiben versuchten, indem sie Letzteren beschuldigten, ein gewöhnlicher „Evolutionist" zu sein, wurde diese dialektische Sichtweise der Geschichte von Engels geteilt, was deutlich in Der Ursprung der Familie... demonstriert wird.
Das Problem der primitiven und vor-kapitalistischen Gesellschaften war nicht einfach eine Frage der Vergangenheit. Die 1870er und 1880er Jahre waren eine Zeit, in der sich der Kapitalismus, nachdem er die Aufgaben der bürgerlichen Revolution im alten Europa erfüllt hatte, auf die imperialistische Phase zubewegte, in der die verbliebenen nicht-kapitalistischen Gebiete des Globus‘ aufgeteilt wurden. Die proletarische Bewegung musste also eine klare Position zur Kolonialfrage beziehen, nicht zuletzt weil es in ihren Reihen Strömungen gab, die den Begriff des „sozialistischen Kolonialismus" vertraten, eine frühe Form des Chauvinismus, dessen ganze Gefahr sich 1914 entblößte.
Die Unterstützung der fortschrittlichen Mission des Imperialismus stand für die Revolutionäre außer Frage. Doch da weite Teile des Planeten noch von vor-kapitalistischen Produktionsformen beherrscht wurden, war es notwendig, eine kommunistische Perspektive für diese Regionen zu erarbeiten. Dies wurde in der russischen Frage konkretisiert: Die Begründer des Kommunismus in Russland schrieben an Marx, um ihn über seine Haltung gegenüber dem archaischen Kommunismus, der agrarischen Mir, zu befragen, die im zaristischen Russland überlebt hatte. Könnte diese Formation als Grundlage für eine kommunistische Entwicklung in Russland dienen? Und - im Gegensatz zu den Erwartungen einiger seiner „marxistischen" Anhänger in Russland, die sich über den Inhalt der Antwort von Marx ausschwiegen - zog Marx den Schluss, dass es keine unvermeidliche Stufe der „bürgerlichen Revolution" in Russland geben muss und dass die Agrargemeinde durchaus als Grundlage für eine kommunistische Umwandlung dienen kann. Doch es gab einen wichtigen Vorbehalt: Dies kann nur geschehen, wenn die russische Revolution gegen den Zarismus das Signal zu einer proletarischen Revolution im Westen ist.
Diese ganze Episode zeigt, dass die Methode von Marx keineswegs beschränkt oder orthodox war. Im Gegenteil, er lehnte die groben Schemata der historischen Entwicklung ab, die einige Marxisten aus seinen Prämissen zogen, und prüfte sowie revidierte, sofern notwendig, stets seine Schlussfolgerungen. Doch sie offenbart auch seine prophetische Gabe: Auch wenn die kapitalistische Entwicklung in Russland die Mir im Wesentlichen unterminierte, sollte Marx‘ Ablehnung einer Stufentheorie der Revolution in Russland einen Nachhall in Trotzkis Theorie der permanenten Revolution und in Lenins Aprilthesen finden, die Marx in der Erkenntnis folgten, dass das Schicksal einer revolutionären Umwälzung in Russland unmittelbar mit der proletarischen Revolution in Westeuropa verknüpft war.
12. „1883-1895: Die Sozialdemokratie treibt die Sache des Kommunismus voran" (International Review, Nr. 84)
Das Aufkommen „sozialdemokratischer" Parteien in Europa war ein wichtiger Ausdruck der Wiederbelebung des Proletariats nach der niederschmetternden Niederlage der Kommune. Trotz ihrer Irritation über den Begriff „Sozialdemokratie" unterstützten Marx und Engels enthusiastisch die Bildung dieser Parteien, die einen Fortschritt gegenüber der Internationale in zwei Punkten markierten: Erstens verkörperten sie eine klarere Unterscheidung zwischen den allgemeinen Einheitsorganen der Klasse (damals besonders die Gewerkschaften) und der politischen Organisation, die die fortgeschrittensten Elemente der Klasse um sich scharte. Und zweitens konstituierten sie sich auf der Grundlage des Marxismus.
Zweifellos gab es von Anbeginn ernsthafte Schwächen in den programmatischen Grundlagen dieser Parteien. Auch die marxistische Führung in ihnen war häufig von all dem ideologischen Ballast erdrückt; und mit dem Wachsen ihres Einflusses wurden sie zu einem Anziehungspunkt für alle Arten bürgerlicher Reformisten, die sich feindlich gegenüber dem Marxismus verhielten. Die Periode der kapitalistischen Expansion Ende des 19. Jahrhunderts schuf die Bedingungen für die Zunahme eines immer offeneren Opportunismus innerhalb dieser Parteien, für einen Prozess der inneren Degenerierung, der im großen Verrat von 1914 kulminierte.
Dies hatte viele pseudoradikale politische Strömungen, die gewöhnlich behaupteten, kommunistisch zu sein, aber tief vom Anarchismus beeinflusst waren, dazu verleitet, die ganze Erfahrung der Sozialdemokratie en bloc abzulehnen, sie als eine Widerspiegelung und Adaption der bürgerlichen Gesellschaft abzutun. Doch damit wurde die tatsächliche Kontinuität der proletarischen Bewegung und die Art und Weise, in der sie zu einem Verständnis für ihr historisches Ziel gelangt, völlig verleugnet. Die besten Elemente der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert - von Lenin bis Luxemburg, von Bordiga bis Pannekoek - gingen durch die Schule der Sozialdemokratie und hätten ohne sie nicht existiert. Es ist kein Zufall, dass die ahistorische Methode, die zur pauschalen Verurteilung der Sozialdemokratie führte, immer häufiger damit schloss, Engels, ja den Marxismus selbst in den Mülleimer der Geschichte zu werfen, und somit die anarchistischen Wurzeln ihrer Denkweise enthüllte.
Entgegen der Versuche, Engels von Marx zu trennen und ihn als gewöhnlichen Reformisten darzustellen, ist es evident, dass Engels‘ Polemik gegen die realen bürgerlichen Einflüsse, die auf die Sozialdemokratie wirkten, - insbesondere sein Anti-Dühring - eine fulminante Verteidigung kommunistischer Prinzipien darstellte:
- die Bestätigung der unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus, die in der eigentlichen Natur der Produktion und der Realisierung des Mehrwerts liegen;
- die Kritik an der Staatsintervention, die als eine Assoziation der Produzenten dargestellt wird, die sich der Lohnarbeit und Warenproduktion entledigt hat;
- die wiederholte Feststellung, dass das höchste Ziel des Kommunismus die Überwindung der Entfremdung und der wahre Beginn der menschlichen Geschichte ist.
Auch war Engels kein einsamer Rufer in den sozialdemokratischen Parteien. Ein kurzes Studium des Werkes von August Bebel und William Morris bestätigt dies: Die Befürwortung der Idee, dass der Kapitalismus überwunden werden müsse, weil seine Widersprüche in wachsende Katastrophen für die Menschheit mündeten; die Ablehnung der Identifizierung des Staatseigentums mit dem Sozialismus; die Notwendigkeit für die revolutionäre Arbeiterklasse, eine neue Form der Macht zu etablieren, wie sie von der Pariser Kommune vorgezeichnet wurde; die Erkenntnis, dass der Sozialismus die Abschaffung von Handel und Geld beinhaltet; das Verständnis, dass der Sozialismus nicht in einem Land errichtet werden kann, sondern die vereinte Aktion des Weltproletariats erfordert; die internationalistische Kritik am kapitalistischen Kolonialismus und die Ablehnung des nationalen Chauvinismus vor allem im Zusammenhang mit den zunehmenden Rivalitäten zwischen den imperialistischen Großmächten - diese Positionen waren den sozialdemokratischen Parteien nicht fremd, sondern drückten ihren fundamental proletarischen Kern aus.
13. „Die Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Wie die Revolutionäre am Ende des 19. Jahrhunderts die Frage betrachtete" (International Review, Nr. 85)
Nur wenn man sich des Mythos‘ entledigt, dass die Sozialdemokratie vor 1914 einen bürgerlichen Charakter besessen habe, kann man eine seriöse Untersuchung über die Stärken und die Grenzen der Art und Weise anstellen, in der sich die Revolutionäre die Umwandlung des Gesellschaftslebens und die Eliminierung einiger der drückendsten Probleme der Menschheit vorstellen konnten.
Eine wichtige Frage, die sich dem kommunistischen Denken im 19. Jahrhundert stellte, war die „Frauenfrage". Schon in den Manuskripten von 1844 hatte Marx argumentiert, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau in jeder Gesellschaft ein Schlüssel zum Verständnis war, wie nah oder wie weit die betreffende Gesellschaft von der Verwirklichung des Menschen entfernt war. Die Werke von Engels, Über die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates an, und von Bebel, Die Frau und der Sozialismus, bezeugten die historische Weiterentwicklung der Frauenunterdrückung, die mit der Abschaffung des primitiven Kommunismus und dem Auftreten des Privateigentums einen großen Schritt tat, jedoch auch in den entwickeltsten Formen der kapitalistischen Zivilisation ungelöst blieb. Diese historische Annäherung ist per Definition eine Kritik an der feministischen Ideologie, die dazu neigt, die Unterdrückung der Frauen zu einem angeborenen, biologischen Element des Mannes und somit zu einem ewigen Attribut der menschlichen Bedingungen zu machen. Auch wenn der Feminismus sich hinter einer scheinbar radikalen Kritik am Sozialismus versteckte, dem sie eine rein ökonomische Transformation vorhält, offenbarte er seine im Wesentlichen konservative Herangehensweise. Der Kommunismus ist keineswegs eine rein ökonomische Umwandlung. Denn so wie er beginnt, nämlich mit dem politischen Sturz des bürgerlichen Staates, so erfordert sein äußerstes Ziel - die tief greifende Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse - die Eliminierung eben jener ökonomischen Kräfte, die sich hinter dem Konflikt zwischen Mann und Frau sowie hinter der Umwandlung der Sexualität in eine Ware verbergen.
So wie der Feminismus den Marxismus fälschlicherweise beschuldigt, „nicht weit genug zu gehen", so behaupten die Umweltaktivisten - indem sie die Lüge wiederholen, dass Marxismus gleich Stalinismus ist - , dass der Marxismus nur eine weitere „produktivistische" Ideologie sei, die für die Vergewaltigung der natürlichen Umwelt im 20. Jahrhundert mit verantwortlich sei. Dieser Vorwurf wurde auch auf einer etwas philosophischeren Ebene geäußert, besonders gegen die Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts, deren Methodik oft mit einer rein mechanistischen Art des Materialismus identifiziert wurde, mit einem unkritischen „Wissenschaftskult", der dazu neige, den Menschen von der natürlichen Welt zu abstrahieren, so wie er vom Kapital behandelt wird: als ein totes Ding, das gekauft, verkauft und ausgebeutet werden kann. Auch hier befindet sich Engels oft unter den als schuldig Ausgemachten. Doch auch wenn es zutrifft, dass diese mechanistischen Tendenzen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien existierten und gar überhand nahmen, als sich der Degenerationsprozess beschleunigte, so ist es genauso richtig, dass ihre besten Elemente stets ein ganz anderes Vorgehen vertraten. Und auch hier gibt es eine vollkommene Kontinuität zwischen Marx und Engels, nämlich in der Erkenntnis, dass die Menschheit Teil der Natur ist und dass der Kommunismus nach Jahrtausenden der Entfremdung eine echte Aussöhnung zwischen Mensch und Natur bringen wird.
Diese Vision beschränkte sich nicht auf eine unerreichbar ferne Zukunft; in den Werken von Marx, Engels, Bebel und anderen gründete sie sich auf ein konkretes Programm, das das Proletariat in Gang setzen müsse, sobald es an die Macht gelangt sei. Dieses Programm wurde in der Formulierung zusammengefasst: „Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land". Der Stalinismus an der Macht interpretierte diese Phrase auf seine Weise - mit der Rechtfertigung der Vergiftung des Landes und des Aufbaus von öden Baracken, in denen die ArbeiterInnen hausen sollten. Doch für die wirklichen Marxisten des 19. Jahrhunderts bedeutete die Phrase „Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land" nicht eine besessene Urbanisierung des Globus, sondern die Eliminierung der überquellenden Städte und die harmonische Verteilung der Menschheit auf dem ganzen Planeten. Dieses Projekt ist in der heutigen Welt der unermesslichen Megacitys und der zügellosen Vergiftung der Umwelt mehr denn je relevant.
14. „Die Umwandlung der Arbeit nach den Vorstellungen der Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts" (International Review, Nr. 86)
Als Künstler, der sich mit Haut und Haaren der sozialistischen Bewegung angeschlossen hatte, befand sich William Morris an der richtigen Stelle, um über die Umwandlung der Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft zu schreiben, da er sowohl den Seelen zerstörenden Charakter der Arbeit im Kapitalismus als auch die radikalen Möglichkeiten kannte, entfremdete Arbeit durch eine wahrhaft schöpferische Tätigkeit zu ersetzen. In seinem visionären Roman Kunde aus dem Nirgendwo wird schlicht festgestellt, dass „Glück ohne glückliches Tageswerk unmöglich" ist. Dies stimmt perfekt mit der marxistischen Konzeption, die Arbeit ins Zentrum des menschlichen Leben zu rücken, überein: Der Mensch hat sich selbst durch Arbeit geschaffen, aber er hat sich unter Bedingungen geschaffen, die seine Entfremdung erzeugten. Aus diesem Grund kann die Überwindung der Entfremdung nicht ohne eine gründliche Umwandlung der Arbeit erreicht werden.
Der Kommunismus ist im Gegensatz zu einigen, die in seinem Namen sprechen, nicht „gegen die Arbeit". Selbst im Kapitalismus drückt die Ideologie der „Arbeitsverweigerung" eine rein individuelle Revolte marginaler Klassen oder Schichten aus. Und eine der ersten Maßnahmen der proletarischen Macht wird es sein, eine allgemeine Arbeitspflicht durchzusetzen. In seinen Frühphasen enthält der revolutionäre Prozess unvermeidlich ein Element der Einschränkung, da es unmöglich ist, den Mangel ohne eine mehr oder weniger lange Übergangsperiode abzuschaffen, die sicherlich beträchtliche materielle Opfer beinhaltet, besonders in der Anfangsphase des Bürgerkriegs gegen die alte herrschende Klasse. Doch das Fortschreiten zum Kommunismus kann an dem Grad gemessen werden, mit dem die Arbeit aufhört, eine Form des Opfers zu sein, und zu einem positiven Vergnügen wird. In seinem Essay Nützliche Arbeit versus unnützliche Arbeit identifiziert Morris drei wesentliche Aspekte der Arbeit:
- dass die Arbeit von der „Hoffnung auf Erholung" beseelt ist: Die Reduzierung des Arbeitstages muss ein unmittelbares Mittel der siegreichen Revolution sein, andernfalls wird es für die Mehrheit der Arbeiterklasse unmöglich sein, eine aktive Rolle im revolutionären Prozess zu spielen. Der Kapitalismus hat bereits die Bedingungen für diese Maßnahme geschaffen, indem er die Technologie entwickelte, die - wenn sie einmal vom Profitstreben befreit ist - sehr gut dazu benutzt werden kann, die Menge an repetitiven und unangenehmen Aufgaben, die im Arbeitsprozess involviert sind, zu reduzieren. Gleichzeitig könnte die riesige Masse an menschlicher Arbeitskraft, die in der kapitalistischen Produktion überflüssig zu werden droht - in Gestalt massiver Arbeitslosigkeit oder in Form von Arbeit, die keinem nützlichen Zweck dient (Bürokratie, Rüstungsproduktion, etc.) -, für nützlichere Produktion oder Dienste eingesetzt werden. Auch dies würde helfen, den Arbeitstag für alle zu reduzieren. Diese Beobachtungen wurden bereits von Engels, Bebel und Morris gemacht, und sie treffen in der dekadenten Epoche des Kapitalismus mehr denn je zu;
- dass es eine „Hoffnung auf Ergebnisse" gibt: Mit anderen Worten, die Arbeiter sollten ein Interesse daran haben, was produziert wird, sei es, weil dies wichtig für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist oder schlicht wegen der eigentlichen Schönheit des Produktes. Schon zu Lebzeiten von Morris besaß der Kapitalismus eine große Gabe darin, schäbige und nutzlose Produkte herzustellen, doch die Massenproduktion von Trödel und Hässlichem im dekadenten Kapitalismus würde wahrscheinlich seine schlimmsten Albträume übertreffen;
- dass es eine „Hoffnung auf Vergnügen an der Arbeit selbst" gibt. Morris und Bebel bestehen darauf, dass die Arbeit in angenehmen Umständen ausgeführt werden soll. Im Kapitalismus ist die Fabrik ein Modell für die Hölle auf Erden; die kommunistische Produktion wird den assoziierten Charakter der Fabrikarbeit erhalten, jedoch in einer ganz unterschiedlichen Umgebung. Gleichzeitig muss die kapitalistische Arbeitsteilung - die so viele ProletarierInnen dazu verdammt, stumpfsinnige, repetitive Arbeiten zu verrichten - überwunden werden, so dass jeder Produzent eine Balance zwischen körperlicher und geistiger Arbeit erreicht und imstande ist, sich selbst einer Vielfalt von Aufgaben zu widmen und eine Vielzahl an Fertigkeiten zu entwickeln, um eben diese Aufgaben auszuführen. Darüber hinaus wird die Arbeit der Zukunft vom frenetischen Tempo befreit sein, das die Jagd nach den Profiten erfordert, und den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen angepasst sein.
Fourier mit seiner bemerkenswerten Vorstellungskraft hat im Zusammenhang mit seinen „Phalansterien" von einer Arbeit gesprochen, die auf „leidenschaftlicher Anziehung" basierte. Er ging davon aus, dass die tägliche Arbeit gleichsam zum Spiel wird. Marx, der Fourier sehr bewunderte, argumentierte, dass wirklich schöpferische Arbeit auch eine „verdammt ernste Angelegenheit" sei oder, wie er es in den Grundrissen nannte: „Ein Mensch kann nicht wieder zum Kind werden, ohne kindlich zu werden". Jedoch fährt er fort: „Aber findet er nicht Freude an der Naivität des Kindes und muss er sich nicht anstrengen um auf einem höheren Niveau zur Wahrheit zu gelangen?" (eigene Übersetzung). Die kommunistische Tätigkeit wird den alten Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel überwunden haben.
Diese Skizzen der kommunistischen Zukunft waren nicht utopisch, da der Marxismus bereits demonstriert hatte, dass der Kapitalismus die materiellen Bedingungen dafür geschaffen hatte, damit die tägliche Arbeit endlich dergestalt umgewandelt wird. Der Marxismus hat zudem die gesellschaftliche Kraft identifiziert, die dazu gezwungen wird, diese Umwandlung vorzunehmen, eben weil sie das letzte Opfer der Entfremdung der Arbeit ist.
15. „1895-1905: Parlamentarische Illusionen verbergen die Perspektive der Revolution" (International Review, Nr. 88)
Die Diktatur des Proletariats war seit Anfang an ein fundamentales Konzept des Marxismus gewesen. Frühere Artikel zeigten, dass sie nie eine statische Idee war, sondern weiterentwickelt wurde und im Lichte des proletarischen Kampfes immer konkreter wurde. Desgleichen war die Verteidigung der proletarischen Diktatur gegen die vielen Formen des Opportunismus stets ein konstantes Element im Werdegang des Marxismus gewesen. So war Marx 1875, als er seine Argumente auf die Erfahrungen der Pariser Kommune stützte, in der Lage, eine vernichtende Kritik am Lassalleanischen Begriff des „Volksstaates" zu üben, der im Gothaer Programm der neuen Sozialdemokratischen Partei in Deutschland Eingang gefunden hatte.
Gleichzeitig beinhaltet dies, da die Perspektive der proletarischen Macht aus dem erbarmungslosen Kampf gegen die vorherrschende Ideologie geboren wird, auch einen Kampf gegen die Auswirkungen, den diese Ideologie selbst auf die scharfsinnigsten Fraktionen der Arbeiterbewegung hatte. Selbst nach der Erfahrung der Pariser Kommune hielt Marx zum Beispiel in einer Rede vor dem Haager Kongress von 1872 daran fest, dass in zumindest einigen Ländern das Proletariat friedlich, mittels des demokratischen Apparates des existierenden Staates, zur Macht gelangen könne.
In den 1880er Jahren wurde die deutsche Partei - die führende Partei in der internationalen Bewegung - vom Bismarck-Regime für außergesetzlich erklärt, was ihre revolutionäre Integrität zu bewahren half. Selbst da, wo Zugeständnisse gegenüber der bürgerlichen Demokratie fortbestanden, war es die vorherrschende Ansicht, dass die proletarische Revolution notwendigerweise den erzwungenen Sturz der Bourgeoisie erfordert. Und die fundamentale Lehre aus der Kommune - dass der herrschende Staat nicht erobert werden kann, sondern in Stücke zerschlagen werden muss - war keineswegs vergessen worden.
In der sich anschließenden Periode jedoch schuf die Legalisierung der Partei, der Zustrom von kleinbürgerlichen Elementen und vor allem die spektakuläre Expansion des Kapitalismus sowie der daraus folgende Zugewinn an realen Reformen für die Arbeiterklasse den Boden für das Wachstum eines deutlicher prononcierten Reformismus innerhalb der Partei. Der Aufstieg einer „staatssozialistischen" Tendenz um Vollmar und insbesondere die revisionistischen Theorien von Eduard Bernstein strebten danach, die sozialistische Bewegung davon zu überzeugen, ihre Ansprüche zugunsten einer gewaltsamen Revolution aufzugeben und sich offen zur Partei der demokratischen Reform zu erklären.
In einer proletarischen Partei trifft eine solch offenkundige Penetration bürgerlicher Einflüsse unvermeidlich auf den erbitterten Widerstand jener, die das proletarische Herz der Organisation repräsentieren. In der deutschen Partei trat den opportunistischen Tendenzen am famosesten Rosa Luxemburg mit ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution entgegen, doch der Aufstieg linker Faktionen war ein internationales Phänomen.
Zunächst schienen die Schlachten, die von Luxemburg, Lenin und anderen angeführt wurden, erfolgreich zu sein. Die Revisionisten wurden nicht nur von der Roten Rosa, sondern auch vom „Papst" des Marxismus, Karl Kautsky, verdammt.
Nichtsdestotrotz erwiesen sich die Siege der Linken als zerbrechlicher, als sie zunächst erschienen. Die Ideologie der Demokratie drang langsam in die gesamte Bewegung ein; selbst Engels blieb nicht davon ausgenommen. In seiner 1895er Einführung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich von Marx wies Engels richtigerweise darauf hin, dass eine simple Flucht auf die Barrikaden und in den Straßenkampf nicht mehr ausreichte, um das alte Regime ins Wanken zu bringen, und dass das Proletariat das Kräftegleichgewicht massiv zu seinem Gunsten beeinflussen müsse, ehe es zum Angriff bläst. Dieser Text wurde von der Führung der deutschen Partei so verzerrt, dass es den Anschein hatte, als sei Engels gegen jegliche proletarische Gewalt. Doch die Opportunisten waren, wie Luxemburg später hervorhob, nur deswegen dazu in der Lage gewesen, weil es in der Tat Schwächen in Engels‘ Argumentation gab: Die Schaffung einer politischen Kraft des Proletariats wurde mehr oder weniger mit dem allmählichen Wachstum der sozialdemokratischen Parteien und ihres Einflusses auf der parlamentarischen Bühne identifiziert.
Dieser Fokus auf den parlamentarischen Gradualismus wurde besonders von Kautsky theoretisiert, der unbestritten gegen die offenen Revisionisten opponierte, aber in wachsendem Maße für ein konservatives „Zentrum" stand, das eine Scheineinheit der Partei höher bewertete als die programmatische Klarheit. In solch folgenreichen Werken wie Die soziale Revolution setzte Kautsky die proletarische Machtergreifung mit der Erringung der parlamentarischen Mehrheit gleich, auch wenn er klar machte, dass auch in solch einer Lage die Arbeiterklasse dazu bereit sein müsse, den Widerstand der Konterrevolution zu unterdrücken. Diese politische Strategie ging auch mit einem ökonomischen „Realismus" einher, der den wahren Inhalt des sozialistischen Programms - die Abschaffung der Lohnarbeit und der Warenproduktion - aus den Augen verlor und stattdessen den Sozialismus als staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens betrachtete.
Der Artikel in der nächsten Ausgabe der Internationalen Revue wird die zweite Artikelserie zusammenfassen, die die Zeit zwischen 1905 und dem Ende der ersten großen internationalen revolutionären Welle umfasst. Zunächst wird er aufzeigen, wie die Frage von Form und Inhalt der Revolution durch eine scharfe Debatte über die neuen Formen des Klassenkampfes geklärt wurde, die zu entstehen begannen, als sich der Kapitalismus dem Scheitelpunkt zwischen seiner aufsteigenden und seiner dekadenten Epoche näherte.
CDW, 11. Dezember 2005