Gespeichert von Weltrevolution am
Dieser Text ist eine Übersetzung eines Artikels der spanischen Sektion der IKS in Spanien.
Heute verkündet der französische Präsident Sarkozy, dass der „Kapitalismus auf ethischen Grundlagen neu aufgebaut werden muss“. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel greift die Spekulanten an. Der spanische Ministerpräsident weist anklagend auf die „Marktliberalen“, die vorgeben, dass die Märkte sich ohne Staatsinterventionen regulieren können. Sie alle erzählen uns, dass diese Krise das Ende des „neoliberalen“ Kapitalismus eingeläutet habe und dass die Hoffnungen sich nun auf eine „andere Art des Kapitalismus“ richten. Dieser neue Kapitalismus würde auf der Produktion basieren und nicht auf den Finanzen, sich von den parasitären Schichten der Finanzhaie und Spekulanten befreien, die als Verfechter der „Deregulierung“, der „Einschränkung des Staates“ und des Vorrangs der privaten Interessen über die „öffentlichen Interessen“ dargestellt werden. Ihren Worten zufolge ist es nicht der Kapitalismus selbst, der kollabiert, sondern eine besondere Form des Kapitalismus. Die linksbürgerlichen Gruppen (Stalinisten, Trotzkisten, Antikapitalisten) behaupten stolz: „Die Tatsachen beweisen, dass wir richtig lagen. Neoliberale Maßnahmen führen in die Katastrophe.“ Sie erinnern an ihre Opposition gegen die „Globalisierung“ und gegen die „ungebremste Liberalisierung“. Sie fordern, dass der Staat Maßnahmen ergreift, damit die Multis, die Spekulanten und andere, die angeblich durch ihren exzessiven Hunger nach Profiten für die Katastrophe verantwortlich seien, zur Vernunft kommen. Sie behaupten, ihre Lösung sei eine sozialistische, die den Kapitalismus zugunsten des Volkes zügelt.
Gibt es auch nur ein Körnchen Wahrheit in diesen Behauptungen? Ist „eine andere Art von Kapitalismus“ möglich? Bieten wohltätige Staatsinterventionen eine Lösung gegenüber der kapitalistischen Krise? Wir werden versuchen, einige Elemente zur Beantwortung dieser eminent wichtigen Fragen zu liefern. Doch bevor wir damit beginnen, müssen wir zunächst eine fundamentale Frage klären: Wird der Sozialismus durch den Staat verwirklicht?
Ist der Sozialismus dasselbe wie Staatskontrolle?
Chávez, der illustre Verfechter des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ hat just eine verblüffende Erklärung gemacht: „Genosse Bush ist dabei, Maßnahmen einzuführen, die mit Genosse Lenin verbunden werden. Die Vereinigten Staaten werden eines Tages sozialistisch sein, weil ihre Menschen keine Selbstmörder sind." Dieses eine Mal stimmen wir (ohne damit einen Präzedenzfall zu schaffen) mit Chávez überein. Zunächst in der Tatsache, dass Bush sein Genosse ist. Auch wenn sie sich in einem harten imperialistischen Konkurrenzkampf befinden, so sind sie tatsächlich gut Freund bei der Verteidigung des Kapitalismus und bei der Nutzung staatskapitalistischer Maßnahmen, um das System zu retten. Und wir können auch darin zustimmen, dass die „Vereinigten Staaten (...) eines Tages sozialistisch“ sein werden, auch wenn dieser Sozialismus nichts zu tun haben wird mit dem, was Chávez befürwortet.
Der wirkliche Sozialismus, wie er vom Marxismus und von den Revolutionären in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung vertreten wurde, hat nichts mit dem Staat zu tun. Tatsächlich ist der Sozialismus die Negation des Staates. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft erfordert, dass der Staat in jedem Land dieser Welt zerstört ist. Da aber der Kommunismus nicht über Nacht geschaffen werden kann, ist eine Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Kommunismus erforderlich. Diese Übergangsperiode wird noch das Subjekt des dem Kapitalismus eigentümlichen Wertgesetzes sein. Die Bourgeoisie ist noch nicht vollständig zerstört, und neben dem Proletariat existieren noch immer nicht-ausbeutende Klassen: die Bauern, die Marginalisierten, das Kleinbürgertum. Als Ergebnis dieser Übergangssituation bedarf es noch immer einer Form des Staates, doch hat dieser keinerlei Ähnlichkeiten mehr mit jenen Staaten, die bis dahin existiert hatten; er wird zu einem „Halbstaat“, um Engels‘ Formulierung zu benutzen, zu einem Staat auf dem Weg zur eigenen Auslöschung. Um auf dem Weg zum Kommunismus im historischen Kontext einer Übergangsperiode voranzuschreiten, die sowohl komplex als auch instabil ist, voller Gefahren und Widersprüche, wird das Proletariat die Fundamente auch dieses neuen Staates untergraben müssen. Der revolutionäre Prozess wird ihn überwinden oder Gefahr laufen, die Perspektive des Kommunismus aus den Augen zu verlieren.
Einer der Autoren in der Arbeiterbewegung, der sich dieser Frage mehr als jeder anderen gewidmet hat, ist Friedrich Engels. Er ist sehr deutlich in diesem Punkt: „Man sollte das ganze Gerede vom Staat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war. Der Volksstaat ist uns von den Anarchisten bis zum Überdruss in die Zähne geworfen worden, obwohl schon die Schrift Marx‘ gegen Proudhon und nachher das ‚Kommunistische Manifest’ direkt sagen, daß mit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung der Staat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede ist, hört der Staat als solcher auf zu bestehen.“ (Brief an Bebel, 1875)
Eine Staatsintervention zur Regulierung der Wirtschaft im Interesse des „ganzen Volkes“ hat nichts mit Sozialismus zu tun. Der Staat wird niemals in der Lage sein, im Interesse des „ganzen Volkes“ zu handeln. Der Staat ist ein Organ der herrschenden Klasse und dazu geschaffen, organisiert und konstruiert, um die herrschende Klasse zu vertreten und ihr Produktionssystem zu unterstützen. Der „demokratischste“ Staat der Welt ist nicht weniger der Diener der Bourgeoisie und wird das kapitalistische Produktionssystem mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die spezifische Intervention des Staates in die Wirtschaft hat keinen anderen Zweck, als die allgemeinen Interessen der Reproduktion des Kapitalismus und der kapitalistischen Klasse zu bewahren. Engels macht dies im Anti-Dühring deutlich: „Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben.“
Im gesamten 20. Jahrhundert, nach dem Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Epoche, war der Staat sein Hauptverteidiger angesichts der sich verschlechternden sozialen, militärischen und ökonomischen Widersprüche gewesen. Das 20. und 21. Jahrhundert zeichnet sich durch eine universelle Tendenz zum Staatskapitalismus aus. Diese Tendenz existiert in jedem Land dieser Welt, gleich welches Regime herrscht. Der Staatskapitalismus ist prinzipiell auf zweierlei Art und Weise implementiert:
- nahezu völlige Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft (dies existierte in Russland und existiert noch immer in China, Kuba, Nordkorea...)
- Kombination der Staatsbürokratie mit den privaten Großkapitalisten (wie in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, Spanien usw.).
In beiden Fällen kontrolliert der Staat die Wirtschaft. Ersterer macht keinen Hehl aus seiner Eigentümerschaft von großen Teilen der Produktionsmittel und Dienstleistungen. Der zweite interveniert in die Ökonomie durch eine Reihe von indirekten Mechanismen: Steuern und Steuerpolitik, Einkauf in Konzerne (1), die Fixierung der Zinsraten im Interbanken-Verkehr, Preiskontrollen, Buchungsgrundsätze, staatliche Beratungs-, Prüfungs- und Investmentagenturen (2), etc.
Wir werden von einem ideologischen Täuschungsmanöver überwältigt, das auf zwei miteinander verknüpften Lügen fußt: Die erste identifiziert den Sozialismus mit dem Staat, die zweite identifiziert den Neoliberalismus mit der Deregulierung und mit dem freien Markt. In der gesamten Dekadenzperiode (das 20. und 21. Jahrhundert) konnte der Kapitalismus nie überleben, ohne ständig vom Staat gestützt zu werden. Der „freie“ Markt wird geleitet, kontrolliert und unterstützt von der eisernen Hand des Staates. Der große klassische Ökonom Adam Smith sagte einmal, dass der Markt die Wirtschaft wie eine „unsichtbare Hand“ lenke. Heute wird der Markt von der unsichtbaren Hand des Staates geregelt! (3) Als Bush gezwungenermaßen die Banken und Versicherungsgesellschaften schützte, tat er nichts Außergewöhnliches, schon gar nicht tat er etwas, „was Genosse Lenin getan hatte“. Er setzte lediglich die Arbeit der Kontrollierung und Regulierung der Wirtschaft fort, die zur täglichen Routine des Staates gehört.
Ist der Neoliberalismus gescheitert?
Nach einer Periode der relativen Prosperität von 1945 bis 1967 kehrten die Weltkrisen des Kapitalismus mit periodischen Ausbrüchen zurück, gefolgt von Beben, die die Weltwirtschaft an den Rand einer Katastrophe brachten. Nehmen wir nur die Krise von 1971, als der Dollar vom Goldstandard losgetrennt wurde; oder jene von 1974-75, die mit einer galoppierenden Inflation von über zehn Prozent endete; die Schuldenkrise von 1982, als Mexiko und Argentinien die Schuldentilgung aussetzen mussten; der Wall Street-Crash von 1987; die Krise von 1992-93, die zum Kollaps zahlloser europäischer Währungen führte; jene von 1997-98, die den Mythos der asiatischen Tiger und Drachen entblößte; das Platzen der Internet-Blase 2001...
„Was das 20. und 21. Jahrhundert charakterisiert, ist, dass die Tendenz zur Überproduktion – die im 19. Jahrhundert temporär war und leicht überwunden wurde – chronisch geworden ist und die Weltwirtschaft einem nahezu permanenten Risiko der Instabilität und Zerstörung unterworfen hat. Inzwischen ist die Konkurrenz – ein angeborener Zug im Kapitalismus – extrem geworden und verliert, indem sie an die Grenzen eines Weltmarktes stößt, der ständig zur Sättigung neigt, ihre Rolle als Stimulans für die Expansion des Systems, so dass ihre negative Seite als Faktor des Chaos und Konfliktes zum Vorschein kommt.“ („Capitalist economy: is there a way out of the crisis?“, World Revolution Nr. 315)
Die verschiedenen Stufen der Krise, die in den letzten 40 Jahren aufeinander folgten, sind das Produkt dieser chronischen Überproduktion und der Verschärfung der Konkurrenz. Der kapitalistische Staat hat versucht, die Auswirkungen zu bekämpfen, indem er etliche Palliative benutzte, wobei das Hauptpalliativ die steigende Verschuldung war. Auch haben die stärksten Staaten die gefährlichsten Folgen abgewendet, indem sie die schlimmsten Auswirkungen in die schwächsten Länder „exportierten“. (4)
Die klassische Politik, die in den 1970er Jahren praktiziert wurde, war die Staatsverschuldung, gestützt auf einer Politik der direkten Staatsintervention in die Wirtschaft: Nationalisierungen, Übernahme von Konzernen, eine strenge Überwachung des Außenhandels etc. Dies war die „keynesianische“ Politik. (5) Wir sollten die Vergesslichen, die eine falsche Alternative zwischen Neoliberalismus und Staatsinterventionismus durchsetzen wollen, daran erinnern, dass damals jede Partei, von rechts bis links, „keynesianisch“ war und die Wohltaten des „liberalen Sozialismus“ pries (wie das sozialdemokratische Modell Schwedens). Doch die katastrophalen Folgen einer enteilenden Inflation, die von dieser Politik ausgelöst wurde und die Wirtschaft destabilisierte, neigte zur Lähmung des internationalen Handels. Die „Lösung“, die in den 1980er Jahren gefunden wurde, wurde die „neoliberale Revolution“ genannt, in der die Schlüsselfiguren die „Eiserne Lady“, Margaret Thatcher, in Großbritannien und der „Cowboy“ Ronald Reagan in den Vereinigten Staaten waren. Diese Politik hatte zwei Ziele:
- die Reduzierung von Kosten durch die Eliminierung substanzieller unprofitabler Teile des Produktionsapparates, was in einer beispiellosen Welle von Entlassungen resultierte, die vom Staat geplant und organisiert wurde. So begann ein Prozess der unumkehrbaren Degradierung der Lebensbedingungen der ArbeiterInnen, mit dem Ende der Arbeitsplatzsicherheit und dem Beginn der Kürzungen in der staatlichen Wohlfahrt etc. (6)
- die Erleichterung der Schuldenlast, die den Staat strangulierte, durch die Privatisierung von Bereichen und die Untervermietung von Dienstleistungen und Betrieben an private Unternehmen sowie durch den systematischen Transfer öffentlicher Schulden via der Ausgabe von Aktien an Individuen, Banken, Spekulanten etc. Diese zweite Stufe der neoliberalen Politik war dazu vorgesehen, die Staatsschulden an den Finanzsektor weiterzureichen. Der Markt wurde von allen Arten von Wertpapieren, Schuldverschreibungen etc. überflutet; die Spekulation explodierte in monströsen Proportionen. Von da ab begann die Weltwirtschaft einem riesigen Spielcasino zu gleichen, in dem sich Regierungen, Banken und erfahrene Broker in komplizierten Operationen engagierten, um im Handumdrehen Profite aus der Spekulation zu realisieren... auf Kosten fürchterlicher Konsequenzen in Form von Bankrotten und Destabilisierung.
Man höre nicht auf die Geschichten über den „Neoliberalismus“, der angeblich durch „Privatinitiative“ in die Welt gesetzt worden sei. Diese Mechanismen entspringen dem Markt nicht spontan, sondern sind die Frucht und die Konsequenz einer staatlichen Wirtschaftspolitik zur Zügelung der Inflation. Diese Politik hat die Inflation jedoch nur verschoben, und sie zahlte einen hohen Preis dafür: die Benutzung obskurer Finanzmechanismen. Schulden wurden in spekulative Kredite mit hohen Zinsen umgewandelt, die anfangs so manch saftigen Gewinn abwarfen, jedoch bei der erstbesten Gelegenheit abgestoßen werden mussten, weil früher oder später niemand mehr in der Lage war, noch weiter zu zahlen. Zunächst waren diese Kredite die am hellsten scheinenden Sterne auf dem Markt, um die sich die Banken, Spekulanten, Regierungen balgten, doch schon bald verwandelten sie sich in zweifelhafte und wertlose Kredite, die Investoren wie die Pest mieden.
Das Scheitern dieser Politik wurde mit dem brutalen Crash an der Wall Street 1987 und dem Zusammenbruch der amerikanischen Sparkassen 1989 enthüllt. Dennoch wurde diese „neoliberale“ Politik während der gesamten 90er Jahre fortgesetzt. Angesichts der Schuldenberge, die auf der Wirtschaft lasteten, mussten die Produktionskosten durch die Verbesserung der Produktivität und durch Outsourcing gesenkt werden, wobei Letzteres darin bestand, ganze Produktionsanlagen in Länder wie China zu exportieren, wo die Elendslöhne und rauen Arbeitsbedingungen somit auf dramatische Weise die Lebensbedingungen des Weltproletariats insgesamt in Mitleidenschaft zogen. Damals kam das Konzept der „Globalisierung“ auf: Die größeren, reicheren Länder forderten, dass protektionistische Handelsbarrieren entfernt werden, um daraufhin die kleineren, ärmeren Ländern mit ihren Produkten zu überschwemmen, zum Zwecke der Entlastung ihrer eigenen Überproduktion.
Einmal mehr verschlimmerte diese „Medizin“ das Problem, und die Krise der asiatischen Drachen und Tiger 1997-98 zeigte die Unwirksamkeit dieser Politik sowie die Gefahren, die sie barg. Doch dann zauberte der Kapitalismus ein neues Kaninchen aus dem Hut. Das neue Jahrhundert führte uns in die „Internetökonomie“, wie sie genannt wurde, ein, in der eine exzessive Spekulation in Firmen stattfand, die mit Computern und Internet zu tun hatten. Schon 2001 erwies sich dies als überwältigendes Fiasko. 2003 griff der Kapitalismus zu einem neuen Trick – die ungehemmte Spekulation auf dem Immobilienmarkt, mit einem Wachstum im Geschäfts- und Wohneigentum überall in der Welt (dabei auch zur Umweltproblematik beitragend). Dies löste eine fürchterliche Eskalation in den Immobilienpreisen aus, die uns... zu dem horrenden aktuellen Fiasko führten!
Oder ist es der Kapitalismus, der gescheitert ist?
Die gegenwärtige Krise kann mit einem gigantischen Minenfeld verglichen werden. Die erste Mine, die explodierte, war die Hypothekenkrise im Sommer 2007 in den USA. Zunächst mochte man denken, dass die Dinge sich wieder einrenken werden, nachdem etliche Milliarden Dollar ausgezahlt worden waren. Hatte man all das nicht schon einmal erlebt? Doch der Zusammenbruch der Bankinstitutionen von Ende Dezember an war eine neue Mine, die alle Illusionen erschütterte. Der Sommer 2008 mit der schlagartigen Folge von Bankzusammenbrüchen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien raubte einem schier den Atem. Im Oktober 2008 löste sich eine andere Illusion, mit der die Bourgeoisie unsere Sorgen bisher entkräften konnte, in Luft auf: Sie sagte, dass die Probleme in den Vereinigten Staaten immens seien, die europäischen Volkswirtschaften jedoch nichts zu befürchten hätten. Von wegen. Nun beginnen auch in Europa die Minen zu explodieren, angefangen mit dem mächtigsten Staat von allen, Deutschland, wo Landesbanken und Hypo-Real Estate durch staatliche Finanzhilfen gerettet werden mussten.
Wenn alles scheinbar im Sinne der Bourgeoisie läuft, was hat dann die gewaltigen Explosionen dieser Minen ausgelöst? Es ist das Produkt von 40 Jahren der Krisenbekämpfung mit Palliativen, die die Probleme nur maskierten, aber einem System, das mit unlösbaren Problemen belastet ist, mehr oder weniger erlaubte, trotzdem zu funktionieren. Doch letztendlich löste es nichts, sondern verschlimmerte die kapitalistischen Widersprüche bis zum Zerreißen, und nun, in der aktuellen Krise, sehen wir, wie sich die Konsequenzen eine nach der anderen einstellen.
Kann der Kapitalismus einen Ausweg finden, wie es ihm bisher stets gelungen war?
Dieser Gedanke ist ein falscher Trost:
- Die vorherigen Krisenepisoden wurden von den Zentralbanken „gelöst“, indem sie etliche Milliarden Dollar zur Verfügung stellten (100 Milliarden zurzeit der asiatischen Tigerkrise 1998). In den letzten anderthalb Jahren haben die Staaten 3.000 Milliarden Dollar verauslagt, und ein Ende ist nicht absehbar. (7)
- Während sich die schlimmsten Auswirkungen der Krise bisher auf einige wenige Länder (Südostasien, Mexiko, Argentinien, Russland) beschränkt hatten, liegt heute das Epizentrum, in dem sich die schlimmsten Auswirkungen bündeln, gerade in den zentralen Ländern: die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Deutschland... und dies hat große Auswirkungen auf den Rest der Welt.
- Die bisherigen Episoden waren im Allgemeinen, mit der Ausnahme der Krisenepisode Ende der 1970er Jahre, von kurzer Dauer; sie dauerten zwischen sechs Monate und einem Jahr, ehe wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen war. Es ist nun anderthalb Jahre her, seitdem die aktuelle Krise begonnen hatte, und es gibt nicht den geringsten Hoffnungsschimmer. Im Gegenteil, mit jedem Tag wird die Krise ernster und die Katastrophe verheerender!
- Ferner hinterlässt diese Krise ein sehr geschwächtes Bankensystem. Die Kreditmechanismen sind paralysiert: Infolge des allgemeinen Misstrauens weiß niemand wirklich, ob die „Vermögenswerte“, die die Banken (und Geschäfte) in ihren Bilanzen angeben, falsch sind oder nicht. Grundstücke, Geschäfte, Betriebe verlieren alle an Wert. Was die finanziellen Vermögenswerte anbetrifft, so sind sie lediglich, laut des Ausdrucks, den Bush benutzte, „vergiftete Vermögenswerte“, Papierstücke, die unglaubliche, nicht wettzumachende Schulden darstellen. Doch der „liberale“ Staatskapitalismus kann nicht ohne starke und solide Banken funktionieren. Die kapitalistische Ökonomie ist derart süchtig nach der Droge Schulden zur jetzigen Zeit, dass, wenn das Kreditsystem nicht mehr in der Lage ist, den Markt mit einem Überfluss an Geld zu versorgen, die Produktion gelähmt werden würde. Der Kredithahn bleibt trotz der enormen Summen, die den Zentralbanken von den Regierungen zur Verfügung gestellt wurden, zugedreht. Niemand hat eine Ahnung, ob sich ein System, das durch und durch beschädigt ist und seiner wichtigsten Organe – der Banken – eines nach dem anderen verlustig geht, jemals wieder erholen kann. Die verrückte Aktion der europäischen Staaten, die nach den größten Garantien für ihre Bankeinlagen Ausschau halten, ist ein wahres Zeichen der Verzweiflung. Dieses Überhandnehmen von „Garantien“ zeigt klar, dass nichts garantiert ist!
Es ist einiges klar geworden: Der Kapitalismus erlebt heute seine schlimmste Wirtschaftskrise. Es hat eine brutale Beschleunigung der Geschichte gegeben. Nach 40 Jahren einer langsamen und ungleichmäßigen Entwicklung der Krise ist dieses System dabei, in eine fürchterliche und äußerst tiefe Rezession zu versinken, aus der es nicht unversehrt herauskommen wird. Doch vor allem werden von nun an die Lebensbedingungen von Milliarden von Menschen ernsthaft und längerfristig in Mitleidenschaft gezogen. Die Arbeitslosigkeit wird viele Haushalte treffen, 600.00 in weniger als einem Jahr in Spanien, 180.000 im August 2008 in den Vereinigten Staaten. Die Inflation trifft die Preise für Grundnahrungsmittel, und der Hunger hat in einem atemberaubenden Tempo im vergangenen Jahr in der Welt gewütet. Lohnkürzungen, Kurzarbeit, die Bedrohung der Renten... Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass diese Krise Konsequenzen von unerhörter Brutalität haben wird. Wir wissen nicht, ob sich der Kapitalismus davon erholen kann, aber wir sind überzeugt davon, dass Millionen von Menschen sich nicht davon erholen werden. Der „neue“ Kapitalismus, der aus dieser Krise herauskommen wird, wird eine weitaus ärmere Gesellschaft sein, mit einer großen Anzahl von Proletariern, die sich allgemeiner Unsicherheit in einer Welt der Unordnung und des Chaos gegenübersehen. Jede der vorherigen Ausbrüche in den letzten 40 Jahren war in eine Aushöhlung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und in mehr oder weniger große Stilllegungen im Produktionsapparat gemündet. Die neue Periode, die eröffnet wurde, wird diese Tendenz auf ein viel höheres Niveau heben.
Nur der Klassenkampf kann der Menschheit einen Ausweg aus der Sackgasse bieten
Der Kapitalismus wird nicht einfach seinen Geist aufgeben. Nie hat eine ausbeutende Klasse die Realität ihres Scheiterns akzeptiert und die Macht kampflos aufgegeben. Doch wissen wir, dass nach mehr als hundert Jahren der Katastrophen und Erschütterungen jegliche Wirtschaftspolitik, die der Staatskapitalismus praktiziert hat, um seine Probleme zu lösen, nicht nur gescheitert ist, sondern die Probleme noch verschlimmert hat. Wir erwarten nichts von den so genannten „neuen Ansätzen“, die der Kapitalismus sucht, um „aus der Krise herauszukommen“. Wir können vor allem davon ausgehen, dass sie weiteres Leiden, mehr Armut verursachen werden; und wir müssen uns darauf gefasst machen, mit weiteren, noch gewaltsameren Erschütterungen konfrontiert zu werden.
Aus diesem Grunde ist es utopisch, irgendwelchen so genannten „Lösungen“ der Krise des Kapitalismus Vertrauen zu schenken. Es gibt keine. Das gesamte System ist unfähig, seinen Bankrott zu verbergen. Realistisch zu sein bedeutet, sich an den Bemühungen des Proletariats zu beteiligen, sein Vertrauen in sich selbst wiederzuerlangen, an den Kämpfen, Diskussionen und Versuchen einer Selbstorganisation teilzunehmen, die die Klasse in die Lage versetzen, eine revolutionäre Alternative zu diesem verrottenden System zu entwickeln.
IKS (8.10.2008)
Fußnoten:
(1) Ein Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten, die als das Mekka des Neoliberalismus dargestellt werden. Der US-Staat ist der Hauptkunde von Konzernen, und die Computerfirmen sind verpflichtet, eine Kopie der der von ihnen geschaffenen Programme und die Komponenten der von ihnen hergestellten Hardware an das Pentagon zu schicken.
(2) Es ist ein Märchen, dass die amerikanische Wirtschaft dereguliert ist, dass ihr Staat nicht interveniert etc. Die Börse wird von einer besonderen Bundesagentur kontrolliert, Banken werden von einer Staatskommission reguliert, die Federal Reserve bestimmt die Wirtschaftspolitik durch Mechanismen wie den Leitzins.
(3) Die Geißel der Korruption ist ein klarer Beleg für die Omnipräsenz des Staates. In den Vereinigten Staaten wie in Spanien oder China besteht das ABC der Unternehmenskultur darin, dass die Geschäfte nur durch das Knüpfen von Kontakten in den staatlichen Ministerien und durch das Anbiedern an die politischen „Männer des Augenblicks“ gedeihen.
(4) In den Artikeln „30 Jahre der kapitalistischen Krise“ in der Internationalen Revue analysierten wir die Techniken und Methoden, mit denen der Staatskapitalismus diesen Sturz in den Abgrund verlangsamt hat. Er hat dies erfolgreich in aufeinanderfolgenden Stufen getan.
(5) Keynes ist besonders berühmt für seine Unterstützung einer interventionistischen Politik des Staates, bei der derselbe fiskalische und monetäre Maßnahmen ergreift, um in Perioden einer zyklischen Rezession die ungünstigen Effekte auf die Wirtschaftsaktivitäten auszugleichen. Die Ökonomen erkennen ihn als einen der Hauptbegründer der Makroökonomie an.
(6) Wir sollten daran erinnern, dass im Gegensatz zu dem, was von all den Ideologen festgestellt wird, diese Politik nicht kennzeichnend ist für „neoliberale“ Regierungen, sondern auch von „Sozialisten“ oder „fortschrittlichen“ Regierungen 100%ig gebilligt wurde. In Frankreich hatte die Mitterand-Regierung, bis 1984 unterstützt von der Kommunistischen Partei, Maßnahmen verabschiedet, die so hart waren wie die von Reagan oder Thatcher. In Spanien organisierte die „sozialistische“ Regierung von Gonzalez eine „Umstrukturierung“, die zum Verlust von einer Million Jobs führte.
(7) Es ist besonders dumm, zu denken, dass diese Flut von Milliarden nicht irgendwelche Konsequenzen haben wird. Sie ebnet faktisch einer noch unsicheren Zukunft den Weg. Früher oder später wird für diese Verrücktheit die Zeche gezahlt werden. Die allgemeine Skepsis, auf die Paulsons finanzielle Rettungsplan stieß, den gigantischsten in der Geschichte (700 Milliarden Dollar!), beweist, dass das Gegenmittel dabei ist, neue Minenfelder, mächtiger und verheerender als jemals zuvor, im Untergrund der kapitalistischen Ökonomie zu legen.