Zusammenarbeit und Annäherung zwischen revolutionären Gruppen: Welche Kriterien (Leserbrief)

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Ein Leser, der seine Zuschrift mit JM unterzeichnet, hat auf unserer Webseite einen sehr interessanten Kommentar verfasst, in dem die Frage der notwendigen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen revolutionären Gruppen aufgeworfen wird. In seiner Zuschrift, die mit "Bedingungen für Bündnisse und Annäherungen zwischen Organisationen" betitelt wird, fragt der Genosse, welche Kriterien die IKS bei ihrer Zusammenarbeit mit einer anderen Organisation verwendet.

Ein Leser, der seine Zuschrift mit JM unterzeichnet, hat auf unserer Webseite einen sehr interessanten Kommentar verfasst, in dem die Frage der notwendigen Zusammenarbeit zwischen verschiedenen revolutionären Gruppen aufgeworfen wird. In seiner Zuschrift, die mit ”Bedingungen für Bündnisse und Annäherungen zwischen Organisationen” betitelt wird, fragt der Genosse, welche Kriterien die IKS bei ihrer Zusammenarbeit mit einer anderen Organisation verwendet.

Unsere nachfolgende Antwort greift zum Teil auf die verschiedenen Kommentare zurück, die im Verlaufe dieser Diskussion verfasst wurden. Wir möchten alle unsere Leser/Innen ermuntern, sich an den Diskussionen auf unserer Webseite zu beteiligen, Kommentare zu verfassen, Kritik zu üben oder Fragen zu stellen zu unseren Artikeln oder Vorschläge zu machen.

Die Zuschrift von JM

In euren Artikeln versucht ihr manchmal, euch anderen Gruppen zu nähern. Zum Beispiel den Anarchisten. 

Habt ihr ein offizielles Dokument, das sich mit den Bedingungen für Bündnisse und Annäherungen befasst? Oder geht ihr jeweils von Fall zu Fall vor?

Zum Beispiel hat eine trotzkistische Organisation CIQI vor kurzem ihre Unterstützung der Gewerkschaften, die sie seit langem verteidigten, aufgegeben. Bei dieser Frage haben sie sich der Kommunistischen Linken angenähert. (https://wsws.org/francais/News/2009/sep2009/opel-s19.shtml)

Man hat manchmal den Eindruck, wenn sich Organisationen annähern oder von einander abrücken, geschieht dies oft infolge bürokratischer Prinzipien, um nicht zu sagen aus Opportunismus.  In dem einen Fall mag eine Organisation nicht mit einer anderen diskutieren, weil die eine von der anderen aufgesaugt werden könnte. Dies spiegelt eine organisatorische Schwäche wider. In dem anderen Fall fühlen sich die Mitglieder der ersten Organisation nicht sattelfest und befürchten, sie könnten durch die andere Organisation einem ”schlechten” Einfluss unterworfen werden. Dies spiegelt eine theoretische Schwäche wider.

Man kann auch behaupten, dass eine Diskussion nicht wünschenswert ist, wenn sie keinen neuen theoretischen Beitrag leistet oder eine Zusammenarbeit zu einer konkreten Frage ermöglicht. Aber ich habe das Gefühl, dass man die technischen Aufgaben nicht gemeinschaftlich genug anpackt, die doch eigentlich politisch neutral sein sollten (Transport, Unterkunft, Informationen usw.) und die politische Zusammenarbeit bei konkreten Fragen (Wortmeldungen in Vollversammlungen usw.) ein wenig auf gut Glück geschieht, ohne dass weitere Schritte folgen. Meines Erachtens bräuchte man einen Text, in dem man aufzeigt, unter welchen Bedingungen und warum eine Zusammenarbeit mit Mitgliedern einer Organisation möglich ist. Dieser Text sollte nicht zu restriktiv noch zu weitgehend formuliert sein, um die Organisation nicht zu lähmen oder zu untergraben. Solch ein Text wäre sehr nützlich. Was haltet ihr davon?

“Nur diejenigen, die nicht genügend Selbstvertrauen haben, fürchten vorübergehende Bündnisse, selbst mit unsicheren Leuten. Keine politische Partei könnte ohne diese Bündnisse bestehen”. (Was tun? Lenin).” 

Antwort der IKS

JM wirft eine wesentliche Frage in seinem Beitrag auf. Seit einigen Jahren hat die Arbeiterklasse einen langsamen, aber tiefgreifenden Prozess des Nachdenkens angefangen. Sie wird sich immer mehr über den desaströsen Zustand des Kapitalismus und seiner Unfähigkeit, der Menschheit irgendeine Zukunft anzubieten, bewusst. Konkret, über die noch viel zu selten stattfindenden Kämpfe hinaus wird diese Dynamik vor allem ersichtlich anhand eines reichhaltigeren Lebens in den Reihen des revolutionären Milieus. Relativ alte Gruppen (wie OPOP in Brasilien) und andere noch jüngere oder gerade erst entstandene Gruppen wie auch in Erscheinung getretene Individuen versuchen ein internationales Netz aufzubauen, innerhalb dessen eine offene und brüderliche Debatte stattfindet (2). Die Revolutionäre sind heute auf der ganzen Welt erst ein kleiner Haufen; nichts ist verheerender als die Isolierung. Der Aufbau von Verbindungen und Debatten auf internationaler Ebene ist also lebenswichtig. Die Divergenzen, wenn sie offen und aufrichtig diskutiert werden, sind eine Quelle der Bereicherung für das Bewusstsein der ganzen Arbeiterklasse.

Aber was so augenfällig ist, ist noch nicht für jeden selbstverständlich. Innerhalb des revolutionären Lagers herrscht heute noch eine gewisse Zerstreuung vor;  man arbeitet wenig gemeinsam, schlimmer noch - es gibt noch viel Sektierertum! Die verschiedenen Standpunkte und Analysen,  welche leider keine aufrichtigen Debatten auslösen, sind viel zu oft ein Vorwand für den Rückzug auf sich selbst. Es gibt eine Tendenz zur Verteidigung der eigenen "Kapelle", eine Art Krämergeist, der eigentlich in der Arbeiterklasse nicht vorhanden sein sollte (um dies zu verdeutlichen, benutzt die IKS lieber den Begriff der "Zusammenarbeit”, "gemeinsame Arbeit", "gemeinsame Stellungnahmen" usw. statt "Bündnis", wie JM es tut). Die Revolutionäre stehen in keinem Konkurrenzverhältnis zueinander. Wir stimmen also vollkommen überein mit JM, wenn er schreibt: “Man hat manchmal den Eindruck, wenn sich Organisationen annähern oder von einander abrücken, geschieht dies oft infolge bürokratischer Prinzipien, um nicht zu sagen aus Opportunismus.  In dem einen Fall mag eine Organisation nicht mit einer anderen diskutieren, weil die eine von der anderen aufgesaugt werden könnte. Dies spiegelt eine organisatorische Schwäche wider. In dem anderen Fall fühlen sich die Mitglieder der ersten Organisation nicht sattelfest und befürchten, sie könnten durch die andere Organisation einem ‘schlechten’ Einfluss unterworfen werden. Dies spiegelt eine theoretische Schwäche wider.”

JM hat auch Recht zu verlangen, dass solch eine Zusammenarbeit sich auf klare Kriterien stützt und dass man nicht nach taktischen Erwägungen vorgeht. Die kapitalistische Gesellschaft, so lautet eine Grundlage des Marxismus, ist in zwei unversöhnliche Lager mit entgegengesetzten Interessen gespalten:  die bürgerliche Klasse und die Arbeiterklasse. Die ganze Politik unserer Organisation fußt auf dieser Methode. Aus der Sicht der IKS ist in der Tat die größtmögliche Zusammenarbeit zwischen den Organisationen, die dem proletarischen Lager angehören, und die größte Standhaftigkeit gegenüber dem bürgerlichen Lager erforderlich. Dies bedeutet, dass man die grundlegenden Unterschiede zwischen diesen beiden Lagern festlegen muss. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dieser Unterschied offensichtlich ist. Denn schließlich beruft sich jede Organisation offiziell auf eine Strömung, sei es indem sie offen das gegenwärtige System unterstützt (im Allgemeinen die Rechten), oder indem man behauptet, die Interessen der Arbeiter zu verteidigen (was die Linken und die extremen Linken von sich beanspruchen). Es gibt zahlreiche Gruppen, die von sich behaupten, revolutionär zu sein: Kommunisten, Trotzkisten, Maoisten (die heute zahlenmäßig geschrumpft sind), offizielle Anarchisten…

Aber was eine Organisation von sich selbst behauptet, reicht nicht aus. Die Geschichte wimmelt von Beispielen von Organisationen, die mit der Hand auf dem Herz schwören, die Sache der Arbeiterklasse zu verteidigen, um ihr so nur besser ein Messer in den Rücken stoßen zu können.  Die deutsche Sozialdemokratie behauptete 1919 von sich, eine Arbeiterorganisation zu sein, während sie gleichzeitig den Mord an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Tausenden anderen Arbeitern organisierte. Die stalinistischen Parteien haben die Arbeiteraufstände von Berlin 1953 und Ungarn 1956 im Namen des "Kommunismus" (d.h. im Interesse der UdSSR) blutig niedergeschlagen.

Wenn die "Verpackung" nicht ausreicht, um das Wesen einer Organisation zu definieren, nach welchen Kriterien soll man deren "Inhalt" dann einschätzen (Programm, Plattform mit den politischen Positionen) ?

JM unterstreicht, dass eine trotzkistische Gruppe, die CIQI, jetzt nicht mehr die Gewerkschaften unterstützt. Er meint, dass bei diesem Punkt die CIQI sich der "Kommunistischen Linken genähert" habe (eine Strömung, aus der die IKS hervorgegangen ist). Aber dieses Kriterium allein reicht nicht aus oder es ist nicht entscheidend für solch eine Annäherung.  Gab es doch in Frankreich in den 1970er Jahren maoistische Organisationen wie die Proletarische Linke (welche die Zeitung "Cause du Peuple" herausbrachte), welche die Gewerkschaften auch als bürgerliche Organe ansahen, was sie aber nicht daran hinderte, sich auf Stalin und Mao zu berufen, welche zwei verschworene Feinde und Mörder der Arbeiterklasse waren!

Eine politische Position allein kann deshalb nicht über das Wesen einer Organisation entscheiden. Aus der Sicht der IKS gibt es grundsätzliche Kriterien. Die Unterstützung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus bedeutet, sowohl unmittelbar gegen die Ausbeutung anzukämpfen (bei Streiks zum Beispiel), als auch immer das historische Ziel vor Augen zu haben: die Überwindung des Ausbeutungssystems durch die Revolution. Dazu darf eine Organisation auf keine Weise irgendeinen Teil der Bürgerlichen (auch nicht auf "kritische", "taktische" Art oder unter dem Vorwand der Wahl des "geringeren Übels") unterstützen: weder die "demokratische" Bourgeoisie gegen die "faschistische" Bourgeoisie, weder die Linke gegen die Rechte, noch die palästinensische gegen die israelische Bourgeoisie usw.. Solche eine Politik hat zwei konkrete Auswirkungen:

1) Man muss jede Unterstützung von Wahlen und Zusammenarbeit mit den Parteien ablehnen, die das kapitalistische System verwalten oder als Verteidiger des Systems in der einen oder anderen Form tätig sind (Sozialdemokratie, Stalinismus, "Chavismus" usw.) .

2) Vor allem bei jedem Krieg muss man einen unnachgiebigen Internationalismus aufrechterhalten, indem man sich weigert, das eine oder andere imperialistische Lager zu unterstützen. Während des 1. Weltkriegs wie während aller Kriege im 20. Jahrhunderts haben all die Organisationen, die diese Politik nicht vertreten haben, den Boden des Kommunismus verlassen und eine der beteiligten imperialistischen Seiten unterstützt; sie haben dabei die Arbeiterklasse verraten und sind dabei endgültig ins Lager der Bürgerlichen gewechselt.

Die Frage der Anarchisten und Trotzkisten

Die kurze Nachricht von JM wirft tatsächlich die Frage auf: Welchem Lager ordnet die IKS die Anarchisten und die Trotzkisten zu?

Die meisten Anarchisten berufen sich nicht auf den Marxismus und vertreten bei vielen Fragen ganz andere Positionen als die IKS. Jedoch wie JM bemerkte: "In euren Artikeln versucht ihr manchmal euch anderen politischen Gruppen anzunähern. Zum Beispiel den Anarchisten." In der Tat laufen seit einigen Jahren Diskussionen zwischen bestimmten anarchistischenen Gruppen oder Individuen und der IKS. Zum Beispiel arbeiten wir mit der KRAS in Russland zusammen (Sektion der anarcho-syndikalistischen AIT), wobei wir ihre internationalistischen Positionen z.B. gegenüber dem Tschetschenienkrieg veröffentlicht und begrüßt haben. Die IKS betrachtet diese Anarchisten, mit denen wir diskutieren, trotz unserer Differenzen als einen Teil des proletarischen Lagers. Warum? Weil sie sich von all den Anarchisten (wie denjenigen der Anarchistischen Föderation) und all jenen "Kommunisten" (wie denjenigen der KPF) abgrenzen, die theoretisch den Internationalismus beanspruchen, sich diesem aber in der Praxis widersetzen, indem sie bei jedem Krieg eine Kriegsseite gegen die andere unterstützen. Man darf nicht vergessen, dass 1914 bei Ausbruch des Weltkrieges und 1917 während der Russischen Revolution die "Marxisten" der Sozialdemokratie auf Seiten der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse standen, während die spanische CNT den imperialistischen Krieg anprangerte und die Revolution unterstützte! Aus diesem Grunde wurde sie übrigens zum 2. Kongress der Kommunistischen Internationale eingeladen.

Was die Trotzkisten betrifft, denken die meisten, die mit dieser Strömung sympathisieren, aufrichtig, sie kämpften für die Abschaffung des Kapitalismus (was auch viele innerhalb der anarchistischen Strömung denken). Die von der [in Frankreich jüngst gegründeten Partei] NPA angezogenen Jugendlichen sind oft echt empört über die Unmenschlichkeit dieses Ausbeutungssystems. Aber unser Leser sollte sich fragen, ob in Anbetracht der oben erwähnten "grundlegenden Kriterien" der Trotzkismus als Strömung (mit den Organisationen, die sich auf ihn berufen) nicht ins Lager der Bourgeoisie übergewechselt ist. Denn sie haben sich am 2. imperialistischen Weltkrieg auf der Seite der Résistance beteiligt, die UdSSR unterstützt (d.h. das russische imperialistische Lager), HoChiMinh im Vietnamkrieg und heute Chavez unterstützt. Weiter haben sie [in Frankreich] zur Wahl der Linken im zweiten Wahlgang bei den Wahlen aufgerufen (d.h. für Chirac 2002), sind Wahlbündnisse mit der KPF und der PS eingegangen (insbesondere bei Kommunalwahlen), haben gemeinsam eine Wahlkampagne zur Ablehnung des Referendums zur Europawahl im Mai 2005 gemacht.

Aber in Anbetracht dieser fälschlicherweise als proletarisch ausgegebenen, tatsächlich aber eindeutig bürgerlichen Politik ist es sehr wohl möglich, dass Arbeiter, auch wenn sie in diesen Organisationen aktiv sind, sich Fragen stellen und kraft ihres Nachdenkens dazu kommen, sich von diesen Organisationen zu lösen und proletarischen Positionen annähern. Während eine Organisation nicht als solche vom bürgerlichen ins proletarische Lager wechseln kann, ist es immer möglich, dass kleine Minderheiten oder – wahrscheinlicher - einzelne Leute, die sich individuell vom Nationalismus des Trotzkismus lösen, sich internationalistischen proletarischen Positionen nähern. Dies findet übrigens gegenwärtig zum Teil in Lateinamerika statt, wo die an der Macht befindlichen Linksextremisten (Chavez, Lula usw.) jeden Tag mehr ihr arbeiterfeindliches Wesen in den Augen bestimmter Minderheiten offenbaren.

Die IKS ist immer bereit, mit all diesen Leuten offen und mit Enthusiasmus zu diskutieren!    Tibo, 16. Oktober 2009

 

1)      Dieser "Kommentar" wurde ausgehend von einem Artikel zu den Kämpfen bei Freescale verfasst, die zwischen April und Juni stattfanden ("Freescale: Wie die Gewerkschaften die Bemühungen der Arbeiter zu kämpfen, sabotieren", Révolution Internationale, Nr. 404, Sept. 2009).

2)      In unserer Presse sind wir auf diesen embryonalen Prozess eingegangen. Zwei Beispiele unter vielen: "Internationalistische Erklärung aus Korea gegen Kriegsdrohungen", und "Ein Treffen internationalistischer Kommunisten in Lateinamerika".

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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