Studentenproteste in Österreich und anderswo: Ein Zeichen wachsender Unzufriedenheit

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Seit vier Wochen finden Besetzungen an über 50 Universitäten und Hochschulen in verschiedenen Ländern Europas statt. Die Kämpfe der StudentInnen sind Ausdruck einer Sorge um die Zukunft, die immer mehr geprägt ist von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Konkurrenzkampf.

Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung am 22. Oktober in Wien. Etwa 400 Studierende versammelten sich am Mittag vor der Votivkirche. Der spontan organisierte Protest richtet sich gegen die Studienbedingungen und die Vorgaben des „Bolognaprozesses“. Auf dem Weg zum Hauptgebäude der Uni Wien schließen sich zahlreiche weitere StudentInnen dem Protest an. In Massen strömen sie in den größten Hörsaal. Darauf wird das Audimax mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Anwesenden besetzt und in eine Vollversammlung verwandelt. Dies ist der Auftakt zu einer Reihe von Hörsaalbesetzungen in ganz Österreich gewesen.

Die allgemeinsten Forderungen, die überall in der einen oder anderen Form erhoben werden, zielen auf die Verbesserungen der Studienbedingungen ab:

- Abschaffung aller Studiengebühren

- Keine Zugangsbeschränkungen

- Keine beschränkten Masterstudien

- Für das Personal an den Unis Löhne, die üblich sind

- Rücknahme von ausgelagerten Jobs.

Am 5. November, dem „Warm-up Day of United Action“, gab es nach gut zwei Wochen anhaltenden Hörsaalbesetzungen in ganz Österreich einen landesweiten Aktionstag gegen die immer schlechteren Studienbedingungen, wie Unterfinanzierung der Unis oder Platznot, der schrittweise Abbau der Mitsprachemöglichkeiten, die Verschulung der Studien sowie die Ausrichtung der Unis auf die Interessen der Wirtschaft, wie sie in den Bologna-Reformen formuliert sind.

Österreich muss seine Diplomstudien auf das neue Bachelor-Master-System umstellen: Der meist vierjährige Magister wird durch den dreijährigen Bachelor und den zweijährigen Master ersetzt. Ein Fakt, der großen Protest erzeugt, ist der, dass die Zulassung zum Masterstudium beschränkt werden soll. Dies ist der Kern der Reform, die Kanzler Werner Faymann (SPÖ) im Oktober umsetzen wollte.

 

Bologna-Reformen

Die Bologna-Reformen werden seit fast 10 Jahren in vielen europäischen Ländern eingeführt. Dies hat jedoch bis heute noch nicht zu gleichen Verhältnissen in allen Ländern geführt. In gewissen Aspekten ist die Situation in Österreich an den Universitäten sehr zugespitzt. Seit Jahren ist bekannt, dass der Uni-Betrieb schlecht funktioniert. Alleine im Herbst dieses Jahres schrieben sich 13% mehr Studienanfänger als im Vorjahr ein. Dass in Österreich in den letzten Monaten weitere Schritte zur Einführung des Bachelor-Master-Systems unternommen wurden, hat mit den dortigen Verhältnissen zu tun, ist aber auch bereits durch Folgen die gesamteuropäischen Bologna-Reformen zu erklären. Die Ziele, die in Bologna formuliert wurden, sind: Bis 2010 sollten die 45 teilnehmenden Staaten ihre alten Uni-Strukturen einstampfen, um einen gemeinsamen Hochschulraum zu errichten – mit vergleichbaren Abschlüssen und größtmöglicher Mobilität für Studenten. Ob man dort je ankommen wird, ist unklar: Die Realität schaut anders aus. Rein technisch ist die Umstellung weit vorangeschritten:

Eine erste Generation von Bachelor-AbsolventInnen steht mit der Zugangsbeschränkung zum Master vor dem Nichts. Es stellt sich kurzfristig die Frage nach der Perspektive. So wie für die Arbeiterklasse insgesamt sehen sich auch die StudentInnen heute massivsten Angriffen des Kapitals ausgesetzt.

Denn die Ausbildung neuer Arbeitskräfte soll dem Staat möglichst wenig kosten. Dies betrifft jedoch den ganzen Unibetrieb, vom Dozent, über die Studierenden, bis zur Putzfrau und der Kantine. Es ist dies die „Ökonomisierung“, wie es die kämpfenden Studentinnen ausdrücken.

Die vereinheitlichenden Forderungen sind sehr wichtig: die Abschaffung prekärer Anstellungen an den Unis und für "richtige" Entlöhnung des Putzpersonals.

 

„Den Kampf ausdehnen“ - die Verbindung zum Rest der Arbeiterklasse

Die Genossen der Gruppe Proletarische Revolution (1) haben im Plenum in Wien mit den folgenden politischen Thesen mündlich interveniert: „Anzuerkennen ist die Universalität der Forderungen, sie wenden sich gegen soziale, nationale und Geschlechter- Diskriminierung. Sie wenden sich auch gegen die Funktionalisierung der Studierenden durch die kapitalistische Gesellschaft. Dem Kapitalstandpunkt, vertreten durch die Institutionen des demokratischen Staates, wird der menschliche Standpunkt entgegengestellt, der da sagt, wir sind "nicht nur" die Träger der von euch (Kapitalisten) nachgefragten Arbeitskraft in Ausbildung und damit die zukünftigen Mehrwertlieferanten und Verwalter des Klassenwiderspruchs zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Wir wollen uns nicht mehr auf die Verkörperung von Arbeitskraft reduzieren lassen. Wir sind Menschen mit Bedürfnissen, Bedürfnis nach Bildung, nach Befriedigung unserer wissenschaftlichen Neugier, nach Entwicklung unserer Fähigkeiten, nach Umschau und Orientierung nach einem erfüllten Leben. Die Studierenden im Kampf haben dem Inhalt ihrer Forderungen dem kapitalistischen Maß das menschliche Maß entgegengestellt.

Die Studierenden mit ihrer Forderung nach freiem Zugang zu den Universitäten für alle durchkreuzen den Bestimmungswillen und das Bestimmungsbedürfnis des Kapitals über die auf die Nützlichkeit fürs Kapital reduzierten Menschen. Die beiden Ansprüche sind sich wechselseitig unverträglich. Einer muss fallen. Die kapitalistische Gesellschaft will solche Klarheit selbstredend nicht wahrhaben. Sie versucht, zumindest propagandistisch zu versöhnen, was nicht zu versöhnen ist. Sie wendet einen gewaltigen Apparat auf, um sich vor unserer Emanzipation zu schützen. (…) Die finanzielle Absicherung ist gerade für die Studierenden aus der Arbeiterklasse unverzichtbar. Neben den finanziellen Hindernissen gibt es in der bürgerlichen Gesellschaft noch genug andere Hindernisse für den Zugang zu Bildung.

Die kapitalistische Gesellschaft betrachtet die Arbeitskraft als eine Ware wie jede andere Ware auch. Ihre Produktion unterliegt den gleichen kapitalistischen Gesetzen. Die Arbeitskraft soll auf den gesellschaftlichen Bedarf hin (freilich des Kapitalismus) und mit den geringsten Produktionskosten erzeugt werden. Ein Zuviel an Investition in die Bildung von Arbeitskraft ist vom kapitalistischen Standpunkt Kapitalvergeudung. Wenn wir die freie Bildung für jede/en durchsetzen wollen, haben wir die ganze kapitalistische Gesellschaft gegen uns.

Die Studierenden im Kampf stehen artikuliert oder nicht artikuliert in ein und derselben Klassenfront gemeinsam mit dem Proletariat, das ebenso für das Kapital nur Ausbeutungsobjekt zu sein hat, und in seinem Kampf, so es auf seinem spezifischen Klassenterrain kämpft, diesen Objektstatus zu zerschmettern sucht und als Mensch sein Dasein durchzusetzen sucht. Das ist ein wichtiges Wissen für die Studierenden im Kampf. Bleiben die Studierenden im Kampf isoliert, sind die Studierenden mit ihren Anliegen verloren. Sie können nicht siegen. Die Interessen, die in ihrem Kampf aufeinanderprallen, sind zu massiv als dass sie durch Hörsaalbesetzungen, Demos von Studierenden und Schülern zu einem guten Ende für die Studierenden geführt werden könnten.“

Dieses österreichische Beispiel hat inzwischen an vielen Orten Nachahmer gefunden, in erster Linie in Deutschland. Allerdings ist die momentane Situation nicht gerade günstig, um gerade das zu erreichen, was in der jetzigen Lage am notwendigsten wäre, nämlich eine Öffnung des Kampfes der Studenten und Schüler in Richtung der Arbeiterklasse insgesamt. Seit der jüngsten Zuspitzung der Weltwirtschaftskrise vor einem Jahr befindet sich die Arbeiterklasse in einer Art Schockstarre. Die Lohnabhängigen sehen sich weltweit konfrontiert mit einer gigantischen Erpressung von Seiten der herrschenden Klasse: Entweder ihr kommt für die Kosten der Rettungsprogramme für die Finanzinstitute auf, oder die staatlichen und privaten Versicherungssysteme brechen zusammen. Angesichts dieser existenziellen Bedrohung hat die Arbeiterklasse noch keine Antwort darauf gefunden. Somit fällt es den proletarischen Teilen der Studierenden im Augenblick auch schwer, ihren Blick über den Tellerrand des Bildungswesens hinaus zu richten auf der Suche nach Verbündeten im Kampf gegen die Folgen der Krise. Das erklärt zum bedeutenden Teil, weshalb die Bewegungen derzeit in Ländern wie Österreich, und vielleicht noch mehr in Deutschland, sehr auf die universitäre Welt beschränkt bleiben. Das Problem dabei ist, dass die Frage des Kampfes um Bildung sehr rasch eine reformistische Couleur annimmt, wenn die Verbindung zum Klassenkampf nicht hergestellt werden kann. Das hat die herrschende Klasse auch sehr schnell erkannt. Anstatt die Bewegung nach Möglichkeit totzuschweigen, wie das 2006 in Frankreich und 2008 in Griechenland geschah, werden die jetzigen Proteste, obwohl sie gerade in Deutschland (im Augenblick) nur von einer kleinen Minderheit getragen werden, in den Medien auffällig breit getreten. Dabei versucht die herrschende Klasse die Protestierenden für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, sie als Vorreiter eines konkurrenzfähigeren, nationalen Bildungssystems hinzustellen, wobei zumindest ein Teil der Protestierenden seine Rolle auch so versteht. Bei dieser Mobilisierung ist bislang zu viel von „Bologna“ und zu wenig vom Klassenkampf die Rede.

 

Erinnern wir uns an den erfolgreichen Kampf der SchülerInnen und StudentInnen im Frühjahr 2006 in Frankreich: Da gelang es der Bewegung an den Schulen und Hochschulen, die Regierung zum Nachgeben zu bewegen, weil sie sehr früh proletarische Forderungen in den Mittelpunkt gestellt haben, welche die Interessen der arbeitenden Bevölkerung insgesamt zum Ausdruck brachten, insbesondere die Ablehnung des sogenannten CPE (Gesetz über den Erstanstellungsvertrag) (2). Hinzu kam natürlich, dass diese Bewegung zu einem Zeitpunkt stattfand, als der Druck aus den Betrieben ohnehin zunahm. Auch die Bildungsprotestwoche in Deutschland im Juni 2009 fand zu einem Zeitpunkt statt, als Streikbewegungen vor allem der Kita-Beschäftigten große Sympathie und Widerhall fanden.

 

Diskussionskultur

Und dabei sind wir bei einem weiteren bis jetzt wichtigen Wesenszug dieser Bewegung angelangt: bei der Kultur der offenen Vollversammlungen. In Wien hat die Bewegung zwar mit einer Besetzung angefangen, aber nicht mit einer Einigelung (Isolation), sondern mit der Öffnung des Audimax für alle, die an einer Debatte im Sinne der Bewegung interessiert sind. Über alle Dinge, die von allgemeinem Interessen sind (beispielsweise wer heute als Sprecher gegenüber den Medien auftritt oder ob ein Journalist im Hörsaal eine Foto aufnehmen darf), wird kollektiv entschieden. Auch in Deutschland und der Schweiz verwenden die Vollversammlungen und Diskussionen in Arbeitsgruppen viel Zeit dafür, über die eigene Funktionsweise zu diskutieren. Wie debattieren wir, so dass jeder und jede mitreden kann und das Kollektiv trotzdem handlungsfähig bleibt? Wie führt man eine solche Diskussion mit Hunderten von Leuten im gleichen Saal? Über welche Vorschläge wird wie entschieden? Wie stellen wir es an, damit verschiedene Vorschläge den Leuten bekannt sind, bevor wir darüber diskutieren und entscheiden? Allerdings darf man dabei nicht vergessen, dass die Vollversammlungen kein Selbstzweck sind und rasch ihre Funktion als Instrument des Kampfes verlieren können, wenn sie sich nicht als Teil eines größeren, sozialen Klassenkampfes zu verstehen beginnen. 19.10.09, SR und BS

 

1) Die Gruppe Proletarische Revolution in Österreich ist eine internationalistische Gruppe, die sich wie die IKS programmatisch auf das Erbe der Kommunistischen Linken bezieht. Adresse: GPR, Postfach 96, AT-6845 Hohenems; [email protected]

2) Vgl. dazu unsere Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006.

 

 

 

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