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Im Januar und Februar hat die IKS in Frankreich und in Deutschland Diskussionsveranstaltungen zum Thema "Selbstmord am Arbeitsplatz- eine einzige Antwort – Solidarität der Arbeiterklasse " organisiert. In unserem Einladungsaufruf schrieben wir:
"In den letzten Monaten wurde unter der Rubrik "Verschiedenes" ein Ereignis von den Medien groß herausgehoben: die Welle von Selbstmorden am Arbeitsplatz, insbesondere bei France Télécom. Der Arbeitsstress nimmt für viele Beschäftigte dermaßen zu, dass sie als Einzelne verzweifelt reagieren. Dies ist kein neues Phänomen, es trat Ende de 1980er Jahre in Erscheinung, als die Herrschenden ihre Kampagne zum "Tod des Kommunismus" und dem "Ende des Klassenkampfes" anleierten.
Welche Erklärung für diesen neuen Ausdruck des Zerfalls des Kapitalismus?
Wie gegenüber der Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen und der gefährlichen Tendenz des "jeder für sich" reagieren?
Kommt und beteiligt euch an unserer Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema!!"
Nachfolgend fassen wir kurz die Diskussionen, die hierzu in Lyon, Marseille und Grenoble stattfanden, zusammen. In diesen Diskussionen haben viele Teilnehmer über ihre Arbeitsbedingungen und den wachsenden Arbeitsstress berichtet, unter dem sie selbst und ihre Freunde und Angehörigen leiden.
Der Arbeitsstress nimmt immer mehr zu
Auf diesen Treffen wurde der „Arbeitsstress“ nicht nur als ein theoretisch zu vertiefendes Thema aufgegriffen, sondern auch und vor allem als eine echte, leidvolle Erfahrung.
Zwei Fragen standen im Vordergrund der Diskussionen.
· Wird die Zuspitzung der Wirtschaftskrise der Tendenz des “jeder für sich” weiter Auftrieb verschaffen oder im Gegenteil eine größere Einheit und eine aufkeimende Solidarität entfalten? Eine junge Studentin meinte: „Wovor ich Angst habe, ist dass sich jeder in Anbetracht der Zuspitzung der Wirtschaftskrise in seine eigene Ecke zurückzieht. Die Konkurrenz spitzt sich auch weiter zu. Aber trotzdem bin ich nicht pessimistisch, denn ich meine, man müsste die Gesellschaft umwälzen, wir stehen irgendwie am Rande eines Abgrunds“.
· Was tun, wie dem wachsenden Druck widerstehen, die einige zu den schrecklichsten Reaktionen führt wie zum Selbstmord am Arbeitsplatz?
Viele Beispiele von Mobbing am Arbeitsplatz wurden, oft mit ergreifenden Gefühlen, geschildert. „In unserer Firma haben wir schon mehrere Umstrukturierungen durchgemacht. Tagtäglich werden wir gemobbt, viele von uns sind deprimiert, im Augenblick verspürt man keine Solidarität unter Kollegen. Gegenwärtig hat man das Gefühl die Leute sind wie gelähmt, aber ich glaube, die Verschärfung der Wirtschaftskrise wird die Leute dazu zwingen zu reagieren.“ So die Schilderung einer jungen Frau, die seit mehreren Jahren in einer ‚high-tech‘ Branche arbeitet, deren Beschäftigte oft als die privilegierte Elite der Ingenieure angesehen werden. In Wirklichkeit sind deren Beschäftigte genauso von der Krise betroffen. Sie stehen unter einem enormen Leistungsdruck und es wird von ihnen ein riesiges Arbeitspensum erwartet. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass ein junger Gymnasiast, zukünftiger Lohnempfänger, die gleiche Idee des zunehmenden Einflusses der Wirtschaftskrise aufgriff. „Ich diskutieren mit meinen Kumpels auf dem Gymnasium, im Augenblick merken sie die Krise noch nicht so sehr. Ihnen geht es noch einigermaßen gut, aber wenn die Verarmung zunehmen wird, werden auch sie gezwungen zu reagieren.“
Auch das Beispiel von Abteilungsleitern wurde gegeben, die unter einem starken Druck stehen und diesen in “ihre” Abteilungen weitergeben müssen. „In den Betrieben des öffentlichen Dienstes, in denen es zwar auch Unterschiede zwischen den Angestellten und den Führungskräften gibt, entstehen manchmal Diskussionen; denn es ist so offensichtlich, dass auch sie einem gewaltigen Druck ausgesetzt sind, was bei ihnen oft Depressionen auslöst. Ein Beispiel dafür sind die Selbstmorde bei France Télécom, die dies an den Tag gebracht haben.“ Dies schilderte ein Beschäftigter, der aufzeigte, wie sich Ansätze von Solidarität in seiner Abteilung zeigten. Ein Teilnehmer, der auch Freunde hat, die bei France Télécom arbeiten, veranschaulichte die "neue Managementmethode „Time to move“, die dazu führt, dass jeder nach drei Jahren die Stelle wechseln muss. Die Chefs erhalten jedes Mal eine Prämie von 3000 Euro, wenn jemand versetzt wird".
Ist es möglich, zu ‘menschlicheren Managementmethoden’ zurückzukehren? Hier die Reaktion einer Studentin einer Handelsschule: „In unserer Schule spricht man davon, dass das Management dazu angeleitet werden soll, eine größere ‚emotionale Intelligenz‘ zu zeigen. Dadurch könne man sich besser auf die Menschen konzentrieren, besser auf die Fähigkeiten eines jeden eingehen.“ Die Antwort der meisten Teilnehmer war eindeutig. Die Entwicklung der Wirtschaftskrise wird immer brutalere Methoden hervorbringen, und wir wissen alle, dass die "psychologischen Stützpunkte", die von den Arbeitgebern eingerichtet werden, wie ein Pflaster auf einer Prothese funktionieren. Diese Studentin wollte, sobald sie ins Berufsleben eintritt, dem Alltagstrott des „Aufstehen, zur Arbeit fahren, arbeiten, erschöpft nach Hause usw.“ entkommen. Aber man kann nicht wirklich davor flüchten. Eine andere Teilnehmerin entgegnete ihr: „Natürlich möchten wir alle irgendwie gerne auf dem Lande leben und dort Viehzucht betreiben und den ganzen Tag vielleicht nur Marx lesen, aber es gibt keinen individuellen Ausweg aus dem kapitalistischen System. Die ganze Bevölkerung leidet unter dem System.“
In den Treffen waren Teilnehmer mit einem hohen Bildungsabschluss (Ingenieure, Mediziner), deren Erfahrung sich nicht unterschied von der Erfahrung von Beschäftigten, die in Fabriken oder bestimmten Verwaltungen arbeiten. Denn durch die Absenkung ihres Lebensstandards und aufgrund der Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen kommt es zu einer beschleunigten Proletarisierung derjenigen, die vor einigen Jahren noch meinten, sie gehörten einer „Elite“ und keineswegs der „Arbeiterklasse“ an.
Nur Solidarität in den Büros, den Fabriken, den Verwaltungen usw. ermöglicht uns zu handeln
Die Anwesenden unterstrichen deutlich, dass nur Solidarität im Kampf hilft, die unerträgliche Isolierung eines jeden Beschäftigten zu überwinden. Einige konkrete Vorschläge des gemeinsamen Widerstands gegenüber Mobbing und dem Druck des Kapitals wurden aufgegriffen: man darf nicht zögern, öffentlich gegenüber unhaltbaren Zuständen zu reagieren, wenn diese sich gegen einen einzelnen Beschäftigten oder eine Gruppe richten. Man muss mit seinen Kolleg/Innen über die Zustände reden, man darf nicht isoliert in seiner Ecke hocken bleiben und weitere Angriffe abwarten…
Die kapitalistische Gesellschaft ist dazu gezwungen, die Konkurrenz und das jeder für sich zu verschärfen; dem müssen wir mit unserer Solidarität entgegentreten, das Vertrauen untereinander aufbauen und somit all die falschen Spaltungen überwinden und all den Verschlechterungen entgegentreten, denen wir alle ausgesetzt sind.
In den Diskussionen hat die IKS auf die Beispiele von Arbeiterkämpfen verwiesen, die im 19. Jahrhundert spontan ausbrachen, um sich gegen den Druck, der auf einzelne Kollegen ausgeübt wurde oder Demütigungen zu wehren. Seit einigen Jahren hat es auch Solidaritätsbekundungen in bestimmten Kämpfen gegeben, so zum Beispiel während der Bewegung gegen den CPE in Frankreich 2006, in Vigo (Spanien) 2006 und in Ägypten, in England und anderswo. Diesen Weg müssen wir beschreiten. Ein Teilnehmer schilderte, wie er von den Vollversammlungen beeindruckt war, die bei Caterpillar stattfanden, an denen sich alle Beschäftigten beteiligten.
Auf den Redebeitrag eines Gewerkschaftsaktivisten, der behauptete, "die Gewerkschaften müssen gegenüber der mangelnden Solidarität eine große Rolle spielen. Sie müssen in den Betrieben aktiv werden, um gesellschaftliche Beziehungen aufzubauen, nur so lässt sich was durchsetzen", antworteten die anderen Teilnehmer, dass die Beschäftigten Selbstvertrauen gewinnen müssen und spontan mit anderen Beschäftigten reagieren sollten, z.B. in ihrer Abteilung, im Büro, in der Schule, im Krankenhaus usw., und dass man keineswegs die sogenannten Spezialisten des Kampfes brauche. Eine andere junge Frau betonte: "Selbst wenn das "Recht auf Arbeit" nach dem 2. Weltkrieg eingeführt wurde, um die Arbeiter besser zu kontrollieren, müsste man dennoch diese Gesetzgebung nicht verteidigen?" Die anderen Teilnehmer entgegneten wiederum, es sei eine Illusion dies zu glauben, da die herrschende Klasse und ihre Regierungen seit langem die Rechte der Beschäftigten untergraben. Arbeits- oder Schiedsgerichte, deren Macht immer mehr beschnitten wird, sind kein Austragungsort für die Verteidigung der Arbeiterklasse, die sich für ihren Kampf zusammenschließen muss (auch wenn in Einzelfällen ein Beschäftigter an ein Arbeitsgericht appellieren kann). Ein anderer junger Beschäftigter warf die Frage auf: "Ich mag meine Arbeit, aber ich habe die Nase voll davon, immer unter Druck gesetzt zu werden. Im Gegensatz zu dem, was meine Großmutter mir sagte, die von einer früher existierenden gewissen Menschlichkeit unter den Beschäftigten sprach, erwartet man heute von den Beschäftigten so zu denken wie die Unternehmen."
In der Diskussion wurde ebenfalls hervorgehoben, wenn sich jemand auf der Arbeit umbringt, hat dies eine besondere Bedeutung. Diese hebt sich davon ab, wenn sich jemand z.B. zu Hause das Leben nimmt. Ein Selbstmord auf der Arbeit spiegelt die radikalste Form der Ablehnung der aufgezwungenen Arbeitsbedingungen wider. Wenn sich immer mehr Leute am Arbeitsplatz umbringen, steht dies im Zusammenhang mit der Verschlechterung der Bedingungen in der gesamten Gesellschaft. Aus der Sicht eines Teilnehmers: "Auch wenn man keine besondere Lehre aus den Selbstmorden am Arbeitsplatz ziehen kann, bringt dies die allgemeine Desorientierung der Gesellschaft zum Ausdruck."
Am Ende der Diskussion haben wir wie üblich die Teilnehmer in einer Schlussrunde um eine Einschätzung der Diskussion gebeten. Die Gelassenheit und manchmal auch die Emotionalität in der Diskussion wurden von den Teilnehmern begrüßt. Vor allem die Notwendigkeit einer einheitlichen und solidarischen Handlungsweise wurde von allem betont. Die Stärke der Arbeiterklasse liegt in ihrer Fähigkeit, sich in ihren Kämpfen immer massiver einzubringen, ihr Bewusstsein zu entwickeln, dass sie gemeinsam stark und in der Lage ist, eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Konkurrenz, ohne Mobbing aufzubauen – den Kommunismus! IKS, 12.2.2010
1 Wir haben unsere Analyse dieses ‘Gesellschaftsphänomens’, wie die Journalisten es bezeichnen, in einem langen Artikel in unserer Presse dargestellt. Siehe unsere Webseite.