Gespeichert von Weltrevolution am
Die ostdeutsche Arbeiterklasse erlebte in den Wendejahren eine wahre Achterbahnfahrt der Gefühle. Nach der Erleichterung über das unblutige Ende des stalinistischen Regimes, dem ekstatischen Freudentaumel bei der Einführung der D-Mark und der Euphorie über die Wiedervereinigung folgte im Laufe des Jahres 1990 jäh ein Katzenjammer, von dem sich die Arbeiterklasse in Ostdeutschland bis heute nicht richtig erholt hat. Die Unterschriften unter dem Einheitsvertrag waren noch nicht trocken, da wurden die ostdeutschen Lohnabhängigen schon mit einem für sie völlig neuen Phänomen konfrontiert – mit der Arbeitslosigkeit. Waren sie zu DDR-Zeiten per Verfassung noch vor Entlassungen geschützt gewesen (was sie allerdings nicht vor der versteckten Arbeitslosigkeit bewahrt hatte), mussten sie nun miterleben, wie sich ihre beruflichen Existenzen in Luft auflösten. „In Ostdeutschland war der Beschäftigungsabbau seit 1989 rasant. Waren im Umbruchjahr noch rund 9,7 Mio. Erwerbstätige zu verzeichnen, erreichte die Zahl der Erwerbstätigen 1997 mit 6,05 Mio. ihren absoluten Tiefpunkt, der den bisherigen Tiefststand von 1993 (knapp 6,6 Mio.) nochmals deutlich unterschritt (...) Nachdem die Arbeitslosenquote bis 1995 auf 14,9% in den ostdeutschen Bundesländern gesunken war, ist sie bis 1997 auf fast 19,5% angestiegen. Ihren bisherigen Höchstpunkt erreichte die Unterbeschäftigung in Ostdeutschland im Februar 1998 mit einer Arbeitslosenquote von 22,9%.“[1] Das ganze Ausmaß dieser Explosion der Arbeitslosigkeit enthüllt sich erst, wenn man berücksichtigt, dass ein großer Teil der Beschäftigten sein Dasein in sog. ABM-Maßnahmen fristete und nicht in die offizielle Statistik einfloss. Besonders hart getroffen wurde der Industriesektor: Vier von fünf Arbeitsplätzen gingen über den Jordan.
Neben dem wirtschaftlichen Verlust, der mit der Arbeitslosigkeit einherging, wog besonders der Umstand schwer, dass mit dem Verlust des Arbeitsplatzes auch der Lebensmittelpunkt, die Identität der ostdeutschen Arbeiterklasse verloren ging. Denn anders als westdeutsche und Westberliner ArbeiterInnen definierten (und definieren) sich die Angehörigen der ostdeutschen Arbeiterklasse noch schlicht und einfach als... Arbeiter.[2] Hier zählte noch das Kollektiv, anders als der Individualismus, wie er vorwiegend unter ihren westlichen Klassenbrüdern und -schwestern noch herrscht. Darüber hinaus – und in krassem Gegensatz zur tatsächlichen materiellen Lage – war das DDR-Regime stets darum bemüht gewesen, die ostdeutsche Arbeiterklasse propagandistisch zu überhöhen („führende Kraft beim Aufbau des Sozialismus“ u.ä.). All dies wurde nun, kaum dass die DDR ihr elendes Leben ausgehaucht hatte, in Abrede gestellt. Die westdeutschen Invasoren gaben sich keine große Mühe, ihre Geringschätzung gegenüber dem Tun und Schaffen der „Ossis“ zu verbergen; ganze Biographien wurden in Frage gestellt. Es war die Zeit, als das Wort vom „Besserwessi“ die Runde machte, also von jenen Westdeutschen, die sich bei ihrem Auftreten in den „neuen Bundesländern“ wie Kolonialherren gegenüber primitiven Eingeborenen aufführten.
Es versteht sich von selbst, dass angesichts dieser maßlosen Entwertung ihrer bisherigen Existenz die Einheitseuphorie der Ostdeutschen abrupt einer großen Verbitterung wich. Dass diese nicht in eine größere Protestbewegung mündete, hat sicherlich auch mit der Demoralisierung zu tun, die sich gleichzeitig in der ostdeutschen Bevölkerung breitmachte. Schließlich hatte sich ausgerechnet ihre größte Hoffnung, der Anschluss an die Verheißungen des „goldenen Westens“, als größte Bedrohung ihrer Existenz und Biographie entpuppt. Stattdessen suchten (und suchen) immer mehr Menschen in Ostdeutschland Zuflucht in der „Ostalgie“, der Verklärung der alten DDR, die allem Anschein nach mit zunehmender zeitlicher Distanz sogar noch wächst.[3]
Schlimmer noch: bei ihrer Suche nach einem Sündenbock für ihre entwürdigende Lage verirrten sich Teile der ostdeutschen Arbeiterklasse auf das Terrain der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus. Die neunziger Jahre waren gezeichnet von einer nicht enden wollenden Kette von gewalttätigen Übergriffen gegen Ausländer, besonders gegen Südeuropäer und Afrikaner, mit Toten und Schwerverletzten, von Brandanschlägen gegen Asylheime (Rostock-Lichtenhagen, um nur das spektakulärste Beispiel zu nennen) und Döner-Buden. Diese entsetzlichen Taten - begangen von jungen ostdeutschen Arbeitern, unter stillschweigender Zustimmung der Älteren - konnten geschehen, weil die Xenophobie schon lange zuvor zum Alltag der ostdeutschen Arbeiterklasse gehört hatte.[4] Diese fürchterliche Intoleranz gegenüber dem Fremden – die giftige Frucht des Stalinismus, der seit jeher ein Virtuose auf dem Gebiet des Völkerhasses war, aber auch das Ergebnis einer jahrzehntelangen Isolierung von der Welt und dem Weltmarkt – wurde darüber hinaus von westdeutschen Neonazis angestachelt, die schon kurz nach der Wende ihre Pflöcke in den Osten steckten und erfolgreich Kapital aus den ausländerfeindlichen Ressentiments schlugen. Auch der deutsche Staat trug sein Scherflein zur Pogromstimmung in den ostdeutschen Gemeinden bei, indem er ostdeutschen Dörfern Asylheime vor die Nase setzte, deren Bewohnerzahl deutlich die der Dörfler überstieg. Erst als auch EU-Europäer, Japaner und Amerikaner Opfer von rechtsradikal motivierten Übergriffen wurden und die internationale Reputation der Bundesrepublik sowie ihr Ruf als Wirtschaftsstandort Schaden zu nehmen drohte, trat der „Rechtsstaat“ energischer auf den Plan. Ohne jedoch für ein endgültiges Ende dieses Spukes zu sorgen.
Dass es den Neonazis gelang, sich in ostdeutschen Gemeinderäten, ja sogar Länderparlamenten vorübergehend zu etablieren, erklärt sich aber auch aus der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland, die sich in einer enormen Ausdünnung der Bevölkerung äußerte. Allein in den ersten Jahren, von der Wende 1989 bis 1995, verließen fast 1,7 Millionen Ostdeutsche ihre Heimat, um ihr berufliches Glück in Westdeutschland oder gar im Ausland (Schweiz, Österreich) zu suchen. Seitdem hat der Strom der Auswanderer zwar abgenommen, dennoch ist die Bevölkerungsbilanz Ostdeutschlands auch heute noch negativ. Dabei fällt auf, dass es vor allem junge, gut qualifizierte Frauen sind, die ihrer ostdeutschen Heimat den Rücken kehren. Zurück bleiben, neben den Alten, viele frustrierte Männer, oft ungebildet und anfällig für die rechten Rattenfänger.
Doch die Bevölkerung Ostdeutschlands wird nicht nur durch die Abwanderung dezimiert, sondern auch durch den „Gebärstreik“ der ostdeutschen Frauen: So „betrug der ostdeutsche Geburtenrückgang von 1990 auf 1991 40%, von 1991 auf 1992 19% und von 1992 auf 1993 nochmals 8%, und er hat sich erst seit 1994 stabilisiert. Ab 1996 ist wieder eine leichte Zunahme zu verzeichnen; mit einer Geburtenrate von 6,5 pro 1.000 Einwohner im Jahre 1997 hat sich das ostdeutsche Geburtenniveau gegenüber dem Jahr 1989 beinahe halbiert und erreicht lediglich 60% des westdeutschen Niveaus, das in diesem Zeitraum praktisch stabil geblieben ist.“[5] Das Statistische Bundesamt hat im Rahmen der „11. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung nach Bundesländern“ prognostiziert, dass die Bevölkerung Ostdeutschlands, Ende der achtziger Jahre noch über 17 Millionen stark, bis zum Jahr 2050 auf 9,1 Millionen sinken werde. Was dies bedeutet, kann man sich in vielen Regionen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns bereits heute anschauen. Ganze Dörfer vergreisen und werden auf kurz oder lang ganz verlassen sein; in vielen Städten ist das öffentliche Leben erloschen, denn fast alles, was jung ist, hat das Weite gesucht. Und während in den alten Bundesländern Wohnungsmangel herrscht, wurden in vielen ostdeutschen Städten ganze Wohnsiedlungen wegen Leerstand abgerissen. So rückt die Vision eines helvetischen Naturparkexperten, große Teile der neuen Bundesländer wieder der Natur zu überlassen, immer näher...
Das Schicksal der ostdeutschen Arbeiterklasse in den letzten zwanzig Jahren ist in gewisser Weise einmalig. Anders als die ArbeiterInnen aus den anderen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes erlebte sie den Übergang von der stalinistischen „Plan“wirtschaft zur westlichen „Markt“wirtschaft im Zeitraffer. Ihr Sturz ins soziale Nichts geschah rasend schnell, ihre Desillusionierung über den westlichen Kapitalismus war unermesslich. Doch auch ihre Klassenbrüder und -schwestern jenseits des einstigen Eisernen Vorhangs kamen nicht ungeschoren davon. Immerhin trugen sie über die Sozialversicherungskassen (s.o.) maßgeblich zur Finanzierung der Wiedervereinigung bei. Durch die steigenden Abgaben für die Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung kam es im Verlaufe der neunziger Jahre zu erheblichen Reallohneinbußen, was dazu führte, dass der westdeutsche Durchschnittslohn im internationalen Vergleich zurückfiel. Ferner litt die Lebensqualität in Westdeutschland noch in einem anderen Sinn unter der Wiedervereinigung: Während in Ostdeutschland im Rahmen des „Aufbaus Ost“ an vielen Orten eine moderne Infrastruktur entstand, verrotteten in den westdeutschen Kommunen die Straßen und Brücken, wurden Büchereien und Kindergärten geschlossen. Und um das Maß vollzumachen, wurde (und wird) den Lohnabhängigen (und nur ihnen!) der sog. „Solidaritätsbeitrag“ für Ostdeutschland abverlangt.[6] In Berlin, wo Ost und West direkt aufeinanderprallten, gab es noch ein weiteres Opfer der Wiedervereinigung: die Arbeitsimmigranten. Sie wurden im Verlaufe der neunziger Jahre aus der Produktion ausgemustert und durch hoch motivierte Ostberliner Arbeiter und Arbeiterinnen ersetzt. Die Folge: in Berlin konzentrieren sich die Problemgebiete nicht im Ostteil der Stadt, sondern in den Westberliner Bezirken mit hohem Immigrantenanteil (Kreuzberg, Neukölln, Wedding, Spandau).
Wir sehen also, dass die Arbeiterklasse in Ost- und Westdeutschland gemeinsam, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, an den Folgen der Wiedervereinigung litt. Doch gemeinsame Not schweißt nicht unbedingt zusammen. Dies lehrt uns jedenfalls die Erfahrung aus den ersten zwanzig Jahren der deutschen „Einheit“. Kaum war die erste Euphorie über den Fall der Mauer verflogen, machten sich die ersten Risse zwischen den beiden Teilen der Arbeiterklasse in Deutschland bemerkbar. Insbesondere unter den ArbeiterInnen Westdeutschlands und Westberlins machte sich schon früh Skepsis hinsichtlich der Folgen der Wiedervereinigung breit. In den grenznahen Regionen stöhnte man unter der Invasion der „Ossis“, die die Geschäfte leer kauften. Auch fühlten sich viele aufgeschlossene ArbeiterInnen, die die Arbeitsimmigranten stets als ein Teil ihrer Arbeitswelt wahrgenommen hatten, von der plumpen Ausländerfeindlichkeit mancher ihrer ostdeutschen KollegInnen abgestoßen. Noch schwerer wog der Vorwurf, die ostdeutschen ArbeiterInnen würden mit ihrer Übermotiviertheit die Standards untergraben, die sich die Arbeiterklasse Westdeutschlands mühsam erkämpft hatte.
Es versteht sich von selbst, dass diese Misshelligkeiten flugs von den bürgerlichen Boulevardmedien aufgegriffen wurden, um die Spaltung zu vertiefen und zu verinnerlichen. „Jammerossis gegen Besserwessis“ hieß es jahrelang in den Schlagzeilen der west- und ostdeutschen Revolverblätter. Den Vogel schossen allerdings die Gewerkschaften ab. Sie zementierten durch eine geteilte Tarifpolitik die Spaltung auf dem ökonomischen Gebiet. Bis heute müssen ArbeiterInnen in Ostdeutschland für weniger Geld länger arbeiten. Auch der traurige Höhepunkt in der Entfremdung zwischen der Arbeiterklasse in Ost- und Westdeutschland geht auf das Konto der gewerkschaftlichen Spalter – der Streik der ostdeutschen Metaller im Jahr 2003 für die 35-Stunden-Woche. Hier spielte die IG Metall ein doppeltes Spiel: Einerseits trieb sie die ostdeutschen Metallarbeiter in diesen Konflikt, wohl wissend, dass Wohl und Weh ihes Kampfes von der Zustimmung und Solidarität ihrer KollegInnen in Westdeutschland abhing. Andererseits verhinderte sie eben diese Solidarisierung durch ihre Betriebsratsbonzen in den Betrieben der westdeutschen Metallbranche. Es drohte eine direkte Konfrontation zwischen ost- und westdeutschen Arbeitern; denn der Streik in den ostdeutschen Zulieferbetrieben drohte die Produktion in den westdeutschen Automobilfabriken lahmzulegen. Zudem gab es hässliche Auseinandersetzungen zwischen den Streikenden und Streikbrechern, die aus Westdeutschland herangekarrt wurden. Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde der Streik ergebnislos beendet. Es sollte der erste und letzte nennenswerte Widerstand der ostdeutschen Arbeiterklasse bleiben.
Mittlerweile sind fast zwanzig Jahre seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 vergangen. Eine neue Generation ist ins Arbeitsleben getreten, die in den Wendejahren geboren wurde und nichts anderes kennt als den Kapitalismus westlicher Prägung. Sie ist frei von vielen Gebrechen, unter denen die noch in der DDR sozialisierten Generationen nach dem Fall der Mauer litten – das Gefühl, ein Underdog zu sein, die xenophoben Ressentiments, etc. Sie ist unbelastet von dem Dünkel, der das Denken und Verhalten nicht weniger in der Bonner Republik aufgewachsener ArbeiterInnen gegenüber den ostdeutschen Klassenbrüdern und -schwestern prägte. Und sie kann auf einen Schatz von Erfahrungen bauen, der einmalig in der Welt ist. Denn die deutsche Arbeiterklasse bündelt in sich die Erfahrungen aus den drei großen Ideologien des Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Keine andere Arbeiterklasse kann von sich sagen, Stalinismus, Faschismus und Demokratie gleichermaßen am eigenen Leib erlebt zu haben.
[1] Handbuch zur Deutschen Einheit, S. 859.
[2] Ebenda, S. 530.
[3] Laut Meinungsumfragen sind heute mehr Ostdeutsche denn je für eine Wiederkehr der DDR.
[4] Es war beispielsweise übler Brauch gewesen, die wenigen ausländischen Arbeitskollegen, die in der DDR-Wirtschaft beschäftigt gewesen waren, mit solch diffamierenden Wörtern wie „Presspappe“ (gemeint waren die Angolaner und Mosambiquaner) oder „Fidschi“ (die Vietnamesen) zu titulieren.
[5] Handbuch zur Deutschen Einheit, S. 525.
[6] Übrigens verwendete die deutsche Bourgeoisie einen großen Teil der Erträge aus dem „Solidariträtsbeitrag“ dafür, sich aus einer aktiven militärischen Beteiligung am ersten Golfkrieg Anfang der neunziger Jahre freizukaufen.