Welche Kraft kann Rassismus und Ausbeutung überwinden?

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Die Parlamentswahlen in Schweden vom 19. September 2010 brachten u.a. den Einzug einer fremdenfeindlichen, rechtsradikalen Partei ins Abgeordnetenhaus. Als Reaktion darauf verbreitete eine siebzehnjährige Frau per Internet einen Aufruf zu einer Protestkundgebung. Daraufhin versammelten sich am darauf folgenden Tag zehntausende vorwiegend junge Leute im Zentrum von Stockholm, um gegen den zunehmenden Rassismus in der Gesellschaft die Stimme zu erheben. Dieses Ereignis lässt erahnen, welche wachsende Sorge und auch Kampfbereitschaft gerade auch in der jungen Generation steckt angesichts der um sich greifenden Ausgrenzung von Minderheiten in dieser Gesellschaft und der Suche nach Sündenböcken. Es ist heute mit Händen zu greifen, dass diese Zuspitzung des „jeder für sich“ etwas zu tun hat mit der Zuspitzung der weltweiten Wirtschaftskrise und mit der Sackgasse, in welcher die Menschheit im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft steckt.

Die Demokratie: Ein Bollwerk gegen Rechts?

Das herrschende System des Privateigentums an Produktionsmitteln, die „Marktwirtschaft“ und der Parlamentarismus beanspruchen gerne für sich die Fähigkeit, das Prinzip der Toleranz in der Gesellschaft hochzuhalten und ein friedliches Nebeneinander der Kulturen zu ermöglichen. Und man stellt die Sache gerne so hin, als ob es der berühmte Mann auf der Straße sei, der intolerant werde, während die Würdenträger der Demokratie politisch korrekt tapfer dagegen hielten: Die Demokratie als Bollwerk gegen Rechts.

Wir glauben, dass die wachsende Sorge in der Gesellschaft gegenüber dem Problem der Fremdenfeindlichkeit auch damit zusammenhängt, dass viele Menschen zu ahnen begonnen haben, dass dies nicht stimmt. In Frankreich ist es der amtierende, demokratisch gewählte Präsidenten Sarkozy, der die Roma und Sinti deportieren lässt. Und er tut es u.a. deshalb, um seine Chancen auf Wiederwahl ins höchste Amt des Staates zu vergrößern. In Deutschland ist der aktuelle Brandstifter des politischen Populismus, Sarrazin, jahrzehntelang eine Galionsfigur der SPD in Berlin gewesen. Er ist nicht einer der obersten Bundesbanker geworden seiner rassistischen Thesen zum trotz, sondern aufgrund dessen, d.h. aufgrund seiner bewährten Fähigkeit, durch spalterische Parolen Wähler für die Sozialdemokratie in der Hauptstadt zu gewinnen. Und jetzt, wo er sich politisch zu verselbständigen droht, tut man so, als ob seine Thesen neu wären, oder als ob man sie bisher nicht zur Kenntnis genommen hätte.

Von den politischen Populisten sagt man, dass sie gerne dem Volk aufs Maul schauen. Stimmt es also, dass Rassismus und Ausgrenzung sozusagen von unten ausgehend aufsteigen und von „denen da oben“ lediglich aufgegriffen werden, wie das andauernd in den Talkshows behauptet wird? Man muss feststellen, dass Hass und Verfolgungsbereitschaft sowohl „unten“ als auch „oben“ und ganz „oben“ ihre Blüten treiben, und dass es v.a. die kapitalistische Gesellschaft selbst ist, welche dieses Gift aus allen Poren absondert. Und in dieser Hinsicht trägt die herrschende Klasse die Hauptverantwortung für diese Entwicklung, nicht in erster Linie weil sie rassistischer wäre als der Stammtisch des „kleinen Mannes“, sondern weil sie das System verteidigt und aufrecht erhält, welche heute die Menschen voneinander entfremdet, sie zu Konkurrenten, zu Feinden macht.

Rassismus und Kapitalismus

Der „Antirassismus“ der Spitzenpolitiker und Würdenträger ist heuchlerisch. Aber diese Heuchelei ist nicht zuerst eine persönliche, sondern ein systembedingte. Der Kapitalismus ist vollendete „Marktwirkschaft“. Er ist das erste Wirtschaftssystem in der Menschheitsgeschichte, dessen Hauptziel nicht das Sichern des Konsums der Gesellschaft – nicht mal den der herrschenden Klasse – ist, sondern der Profit, das Erzielen eines Gewinns auf dem Markt. Der Konsum der Gesellschaft bzw. die Privilegien der Ausbeuter stellen sich nur ein, wenn der Konkurrenzkampf auf diesem Markt erfolgreich bestanden wird. Die Konkurrenz ist somit das A und O dieser Gesellschaft. Nicht nur die Besitzer der Produktionsmittel müssen gegeneinander konkurrieren, damit das System funktioniert, sondern auch die Produzenten, die Ausgebeuteten. Damit dieses System der Konkurrenz der LohnarbeiterInnen unter einander funktioniert, dafür hat der Kapitalismus sich des Rassismus, Nationalismus, ethnischen Hasses bedient, und zwar von dem Tag an, als er das Licht der Welt erblickte. Heutzutage macht sich beispielsweise der Standort Europa für die Konkurrenz mit Asien und anderen Weltgegenden fit durch ein ausgeklügeltes, weltweit umspannendes System der Mobilisierung von Arbeitskräften, darunter die „Saisonarbeit“ russischer oder ukrainischer Bauarbeiter, welche, 12 Stunden täglich ohne Unterbrechung arbeitend, im Schlafcontainer direkt an der Baustelle untergebracht, für einen Stundenlohn schuften, welcher konkurrieren kann mit den in China gezahlten. Dazu gehört das ganze System der „Festung Europa“; das System der Deportation von Flüchtlingen und der Errichtung von Auffanglagern in den Herkunftsländern, welche die Europäische Kommission in Brüssel – die Sarkozys „Abschiebung“ der Roma und Sinti kritisiert, weil sie gegen EU-Recht verstößt – völlig legitim findet. Dieses System ist nicht nur eine Barriere, um verzweifelte Menschen abzuhalten, es ist zugleich eine Schleuse, welche die illegale Einwanderung nach den Bedürfnissen des kapitalistischen Arbeitsmarkts reguliert. Denn auch die Millionen von Illegalen, welche ohne die geringsten Rechte oder soziale Absicherung der Gier des Ausbeutungssystems restlos ausgeliefert sind, sind Bestandteil des Kampfes der Standorte um die eigene Konkurrenzfähigkeit. So werden tagtäglich die Bedingungen des Hasses und der Ausgrenzung durch den kapitalistischen Arbeitsmarkt reproduziert. Und die Entrüstung der Machthaber, wenn die Opfer dieser Konkurrenz tatsächlich blind genug sind, um sich gegenseitig als die Schuldigen auszumachen, kann man nichts anders als heuchlerisch bezeichnen.

Ist der Kapitalismus von oben bis unten mit Rassismus durchsetzt, so kann eine Lösung, eine Überwindung dieses Problems nur von „unten“ her kommen. Denn die Kapitalisten sind nur stark, wenn sie konkurrenzfähig sind, das entspricht ihrer ganzen Lebensweise. Die Lohnarbeiter hingegen werden durch die Konkurrenz untereinander hilflos gehalten. Die Lohnabhängigen können nur stark werden durch die Aushebung der Konkurrenz in ihren Reihen, durch die Entwicklung einer Klassensolidarität, welche die weltumspannende Solidarität einer freien Menschheit vorwegnimmt. Für diese Klasse der Gesellschaft ist die Überwindung des Gifts der Spaltung nicht nur ein anstrebenswertes Ideal, sondern eine unmittelbare Notwendigkeit, Ausdruck der eigenen Interessenslage.

Welche Kraft kann Hass und Ausgrenzung überwinden?

In diesem Sommer sprach ein Vertreter der kämpfenden Belegschaft des staatlichen TEKEL-Konzerns aus der Türkei auf Solidaritätsveranstaltungen in Deutschland und der Schweiz (siehe den Artikel dazu in dieser Ausgabe). Diese Reise wurde durch den Wunsch motiviert, die Lehren aus den Kämpfen in der Türkei international bekannt zu machen und Kontakt aufzunehmen mit kämpferischen ArbeiterInnen in Europa, welche vor den gleichen Herausforderungen stehen. Die Augenzeugenberichte über die Kampferfahrungen bei TEKEL machten deutlich, wie zentral die Frage der Solidarität im Arbeiterkampf ist, um Jung und Alt, Mann und Frau, um türkische und kurdische, um Beschäftigte verschiedener Sektoren zusammenzuschweißen. Es wurde aber ebenso deutlich, wie im Verlauf eines solchen Abwehrkampfes (in diesem Fall gegen Massenentlassungen) das Bedürfnis entsteht, den eigenen Widerstand als Teil eines internationalen Kampfes zu begreifen. Schließlich ist die kapitalistische Konkurrenz eine weltweit operierende und kann letztlich nur auf globaler Ebene aufgehoben werden.

Wer der Praxis des „jeder für sich“ in dieser Gesellschaft wirklich auf den Grund gehen will, wird nicht um den Schritt herum kommen, die Wurzeln des Elends im kapitalistischen System zu suchen. Der Kampf um die Überwindung der Ausbeutung ist der Standpunkt, von dem aus sich ein tiefgreifender, theoretischer wie praktischer Kampf gegen die vorherrschende Barbarei führen lässt. 21.09.10

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