Rosa Luxemburg: Tolstoi als sozialer Denker

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Im November 1910 verstarb L. Tolstoi. Wir veröffentlichen nachfolgend einen Artikel von Rosa Luxemburg zur Würdigung seines Werkes.

In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Den­ker. Die Grund­fragen des menschlichen Lebens, der Beziehungen der Menschen zuein­ander, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäf­tigten seit jeher tief das innerste Wesen Tolstois, und sein ganzes langes Leben und Schaffen war zugleich ein unermüdli­ches Grübeln über „die Wahrheit" im Menschen­leben. Dasselbe rastlose Suchen nach Wahrheit wird gewöhnlich auch einem ande­ren berühmten Zeitgenossen Tolstois, Ibsen, nachgesagt Wäh­rend aber in den Ibsenschen Dramen der große Ideenkampf der Gegen­wart in dem großspurigen, meistens kaum verständlichen Puppenspiel zwerghafter Gestalten grotesken Ausdruck findet, wo­bei der Künstler Ibsen unter den unzureichenden Anstrengungen des Denkers Ibsen kläg­lich erliegt, vermag die Denkarbeit Tols­tois seinem künstlerischen Genie nichts anzuhaben

In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Den­ker. Die Grund­fragen des menschlichen Lebens, der Beziehungen der Menschen zuein­ander, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäf­tigten seit jeher tief das innerste Wesen Tolstois, und sein ganzes langes Leben und Schaffen war zugleich ein unermüdli­ches Grübeln über „die Wahrheit" im Menschen­leben. Dasselbe rastlose Suchen nach Wahrheit wird gewöhnlich auch einem ande­ren berühmten Zeitgenossen Tolstois, Ibsen, nachgesagt Wäh­rend aber in den Ibsenschen Dramen der große Ideenkampf der Gegen­wart in dem großspurigen, meistens kaum verständlichen Puppenspiel zwerghafter Gestalten grotesken Ausdruck findet, wo­bei der Künstler Ibsen unter den unzureichenden Anstrengungen des Denkers Ibsen kläg­lich erliegt, vermag die Denkarbeit Tols­tois seinem künstlerischen Genie nichts anzuhaben. In jedem seiner Romane fällt diese Arbeit irgendeiner Person zu, die mit­ten in dem Getümmel lebenstrotzender Gestalten die etwas linkische, ein wenig lächerliche Rolle eines verträumten Räsoneurs und Wahr­heitsuchers spielt, wie Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden", wie Lewin in „Anna Karenina", wie Fürst Nechljudow in der „Aufer­stehung". Diese Personen, die immer die eigenen Gedanken, Zweifel und Probleme Tolstois in Worte kleiden, sind in der Regel künstlerisch am schwächsten, schemenhaftesten gezeichnet, sie sind mehr Beobachter des Lebens als Mitwirkende Teilneh­mer. Allein die Gestaltungskraft Tolstois ist so gewaltig, dass er selbst nicht imstande ist, die eigenen Werke zu verpfu­schen, wie sehr er sie in der Sorglosigkeit eines gottbegnadeten Schöpfers misshandeln mag. Und als der Denker Tolstoi mit der Zeit über den Künstler den Sieg davongetragen hatte, so geschah es nicht, weil das künstlerische Genie Tolstois versiegte, sondern weil ihm der tiefe Ernst des Denkers Schweigen gebot. Wenn Tolstoi in dem letzten Jahrzehnt statt herrlicher Romane nunmehr künstle­risch oft trostlose Traktate und Trak­tätchen über Religion, Kunst, Moral, Ehe, Erziehung, Arbeiterfrage schrieb, so war es, weil er mit seinem Grübeln und Denken zu Ergebnis­sen gelangt ist, die ihm sein eigenes künstlerisches Schaffen als eine frivole Spiele­rei erscheinen ließen.

Welches sind nun diese Ergebnisse, welche Ideen verfocht und verficht jetzt noch bis zum letzten Atemzuge der greise Dichter? Kurz gefasst, ist die Ideenrichtung Tolstois bekannt als, eine Abkehr von den bestehenden Verhältnissen mitsamt dem sozialen Kampf in jeglicher Gestalt zu einem „wahren Christentum". Schon auf den ersten Blick mutet diese geistige Richtung reaktionär an. Gegen den Verdacht freilich, als hätte das von ihm gepredigte Christentum irgend etwas mit dem bestehenden offiziellen Kirchenglau­ben zu tun, ist Tolstoi schon durch den öffentlichen Bannstrahl geschützt, mit dem ihn die russische orthodoxe Staatskirche getrof­fen hat Allein auch eine Opposition gegen das Bestehende schillert in reaktionären Farben, wenn sie sich in mystische Formen klei­det. Doppelt verdächtig erscheint aber ein christlicher Mystizismus, der jeden Kampf und jede Form der Gewaltanwendung verab­scheut und die Lehre von der „Nicht­vergeltung" predigt, in einem sozialen und politischen Milieu wie dem des absolutistischen Russ­land. Tatsächlich äußerte sich der Einfluss der Tol­stoischen Lehren auf die junge russische Intelligenz – ein Einfluss, der übri­gens nie weittragend war und sich nur auf kleine Zirkel erstreckte – Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, d. h. in der Periode des Stillstands des revolutionären Kampfes, in der Verbreitung einer indolenten ethisch-individualistischen Strö­mung, die eine direkte Gefahr für die revolutionäre Bewegung hätte werden können, wäre sie nicht räumlich wie zeitlich bloß eine Episode geblieben. Und endlich unmittel­bar vor das geschichtliche Schauspiel der russischen Revolution gestellt, wendet sich Tols­toi offen gegen die Revolution, wie er bereits in seinen Schriften schroff und ausdrücklich gegen den Sozialismus Stellung genom­men, speziell die Marxsche Lehre als eine ungeheure Verblendung und Verirrung bekämpft hat.

Gewiß, Tolstoi war und ist kein Sozialdemokrat, und für die Sozial­demokratie, für die moderne Arbeiterbewegung hat er nicht das geringste Verständnis. Allein, es ist ein hoffnungsloses Verfahren, an eine geistige Erscheinung von der Größe und von der Eigenart Tolstois mit dem arm­seligen steifen Schulmaß herantreten und ihn danach beurteilen zu wollen. Die ablehnende Haltung zum Sozia­lismus als einer Bewegung und einem Lehrsystem kann unter Umständen nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke ei­nes Intellekts herrühren, und dies ist gerade bei Tolstoi der Fall.

Einerseits herangewachsen noch in dem alten leibeigenen Russland Nikolaus' L, in einer Zeit, wo es im Zarenreich weder eine mo­derne Arbei­terbewegung noch auch die nötige wirtschaftliche und soziale Vorbedin­gung dazu, eine kräftige kapitalistische Ent­wicklung, gab, war er in seinem kräftigsten Mannesalter Zeuge des Versagens zuerst der schwächlichen Anläufe einer libera­len Bewegung, dann auch der revolutionären Be­wegung in der Form der terroristischen „Narodnaja Wolja", um erst im Al­ter fast eines Siebzigjährigen die ersten kräftigen Schritte des indu­striellen Proletariats und schließlich als hochbetagter Greis die Revolution zu erleben. So ist es kein Wunder, dass für Tolstoi das moderne russische Proletariat mit seinem geisti­gen Leben und Streben nicht existiert, da ihm der Bauer, und zwar der ehemalige tiefgläubige und passiv duldende russi­sche Bauer, der nur eine Sehnsucht kennt – mehr Land zu besitzen, ein für allemal das Volk schlechthin bedeutet.

Anderseits aber gehört Tolstoi, der alle kritischen Phasen und den ganzen qualvollen Werdegang des russischen öffentli­chen Gedankens mit­erlebt hat, zu jenen selbständigen, genialen Geistern, die sich sehr viel schwerer in fremde Denkformen, in fertige Lehrsysteme fügen als Durch­schnittsintelligenzen. Sozusagen geborener Autodidakt – nicht in bezug auf die formale Bil­dung und das Wissen, sondern in bezug auf das Denken –, muss er zu jedem Gedanken auf einem eigenen Wege gelan­gen. Und sind die Wege für andere meist unbegreiflich und die Resultate bizarr, so er­reicht der kühne Einzelgänger dabei doch Ausblicke von überwältigender Weite.

Wie bei allen Geistern dieser Art, liegt die Stärke Tolstois und das Schwergewicht seiner Gedankenarbeit nicht in der positi­ven Propaganda, sondern in der Kritik des Bestehenden. Und hier erreicht er eine Viel­seitigkeit, Gründlichkeit und Kühn­heit, die an die alten Utopistenklas­siker des Sozialismus, an Saint-Simon, Fourier und Owen, erinnern. Es gibt nicht eine von den hergebrachten geheiligten Institutionen der be­stehenden Gesellschaftsordnung, die er nicht unbarmherzig zerpflückt, ihre Verlogenheit, Verkehrtheit und Verderblichkeit aufgezeigt hätte. Kirche und Staat, Krieg und Militarismus, Ehe und Erzie­hung, Reichtum und Müßiggang, physische und geistige Degradation der Arbeitenden, Aus­beutung und Unterdrückung der Volksmassen, das Verhältnis der Ge­schlechter, Kunst und Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt – alles unter­zieht er ei­ner schonungslosen, vernichtenden Kritik, und zwar stets vom Standpunkt der Gesamtinteressen und des Kulturfortschritts der großen Masse. Liest man z. B. die Anfangssätze seiner „Arbeiterfrage", so meint man, eine populäre sozialistische Agitations­schrift in der Hand zu haben:

„In der ganzen Welt gibt es mehr als eine Milliarde, Tausende Mil­lionen Arbeiter. Das ganze Getreide, sämtliche Waren der ganzen Welt, alles, wovon die Menschen leben und was ihren Reichtum ausmacht, ist das Produkt des arbeitenden Vol­kes. Allein nicht das arbeitende Volk, sondern die Regierung und die Reichen genießen alles, was es erzeugt. Das werktä­tige Volk aber lebt in ewiger Not, Unwissenheit, Sklaverei und Verachtung bei allen denjenigen, die es kleidet, nährt, für die es baut und denen es dient. Das Land ist ihm weggenommen worden, und es ist das Eigentum derer, die nicht arbei­ten, so dass der Arbeiter alles das machen muss, was die Grundbesitzer von ihm verlangen, um vom Grund und Boden le­ben zu können. Verlässt aber der Arbeiter das Land und geht in die Werkstatt, so gerät er in die Sklaverei bei den Reichen, bei wel­chen er das ganze Leben 10, 12, 14 und noch mehr Stunden am Tag eine fremde, eintönige und oft für das Leben schädli­che Arbeit ausführen muss. Kann er sich aber auf dem Lande oder bei der fremden Arbeit so ein­richten, um nur in Not le­ben zu können, so lässt man ihn nicht in Ruhe, sondern verlangt von ihm Steuern, zieht ihn selbst für drei, für fünf Jahre zum Soldatendienst heran und zwingt ihn, für das Kriegswerk beson­dere Steuern zu zahlen. Will er aber den Boden benut­zen, ohne Rente zu zahlen, einen Streit anfangen oder die Arbeitswilligen verhindern, seine Stelle einzunehmen, oder die Steuern verweigern, so schickt man gegen ihn das Militär, das ihn verwundet, tötet und mit Gewalt zwingt, nach wie vor zu arbeiten und zu zahlen ... Und so leben die meisten Menschen in der ganzen Welt, nicht bloß in Russland, sondern auch in Frankreich, Deutschland, England, China, Indien, Afrika, überall."'

Seine Kritik des Militarismus, des Patriotismus, der Ehe wird an Schärfe von der sozialistischen Kritik kaum übertroffen und bewegt sich in derselben Richtlinie wie diese. Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z. B. der Ver­gleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Ar­beit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal erhebt, wofür er bei manchen hervorragenden französischen und ande­ren Sozialdemokraten in den Geruch eines Sozialisten von reinstem Wasser gekommen ist, bemerkt Tolstoi ruhig, indem er mit weni­gen Worten den Nagel auf den Kopf trifft: „Herr Zola sagt, dass die Arbeit den Menschen gut mache; ich habe immer das Gegen­teil bemerkt: Die Arbeit als solche, der Stolz der Ameise auf ihre Arbeit, macht nicht nur die Ameise, sondern auch die Menschen grau­sam ... Aber wenn sogar die Arbeitsamkeit kein erklärtes Laster ist, so kann sie in keinem Falle eine Tugend sein. Die Arbeit kann ebenso wenig eine Tugend sein wie das Sichernähren. Die Arbeit ist ein Bedürf­nis, das, wenn es nicht befriedigt wird, ein Leiden und nicht eine Tugend ausmacht Die Erhebung der Arbeit zu einer Tugend ist ebenso verkehrt wie die Erhebung des Sichernährens des Men­schen zu einer Würde und Tugend. Die Arbeit konnte die Bedeutung, die man ihr in unsrer Gesell­schaft zuschreibt, nur als eine Reak­tion gegen den Müßiggang gewinnen, den man zum Merkmal des Adels erhoben hat und den man noch als Merkmal der Würde in reichen und wenig gebildeten Klassen hält ... Die Arbeit ist nicht bloß keine Tugend, sondern sie ist in unsrer falsch geord­neten Gesell­schaft zum größten Teil ein das sittliche Empfindungsver­mögen ertötendes Mittel."

Wozu zwei Worte aus dem „Kapital" das knappe Gegenstück bilden: „Das Leben des Proletariats beginnt, wo seine Arbeit aufhört." Bei der obigen Zusammenstellung der beiden Urteile über die Arbeit zeigt sich übrigens genau das Verhältnis Zolas zu Tolstoi im Den­ken wie im künst­lerischen Schaffen: das eines biederen und talentvollen Handwerkers zum schöpferischen Genie.

Tolstoi kritisiert alles Bestehende, erklärt, dass alles wert sei, zugrunde zu gehen, und er predigt: Abschaffung der Ausbeutung, allge­meine Ar­beitspflicht, ökonomische Gleichheit, Abschaffung des Zwanges in der Staatsorganisation wie im Verhältnis der Geschlechter, völ­lige Gleichheit der Menschen, der Geschlechter, der Nationen und die Völkerverbrüde­rung. Welcher Weg soll uns aber zu dieser radika­len Umwälzung der sozialen Organisation führen? Die Rückkehr der Menschen zu dem ein­zigen und einfachen Grundsatze des Christen­tums: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Man sieht, Tolstoi ist hier reiner Idealist. Durch sittliche Wiedergeburt der Men­schen will er sie zur Umkrempelung ihrer sozialen Verhältnisse bringen, und die Wiedergeburt will er durch laute Predigt und durch Bei­spiel erreichen. Und er wird nicht müde, die Notwendigkeit und Nützlichkeit dieser sittlichen „Auferstehung" zu wiederholen mit ei­ner Zähigkeit, einer gewissen Dürftigkeit der Mittel und einer naiv-schlauen Überredungskunst, die lebhaft an die ewigen Wendun­gen Fou­riers von dem Eigennutz der Menschen erinnern, den er in verschiedensten Formen für seine sozialen Pläne zu interessie­ren suchte.

Das soziale Ideal Tolstois ist also nichts anderes als Sozialismus. Will man aber den sozialen Kern und die Tiefe seiner Ideen in schlagend­ster Weise erkennen, so muss man sich nicht sowohl an seine Traktate über ökonomische und politische Fragen, sondern an seine Schriften über die Kunst wenden, die übrigens auch in Russland zu den am wenigsten be­kannten gehören. Der Gedankengang, den Tolstoi hier in glänzender Form entwickelt, ist folgender: Die Kunst ist - entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schulmei­nungen - nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander wie die Sprache. Nachdem er durch eine köstli­che Abschlachtung aller Kunstdefinitionen von Winckelman und Kant bis Taine diesen echt materialistisch-historischen Maßstab ge­won­nen hat, tritt Tolstoi mit demselben in der Hand an die gegenwärtige Kunst heran und findet, da der Maßstab in keinem Gebiet und in kei­nem Stück auf die Wirklichkeit passt; die gesamte bestehende Kunst ist – mit einigen ganz geringen Ausnahmen – der großen Masse der Gesellschaft, nämlich dem arbeitenden Volke, unverständlich. Statt daraus mit der landläufigen Meinung auf die geistige Roh­heit der großen Masse und die Notwendigkeit ihrer „Hebung" zum Verständnis der heutigen Kunst zu schließen, zieht Tolstoi den umgekehr­ten Schluss: Er erklärt die gesamte bestehende Kunst für „falsche Kunst": Und die Frage, wie ist es denn gekommen, dass wir seit Jahrhunderten eine „falsche" statt einer „wahren", d. h. volkstümlichen Kunst haben, führt ihn zu einem weiteren kühnen Aus­blick: eine wahre Kunst hätte es in den uralten Zeiten gegeben, wo das gesamte Volk eine gemeinsame Weltanschauung – Tolstoi nennt sie „Religion" – hatte; aus dieser seien solche Werke wie Homers Epos oder die Evangelien entstanden. Seit jedoch die Gesell­schaft in eine ausge­beutete große Masse und eine kleine herrschende Minderheit zerklüftet sei, diene die Kunst nur dazu, die Ge­fühle der reichen und müßigen Minderheit auszudrücken, da dieser aber heute jede Weltanschauung über­haupt abhanden gekommen sei, so hätten wir den Verfall und die Aus­artung, die die moderne Kunst charakterisieren. Zu einer „wahren Kunst" kann es nach Tols­toi nur dann kommen, wenn sie aus einem Ausdrucks­mittel der herrschenden Klassen wieder zur Volkskunst, d. h. zum Aus­druck einer gemeinsamen Weltanschauung der arbeitenden Gesellschaft, wird. Und mit starker Faust schleudert er in das Verdammnis der „schlechten, falschen Kunst" die größten und kleinen Werke der berühm­testen Sterne der Musik, der Malerei, der Dichtkunst hinab und zum Schluss – seine sämtlichen eigenen herrlichen Werke. „Sie stürzt, sie zer­fällt, die schöne Welt, ein Halbgott hat sie zerschlagen." Nur noch einen letzten Roman – „Auferstehung" – schrieb er seitdem, sonst hielt er es nur für wert, einfache, kurze Volksmärchen und Traktätchen zu schreiben, „die jedermann verständlich sind".

Der schwache Punkt Tolstois: die Auffassung der ganzen Klassengesell­schaft als einer „Verirrung" statt einer historischen Notwen­digkeit, die die beiden Endpunkte seiner geschichtlichen Perspektive, den Urkommu­nismus und die sozialistische Zu­kunft, verbindet, liegt auf der Hand. Wie alle Idealisten, glaubt er ja auch an die Allmacht der Gewalt und erklärt die ganze Klassenorganisation der Gesellschaft als das bloße Produkt einer langen Kette nackter Gewaltakte. Aber eine wahr­haft klassische Größe liegt in dem Gedanken über die Zukunft der Kunst, die Tolstoi zugleich in der Vereinigung der Kunst als Ausdrucksmittel mit dem sozialen Empfinden der arbeitenden Menschheit und der Ausübung der Kunst, d. h. der Künstlerlaufbahn, mit dem normalen Leben eines arbei­tenden Gesellschaftsgliedes erblickt. Die Sätze, in denen Tolstoi das Ab­norme in der Lebensweise des heutigen Künstlers geißelt, der nichts anderes tat als „seiner Kunst leben", sind von lapida­rer Wucht, und es liegt ein echt revolutionärer Radikalismus darin, wenn er die Hoffnungen zerschlägt, eine Verkür­zung der Arbeitszeit und Hebung der Bildung in den Massen werde ihnen das Verständnis für die Kunst, wie sie heute gestal­tet ist, verschaffen :

„Das alles sagen die Verteidiger der heutigen Kunst mit Vorliebe, doch bin ich überzeugt, dass sie selbst nicht glauben, was sie sagen. Sie wissen wohl, dass die Kunst, wie sie sie auffassen, die Unterdrückung der Massen zur notwendigen Bedingung hat und sich auch durch die Aufrechterhaltung dieser Unterdrückung selbst aufrechterhalten kann. Es ist unerlässlich, dass sich Mas­sen von Arbeitern in der Arbeit erschöpfen, damit unsre Künst­ler, Schriftsteller, Musiker, Sänger und Maler auf den Grund der Voll­kommenheit gelangen, der ihnen gestattet, uns Vergnügen zu bereiten ... Doch selbst angenommen, dass diese Unmöglichkeit möglich ist und dass man ein Mittel fände, die Kunst, wie man sie auffasst, dem Volke zugänglich zu ma­chen, so drängt sich eine Betrachtung auf, die beweist, dass diese Kunst nicht eine universelle sein könnte: nämlich der Um­stand, dass sie für das Volk völlig unverständlich ist. Früher schrieben die Dichter lateinisch, doch jetzt sind die künstleri­schen Erzeugnisse unsrer Dichter ebenso unverständlich für den gemeinen Menschen als wären sie in Sanskrit ge­schrieben.

Man wird nun antworten, die Schuld liege an dem Mangel von Kultur und Entwicklung des gemeinen Menschen, und unsre Kunst werde von allen dann verstanden werden, wenn sie eine genügende Erziehung ge­nossen haben. Das ist wieder eine unsin­nige Antwort, denn wir sehen, dass die Kunst der höheren Klassen zu jeder Zeit nur ein einfacher Zeit­vertreib für diese Klassen selbst gewesen ist, ohne dass die übrige Mensch­heit etwas davon begriffen hat. Die unteren Klassen mögen sich noch so sehr zivilisieren, die Kunst, die von Anfang an nicht für sie geschaffen war, wird ihnen stets unzugänglich blei­ben ... Für den denkenden und aufrichtigen Menschen ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Kunst der höheren Klas­sen nie die Kunst der ganzen Nation werden kann."

Der das schrieb, ist in jedem Zoll mehr Sozialist und auch historischer Materialist als jene Parteigenossen, die, in der neuer­dings aufgekommenen Kunstfexerei machend, mit gedankenloser Geschäftigkeit die sozialdemo­kratische Arbeiterschaft zum Ver­ständnis für die dekadente Kleckserei eines Slevogt oder eines Hodler „erziehen" wollen.

So muss Tolstoi in seiner Stärke wie in seinen Schwächen, im tiefen und scharfen Blick seiner Kritik, im kühnen Radikalismus sei­ner Perspektiven wie im idealistischen Glauben an die Macht des subjektiven Bewusstseins in die Reihe der großen Utopis­ten des Sozialismus gestellt werden. Es ist nicht seine Schuld, sondern sein historisches Pech, dass er mit seinem lan­gen Leben von der Schwelle des 19. Jahrhunderts, an der die Saint-Simon, Fourier und Owen als Vorläufer des modernen Proleta­riats standen, bis an die Schwelle des 20. reicht, wo er als Einzelgänger dem jungen Riesen verständnislos gegenüber-

s­teht. Aber die reife revolutionäre Arbeiterklasse kann ihrerseits dem großen Künstler und dem kühnen Revolutionär und Sozialis­ten trotz seiner selbst mit verständnisinnigem Lächeln heute die ehrliche Hand drücken, die die guten Worte geschrie­ben hat:

„Jeder kommt auf seinem Wege zur Wahrheit, eins aber muss ich sagen: Das, was ich schreibe, sind nicht nur Worte, sondern ich lebe danach, darin ist mein Glück, und damit werde ich sterben."

Leipziger Volkszeitung, Nr. 209 vom 9. September 1908.

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