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Ein Teil des historischen Wiedererstarkens des Klassenkampfes
In dem vorherigen Artikel haben wir die großen Kämpfe der Arbeiterklasse in Italien Ende der 1960er Jahre geschildert, die in die Geschichte als der „Heiße Herbst“ eingegangen sind. Wie wir in dem vorherigen Artikel dargestellt haben, ist dies eigentlich eine zu eingeschränkte Bezeichnung zur Charakterisierung einer Phase des Kampfes, an der sich in Italien in den Jahren 1968-69 zahlreiche Arbeiter beteiligten und die in den darauffolgenden Jahren tiefe Spuren hinterlassen hat. Wir haben ebenso aufgezeigt, dass dieser Kampf in Italien nur einer der zahlreichen Momente im Prozess des Wiedererstarkens des internationalen Klassenkampfes nach einer langen Zeit der Konterrevolution war, die sich nach der Niederlage der revolutionären Welle von Kämpfen in den 1920er Jahren weltweit ausgebreitet hatte. In dem Schlussteil des ersten Artikels haben wir daran erinnert, dass diese gewaltige Entwicklung der Kampfbereitschaft, die mit wichtigen Augenblicken der Klärung in der Arbeiterklasse verbunden war, nachfolgend auf große Hürden stieß.
Die italienische Bourgeoisie, wie auch die anderer Länder, die sich mit einer wiedererwachten Arbeiterklasse auseinandersetzen mussten, verhielt sich nicht passiv, sondern versuchte, die Arbeiterklasse neben dem direkten Eingreifen durch die Polizei gleichzeitig mit verschiedenen anderen Mitteln in Schach zu halten. Wie wir im zweiten Teil dieses Artikels sehen werden, stützte sich die Fähigkeit der herrschenden Klasse, die Bewegung für sich zu vereinnahmen, auf die Schwächen eben dieser Bewegung der Arbeiter, der es trotz einer gewaltigen Kampfbereitschaft noch an einem klaren Klassenbewusstsein mangelte und die noch nicht die notwendige Reife und Klarheit erreicht hatte, um ihre Rolle zu erfüllen.
Die Schwächen der Arbeiterklasse im „Heißen Herbst“
Die Schwächen der Arbeiterklasse im „Heißen Herbst” sind hauptsächlich auf den tiefgreifenden organischen Bruch, der in der Arbeiterbewegung nach der Niederlage der revolutionären Welle in den 1920er Jahren stattgefunden hatte, sowie auf das erdrückende Gewicht des Stalinismus zurückzuführen. Auf das Klassenbewusstsein der Arbeiter wirkte sich dies doppelt negativ aus.
Auf der einen Seite war das gesamte politische Erbe der Arbeiterklasse ausgelöscht worden; die Perspektive des Kommunismus wurde mit den interklassistischen (klassenübergreifenden) Programmen der Verstaatlichungen verwechselt und der Klassenkampf selbst zunehmend als ein Kampf für die „Verteidigung des Vaterlandes“ dargestellt.[1] Andererseits hat die scheinbare Kontinuität zwischen der revolutionären Welle der 1920er Jahre und den schlimmsten Auswüchsen der Konterrevolution - mit den stalinistischen Säuberungen und den Massenmord an Millionen von Arbeitern im Namen des „Kommunismus“ - auch aufgrund der perversen Propaganda der Herrschenden, wonach die Kommunisten jederzeit bereit seien, Menschen zu unterdrücken und Gewalt gegen sie auszuüben, in den Köpfen der Menschen natürlich die Auffassung verbreitet, Marxismus und Leninismus seien verwerflich oder müssten zumindest tiefgreifend revidiert werden.
Als die Arbeiterklasse in Italien und international wieder erwachte, stand ihr keine revolutionäre Organisation zur Seite, die sich auf ausreichende theoretische Fundamente stützen konnte.
Fast alle neuen Gruppen, die im Zuge des wiederauflebenden Klassenkampfes Ende der 1960er Jahre entstanden waren, bezogen sich zwar auf die Klassiker, aber sie taten dies nur unter Vorbehalte, was ihnen nicht helfen sollte, das zu finden, was sie suchten. Selbst die politischen Gruppierungen der Kommunistischen Linken, die die langen Jahre der Konterrevolution überlebt hatten, waren politisch nicht unbeschädigt geblieben. Die Rätekommunisten, Zeugnisse der beispielhaften Erfahrungen der Deutsch-Holländischen Linken in den 1920er Jahren, die fast ausgelöscht wurden und denen der Schrecken der verheerenden Rolle einer degenerierten Partei, die auch in Zukunft – wie die stalinistische KP – Staat und Klasse beherrschen würde, noch in den Gliedern saß, beschränkten sich zunehmend darauf, sich „an den Kämpfen zu beteiligen“, ohne eine Avantgarderolle anzustreben. Sie wollten das ganze Erbe, all die Lehren der Vergangenheit für sich behalten.
Das Gleiche traf in gewisser Weise auf die Bordigisten und die Italienische Linke nach 1943 (Programme Communiste und Battaglia Comunista) zu, die nachdrücklich eine zentrale Rolle für die Partei einforderten. Unfähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen, und vernarrt in die Partei, wobei sie in gewisser Weise jene Arbeiterkämpfe unterschätzten, die ohne Zutun einer revolutionären Organisation stattfanden, haben sie sich geweigert, im Heißen Herbst und den Kämpfen Ende der 1960er Jahre das historische Wiedererwachen der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene anzuerkennen. Deshalb traten sie damals fast gar nicht in Erscheinung.[2]
So sahen sicFh, sei es aufgrund des Misstrauens infolge der Auseinandersetzung mit den früheren politischen Erfahrungen, sei es weil die politischen Bezugspunkte fehlten, die neuen politischen Gruppen, die in den 1960er Jahren gebildet wurden, dazu veranlasst, Positionen und ein Aktionsprogramme neu zu erfinden. Das Problem war, dass ihr Ausgangspunkt ihre Erfahrung mit der alten stalinistischen Partei war. Daher häuften sich in dieser Generation so viele Militante, die sich gegen diese Parteien und die Gewerkschaften richteten, die die Verbindung zu den alten linken Parteien kappten, aber auch teilweise mit der marxistischen Tradition brachen und sich auf die Suche nach einem „neuen“ revolutionären Weg begaben, den sie „auf der Straße“ zu finden hofften. Daher blühten Spontaneismus und Voluntarismus stark auf, denn alles, was noch den „offiziellen Marxismus“ für sich beanspruchte, eigentlich nur der alte Stalinismus (à la UdSSR und italienische KP) oder der neue „chinesische Kommunismus“ war.
Der Operaismus - die herrschende Ideologie im Heißen Herbst
Vor diesem Hintergrund entwickelte sich der Operaismus zur vorherrschenden politischen Strömung im Heißen Herbst.
Die gerechtfertigte Reaktion der Arbeiter, die den Kampf gegen den Widerstand der bürokratisierten und erstickenden Strukturen der italienischen KP[3] und der Gewerkschaften aufnahmen, führte zu einem Vertrauensverlust in diese Strukturen. Stattdessen war es nun die Arbeiterklasse, in die das ganze Vertrauen gesetzt wurde.
Dieses Gefühl kam in der Wortmeldung eines Arbeiters der Mailänder Firma OM auf einer Versammlung der neu gegründeten Lotta Continua im Sportpalast Turins im Januar 1970 deutlich zum Ausdruck: „Im Unterschied zur Kommunistischen Partei werden wir nicht von einer Handvoll Bürgerlicher geführt. (…) Wir werden nicht in die Fußstapfen des PCI treten, weil die Arbeiter selbst die Führung dieser Organisation übernehmen werden.“[4]
Das Urteil über die Gewerkschaften fällt besonders heftig aus: “Wir meinen nicht, dass man die Gewerkschaften von Innen her ändern kann; auch kann man keine neuen Gewerkschaften aufbauen, die ‚röter‘, ‚revolutionärer‘ und mehr ‚Arbeitervertreter‘, keine Bürokraten wären. Wir meinen, dass die Gewerkschaften ein Räderwerk des Systems der Arbeitgeber sind (…) Und dass sie deshalb wie die Arbeitgeber bekämpft werden müssen.“[5]
Wir werden in diesem Artikel versuchen, die Hauptaspekte des Operaismus darzustellen, insbesondere die Version Toni Negris, der bis heute einer der bekanntesten Vertreter dieser politischen Strömung ist, um dessen Stärken herauszuarbeiten, aber auch die Ursachen seines späteren Scheiterns aufzeigen. Dabei beziehen wir uns auf das Werk Toni Negris Vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter. Interview zum Operaismus.[6]
Beginnen wir mit einer Definition des Operaismus:
"Der sogenannte Operaismus entsteht und nimmt Form an als Versuch einer politischen Antwort auf die Krise der Arbeiterbewegung in den 50er Jahren, die grundlegend verursacht wurde durch das historische Geschehen der Arbeiterbewegung rund um den 20. Parteitag."[7]
Aus diesem Abschnitt wird bereits ersichtlich, dass trotz des tiefen Bruchs mit den offiziellen Kräften der Linken die Definition derselben – insbesondere des PC Italiens – völlig unzureichend und theoretisch nicht tiefer verwurzelt ist. Der Ausgangspunkt ist die angebliche „Krise der Arbeiterbewegung der 1950er Jahre“. Jedoch war das, was als damalige Arbeiterbewegung dargestellt wird, faktisch nur die Internationale der stalinistischen Konterrevolution, nachdem die revolutionäre Welle schon in den 1920er Jahren niedergeschlagen und der Großteil der politischen Kader unter den Arbeitern ausgelöscht worden war, sei es durch ihre Zersplitterung oder durch ihre Ermordung. Diese Unklarheiten gegenüber dem PC Italiens schlugen sich in einer Art „Hassliebe“ gegenüber der Partei nieder, aus der man hervorgegangen war. Dies erklärt, warum im Laufe der Zeit so viele Leute nichts Besseres zu tun wussten, als wieder in den Schoß zurückzukehren, den sie einst verlassen hatten.[8]
Ursprünglich stützte sich der Operaismus auf den so genannten Massenarbeiter, d.h. auf die neue Generation von Arbeitern, die, zumeist aus dem Süden kommend, in der Expansions- und Modernisierungsphase der Industrie von der zweiten Hälfte der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre das alte Arbeiterbild des Facharbeiters verdrängen sollte. Diese neue Generation musste in der Regel unqualifizierte und ständig sich wiederholende Arbeit verrichten. Die Tatsache, dass dieser junge und unerfahrene Teil des Proletariats den Lockrufen des Stalinismus und der Gewerkschaften viel weniger Gehör schenkte und kampflustiger war, verleitete die damaligen Operaisten dazu, mit einer soziologischen Analyse zu liebäugeln, der zufolge die KP Italiens die Facharbeiter, die Arbeiteraristokratie verkörpert habe.[9] Wir werden später sehen, wohin diese Art soziale „Reinigung“ auf der Ebene der politischen Entscheidungen führt.
Vom Konzept Partei zur Auflösung der Bewegung
Der historische Kontext der 1960er Jahre: die enorme Stärke und die Dauer der damaligen Klassenbewegung in Italien, aber auch der Mangel an Erfahrung, da keine proletarische Organisation da war, die diese hätte übermittelt können, ließen damals die Generation junger Militanten glauben, dass eine revolutionäre Situation angebrochen sei[10] und dass man eine Art Gegenmacht gegen die herrschende Klasse aufzubauen habe. Deshalb sei es Aufgabe der Gruppen, die diese Auffassung vertraten (hauptsächlich Potere Operaio), eine Führungsrolle in den Debatten der Bewegung zu übernehmen („wie eine Partei handeln“) und gemeinsam und systematisch gegen den Staat vorzugehen. Toni Negri schrieb dazu folgendes:
„Die politischen Aktivitäten [von Potere Operaio] werden also darauf ausgerichtet sein, systematisch die Klassenbewegung, die verschiedenen Situationen, die verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse und des Proletariats neuzusammenzusetzen und sie zu Momenten der Massenkonfrontation zu führen, die diese Realität des Staates, so wie sie erscheint, [einkerben] zu können. Die Ausübung einer Gegenmacht, einer Gegenmacht, die mit spezifischen Erfahrungen verknüpft ist, mit dem Ziel sich zunehmend selbst gegen die Staatsmacht zu schützen und diese anzugreifen, ist sowohl als Subjekt der Analyse als auch als Funktion der Organisation fundamental“[11]
Leider hat die mangelnde Kritik an der stalinistischen Praxis sowohl die operaistischen als auch die nicht-operaistischen Gruppen dazu veranlasst, selbst stalinistische Traditionen zu pflegen. Dazu gehört die Idee des „exemplarischen Handelns“, das die Massen dazu bewegen soll, eine bestimmte Haltung einzunehmen. Diese Idee hat sich als besonders nachteilig erwiesen. „Ich hatte keine pazifistischen Positionen“, sagt Negarville, einer der Leiter des Ordnungsdienstes, der die Konfrontation mit der Polizei auf dem Corso Traiano suchte und fand (am 3. Juli 1969 wurden 70 Polizisten verletzt, 160 Demonstranten verhaftet). „Die Idee des exemplarischen Handelns, die zum Eingreifen der Polizei führt, war von Anfang an Teil der Theorie und Praxis von Lotta Continua. Die Zusammenstöße auf der Straße dienen genauso wie die Kämpfe der Arbeiter um Lohnerhöhungen als Anstoß für die Auslösung einer Bewegung“, sagt Negarville. Es gebe nichts Schlimmeres als eine friedliche Demonstration oder ein guter Vertrag. Was zähle, sei nicht die Erlangung eines Zieles, sondern der Kampf; und der Kampf gehe weiter [la lotta continua].[12]
Diese Logik ist die gleiche wie jene, die später verschiedene terroristische Gruppen dazu verleiten sollte, den Staat herauszufordern. Dies geschah auf Kosten der Arbeiterklasse, denn man rechnete damit, dass mit der Zunahme der Angriffe gegen den Staat auch der Mut der Arbeiter wachsen werde. Die Erfahrung bewies schließlich das Gegenteil. Jedesmal, wenn terroristische Banden der Arbeiterklasse die Initiative entrissen und diese objektiv mit einer Erpressung konfrontierten, wurde die Arbeiterklasse in der Folge systematisch gelähmt.[13]
Diese ständige Suche nach Konfrontationen führte aber langfristig zu einer Erschöpfung der Kräfte und erschwerte es den operaistischen Gruppen, Gelegenheiten zu ernsthaften politischen Reflexionen zu finden.
„Tatsächlich wurde das Organisationsleben von Potere Operaio fortwährend durch das Bedürfnis unterbrochen, sich mit entscheidenden Augenblicken zu befassen, die immer öfter die Fähigkeiten überstiegen, massiv zu reagieren. Hinzu kommt, dass es häufig nur eine geringe Verankerung innerhalb der Massen gab, was es unmöglich machte, sich diesen Gelegenheiten zu stellen.“[14]
Darüber hinaus begannen die Kämpfe, die sich Anfang der 1970er Jahre noch durch einen großen Elan auszeichneten, ihre Dynamik zu verlieren. Daher löste sich 1973 die Gruppe Potere Operaio auf:
„.. sobald wir verstanden hatten, dass das Problem, das wir uns stellten, in der aktuellen Situation und bei dem gegebenen Kräfteverhältnis nicht lösbar war, haben wir uns aufgelöst. Wenn wir mit unseren Kräften dieses Problem nicht lösten konnten, dann musste die Stärke der Massenbewegung es auf die eine oder andere Weise lösen und wenigstens das Problem auf neue Weise stellen.“[15]
Die dahinter stehende These, der zufolge es der Widerstand der Arbeiter gegen das Kapital gewesen sei, der permanent und zunehmend Druck ausgeübt und so neue materielle Bedingungen für den Aufbau einer „neuen revolutionären Partei“ geschaffen habe, erwies sich schnell als unbegründet. Diese These stand im Gegensatz zu den negativen Auswirkungen des im Rückzug befindlichen Klassenkampfes.
Doch statt dies anzuerkennen, wurden die Operaisten Opfer eines wachsenden Subjektivismus und gingen davon aus, dass der Kampf der Arbeiterklasse das Wirtschaftssystem in die Krise gestürzt habe. So gaben sie Schritt für Schritt jegliche materialistische Herangehensweise in ihrer Analyse auf und übernahmen gelegentlich eindeutig Klassen übergreifende Sichtweisen.
Vom Operaismus zur Arbeiterautonomie
Die für den Operaismus charakteristischen politischen Themen waren nicht immer die gleichen; auch wurden sie nicht immer mit dem gleichen Nachdruck vermittelt. Aber alle Positionen von Potere Operaio (als auch des Operaismus im allgemeinen) zeichneten sich durch die Forderung nach permanenter frontaler Opposition gegen den Staat aus; eine prahlerische Opposition, die sich als politisches Handlungssignal und Ausdruck seiner Lebendigkeit verstand. Doch langsam änderte sich der Bezug zur Arbeiterklasse bzw. das Bild des Arbeiters, auf das man sich bezog. Anfangs war der Massenarbeiter der Referenzpunkt. Als die Kämpfe immer mehr abflauten, sprach man zunehmend vom „gesellschaftlichen Arbeiter“. Dieser sich wandelnde Referenzpunkt erklärt gewissermaßen die ganze Entwicklung oder - genauer gesagt - die politische Rückentwicklung des Operaismus.
Um diese Entwicklung der Positionen des Operaismus zu erklären, ist es nötig sein Bild vom Kapital anzudeuten: das Kapital versuche, die Kampfbereitschaft der Arbeiter, die bisher in den Großbetrieben gebündelt war, durch geografische Zerstreuung aufzulösen.
“... die kapitalistische Restrukturierung identifizierte sich zunehmend als eine kolossale Operation der Auflösung der Form, in der die Arbeiterklasse sich in den 70er Jahren konstituiert hat, bestimmt hat. In den 70er Jahren hatte es einen Vorrang des Massenarbeiters gegeben, insofern er Scharnierfigur der kapitalistischen Produktion und der in der Fabrik konzentrierten gesellschaftlichen Wertproduktion war. Die kapitalistische Restrukturierung wurde von dieser inneren politischen Rigidität zwischen Produktion und Reproduktion gezwungen, die Isolierung des Massenarbeiters in der Fabrik gegenüber dem Prozess der Vergesellschaftung der Produktion und der Arbeiterfigur, die sich gesellschaftlich ausbreitete, nach und nach auszuspielen. Andererseits begann in dem Maß, in dem sich der Produktionsprozess auf die Gesellschaft ausdehnte, das Wertgesetz nur noch formal zu funktionieren, das heißt, es funktionierte nicht bezogen auf das direkte Verhältnis zwischen individueller, bestimmter Arbeit und abgepresstem Mehrwert, sondern auf die gesellschaftliche Arbeit in ihrer Gesamtheit.“[16]
Zum “typischen” Arbeiter wurde somit das Phantom des “gesellschaftlichen Arbeiters”, ungeachtet der Präzisierungen durch Negri, blieb dies eine sehr verschwommene Gestalt, in der die Bewegung zu dieser Zeit alles mögliche hineininterpretieren konnte.[17]
Mit dem Übergang vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter löste sich der Operaismus schließlich auf (Potere Operaio) oder degenerierte in Richtung Parlamentarismus (siehe die Wahlbeteiligung Lotta Continuas). Dazu trat ein neues gesellschaftliches Phänomen in Erscheinung: die Arbeiterautonomie,[18] die beanspruchte, als Bewegung in Kontinuität mit der operaistischen Erfahrung zu stehen.
Die Arbeiterautonomie wurde auf dem Kongress von Bologna 1973 gegründet, d.h. zu einer Zeit, als viele Jugendliche sich in der Gestalt des von Toni Negri erfundenen gesellschaftlichen Arbeiters wiedererkannten. Aus Sicht dieses „jungen Proletariats“ erfolgte die Befreiung nicht mehr durch die Eroberung der Macht, sondern durch die Entwicklung eines "sozialen Raums, der in der Lage ist, die Utopie einer Gemeinschaft, die sich außerhalb des ökonomischen Modells der Arbeit und des Lohns entwickelt und organisiert, [schon jetzt] zu verkörpern"[19] und die Erschaffung des Kommunismus „jetzt und sofort“. Politik wurde zum "Luxus", diktiert und abhängig von Begehren und Bedürfnissen. Die Politik wurde als „luxuriös“ betrachtet, sie „diktiere“ und unterwerfe die Bedürfnisse und Wünsche ihren Interessen. Dieser „unmittelbare Kommunismus“, der sich in den Sozialen Zentren (centri sociale) ausdrückte, in denen sich die Jugendlichen der Arbeiterviertel trafen, trat in der Praxis durch eine Vielzahl von direkten Aktionen in Erscheinung; dazu gehörten hauptsächlich die „proletarischen Enteignungen“, die als „sozialer Lohn“ betrachtet und bezeichnet wurden, oder die Besetzungen von öffentlichem wie privatem Wohnraum und konfuse Erfahrungen mit Selbstverwaltung und alternativen Lebensformen. Diese voluntaristische Haltung, die die Wünsche für die Wirklichkeit hielt, griff immer weiter um sich, bis man davon ausging, dass die gesellschaftlichen Arbeiter zum Angriff auf die Herrschenden übergehen könnten:
"... die Situation in Italien ist nun von einer unbeugsamen, radikalen Gegenmacht beherrscht, die einfach nichts mehr zu tun hat mit der Arbeiterexistenz in den Fabriken, mit der vom 'Arbeiterstatut' oder von bestimmten institutionellen nach '68 entstandenen Gliederungen erfassten Situation. Wir befinden uns hingegen in einer Situation, in der im Innern des gesamten Reproduktionsprozesses – und das muss betont werden – die Arbeiterselbstorganisation nunmehr definitiv gegeben ist."[20]
Diese Analyse galt nicht nur für Italien, sondern wurde auf die ganze Welt ausgedehnt, vor allem auf die Länder mit der am höchsten entwickelten Wirtschaft, wie die USA und Großbritannien. Die Überzeugung, dass die Arbeiterbewegung von einer Position der Stärke aus agieren konnte, ließ Toni Negri (und andere Autonome der damaligen Zeit) glauben, dass die Staaten nun finanzielle Konzessionen machen müssen, d.h. einen größeren Anteil des Kuchens an die Arbeiter verteilen müssen, um so zu versuchen, die proletarische Offensive einzudämmen:
"... Phänomene, die wir perfekt kennen in Ökonomien, die reifer sind als unsere; Phänomene, die die ganzen 70er Jahre hindurch sowohl in den USA wie in Großbritannien vollständig in Kraft waren. Wo nach einer Möglichkeit gesucht wurde, die Bewegung zu blockieren, einerseits über die Zerstörung der subjektiven Avantgarden der Bewegung, andererseits jedoch und in bedeutender Weise, über die Fähigkeit zur Kontrolle, die sich auf die enorme Verfügbarkeit von Geld stützte, über eine enorme Auffächerung (articolazione) der Einkommensverteilung."[21]
In dieser Lage, in der “der ganze Prozess der Verwertung nicht mehr besteht”, seien die Bosse sogar bereit gewesen, auf den eigenen Profit zu verzichten, nur um “die Regeln der Akkumulation wiederherzustellen” und “die Instrumente der Kontrolle und des Kommandos vollständig zu sozialisieren”.[22]
Mit anderen Worten: man meinte den Staat durch die Kämpfe destabilisiert und in eine Krise gestürzt zu haben, ohne dass man sich bewusst war, dass auf den Straßen hauptsächlich nur noch Jugendliche zusammenkamen, die zunehmend mit der Gesellschaft und der Arbeitswelt brachen und daher immer weniger imstande waren, auf die herrschende Klasse Druck auszuüben.
Typisch für diese Zeit war das Konzept der “Arbeiterselbstverwirklichung”, das sich, abgesehen von Aspekten materieller Errungenschaften, auf „Momente der Gegenmacht, wie politische Momente der Selbstbestimmung, der Trennung der eigenen Klassenrealität von dem, was insgesamt die Realität der kapitalistischen Produktion ist.“[23] In diesem Kontext hätte die „proletarische Eroberung des Einkommens“ dazu in der Lage sein müssen, „gelegentlich die Gleichung des Wertgesetzes zu zerstören.“[24] Hier verwechselt er die Fähigkeit der Klasse, Lohnerhöhungen durchzusetzen und somit den Teil des Mehrwertes zu reduzieren, der von den Kapitalisten herausgepresst wird, mit einer angeblichen „Zerstörung“ des Wertgesetzes. Doch die Geschichte des Kapitalismus hat bewiesen, dass das Wertgesetz überlebt hat und weiterhin besteht. Dies galt auch für die Länder des sogenannten „Realsozialismus“ (die Ostblockstaaten, die seinerzeit irreführenderweise kommunistisch genannt wurden).
Dies verdeutlicht die große Illusion des Milieus der Arbeiterautonomie, der zufolge die Arbeiterklasse innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine relativ „stabile“ Position der Gegenmacht errichten kann. Doch das Phänomen einer Doppelherrschaft kennzeichnet eine besonders zerbrechliche Phase - eine typisch revolutionäre Phase. Diese setzt entweder durch eine siegreiche Offensive die Macht der Arbeiterklasse durch und überwindet die bürgerliche Macht oder sie führt zu einer Niederlage der Klasse.
Erst diese Abnabelung von der materiellen Wirklichkeit, den ökonomischen Grundlagen des Kampfes, führte zu der wunderlichen und typisch studentischen Entwicklung der politischen Positionen der Autonomia.
Besonders angesagt unter den Mitstreitern der Arbeiterautonomie war die Position der Arbeitsverweigerung, die eng mit der Theorie der Bedürfnisse verknüpft war. Gegenüber der richtigen Aussage, dass der Arbeiter sich nicht durch die Logik der Unternehmerinteressen benebeln lassen und stattdessen für die Befriedigung seiner grundlegenden Bedürfnisse eintreten soll, warteten die Theoretiker der Autonomie mit einer Theorie auf, die darüber hinaus gehen wollte. Sie stellten die Selbst-Aufwertung (self-valorisation) der Arbeiter mit der Sabotage des Betriebsablaufs gleich und behaupteten gar, es sei ein Vergnügen, Sabotageakte auszuüben. Dies geht zumindest aus Toni Negris genüsslicher Schilderung der Freiheit hervor, die sich die Beschäftigten von Alfa Romeo genommen haben, als diese anfingen, an den Montagebändern zu rauchen, ohne sich um mögliche Schäden für die Produktion zu kümmern. Kein Zweifel – manchmal empfindet man eine große Genugtuung, sinnlose Verbote oder Verbote, die aus der Arroganz der Macht geboren wurden, zu brechen. Dies kann psychologisch und gar physisch befriedigend sein. Aber was hat das mit den Schlussfolgerungen von Toni Negri zu tun, aus dessen Sicht das Rauchen am Fließband „eine ganz wichtige Sache ist; aus theoretischer Sicht fast genauso wichtig wie die Entdeckung, dass die Arbeiterklasse die Entwicklung des Kapitals bestimmt“? Negri zufolge war die „Sphäre der Bedürfnisse“ nicht mehr die der materiellen, objektiven, natürlichen Bedürfnisse, sondern etwas, das sich allmählich bildet, „das alle Möglichkeiten, die die Gegenkultur bot, prägte und bald beherrschte.“
In gewisser Weise wird die berechtigte Verweigerung nicht nur der materiellen, sondern auch der geistigen Entfremdung am Arbeitsplatz, die sich im Ungehorsam gegenüber der Fabrikdisziplin äußert, dargestellt als „eine qualitativ bemerkenswerte Tatsache, etwas, das in direktem Einklang mit dem Ausmaß der wachsenden Bedürfnisse steht. Die Arbeitsverweigerung zu genießen, was kann es anderes bedeuten, als die völlige Alternative zum Rhythmus Arbeit-Familie-Kneipe durch die Erschaffung von Freude spendenden Kapazitäten? Diese sind nützlich, um mit dieser stagnierenden Welt zu brechen. Durch die Erfahrung der Revolte können alternative, radikale Möglichkeiten und Kräfte entdeckt werden“.[25]
… und funktional sind für das Zerbrechen dieser geschlossenen Welt.
Indem sie sich der Jagd nach leeren Illusionen hingab, degenerierte die Arbeitertümelei in Gestalt ihres gesellschaftlichen Arbeiters tatsächlich völlig. Sie wurde versprengt in einer Reihe voneinander getrennter Initiativen, die jeweils darauf abzielten, die Befriedigung der Bedürfnisse dieser oder jener Berufskategorien durchzusetzen, was meilenweit entfernt ist von der Klassensolidarität, die sich während des Heißen Herbstes geäußert hatte und die wiederkehrte, als die Arbeiterklasse auf die Bühne zurückkehrte.
Reaktionen des Staates und der Epilog des Heißen Herbstes
Wie eingangs dieses Artikels erwähnt, war die Fähigkeit der Herrschenden, die Lage zu beruhigen, größtenteils den beschriebenen Schwächen der proletarischen Bewegung geschuldet. Hinzugefügt werden muss jedoch, dass die herrschende Klasse, nachdem sie anfangs völlig überrascht wurde, später in der Lage war, bis dahin nie gekannte Angriffe gegen die Arbeiterklasse zu richten, sowohl direkt in Form von Repression als auch durch Manöver aller Art.
Auf der Ebene der Repression
Obgleich sie nicht die entscheidende Waffe ist, mit welcher sie eine Position der Stärke gegenüber der Arbeiterklasse aufbauen kann, ist dies die klassische Waffe der Herrschenden gegen ihrem Klassenfeind. So wurden zwischen Oktober 1969 und Januar 1970 mehr als 3000 Arbeiter und Studenten gerichtlich verfolgt.
"Die Studenten und Arbeiter, zwischen Oktober '69 und Januar '70 bereits mehr als drei Tausend, wurden weiter verfolgt. Die faschistischen Gesetze, welche 'subversive Propaganda' und 'Anstiftung zum Klassenhass' bestraften, wurden wieder ausgegraben. Polizei und Carabinieri beschlagnahmten die Werke von Marx, Lenin und Che Guevara."[26]
Auf der Ebene des Zusammenspiels von Faschismus – Antifaschismus
Seltener in Konflikten mit der Arbeiterklasse eingesetzt, ist dies die klassische Waffe gegen die Studentenbewegung. Die Bewegung soll in sinnlose Straßenkämpfe zwischen rivalisierenden Banden gestürzt werden, wobei immer wieder an die “demokratischen und antifaschistischen” Kräfte der Herrschenden appelliert wird. Kurzum, es handelt sich um ein Mittel, die Schafe wieder in die Koppel zu treiben.
Auf der Ebene der Strategie der Spannung
Hier ging die italienische Bourgeoisie während dieser Jahre wirklich meisterhaft vor. So gelang es ihr, das politische Klima tiefgreifend zu ändern. Das Massaker in der Banca dell’Agricoltura (Bank der Landwirtschaft) am Piazza Fontana in Mailand am 12. Dezember 1969, bei dem 16 Menschen getötet und 88 verletzt wurden, ist unauslöschlich in Erinnerung geblieben. Aber nicht jeder weiß oder erinnert sich noch daran, dass ab dem 25. April 1969 eine endlose Reihe von Attentaten in Italien verübt wurde: „Am 25. April explodierten zwei Bomben in Mailand, eine am Hauptbahnhof und die andere auf dem Messestand von Fiat, durch die ca. 20 Menschen verletzt wurden. Am 12. Mai blieb die Explosion von drei Sprengkörpern, zwei in Rom und einer in Turin, durch glückliche Umstände aus. Im Juli verbreitet die Wochenzeitschrift „Panorama“ das Gerücht über einen bevorstehenden Staatsstreich von Rechts. Neofaschistische Gruppen rufen zu einer Mobilisierung auf, die PCI wiederum setzt ihre Sektionen in Alarmbereitschaft. Am 24.Juli wurde ein nicht explodierter Sprengkörper - baugleich mit denen in Rom und Turin entdeckten - im Justizpalast von Mailand aufgefunden. Am 4. Oktober zündete ein Sprengkörper in Triest wegen eines technischen Defektes nicht, der in einer Grundschule versteckt worden war und dann explodieren sollte, als die Kinder aus der Schule kamen. Ein Mitglied der Avanguardia Nazionale (eine rechtsradikale Gruppe – die Übersetzer) wurde der Tat beschuldigt. In Pisa betrug die Bilanz der Zusammenstöße zwischen Polizei und Protestierenden gegen eine Demonstration von italienischen und griechischen Faschisten an einem Tag ein Toter und 125 Verletzte (…). Am 12. Dezember zündeten vier Sprengkörper in Rom und Mailand. Die drei in Rom verletzten niemanden, aber die in Mailand, der auf dem Piazza Fontana gegenüber der Banca dell’Agricoltura gezündet wurde, hinterließ 16 Tote und 88 Verletzte. Ein fünfter, intakter, Sprengkörper wurde später noch in Mailand gefunden. So begann in Italien das, was später die lange Nacht der Republik genannt wurde.“[27]
In der darauf folgenden Phase nahm die Dynamik ein wenig ab, auch wenn sie nie wirklich aufhörte. Von 1969-1980 wurden 12690 Attentate und andere Gewalttätigkeiten mit politischen Motiven verübt, bei denen 362 Menschen starben und 4490 verletzt wurden. Allein bei elf Attentaten starben 150 Menschen, 551 wurden verletzt. Das erste erfolgte im Dezember 1969 auf dem Piazza Fontana in Mailand, das verheerendste (85 Tote, 200 Verletzte) auf dem Bahnhof von Bologna im August 1980.[28]
"… Der gewalttätige Staat entblößte sich über alle Erwartungen hinaus: er zettelte Attentate an, vereitelte Untersuchungen, verhaftete Unschuldige und tötete einen, Pinelli, - alles abgesegnet durch einige Zeitungen und das Fernsehen. Am 12. Dezember trat eine unvorhergesehene Dimension des politischen Kampfes und des Ausmaßes der Front, gegen die wir zu kämpfen hatten, in Erscheinung (…). Durch die Ereignisse an der Piazza Fontana entdeckte man also einen neuen Feind: den Staat. Zuvor waren die Gegner noch die Lehrer, die Abteilungsleiter, die Arbeitgeber gewesen. Die Referenzpunkte sprangen über die nationale Grenzen: Vietnam, der französische Mai, die Black Panther, China. Die Entblößung des terroristischen Staates öffnete den Kämpfen einen neuen Horizont: den der Komplotte, die Instrumentalisierung der Neofaschisten.“[29]
Das offensichtliche Ziel dieser Strategie war größtmögliche Einschüchterung und Desorientierung der Arbeiterklasse, Angst vor Bombenterror und Unsicherheit zu verbreiten - und dies ist der herrschenden Klasse auch teilweise gelungen. Eine andere Wirkung war sicherlich viel verheerender. Da zumindest mit dem Attentat auf der Piazza Fontana in Mailand einige Minderheiten die Schlussfolgerung zogen, dass der Staat der eigentliche Feind war, mit dem man abrechnen musste, rutschte ein Teil der Arbeiter und Studenten in terroristische Aktivitäten ab.
Die terroristische Dynamik wird gefördert
Die Praxis des Terrorismus hat somit vielen mutigen, aber dem Abenteuertum zum Opfer gefallenen GenossenInnen ihr Leben und ihr politisches Engagement zerstört. Sie entwickelten eine Praxis, die schließlich nichts mehr mit dem Klassenkampf zu tun hatte. Dies hatte weiterhin zur Folge, dass die gesamte Arbeiterklasse gegenüber der doppelten Bedrohung von staatlicher Repression und der Erpressung durch das Milieu der “Brigaden” und Terroristen zurückwich.
Die Gewerkschaften vereinnahmen die Bewegung mittels der Fabrikräte
Selbst wenn dies nicht im Vordergrund stand, stützte sich die herrschende Klasse schließlich auch auf die Gewerkschaften. Da man sich nicht nur auf die Repression verlassen konnte, um die Arbeiterklasse im Zaum zu halten, bauten die Arbeitgeber, welche in den Jahren nach dem Krieg bis zum Heißen Herbst 1969 den Gewerkschaften ziemlich feindlich gegenüberstanden, harmonische und demokratische Beziehungen in den Betrieben auf.
Was man nicht durch schlechte Beziehungen erreichen konnte, sollte nun durch gute Beziehungen gewonnen werden – das war der Trick. Man suchte den Dialog mit den Gewerkschaften, die als alleinige Gesprächspartner angesehen wurden, welche die Arbeiterkämpfe kontrollieren und die Forderung der Arbeiter eindämmen konnten. Dieses größere demokratische Betätigungsfeld, das den Gewerkschaften angeboten wurde, und zur Errichtung und der Ausdehnung der Fabrikräte führte - eine Art Basisgewerkschaft, bei der man kein Gewerkschaftsmitglied sein muss, um sich daran zu beteiligen - hat unter den Arbeitern die Illusion aufkommen lassen, dass sie dies errungen hätten, und dass sie in diese neuen Strukturen Vertrauen haben könnten, um ihre Kämpfe fortzusetzen. In Wirklichkeit war es den Arbeiterkämpfen, in denen oft sehr kritische Töne gegenüber den Gewerkschaften zu hören waren, nicht gelungen, eine radikale Kritik derselben zu entwickeln, man beschränkte sich darauf, deren inkonsequentes Verhalten anzuprangern.
Abschließend ...
In diesen beiden Artikeln haben wir versucht auf der einen Seite auf die Kraft und das Potenzial der Arbeiterklasse und auf der anderen Seite auf die Bedeutung hinzuweisen, dass ihr Handeln durch ein klares Bewusstsein über den zurückzulegenden Weg getragen werden muss. Die Arbeiter, welche Ende der 1960er Jahre in Italien und woanders auf der Welt den Klassenkampf wieder aufnahmen, konnten nicht an die früheren Kampferfahrungen anknüpfen, so waren sie angewiesen auf die Erfahrungen, die sie Schritt für Schritt erworben hatten. Dies stellte die Hauptschwäche der Bewegung dar.
Bei den Reaktionen auf die verschiedenen Veröffentlichungen zu 1968 in Frankreich und zum Heißen Herbst 1969 in Italien hört oder liest man oft Leute, die nahezu nostalgisch seufzend an die damalige Zeit denken und meinen, solche oder ähnliche Kämpfe könnten heute nicht mehr auftauchen. Wir meinen, das Gegenteil ist der Fall. In Wirklichkeit waren der „Heiße Herbst“, der „französische Mai“ '68 und all die anderen Kämpfe, die die Gesellschaft Ende der 1960er Jahre erschüttert haben, nur der Beginn des wiedererstarkenden Klassenkampfes; im weiteren Verlauf ist die Situation weiter gereift und hat sich entwickelt.
Heute gibt es weltweit eine viel größere politische internationalistische Avantgarde (auch wenn sie zahlenmäßig immer noch sehr klein ist), welche im Gegensatz zu den sklerosierten [verkümmerten] Gruppen der Vergangenheit in der Lage ist - vereint im Ziel den Klassenkampf zu stärken - untereinander zu diskutieren, zusammen zu arbeiten und zu intervenieren.[30] Zudem gibt es heute in der Arbeiterklasse nicht nur eine grundsätzliche Kampfbereitschaft, die zur Auslösung von Kämpfen an vielen Orten auf der Welt führt.[31] Es verbreitet sich auch immer mehr das diffuse Gefühl, dass diese Gesellschaft der Menschheit auf wirtschaftlicher Ebene nichts mehr zu bieten hat und auch gegenüber den ökologischen Katastrophen und Kriegen keine Sicherheit mehr bieten kann.
Dieses Gefühl dehnt sich immer mehr aus, so dass man manchmal Leute von der Notwendigkeit der Revolution reden hört, die überhaupt keine politische Erfahrung haben. Gleichzeitig meinen die meisten dieser Leute, dass die Revolution nicht möglich sei, und die Ausgebeuteten nicht die Kraft hätten, das kapitalistische System zu überwinden.
Diese Situation könnten wir wie folgt zusammenfassen: Ende der 60er war die Vorstellung, dass die Revolution möglich sei, relativ weit verbreitet, doch gleichzeitig war die Vorstellung, dass sie unverzichtbar sei, weitaus schwerer zu verstehen. Heute ist es umgekehrt, die Vorstellung, dass die Revolution notwendig sei, findet ein nicht zu vernachlässigendes Echo, jedoch ist die Vorstellung, dass die Revolution möglich sei, kaum verbreitet.
"Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit der kommunistischen Revolution in der Arbeiterklasse wirklich Wurzeln schlagen kann, muss Letztere Vertrauen in ihre eigenen Kräfte gewinnen, und dies geschieht in massenhaften Kämpfen. Der gewaltige Angriff, der schon jetzt auf Weltebene gegen sie geführt wird, bildet eine objektive Grundlage für solche Kämpfe. Doch die wichtigste Form, in der diese Angriffe stattfinden - Massenentlassungen, läuft der Entwicklung solcher Kämpfe zunächst zuwider. Im Allgemeinen - und dies hat sich in den letzten vierzig Jahren immer wieder gezeigt - finden die wichtigsten Kämpfe nicht in Zeiten eines starken Anstiegs der Arbeitslosigkeit statt. Die Massenentlassungen und die Arbeitslosigkeit haben die Tendenz, momentan eine gewisse Lähmung der Klasse hervorzurufen. Diese sieht sich durch die Unternehmer erpresst: „Wenn ihr nicht zufrieden seid - es stehen viele andere Arbeiter bereit, um euch zu ersetzen." Die Bourgeoisie kann diese Lage ausnutzen, um eine Spaltung der Arbeiterklasse zu bewirken, d.h. eine Gegenüberstellung zwischen denen, die ihre Arbeit verlieren, und denen, die das „Privileg" haben, sie zu behalten. Zudem verstecken sich die Unternehmen und die Regierungen hinter einem „entscheidenden" Argument: „Wir können nichts dafür, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt und ihr entlassen werdet: Die Krise ist schuld." Schliesslich wird die Waffe des Streiks angesichts von Fabrikschliessungen stumpf, was das Gefühl der Ohnmacht der Arbeiter verstärkt. Zwar können angesichts einer historischen Situation, in der das Proletariat keine entscheidende Niederlage eingesteckt hat - im Gegensatz zur Lage in den 1930er Jahren -, Massenentlassungen, die bereits begonnen haben, durchaus sehr harte Kämpfe, wenn nicht gar Gewaltausbrüche hervorrufen. Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathie entgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann - namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die „Konjunkturprogramme" angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in grösserem Ausmass entwickeln können.“ (IKS, Resolution zur internationalen Situation 2009).[32]
Dieses Gefühl der Machtlosigkeit lastete und lastet immer noch auf der gegenwärtigen Generation von Arbeitern und liefert ansatzweise eine Erklärung für das Zögern, die Verspätung und die mangelnden Reaktionen gegenüber den Angriffen der Herrschenden. Aber wir müssen unserer Klasse ein Vertrauen entgegenbringen, das sich auf die Kenntnis ihrer Geschichte und ihrer vergangenen Kämpfe stützt. Wir müssen darauf hinarbeiten, die vergangenen Kämpfe mit den heutigen zu verknüpfen. Wir müssen uns an den Kämpfen beteiligen, den Mut und das Vertrauen in die Zukunft stärken. Dabei müssen wir den Prozess der Bewusstwerdung des Proletariats vorantreiben. Das Bewusstsein, dass die Zukunft der Menschheit in seinen Händen liegt, und dass das Proletariat allein die Fähigkeit besitzt, diese gewaltige Aufgabe zu lösen.
Ezechiele (23/08/10)
[1] Siehe insbesondere die schädliche Rolle des „Widerstands gegen den Faschismus“, der im Namen eines angeblichen „Kampfes für die Freiheit“ die Arbeiter in ein Massaker trieb, bei dem sie sich im Interesse einer Fraktion der Herrschenden gegen eine andere umbrachten; zunächst im Spanienkrieg (1936-39), dann im 2. Weltkrieg.
[2] „Die Tatsache, dass sie 1945, als sich die Klasse noch fest im Griff der Konterrevolution befunden hatte, eine Partei gegründet und sich seither einer Kritik an dieser voreiligen Gründung versagt hatten, beweist, dass diese Gruppen (die sich auch weiterhin „Partei“ nannten) außerstande waren, zwischen der Konterrevolution und dem Ende der Konterrevolution zu unterscheiden. Sie sahen im Frankreich des Mai 1968 oder im heißen Herbst in Italien 1969 nur Belangloses für die Arbeiterklasse und spielten diese Ereignisse als bloße Studentenagitation herunter. Dagegen begriffen unsere Genossen von Internacionalismo (insbesondere MC, ein alter Militanter der Fraktion und der GCF) im Bewusstsein der Veränderung des Kräfteverhältnisses die Notwendigkeit, einen Prozess der Diskussion und der Umgruppierung mit jenen Gruppen in Gang zu setzen, die in Folge des historischen Kurswechsels entstanden waren. Diese Genossen baten die PCInt wiederholt, die Diskussion zu eröffnen und zu einer internationalen Konferenz aufzurufen, war doch der Einfluss der PCInt viel größer als der unseres kleinen Kerns in Venezuela. Jedesmal lehnte die PCInt unseren Vorschlag mit der Begründung ab, es habe sich nichts Neues getan. Schließlich begann 1973 doch eine erste Runde von Konferenzen als Folge eines Appells, der von Internationalism formuliert worden war, einer Gruppe in den Vereinigten Staaten, die den Positionen von Internacionalismo und Révolution Internationale, die sich 1968 in Frankreich gebildet hatte, nahe stand. Es war größtenteils diesen Konferenzen zu verdanken, dass neben einer nachhaltigen Heranreifung einer ganzen Reihe von Gruppen und Elementen, die nach dem Mai 1968 zur Politik gelangten, im Januar 1975 die IKS gegründet wurde“; aus: „30 Jahre IKS: Von der Vergangenheit lernen, um die Zukunft zu bauen“ https://de.internationalism.org/30Jhr/37
[3] Zur PCI siehe die beiden Artikel: “Kurze Geschichte der PCI für die Proletarier, die an nichts mehr blind glauben wollen“. I (1921-1936) und II (1936-1947) (Rivoluzione Internazionale Nr. 63 und 64). Der Roman Ermanno Rea, Mistero napoletano (Napolitanisches Rätsel) (Ed. Einaudi) ist besonders interessant, um das Gewicht der Beziehungen innerhalb der PCI während jener Jahre zu verstehen.
[4] Aldo Cazzulo, "I ragazzi che volevano fare la rivoluzione. 1968-1978. Storia critica di Lotta Continua" Sperling und Kupfer, Eds, p. 8.
[5] "Tra servi e padroni", in Lotta Continua vom 6 décembre 1969, ebenso zitiert in Aldo Cazzullo, op.cit.p. 89.
[6] Antonio Negri, "De l'ouvrier-masse à l'ouvrier social. Entretien sur l'opéraïsme". Auf italienisch bei Ombre Corte. Antonio Negri: "Dall' operaio massa all' operaio sociale", Multipla edizione, Mailand 1979, Teile daraus in deutscher Übersetzung "Vom Massenarbeiter zum gesellschaftlichen Arbeiter", in: Lesebuch zur Nichtarbeit, Karlruhe 1981
[7] Antonio Negri, op.cit, p. 36-37 (Seite 31)
[8] Es ist sehr erstaunlich, wie viele heute berühmte Leute, die in der Öffentlichkeit als Politiker, Journalisten, Schriftsteller usw. bekannt sind, und politische Positionen unterschiedlicher Couleur vertreten – von Mitte Links oder gar Rechts, zuvor in außerparlamentarischen, insbesondere in operaistischen Gruppen mitgewirkt haben. Wir zitieren nur einige: Massimo Cacciari, Abgeordneter PD (zuvor bei Margherita) zweimaliger Bürgermeister von Venedig; Alberto Asor Rosa, Schriftsteller und Literaturkritiker; Adriano Sofri, gemäßigter Journalist bei La Repubblica und Il Foglio; Mario Tronti, der wieder zur PCI zurückgekehrt und Mitglied des Zentralkomitees und in den Senat gewählt geworden ist; Paolo Liguori, Journalist – in führender Stellung bei verschiedenen Fernsehprogrammen und anderen Verlagshäusern Berlusconis... Und die Liste könnte noch um Dutzende weitere Namen verlängert werden.
[9] Wir teilen nicht Lenins Analyse hinsichtlich der Existenz einer Arbeiteraristokratie in der Arbeiterklasse. Siehe unseren Artikel: “Die Arbeiteraristokratie – eine soziologische Theorie zur Spaltung der Arbeiterklasse, Internationale Revue Nr. 6.
[10] Eine international weit verbreitete Idee.
[11] Antonio Negri, op. cit., p. 105 (Seite 112)
[12] Aldo Cazzullo, op. cit., p. XII
[13] Lest beispielsweise: "Terror, Terrorismus und Klassengewalt" Internationale Revue Nr. 6 https://de.internationalism.org/ir3/1979_terrorismus und auf französisch:"Sabotage des lignes SNCF: des actes stériles instrumentalisés par la bourgeoisie contre la classe ouvrière" (ICC on line, 2008); "Débat sur la violence (II): il est nécessaire de dépasser le faux dilemme: pacifisme social-démocrate ou violence minoritaire". (ICC online, 2009)
[14] Antonio Negri, op. cit., p. 105
[15] Antonio Negri, op. cit. p. 108
[16] Antonio Negri, op. cit., p. 113 (Seite 121)
[17] "Wenn wir vom gesellschaftlichen Arbeiter sprechen, meinen wir tatsächlich und sehr deutlich, dass der Mehrwert aus seinem Subjekt gezogen wird. Wenn wir vom gesellschaftlichen Arbeiter reden, reden wir von einem produktiven Subjekt und wenn wir sagen 'produktiv', dann meinen wir: Produzent des Mehrwerts, im Begriff bzw. unmittelbar. Antonio Negri, op. cit. p.18 (nach der französischen Ausgabe)
[18] Zu dieser Frage siehe unsere Artikel in der italienischen Presse: “L’Area della Autonomia: la confusione contro la classe operaia (1)" (Rivoluzione Internazionale Nr. 8) et (2) (Rivoluzione Internazionale Nr. 10)
[19] N. Balestrini, P. Moroni, "L’orda d’oro", Milano, SugarCo Edizioni, 1988, p. 334
[20] Antonio Negri, op.cit.,p. 138 (Seite 150)
[21] Antonio Negri, op.cit.,p. 116-117
[22] Antonio Negri, op.cit.,p. 118 - "Amüsant war dann die Tatsache, dass jedes Mal, wenn wir sagten: 'der ganze Verwertungsprozess ist in die Luft geflogen', hier die einzige grundlegende Sache das Kommando ist, die Bosse sind sehr wohl bereit, einen Moment nichts mehr zu verdienen, um die Regeln der Akkumulation wiederherzustellen..." (Seite 126)
[23] Antonio Negri, op.cit.,p. 142 (Seite 155)
[24] Antonio Negri, op.cit.,p. 142
[25] Antonio Negri, op.cit.,p. 130-132
[26] Alessandro Silj, "Malpaese, Criminalità, corruzione et politica nell’Italia della prima Repubblica 1943-1994", Donzelle Editeur, p. 100-101
[27] Alessandro Silj, op. cit., p. 95-96
[28] Alessandro Silj, op. cit., p. 113
[29] Zeugenaussage von Marco Revelli, damals Mitglied bei Lotta Continua. In: Aldo Cazzullo, op. cit., p. 91
[30] Wir können hier nicht all die Artikel zur neuen Generation von Internationalisten zitieren, wir bitten die Leser/Innen auf unserer Webseite zu schauen, wo es viele Informationen und Texte dazu gibt.
[31] Zur gegenwärtigen Entwicklung des Klassenkampfes verweisen wir insbesondere auf die Artikel zur Lage in Vigo (Spanien), Griechenland und Tekel (Türkei).
[32] Der 18. Internationale Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage, International Review Nr. 44. /content/1880/resolution-zur-internationalen-situation