Die „andere Globalisierung“

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Eine ideologische Falle für die Arbeiterklasse

Der Erfolg des Europäischen Sozialforums (ESF) im letzten November in Paris zeigt deutlich, wie die „andere Globalisierung“1 während dem letzten Jahrzehnt Fuss fassen konnte. Nach einer zögerlichen Anlaufszeit mit einer eng begrenzten Anhängerschaft (die Bewegung zog sogleich weltumspannend „Denker“ und Akademiker an und war in dieser Hinsicht begrenzter als bezüglich der geographischen Ausdehnung) wies die Bewegung bald alle Merkmale einer ideologischen Strömung im traditionellen Sinn auf: ein populärer Ruf dank den radikalen Demonstrationen in Seattle 1999 während dem Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO), dann die Medienstars, allen voran unstreitbar José Bové, und schlussendlich die unmisslichen Events: das Weltsozialforum (WSF), welches in Porto Alegre (Brasilien) stattfand und eine Alternative zum Davoser Forum, dem Treffen der weltwirtschaftlichen Drahtzieher, darstellen soll. Porto Alegre sollte zum Symbol der Bürger-Selbstverwaltung werden; hier fanden die ersten drei Treffen des WSF (2001, 2002 und 2003) statt.
Seither stieg diese Welle weiter an: Während das WSF neue Kontinente erobert und im Januar 2004 in Indien stattfand, spriessen Abkömmlinge auf regionaler Ebene (das Europäische Sozialforum ist nur ein Ausdruck davon, weitere finden wir zum Beispiel in Afrika). Die Instrumente dieser Bewegung, Zeitungen und Zeitschriften, Meetings und Demonstrationen, erfahren einen atemberaubenden Aufschwung. Wer sich heute mit gesellschaftlichen Fragen auseinandersetzt, sieht sich zwangsläufig mit einer Ideenflut der „anderen Globalisierung“ konfrontiert.
Dieser rasche Aufschwung wirft eine Reihe von Fragen auf: Woher kommt das hohe Tempo, die Mächtigkeit und die grosse Ausdehnungskraft dieser Bewegung? Und: warum gerade jetzt?
Für die Anhänger der „anderen Globalisierung“ ist die Antwort einfach: ihre Bewegung ist derart erfolgreich, weil sie wirkliche Lösungen für die Probleme der Menschheit aufzeigt. Nach dem oben gesagten bleiben uns die Anhänger der „anderen Globalisierung“ noch die Antwort auf eine weitere Frage schuldig: weshalb schenken die Medien (selbst weitgehend unter Kontrolle der von ihnen jäh verpönten „transnationalen Unternehmen“) den Worten und Taten dieser Bewegung so viel Aufmerksamkeit?
Tatsächlich drückt der Erfolg der „anderen Globalisierung“ eine reale Notwendigkeit aus und dient realen Interessen. Die Frage ist nur, wer hat diese Bewegung nötig und welchen Interessen dient sie? Dient sie, ihrem eigenen Anspruch zufolge, den Interessen unterdrückter Bevölkerungsgruppen (arme Bauern, Frauen, Pensionäre, Arbeiter, „Aussätzige“ etc.) oder vielmehr der herrschenden Gesellschaftsordnung, von der sie ja gefördert und finanziert wird?
Um diese Fragen zu beantworten, untersucht man am Besten die gegenwärtigen ideologischen Bedürfnisse der bürgerlichen Klasse. Fakt ist, dass die herrschende Klasse nach dem besten Mittel sucht, um dem Bewusstseinsprozess des Proletariats einen entschiedenen Rückschlag zu versetzen.
Als erstes Muss die Wirtschaftskrise betrachtet werden. Seit ihren Anfängen Ende der 60er-Jahre, ist sie nun so weit fortgeschritten, dass sich die Bourgeoisie diesbezüglich zu einer relativ realistischen Sprache gezwungen sieht.
Der schamlose Trug, wonach die zweistelligen Wachstumsraten der asiatischen „Drachen“ (Südkorea, Taiwan, etc.) die Prosperität des Kapitalismus in der dem Zusammenbruch des Ostblocks folgenden Periode zeigen sollen, ist nicht länger haltbar. Denn die „Drachen“ speien kein Feuer mehr. Auch die „Tiger“ (Indonesien, Thailand, etc.), die den selben Weg hätten einschlagen sollen, brüllen nicht mehr, sondern betteln um die Gnade ihrer Kreditoren. Der nächste Trug war der, welcher an die Stelle der „aufstrebenden Länder“ die „aufstrebende New Economy“ setzte. Er hielt noch weniger lang an: das Wertgesetz holte die „New Economy“ bald von den spekulativen Höhenflügen herunter und stürzte manches Unternehmen ins Verderben.
Den „Kontext der Rezession“ lasten sich die nationalen Bourgeoisien gegenseitig an. Mit dieser Beschönigung aber kann die Verschärfung der ökonomischen Krise im Herzen des Kapitalismus kaum verschleiert werden. Gleichzeitig wird uns endlos gesagt, wir müssten „einen Effort leisten“, den „Gürtel enger schnallen“, um die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Ein solches Gerede wird aber niemals die Angriffe der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse gänzlich verschleiern können. Die sich verschärfende Krise verlangt nach immer härteren und ausgedehnteren Angriffen, die zudem mehr denn je simultan sein müssen, um die Interessen der Herrschenden bewahren zu können.
Solche Attacken provozieren zwangsläufig Reaktionen in der Arbeiterklasse, die sich zwar je nach Land und Zeit unterscheiden, aber in ihrer Gesamtheit zur Entwicklung des Klassenkampfes führen. Für Elemente der Arbeiterklasse kann eine solche Situation der Funke sein, der das Klassenbewusstsein entfacht. Wenn auch die derzeitige Entwicklung des Klassenbewusstseins nicht spektakulär ist, so taucht nichtsdestotrotz heute im Proletariat eine Reihe von Fragen auf, etwa über die wahren Gründe hinter den Angriffen der bürgerlichen Klasse, über die tatsächliche Situation der Wirtschaftskrise, aber auch über die wirklichen Ursachen der in der ganzen Welt andauernd ausbrechenden Kriege. Es wird auch die Frage gestellt, wie diese Katastrophen wirksam bekämpft werden können. Jedenfalls können sie nicht länger einfach der „menschlichen Natur“ angehängt werden.
Derartige Fragen stecken noch in ihren Anfängen und stellen noch lange keine Gefahr für die politische Herrschaft des Kapitalismus dar. Nichtsdestotrotz: heute schon Muss sich die herrschende Klasse mit ihnen auseinandersetzen und nach Wegen suchen, sie im Keime zu ersticken. Hierin zeigt sich das Hauptanliegen des ideologischen Apparats der „anderen Globalisierung“: eine Reaktion der herrschenden Klasse gegen die Anfänge einer Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse. Erinnern wir uns an das zentrale, endlos wiederholte Thema nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten sozialistischen Länder: „Der Kommunismus ist tot, lang lebe der Liberalismus! Die Konfrontation zwischen den zwei Welten ist vorbei, was umso besser ist, da sie die Ursache von Krieg und Armut war. Künftig kann es nur noch die eine Welt geben: die Welt des liberalen demokratischen Kapitalismus, Quelle des Friedens und Wohlstands.“
Bald war es klar, dass diese „brandneue“ Welt wie seit jeher Kriege entfachen, Armut und Barbarei verbreiten würde, auch nach dem Zusammenbruch des „Evil Empire“ (in den Worten von US-Präsidenten Reagan). Und weniger als zehn Jahre nach der triumphalen Versicherung, es könne nur eine Welt geben, sind wir Zeuge der wiedererweckten Idee, eine „alternative Welt“ zum Liberalismus sei möglich. Die herrschende Klasse hat offensichtlich die Langzeiteffekte ihrer Systemkrise auf das Klassenbewusstsein verstanden. Sie will die Arbeiterklasse von der Entwicklung einer eigenen Perspektive für eine „andere Welt“ abbringen, in der die Bourgeoisie nicht wie bei der „anderen Globalisierung“ keinen Platz hätte.

Die Grundlagen der Bewusstseinsentwicklung der Arbeiterklasse und das Ziel des bürgerlichen Angriffs

Die Fragen von suchenden Elementen in der Arbeiterklasse lassen sich hauptsächlich unter folgenden drei Überschriften zusammenfassen:
–    Was ist die Realität der heutigen Welt?
–    Mit welcher Perspektive kann diese verändert werden?
–    Wie können wir eine solche Perspektive erreichen?
Diese drei Fragen gehören zum zentralen Anliegen der Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen. Die Arbeiterklasse kann die grundlegenden Ursachen dieser Situation verstehen. Sie kann begreifen, dass es nur eine Perspektive gibt, die eine Alternative zu dieser Situation eröffnen kann. Diese Klasse ist fähig, ihre eigene revolutionäre Rolle in dieser Situation zu verstehen und deshalb kann sie sich die Waffen zum Umsturz des Kapitalismus aneignen und den Kommunismus errichten.
Die Bourgeoisie besitzt die Fähigkeit, den Prozess dieses Klassenbewusstseins und die damit verbundenen historischen Gefahren zu verstehen. Wir können auf nahezu zwei Jahrhunderte Erfahrung zurückgreifen, die uns zeigt, dass diese Fähigkeit der Bourgeoisie nicht unterschätzt werden darf. Sie führt dazu, dass die Ideologie der „anderen Globalisierung“, trotz ihrer unterschiedlichen Erscheinungsformen, im wesentlichen auch auf den oben erwähnten drei Themen aufbaut.
Das erste dieser Themen – die Realität der heutigen Welt – zeigt unmittelbar, wie sehr die Ideologie der „anderen Globalisierung“ ein integraler Teil des bürgerlichen Mystifikationsapparats ist. Diese Ideologie teilt nämlich gänzlich die Lügen über die gegenwärtige wirtschaftliche Situation des Kapitalismus. Bei den Anhängern der „anderen Globalisierung“ ebenso wie bei den Anarchisten und Linksextremen wird die Realität der kapitalistischen Systemkrise versteckt hinter der andauernden Denunzierung der „riesigen Trusts“. Wenn ganze Gebiete der Erde in ein Wirtschaftsdesaster verfallen, ist dies die Schuld der multinationalen Trusts. Wenn Armut die ganze Welt befällt und bis zum Herzen der industrialisierten Länder vordringt, so ist dies die Schuld der multinationalen Trusts und deren Profitgier. Überall auf der Erde gibt es genügend und grenzenlosen Reichtum, der für alle Menschen genügen würde, wenn da nicht eine rücksichtslose Minderheit den gesamten Reichtum an sich reissen würde. In diesem scheinbar kohärenten Schema fehlt allerdings ein kritisches Element, um die Realität der weltweiten Situation und ihrer Entwicklung zu verstehen: die unabwendbare Krise, die den Bankrott des Kapitalismus aufzeigt.
Für die herrschende Klasse war es immer von grösster Bedeutung, die Realität von der Vergänglichkeit ihres Systems zu verbergen, welches dazu verurteilt ist, eines Tages von der historischen Bühne zu verschwinden. Die Herrschenden versuchen daher, die zunehmenden Erschütterungen des Kapitalismus herunterzuspielen. Sie starten also ihr Gerede über das „Licht am Ende des Tunnels“ und über die schönen Zeiten, die uns „gleich um die Ecke“ erwarten. Aber während sie dieses Gerede entfalten, verschärft sich die Situation zunehmend. Die Bourgeoisie will die alte Lüge neu verpackt wissen und verpasst ihr daher mit der „anderen Globalisierung“ einen neuen Anstrich.
Dies hindert die Bewegung für eine „andere Globalisierung“ aber nicht daran, für eine Alternative zur gegenwärtigen Welt zu werben; oder besser gesagt für mehrere Alternativen. Dies betrifft das zweite der oben genannten Themen. Jeder Teil der Bewegung bringt seine eigene, sich von den anderen ein klein wenig unterscheidende Kritik an der heutigen Welt an: ihre Ideen können ökologisch gefärbt, geprägt von bestimmten ökonomischen Theorien oder kulturellen, nahrungsspezifischen oder sexuellen Orientierungen sein...die Liste liesse sich endlos ergänzen. Und sie erschöpfen sich nicht in blosser Kritik: jeder dieser Teile bietet seine eigene Lösung an. Damit musste aus dem Slogan „andere Globalisierung“ der Plural „andere Welten sind möglich“ werden. Die Vorschläge reichen von einer Welt ohne genmanipulierte Nahrungsmittel bis zu einer Welt der Selbstverwaltung, realisiert wohlverstanden über den Weg des klassischsten Staatskapitalismus. Da keine dieser politischen Alternativen den Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft durchbrechen könnte, stellen natürlich noch so viele solche Varianten keine Gefahr für die herrschende Klasse dar. Diese Alternativen bringen nichts als mehr oder weniger wichtige, mehr oder weniger utopische Verbesserungen der kapitalistischen Gesellschaft hervor, die alle mit der Herrschaft der Bourgeoisie verträglich sind. Tatsächlich ist die Bourgeoisie mit dieser Palette von „Lösungen“ gegen die Mängel des Systems gewappnet für die Konfrontation mit der Arbeiterklasse. Alle diese „Lösungen“ helfen, die einzige Perspektive, die fähig ist, dieser Barbarei und Armut ein Ende zu setzen, zu verschleiern: der Umsturz des dem Tode geweihten Kapitalismus, dem Ursprung aller dieser Mängel.
Das dritte Thema der Antiglobalisierungsbewegung ergibt sich aus den zwei ersten: nachdem der wahre Grund der kapitalistischen Armut und Barbarei und die einzige Perspektive, die alldem ein Ende setzen könnte, verschleiert sind, bleibt nur noch, die einzige hierfür fähige Kraft einzudämmen. Zu diesem Zweck unterstützt die Antiglobalisierungsbewegung eine Vielzahl von Bauernrevolten in der 3. Welt, José Bovés Bauernkonföderationen in Europa oder verzweifelte Angriffe des lokalen Kleinbürgertums gegen korrupte Diktaturen. Offensichtlich zeugen alle diese Revolten von einer Reaktion gegen die Misere, von der ein Grossteil der Menschheit betroffen ist. Aber bei keiner dieser Revolten findet sich auch nur die geringste Spur einer Lösung, um die von ihnen angegriffene kapitalistische Herrschaft auch umzustürzen.
Während mehr als eineinhalb Jahrhunderten hat die Arbeiterbewegung gezeigt, dass das Proletariat die einzige Kraft ist, welche die Gesellschaft verändern kann. Das Proletariat ist nicht die einzige Klasse, die gegen den Kapitalismus revoltiert, wohl aber die einzige, die den Schlüssel zur Überwindung des Kapitalismus bei sich trägt. Hierzu muss es sich nicht nur auf internationaler Ebene zusammenschliessen; es muss auch als autonome Klasse handeln, unabhängig von allen anderen Gesellschaftsklassen. Die Bourgeoisie ist sich darüber vollauf im klaren. Mit der Unterstützung von allen diesen nationalistischen kleinbürgerlichen Kämpfen will sie das Proletariat in eine Sackgasse drängen und der Entwicklung seines eigenen Bewusstseins und seiner eigenen Perspektive einen Riegel vorschieben.
Die Gefahr, welche die Bourgeoisie mit dieser Art von Mystifikation bannen will, ist nicht neu: das Proletariat hat seit dem Anbruch der kapitalistischen Dekadenz anfangs des 20. Jahrhunderts die potentielle Fähigkeit, den Kapitalismus umzustürzen. Und die herrschende Klasse begriff diese Gefahr seit dem Ersten Weltkrieg und der revolutionären Welle, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann und während mehreren Jahren – von Deutschland 1919 bis China 1927 – an den Grundfesten des Kapitalismus rüttelte. Die Bourgeoisie wartete nicht bis 1990, um ihre Kampagnen zu starten. Schon seit über einem Jahrhundert sieht sich die Arbeiterklasse bezüglich der wahren Natur der Wirtschaftskrise, der kommunistischen Perspektive und des Potentials des Klassenkampfs ideologischen Angriffen ausgesetzt. Die Antiglobalisierungswelle ist also fest im bürgerlichen Denken verankert. Das Auftauchen dieser Bewegung drückt aber dennoch eine Veränderung der Klassenkonfrontation auf ideologischer Ebene aus. Diese Veränderung zwingt die herrschende Klasse, ihre mystifizierenden Methoden gegen das Proletariat anzuwenden.

Die Bourgeoisie braucht eine ideologische Erneuerung...

„Ein Gewinnerteam wechselt man nicht aus“, pflegen Sportkommentatoren zu sagen. Und weil die Voraussetzungen der bürgerlichen Mystifikationen, um die Arbeiterklasse von der Entwicklung eines revolutionären Bewusstseins abzuhalten, keine grundsätzliche Veränderung durchmachen, ändert sich auch nicht die Art dieser Mystifikationen, wie wir oben gesehen haben. Als Vehikel dieser Mystifikationen zur Verschleierung des historischen Bankrotts der kapitalistischen Produktionsweise dienen traditionellerweise die Parteien der Linken (Stalinisten, Sozialdemokraten). Diese bieten der Arbeiterklasse falsche Alternativen und unterminieren jegliche Perspektive ihrer Kämpfe.
Diese Parteien haben schon seit dem Ausgang der 60er-Jahre, als die gegenwärtige Krise ihren Anfang nahm, und vor allem durch das Wiederauftauchen des Proletariats auf der historischen Bühne nach vier Dekaden der Konterrevolution (die wichtigen Streiks vom Mai 1968 in Frankreich, der „heisse Herbst“ von 1969 in Italien, etc.) ihre ideologische Wirkungskraft verloren. Der kraftvollen Zunahme der proletarischen Kämpfe entgegneten die linken Parteien, indem sie ihre Idee einer alternativen Regierungsweise hervorbrachten, welche den Forderungen der Arbeiter angeblich entgegenkommen würde. Teil dieser „Alternative“ war, dass der Staat bedeutend mehr Einfluss in der Wirtschaft haben sollte. Letztere war seit 1967 und mit dem Ende der Wiederaufbauperiode nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt von zunehmenden Erschütterungen. Die linken Parteien riefen die Arbeiterklasse zur Mässigung oder gar zum Stopp ihrer Kämpfe auf: sie sollte stattdessen ihrem Wunsch nach Veränderung an der Wahlurne Ausdruck verleihen und die Linke in die Regierung hieven. Diese würde die Interessen der Arbeiter begünstigen. Seither hat sich die Linke (besonders die Sozialdemokraten, aber zum Beispiel in Frankreich auch die „Kommunisten“) an zahlreichen Regierungen beteiligt. Dabei verteidigt sie nicht die Interessen der Arbeiter, sondern greift deren Lebensbedingungen an, um die Krise besser managen zu können. Darüber hinaus aber versetzte der Zusammenbruch des Ostblocks und der sogenannten „sozialistischen“ Regime Ende der 1980er-Jahre der Glaubwürdigkeit der „kommunistischen“ Parteien, welche diesen Regimes Rückhalt boten, einen herben Rückschlag. Damit ging auch ihr Einfluss in der Arbeiterklasse zurück.
Die sich verschärfende Krise bringt die Arbeiterklasse dazu, den Kampf wieder aufzunehmen. Gleichzeitig entsteht innerhalb der Arbeiterklasse allmählich eine Reflexion über die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse. Zugleich geraten die Parteien, welche traditionellerweise die Interessen des Kapitals innerhalb der Reihen der Arbeiterklasse verteidigten, in ernsthaften Misskredit. Es fällt ihnen daher schwerer, ihre vergangene Rolle weiterhin zu spielen. Deshalb reihen sie sich bei den Manövern gegen die Debatten und die Unruhen innerhalb der Arbeiterklasse nicht an vorderster Front ein. Im Rampenlicht steht dagegen die Antiglobalisierungsbewegung. Diese hat die Mehrzahl der Themen, die ehemals zum Rüstzeug der linken Parteien gehörten, übernommen. Daher finden sich die linken Parteien (vor allem die „kommunistischen“) in der Antiglobalisierungsbewegung derart heimisch, mögen sie auch diskret und „kritisch“ bleiben. Diese Diskretion verhilft der Antiglobalisierungsbewegung lediglich zu einem „innovativen“2 Erscheinen und verhindert, dass diese im Voraus in Misskredit gerät.
Die bemerkenswerte Übereinstimmung der Mystifikationen der „alten Linken“ und der „anderen Globalisierung“ zeigt sich in machen zentralen Themen.

...oder wie eine alte Idee neu verpackt wird

Um einen Überblick über die Hauptthemen in der „anderen Globalisierung“ zu bekommen, wenden wir uns den Schriften der ATTAC3 zu, dem wichtigsten „theoretischen“ Organ dieser Bewegung.
ATTAC hatte ihre offizielle Geburtsstunde im Juni 1998 aufgrund mehrerer Kontaktaufnahmen, die einem Editorial von Ignacio Ramonet in der Dezemberausgabe 1997 der französischen Le Monde Diplomatique folgten. Das seitherige Wachstum der Mitgliederzahlen auf 30’000 Ende 2000 deutet den Erfolg dieser Organisation an. Zur Mitgliedschaft gehören über 1000 Organisationen (Gewerkschaften, Gemeinschaftsgruppen, lokale Vereinigungen von Ratsdelegierten), mehrere hundert französische Parlamentsmitglieder, viele Staatsangestellte, darunter vor allem Lehrer, und zahlreiche, in 250 lokale Komitees gruppierte Berühmtheiten aus Politik und Kunst.
Ausgangspunkt dieser mächtigen ideologischen Organisation war die Idee von der „Tobin Tax“, die wir James Tobin, Nobelpreisträger in Ökonomie, verdanken. Tobin zufolge würde eine Steuer von 0,05% auf grenzüberschreitende Finanztransaktionen ermöglichen, diese zu regulieren und eine wuchernde Spekulation zu verhindern. Vor allem aber könnten mit dieser Steuer, so ATTAC, die Fonds armen Ländern als Entwicklungshilfe zugewiesen werden.4
Warum eine solche Steuer? Um, so ATTAC, im selben Zuge diesen Finanztransaktionen entgegenzutreten und zugleich von ihnen zu profitieren (was zumindest widersprüchlich ist, denn warum soll man eine Profitmöglichkeit zerstören wollen?). Sie symbolisieren die Globalisierung der Wirtschaft, die – verallgemeinert – die Reichen reicher und die Armen ärmer macht.
Ausgangspunkt von ATTACs Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft ist folgender: „Die Globalisierung der Finanzwelt verschärft die wirtschaftliche Unsicherheit und die soziale Ungleichheit. Sie übergeht und degradiert den Volksentscheid, die demokratischen Institutionen und die Souveränität von Staaten auf Kosten des allgemeinen Interesses. Stattdessen vertritt sie die gänzlich spekulative Logik, welche die Hauptinteressen der transnationalen Unternehmen und Finanzmärkte ausdrückt.“5
Was ist der ATTAC zufolge die Ursache für diese Wirtschaftsentwicklung? Wir finden darauf folgende Antworten: „Eine der bedeutendsten Fakten des späten 20. Jahrhunderts war die wachsende Macht der Finanzen in der Wirtschaftswelt: dies ist der Prozess der finanziellen Globalisierung, das Resultat der von den Regierungen der G7 auferlegten politischen Entscheide.“
Die Erklärung dieses Wandels im ausgehenden 20. Jahrhundert folgt später: „Im Rahmen des ,fordistischen‘ Kompromisses6, der bis in die 1970er wirkte, kamen Bosse und Lohnempfänger zu einer Übereinkunft, indem eine Aufteilung der Produktivitätssteigerung innerhalb des Unternehmens vereinbart wurde. Dadurch konnte die Aufteilung von Mehrwert erhalten bleiben. Das Aufkommen des Aktionärskapitalismus bedeutete den Untergang dieses Regimes. Das traditionelle Modell, bekannt als das ,Teilhabermodell‘ und verstanden als Interessensgemeinschaft dreier Partner innerhalb des Unternehmens, musste einem neuen ,Aktionärsmodell‘ weichen. Dieses räumt den Interessen der Besitzer von Börsenkapital, mit anderen Worten den Unternehmensfonds selbst, oberste Priorität ein.“7 Und weiter: „Hauptzweck der an der Börse notierten Unternehmen ist es, ,Aktionärswert zu schaffen‘, also eine Wertsteigerung der Aktien zu erzielen, um Mehrwert zu erzeugen und den Reichtum der Aktionäre zu vergrössern.“8
Folgen wir weiter der Argumentation der Antiglobalisierungsbewegung, so verursachte die neue Richtung der Regierungen der G7 einen Wandel in der Geschäftswelt. Die multinationalen Unternehmen und grossen Finanzinstitutionen konnten aus der Warenproduktion keinen Profit mehr erzielen und „übten daher Druck auf Unternehmen aus, damit diese auf Kosten produktiver Investition grösstmögliche Dividenden ausschütten“.
Die bisher aufgeführten Zitate der Antiglobalisierungsbewegung genügen, um folgende drei Aspekte zu verdeutlichen:
–    diese Bewegung hat nichts neuartiges erfunden
–    die Ideologie dieser Bewegung ist gänzlich bürgerlich
–    die Ideen der Antiglobalisierungsbewegung sind eine Gefahr für die Arbeiterklasse
Die heutigen „Transnationalen“, die sich angeblich der Kontrolle des Staates entziehen, sind den „Multinationalen“, die von den linken Parteien wegen denselben Sünden schon in den 1970er-Jahren angegriffen wurden, bemerkenswert ähnlich. Tatsächlich ist es einerlei, ob man sie „multinational“ oder „transnational“ nennt: diese Unternehmen haben durchaus eine Nationalität, nämlich diejenige der Mehrheit ihrer Aktionäre. Die Multinationalen sind im Allgemeinen die grossen Unternehmen der mächtigsten Staaten – allen voran der USA. Zusammen mit den militärischen und diplomatischen Waffen gehören sie zu den Instrumenten der imperialistischen Politik dieser Staaten. Und wenn dieser oder jener Nationalstaat (wie etwa die „Bananenrepubliken“) dem Diktat irgendeines riesigen Multinationalen unterworfen ist, so bedeutet das grundsätzlich nur, dass jener bestimmte Staat derjenigen Grossmacht unterliegt, auf der dieses multinationale Unternehmen basiert.
Schon während der 1970er-Jahre verlangte die Linke nach „mehr Staat“, um die Macht dieser „modernen Monster“ zu beschränken und den von ihnen produzierten Reichtum gerechter zu verteilen. Bis hierher haben ATTAC & Co also absolut nichts Neues hervorgebracht. Vor allem müssen wir die trügerische Idee verwerfen, als wäre der Staat jemals ein Instrument zur Interessensverteidigung der Ausgebeuteten gewesen. Das Gegenteil ist der Fall: der Staat ist ein Instrument zur Verteidigung der herrschenden Ordnung und also der Interessen der Herrschenden und Ausbeutenden. Unter bestimmten Umständen mag der Staat, um seine Rolle besser wahrzunehmen, sich diesem oder jenem Teil der herrschenden Klasse entgegensetzen. Dies zeigt sich etwa anhand einiger Massnahmen der britischen Regierung in der Wachstumsphase des Kapitalismus. Die britische Regierung verabschiedete Gesetze, um die Ausbeutung der Arbeitskraft, besonders der Kinder, einzugrenzen. Obwohl mancher Kapitalist diese Gesetze als seinen Interessen zuwider laufend empfand, konnten sie verhindern, dass die Arbeitskraft – Quelle allen kapitalistischen Wohlstands – schon vor ihrer Volljährigkeit en masse zerstört würde. Als zweites Beispiel sei an die Massnahmen des Nazistaates erinnert, der bestimmte Sektionen der herrschenden Klasse (vor allem die jüdische Bourgeoisie) verfolgte, was natürlich nicht im Interesse der Unterdrückten geschah.
Der Wohlfahrtsstaat ist vor allem ein Mythos mit dem Ziel, die Unterdrückten dahin zu bringen, den Fortgang der kapitalistischen Unterdrückung und die Herrschaft der Bourgeoisie zu akzeptieren. Im Niedergang der kapitalistischen Wirtschaft zeigt der Staat – ob „links“ oder „rechts“ – sein wahres Gesicht: Löhne werden eingefroren, „Sozialbudgets“, Ausgaben im Gesundheitssektor, Arbeitslosenunterstützung und Renten werden gekürzt. Und wenn die Arbeiter sich weigern, solche Opfer zu erbringen, so ist es wiederum der Staat, der ihnen mit Schlagstock, Tränengas und Verhaftungen, und, wenn alles nichts nützt, mit Kugeln, entgegentritt.
Die Anhänger der Antiglobalisierungsbewegung wollen in der besten Tradition der klassischen Linken tatsächlich die Vorstellung von einem Staat verbreiten, der fähig wäre, die Interessen der Unterdrückten gegen die multinationalen Konzerne zu verteidigen. Deshalb sprechen sie von einem möglichen „guten Kapitalismus“, der dem „schlechten Kapitalismus“ entgegengesetzt wäre.
Nun aber wird diese Idee durch die „Entdeckung“ von ATTAC, dass Profit der Hauptzweck des Kapitalisten ist, zu einer äusserst grotesken Karikatur, begleitet vom Gerede über Unterschiede zwischen „Aktionären“ und „Teilhabern“. ATTAC erklärt uns nun, dass Kapitalisten investieren, um Profite zu machen - eine Charakteristik, die seit der Geburtsstunde des Kapitalismus ihre Gültigkeit hat.
Was die „strikt spekulative Logik“ anbetrifft, ausgelöst angeblich durch die „Globalisierung der Finanzwelt“, so wurde dafür kaum an irgendeinem Treffen der G7 oder durch die Machtübernahme eines Ronald Reagan oder einer Margaret Thatcher der Startschuss gesetzt. Die Spekulation ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Im 19. Jahrhundert hob Marx schon hervor, dass bei einer sich anbahnenden Überproduktionskrise die Spekulation der produktiven Investition tendenziell vorgezogen wird. Die Bourgeois verstanden pragmatisch, dass bei einer Sättigung des Marktes die von ihnen mit eigens gekauften Maschinen produzierten Waren möglicherweise nicht abgesetzt werden können. Dadurch kann weder der in ihnen enthaltene Mehrwert (erzeugt durch die Arbeiter, welche die Maschinen in Bewegung setzten), noch der Wert des Startkapitals realisiert werden. Aus diesem Grund schienen Handelskrisen, wie Marx bemerkte, als Resultat der Spekulation, während in Wirklichkeit die Spekulation nichts anderes als ein vorzeitiges Krisenwarnzeichen ist. In gleicher Weise sind die Spekulationen, die wir heute wahrnehmen, nicht Resultat eines fehlerhaften Verhaltens dieser oder jener kapitalistischen Gruppe, der es an Bürgernähe fehlt, sondern Ausdruck der allgemeinen Krise des Kapitalismus.
Hinter der grotesken Stupidität der „wissenschaftlichen Analysen“ von den „Antiglobalisierungsexperten“ steckt eine Idee, die von den Verteidigern des Kapitalismus seit langer Zeit benutzt wurde, um die Arbeiterklasse von einer revolutionären Perspektive abzubringen. Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte der kleinbürgerliche Sozialist Proudhon, die „guten“ von den „schlechten“ Seiten des Kapitalismus zu scheiden und setzte sich für eine Art „fairen Handel“ und industrielle Selbstverwaltung (Kooperativen) ein.
Später war es die reformistische Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, und darin besonders ihr Haupttheoretiker Bernstein, der die Vorstellung eines Kapitalismus vertrat, der zunehmend den Interessen der Ausgebeuteten genügen könnte, wenn nur der Druck der Arbeiterklasse ihn dazu zwingen würde. Dies sollte im Rahmen der bürgerlichen Institutionen wie etwa dem Parlament geschehen. Ziel des Kampfes der Arbeiterklasse sollte es demnach sein, den „guten“ Kapitalisten ihren Triumph über die „schlechten“ Kapitalisten zu sichern. Denn Letztere würden aufgrund ihres Egoismus oder ihrer Kurzsichtigkeit die „positive“ Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft verhindern.
Heute sind es ATTAC und ihre Sympathisanten, welche eine Rückkehr zum „fordistischen Kompromiss“ vorschlagen, der vor masslosen Aufblähung der Finanzsphäre existiert und unter Arbeitern und Kapitalisten die „Aufteilung des Mehrwerts garantiert“ haben soll. Die Bewegung der „anderen Globalisierung“ erweitert damit die Palette des bürgerlichen Mystifikationsapparates:
–     indem sie der Idee Vorschub leistet, der Kapitalismus könnte von seinen Angriffen gegen die Arbeiterklasse ablassen; in Wirklichkeit aber entspringen diese Angriffe einer Krise, die vom System nicht überwunden werden kann;
–    indem sie davon ausgeht, dass die Grund-
lagen für einen „Kompromiss“ zwischen Arbeit und Kapital vorhanden wären;
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Arbeiter davon abgehalten werden, gegen die kapitalistische Produktionsform zu kämpfen, welche tatsächlich verantwortlich ist für die zunehmende Ausbeutung, die um sich greifende weltweite Barbarei und das sich zuspitzende Elend. Vielmehr werden die Arbeiter dazu angehalten, eine abstruse chimärische Version desselben Systems zu verteidigen. Sie sollten also mit anderen Worten anstelle ihrer eigenen Interessen diejenigen ihres Todfeindes, der Bourgeoisie, verteidigen.
Es ist heute oberste Priorität, die Antiglobalisierungsbewegung zu denunzieren und auf breiter Ebene zu intervenieren, um gegen ihre Ideen zu kämpfen. Diese Priorität gilt für alle proletarischen Elemente, die sich bewusst sind, dass heute die einzige alternative Weltordnung diejenige des Kommunismus ist, und dass der Kommunismus einzig durch eine absolut standfeste Opposition gegen die Bourgeoisie und alle ihre Ideologien erbaut werden kann. Die „andere Globalisierung“ ist nur die jüngste Verkörperung dieser Ideologie. Sie muss ebenso energisch wie die Sozialdemokratie und der Stalinismus bekämpft werden.

                    Günter

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