Die „Piraten“: Freibeuter des bürgerlichen Parlamentarismus

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Der Siegeszug der „Piraten“ scheint unaufhaltsam zu sein. Nachdem sie bereits aus dem Stand die Landesparlamente in Berlin, im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen geentert haben, schicken sie sich laut Umfragen nun auch an, bei den Ende nächsten Jahres anstehenden Bundestagswahlen eine nicht unbedeutende Anzahl von Sitzen zu kapern. Was ihnen in Schweden, dem Herkunftsland der „Piraten“, wo sie nach einem ersten Achtungserfolg bei den Europa-Wahlen wieder in der Versenkung verschwanden, versagt blieb, scheint die deutsche Piratenpartei spielend zu erreichen: die Etablierung einer neuen Kraft in den bürgerlichen Parlamenten. Einer Kraft, die anders sein will als das politische Establishment, die nichts Geringeres will als die totale Partizipation und Transparenz und die selbst mit ihrem offenkundigen Dilettantismus erfolgreich für sich wirbt. Eines ist diesem amorphen Konglomerat von Internet-Nerds, Occupy-Beseelten und von durch den Hype um die „Piraten“ angelockten Karrieristen schon jetzt gelungen: Ihre Präsenz in den o.g. Landtagen hat die politische Landschaft gehörig durcheinander gewirbelt. Ihr Auftauchen hat das politische Spektrum der herrschenden Klasse aber nur scheinbar erweitert; in Wahrheit sind die Machtoptionen der politischen Klasse eingeschränkter denn je. Vor allem die Chancen für ein rot-grünes Revival auf Bundesebene haben sich eingetrübt, und da auch die Aussichten auf eine Wiederholung der schwarz-gelben Koalition weiterhin gering sind, rückt eine Neuauflage der unbeliebtesten aller Optionen, die sog. Große Koalition, wieder in den Fokus. Dies hat damit zu tun, dass die „Piraten“ nicht willens und – was noch schwerwiegender ist – nicht fähig zu einer konstruktiven Regierungsarbeit sind. Bar jeglichen Programms, mit Strukturen, die mehr einem losen Wahlverein als einer Partei ähneln und mit einer schon entwaffnenden Unkenntnis des politischen Tagesgeschäfts ausgestattet, sind die „Piraten“ schlicht überfordert, außerhalb ihrer Domäne verbindliche Aussagen zu machen, die sie für die anderen Parteien satisfaktionsfähig machen.

Angesichts dessen stellen sich zwei Fragen, wovon die erste spekulativer Natur, die zweite aber durchaus konkret ist: Handelt es sich bei den „Piraten“ lediglich um eine politische Eintagsfliege, die sich spätestens nach den nächsten Bundestagswahlen in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen wird, oder hat sie das Zeug zu einer Protestpartei mit Zukunftspotenzial? Und: Welche Rolle spielen die „Piraten“ heute, worin besteht ihre aktuelle Funktion?

Das Internet im Fadenkreuz von Kommerz und staatlicher Kontrolle

Treibende Kraft hinter dem Phänomen der „Piraten“ ist ein Konflikt zwischen der sog. Internet-Community, also jener Heerschar von Internet-Usern, Hackern, Bloggern, Spielern, etc., und staatlichen Institutionen (Justiz, Geheimdienste, der Gesetzgeber) und Konzernen um die Freiheit des World Wide Web. Dieser Konflikt schwelt bereits seit geraumer Zeit und flammt immer wieder auf. Es war die Affäre rund um Wikileaks und dessen Spiritus rector, Julian Assange, der der breiten Öffentlichkeit erstmals einen Eindruck davon verschaffte, wie verbissen die Auseinandersetzungen zwischen den Verfechtern der uneingeschränkten Transparenz und den staatlichen Geheimniskrämern inzwischen geführt werden. Seither ist dieser Konflikt zu einem mehr oder minder offenen „Cyberkrieg“ eskaliert, in dem beide Seiten immer größeres Geschütz auffahren. Auf der einen Seite drohen die staatskapitalistischen Regimes überall mit immer drakonischeren Strafen, hetzen ihre Geheimdienst- und Polizeiapparate auf zum Teil minderjährige Hacker und drangsalieren die Internet-Community mit immer neuen Einschränkungen. Auf der anderen Seite schrecken Internet-Aktivisten wie die ominöse Gruppe „Anonymus“ immer weniger davor zurück, Konzerne, staatliche Behörden und selbst Privatpersonen mit immer ausgeklügelteren Methoden elektronisch lahmzulegen, ihre Kundendateien bzw. persönlichen Daten zu hacken, um sie anschließend zu veröffentlichen. Besonders heftig tobt der Kampf in den USA; der US-amerikanische Staatskapitalismus hat den Krieg gegen die sog. Cyberkriminalität auf sein Schild gehoben und jagt Betreiber illegaler Dienste notfalls um den ganzen Globus.

Aber auch das politische Regime in Deutschland hat die Zeichen der Zeit erkannt. Während es einerseits darum bemüht ist, die „Auswüchse“ des Webs gesetzlich einzudämmen, weiß es andererseits auch um die Vorteile, die die neuen Medien im Sinne der Aufrechterhaltung seiner Herrschaft bieten. Im Grunde war es seine Umtriebigkeit, die die Internet-Community erst sensibilisierte und politisierte. Initialzündung für die Gründung der „Piraten“ in Deutschland waren Pläne der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen („Zensursula“), unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Kinderpornographie die gesetzliche und infrastrukturelle Möglichkeit zu schaffen, Internetseiten zu sperren – unter Verwendung von sog. Sperrlisten des Bundeskriminalamtes und ohne Einbeziehung von Gerichten. Und als sich die Bundesregierung Anfang des Jahres anschickte, das auf völlig undurchsichtige Art und Weise zwischen den USA, der EU und einigen anderen Ländern zustande gekommene sog. Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen (Anti-Counterfeiting Treat Agreement, kurz: ACTA) zu ratifizieren, schuf sie mit den anschließenden Straßenprotesten erst die (wenn auch labile) Massenbasis für die „Piraten“, mit der diese sich dann in die o.g. Landtage katapultierte.

Der gesamte Konflikt besteht in seinem Kern aus zwei Brandherden. Zum einen laufen die Netzaktivisten Sturm gegen die zunehmende Einschränkung kostenloser Downloads und die Kommerzialisierung des Internets auf Kosten der Nutzer. Erst jüngst ließ das juristische Vorgehen des Musikrechteverwerters Gema gegen die Musik- und Filmplattform YouTube die Wellen im Netz hochschlagen; YouTube wurde vom Landgericht Hamburg zu einer strikteren Kontrolle der hochgeladenen Musikstücke verdonnert. Aber auch die Internet-Anbieter selbst sinnen über Möglichkeiten des elektronischen Abkassierens ihrer bisher für den Nutzer kostenlosen Dienste nach. Zum anderen sieht sich die Netzgemeinde zunehmend mit dem Griff des staatlichen Regimes nach der Kontrolle über das Internet konfrontiert, muss sie erleben, wie sich der staatliche Moloch die neuen elektronischen Medien zunutze macht, um seine Überwachungsmethoden zu verfeinern und zu perfektionieren. Vor einigen Jahren, im April 2007, wurde die Öffentlichkeit von einer Nachricht des Chaos Computer Club (CCC) über die Existenz sog. „Bundestrojaner“ aufgeschreckt, einer Spionagesoftware, die, einmal im Computer, Laptop oder I-Phone installiert, eine lückenlose Überwachung durch Geheimdienste ermöglicht; der CCC fand ferner heraus, dass diese Spitzelsoftware in einem Programm mit dem vielsagenden Titel ELSTER vorinstalliert war, mit dem künftig jeder Bundesbürger seine Steuererklärung erstatten soll… Erst im letzten Jahr wurde bekannt, dass die neue Handy-Generation, die I-Phones, ein detailliertes Bewegungsprofil des stolzen Besitzers eines solchen Gerätes erlaubt; in Kombination mit der sog. Vorratsdatenspeicherung eröffnet dies den staatlichen Überwachungsbehörden ganz neue Möglichkeiten.

All dies ist ein schlagender Beweis für ein Phänomen, das den niedergehenden Kapitalismus des 20. und 21. Jahrhunderts prägt. Der Konflikt rund um das Internet ist nur ein weiteres Beispiel für die Unfähigkeit und den Unwillen des „senilen Kapitalismus“, der Entwicklung der von ihm selbst geschaffenen Produktivkräfte (das Internet ist bekanntlich eine Erfindung des US-Militärs im Kalten Krieg) freien Lauf zu lassen. Er veranschaulicht angesichts des technisch möglichen freien, weltweiten Zugangs zum Internet und seinen Produkten die ganze Perversion, die heute in der Warenwirtschaft und im Privateigentum an Produktionsmitteln steckt. Und er zeigt, dass bei aller Grenzenlosigkeit des World Wide Web die staatskapitalistischen Regimes dieser Welt keineswegs geneigt sind, auf ihr Primat gegenüber dem Internet zu verzichten, dass sie bereit sind, mit allen Mitteln – angefangen von einer Überwachung Orwellschen Ausmaßes über die Kriminalisierung blutjunger Teenager bis hin zum Abschalten des Internets – ihre Vorherrschaft auch gegenüber diesem gesellschaftlichen Segment zu verteidigen.


Die „Piraten“ – unter vollen Segeln in die bürgerliche Demokratie

Mit den „Piraten“ verhält es sich ähnlich wie einst mit den Grünen: Sie geben falsche Antworten auf eine richtige Frage. So wie die Grünen in ihren Anfängen üben sich die „Piraten“ in urdemokratischen Praktiken und propagieren sie als politisches Gegenmodell zu den etablierten Parteien; Erstere nannten dies „Basisdemokratie“, die Piraten dagegen bevorzugen, angeregt von der Occupy-Bewegung, die Begriffe „Teilhabe“ und „Transparenz“. Doch anders als die Grünen, die die „Basisdemokratie“ in Gestalt der seinerzeit wie Pilze aus dem Boden schießenden Bürgerinitiativen nur als ein Mittel zum Zweck der Durchsetzung ökologischer Politik betrachteten, scheinen die „Piraten“ die „liquid democracy“ selbst als den Hauptzweck ihrer Politik anzusehen. Es ist dieses Versprechen, das die „Piraten“ derzeit insbesondere in der jungen Generation so attraktiv macht: Weg mit der undurchsichtigen Hinterzimmer-Diplomatie, den intriganten Manövern, der Politik nach Gutsherrenart, für eine transparente Politik unter voller Beteiligung der Bevölkerung! Dabei kommt den „Piraten“ der Umstand zugute, dass die sozialen Proteste sich hierzulande noch nicht der Straßen und Plätze bemächtigt haben, wie das beispielsweise in Spanien der Fall ist. Nur so ist zu erklären, dass eine „Partei“ wie die „Piraten“ in die Parlamente katapultiert wird, obwohl sie bisher mit keiner einzigen Silbe auf die brennenden sozialen Fragen eingegangen ist, sieht man einmal von ihrer Forderung nach einem sog. Bürgergeld ab.

Im Grunde rennen die „Piraten“ mit ihrer Forderung nach Partizipation und Transparenz lediglich offene Türen ein. Die Herrschenden in Deutschland haben schon längst begriffen, dass ihr Herrschaftsmodell der „repräsentativen Demokratie“, sprich: der Parteienherrschaft, ein neues Make-up nötig hat. Spätestens mit den live im Fernsehen übertragenen Gesprächen zwischen Gegnern und Befürwortern von „Stuttgart 21“ hat die so genannte Bürgerbeteiligung eine neue Qualität gewonnen – mehr Transparenz geht nicht. Allerorten suchen die etablierten Parteien den „Dialog mit dem Bürger“: Kanzlerin Merkel geht mit ihren „Townhall-Meetings“ hausieren, SPD-Vorsitzender Gabriel schlägt vor, dass auch Nicht-Mitglieder den SPD-Kanzlerkandidaten nominieren dürfen, und auch beim Ausbau des Stromnetzes im Zuge der sog. Energiewende sollen die Betroffenen per „Dialog“ eingebunden werden. Wohin das Auge blickt, „Partizipation“ ohne Ende. Für die politische Klasse überwiegen die Vorteile einer solchen „bürger-beteiligten“ Demokratie. Zwar ist das ganze Prozedere der „Bürgerbeteiligung“ sehr Zeit raubend und sorgt für lange Vorlaufzeiten bei infrastrukturellen Großvorhaben, doch am Ende zählt der politische Gewinn, nämlich eine neue Politur für die bürgerliche Demokratie und ein Zeichen gegen die grassierende „Politikverdrossenheit“.

So sind denn die „Piraten“, ohne es zu wollen, nichts anderes als nützliche Idioten im Dienste der Bourgeoisie. Sie erwecken den Glauben an das bürgerliche Parlament zu neuem Leben, was nirgendwo sichtbarer wird als in der Tatsache, dass es ihnen wie keiner anderen im Bundestag vertretenen Partei gelingt, bisherige Nichtwähler für die Wahlen zu mobilisieren. Sie sind die reformistische Auflösung des Widerspruchs, in dem sich große Teile gerade der jungen Generation, ihre Hauptwähler, befinden: Einerseits mit einer gehörigen Portion Negativität gegenüber dem Überwachungsstaat ausgestattet, drückt sich in ihrem Sehnen nach einer „sauberen“, „transparenten“ Politik andererseits auch eine prinzipiell positive Erwartungshaltung gegenüber dem Parlament, eine ungebrochene Demokratiegläubigkeit ihrer jungen Wähler aus. Ihre Stimmen sind kein Votum für das Programm der „Piraten“, das in seiner Dürftigkeit eh einem Nichts gleicht. Sie sind vielmehr ein Denkzettel für die etablierten Politiker, was in letzter Konsequenz ein – wenn auch negativer – Vertrauensbeweis gegenüber diesem Establishment darstellt.

Noch schwimmen die „Piraten“ auf einer Welle des Erfolges. Der von den Medien erzeugte Hype um die „Piraten“ hat sich verselbstständigt, so dass nicht mit ihrem baldigen Schiffbruch zu rechnen ist. Nichtsdestotrotz stellt sich bereits der erste Gegenwind ein. Eine erste Ahnung davon bekamen die „Piraten“, als in den Medien Informationen über rechtsradikale Umtriebe und den Hitlerfaschismus verharmlosende Äußerungen in ihren Reihen durchsickerten. Das Wohlwollen, das ihnen auch deswegen von der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde, weil sie eben keinen rechts durchwirkten Populismus repräsentieren (was für die deutsche Außenpolitik unvorteilhaft wäre), drohte umzuschlagen. Doch dies war lediglich ein Warnschuss vor dem Bug der „Piraten"; es gelang ihnen, die aufbrandenden Wogen durch entsprechende Klarstellungen wieder zu beruhigen. Komplizierter gestalten sich dagegen die immer heftigeren Auseinandersetzungen rund um die Frage der Urheberrechte. Hier sind es vor allem linksbürgerliche Intellektuelle, Autoren, Musiker und andere Beschäftigte aus dem Kulturbetrieb, die Front gegen die „Piraten“ machen. Eine Aussöhnung zwischen dem Interesse der „Piraten“-typischen Klientel an kostenlosen Downloads und dem Interesse der Künstler an Vergütung ihrer Leistungen ist nicht in Sicht.

Die größte Klippe wartet auf die „Piraten“ allerdings noch, der Schritt von der reinen Protestpartei zu einem festen Bestandteil im politischen Leben der Bourgeoisie. Dabei steht ihnen sozusagen ihr eigener Erfolg im Weg: Während die Grünen sich im parlamentarischen Alltagsleben schnell ihrer basisdemokratischen Folklore entledigt hatten, ohne dabei ihre Identität zu verlieren, und mit ihrer eigentlichen „Kernkompetenz“, der ökologischen Frage, einen dauerhaften Platz im Parteienspektrum errangen, besteht das Hauptanliegen der „Piraten“ in nichts Geringerem als der Durchsetzung der „wahren Demokratie“ in Parlament und Politik. Das heißt, dass sie künftig daran gemessen werden, ob sie ihren hehren Anspruch der inner- wie außerparteilichen Demokratie, die sog. liquid democracy, erfüllen, ob ihnen in den zahlreichen parlamentarischen Ausschüssen der Spagat zwischen totaler Transparenz und der vorgegebenen Geheimhaltungspflicht gelingt. Die „Piraten“ stecken in einem Dilemma: Gelingt ihnen nicht der Sprung aus der Fundamentalopposition, so wird es ihnen so ergehen wie der „Linken“, die, was kein Zufall ist, just zu dem Zeitpunkt in die Versenkung zu verschwinden droht, in dem die „Piraten“ reüssieren. Vollziehen sie aber die Metamorphose zu einer „normalen“ Partei, so verlieren sie alsbald ihren Reiz bei ihren Wählern und drohen ebenfalls zu einer Episode in der Geschichte des bürgerlichen Parlamentarismus zu werden. 18.5.2012