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1. Vor einem Jahrhundert trat die kapitalistische Produktionsweise in die Periode ihres historischen Niedergans ein, ihre Dekadenz. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges bedeutete den Übergang von der „Belle Epoque“, dem Höhepunkt der bürgerlichen Gesellschaft, in die Epoche der „Kriege und Revolutionen“, wie es der erste Kongress der Kommunistischen Internationale 1919 formulierte. Seither ist der Kapitalismus immer mehr in eine Barbarei versunken, wie der Zweite Weltkrieg mit mehr als 50 Millionen Toten zeigte. Wenn die Periode des „Wiederaufschwungs“, welche dieser furchtbaren Schlächterei folgte, die Illusion streute, dass dieses System seine Widersprüche überwunden habe, so bestätigte die offene ökonomische Krise, die Ende der 1960er Jahre ausbrach, was die Revolutionäre schon ein halbes Jahrhundert zuvor ausgesprochen hatten: Die kapitalistische Produktionsweise kann dem Schicksal der vorangegangenen Produktionsweisen nicht entrinnen. Sie wurde, nachdem sie zuerst einen Fortschritt für die menschliche Geschichte dargestellt hatte, zu einem Hindernis für die Entwicklung der Produktivkräfte und für den Fortschritt der Menschheit. Die Zeit des Abdankens dieser Produktionsweise und der Ersetzung durch eine andere Gesellschaft war gekommen.
2. Diese offene Krise zeigte nicht nur die historische Sackgasse des kapitalistischen Systems auf, wie es Ende der 1930er Jahre schon der Fall gewesen war, sie stellte die Gesellschaft einmal mehr vor die Alternative: generalisierter imperialistischer Krieg oder Entfaltung gewichtiger proletarischer Kämpfe mit der Perspektive der revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Gegenüber der Krise der 1930er Jahre war die Arbeiterklasse, welche nach der Niederlage der revolutionären Welle 1917-23 von der Bourgeoisie ideologisch niedergeworfen worden war, nicht fähig, eine Antwort zu geben, und die Bourgeoisie konnte ihren Weg einschlagen: einen neuen Weltkrieg. Bei den ersten Erscheinungen der Krise gegen Ende der 1960er Jahre hingegen reagierte die Arbeiterklasse mit breiten Kämpfen: Mai 68 in Frankreich, der „Heiße Herbst“ 1969 in Italien, die massiven Streiks der Arbeiter in Polen von 1970, und viele andere Kämpfe, die zwar weniger spektakulär, aber nicht weniger bedeutend für den fundamentalen Kurswechsel in der Gesellschaft waren. Die Konterrevolution war vorbei. In dieser neuen Situation hatte die Bourgeoisie nicht freie Hand, um auf einen Weltkrieg zuzusteuern. Es folgten mehr als 40 Jahre, in denen die Weltwirtschaft immer mehr ins Schlingern geriet und die von harten Angriffen gegen die Lebensbedingungen der Ausgebeuteten gekennzeichnet waren. Während dieser Jahrzehnte führte die Arbeiterklasse zahlreiche Abwehrkämpfe. Auch wenn sie keine definitive Niederlage erlitt, welche den historischen Kurs geändert hätte, war sie anderseits auch nicht fähig, ihren Kampf und ihr Bewusstsein so zu entfalten, dass sie der Menschheit eine revolutionäre Perspektive wenigstens als Entwurf skizziert hätte.
„In solch einer Situation, in der die beiden grundlegenden - und sich entgegengesetzten - Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen, ohne gleichzeitig ihre jeweils eigene Antwort durchsetzen zu können, bleibt die Geschichte aber nicht stehen. Viel weniger noch als bei den anderen vorhergehenden Produktionsformen ist im Kapitalismus eine Stagnation, ein 'Einfrieren' des gesellschaftlichen Lebens nicht möglich. Während die Widersprüche des krisengeschüttelten Kapitalismus sich nur noch zuspitzen, bewirkt die Unfähigkeit der Bourgeoisie, irgendeine Perspektive für die gesamte Gesellschaft anzubieten, und die Unfähigkeit des Proletariats, seine eigene Perspektive durchzusetzen, dass es zur Bildung dieses Phänomens des allgemeinen Zerfalls der Gesellschaft kommt, ihres Verfaulens auf der Stelle.“ (Der Zerfall: Letzte Phase der Dekadenz des Kapitalismus, Internationale Revue Nr. 13)
Damit begann vor einem Vierteljahrhundert eine Periode, in der das Phänomen des Zerfalls bestimmendes Element im Leben der gesamten Gesellschaft wurde.
3. Der Zerfall der kapitalistischen Gesellschaft zeigt sich auf dem Gebiet der militärischen Konflikte und internationalen Beziehungen am dramatischsten. Was die IKS dazu führte, die Analyse des Zerfalls in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre weiterzuentwickeln, waren die mörderischen Angriffe, welche die großen Städte Europas heimsuchten, vor allem Paris – Angriffe die nicht von isolierten Gruppen, sondern von etablierten Staaten geführt wurden. Dies war der Beginn einer Form der imperialistischen Konflikte, später als „asymmetrische Kriegsführung“ bezeichnet, die eine tiefgreifende Wende in der Beziehung zwischen den Staaten, aber generell auch in der gesamten Gesellschaft, kennzeichnete. Das erste historische Zeichen dieser neuen und finalen Phase der Dekadenz des Kapitalismus war der Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Europa und des Ostblocks 1989. Die IKS erkannte die Bedeutung dieser Ereignisse für die imperialistischen Konflikte sofort:
„Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch die Auflösung der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen 'Hauptpartnern' von früher öffnet die Tür für das Aufbrechen einer ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht mehr dazu in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Weil die vom Block auf erzwungene Disziplin nicht mehr gegeben ist, werden diese Konflikte dagegen viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere in den Gegenden, wo die Arbeiterklasse am schwächsten ist.“ (Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks: Destabilisierung und Chaos, Internationale Revue Nr. 12)
Seither hat die internationale Situation diese Analyse nur bestätigt:
- Golfkrieg 1991
- Krieg in Ex-Jugoslawien zwischen 1991 und 2001
- Zwei Kriege in Tschetschenien (1994-95 und 1999-2000)
- Der Krieg in Afghanistan 2001, der immer noch anhält.
- Der Krieg im Irak 2003, dessen Konsequenzen das Land noch immer dramatisch belasten, aber auch den Auslöser dieses Krieges, die USA.
- All die Kriege auf dem afrikanischen Kontinent (Ruanda, Somalia, Kongo, Sudan, Elfenbeinküste, Mali, usw.)
- Die zahlreichen militärischen Aktionen Israels gegen Libanon und den Gazastreifen als Vergeltungsschläge gegen die Raketenangriffe der Hisbollah oder Hamas.
4. All diese Konflikte an geografisch verschiedenen Orten zeigen auf, wie der Krieg im dekadenten Kapitalismus einen komplett irrationalen Charakter angenommen hat. Die Kriege des 19. Jahrhunderts, so mörderisch sie auch waren, hatten unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung des Kapitalismus eine Rationalität. Die Kolonialkriege erlaubten es Europa, Imperien aufzubauen, aus denen sie Rohmaterialien erhielten und in die sie ihre Waren absetzen konnten. Der amerikanische Bürgerkrieg, aus dem der Norden als Sieger hervorging, öffnete die Türe zur vollen industriellen Entwicklung des Landes, das die führende Weltmacht werden sollte. Der Französisch-Preußische Krieg von 1870 war ein entscheidender Schritt in der Einigung Deutschlands und zur politischen Herausbildung der zukünftigen zentralen Macht in Europa. In Gegensatz dazu blutete der Erste Weltkrieg die Staaten in Europa aus, alle, die „Verlierer“ und die „Sieger“, vor allem aber jene, die am „kriegerischsten“ waren (Österreich, Russland und Deutschland). Ebenso der Zweite Weltkrieg, welcher den Niedergang des europäischen Kontinents bestätigte, allen voran Deutschlands, das wie die andere „Angriffsmacht“ Japan 1945 nur noch eine Ruine war. Das einzige Land, welches von diesem Krieg profitierte, war dasjenige, das spät in den Krieg einstieg und auf dessen Gebiet aufgrund seiner geografischen Lage keine Schlachten gefochten wurden – die USA. Der wichtigste Krieg, der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurde, der Vietnamkrieg, hatte einen unübersehbar irrationalen Charakter, denn er brachte den USA nichts, trotz des gigantischen Einsatzes auf wirtschaftlicher, vor allem aber auch menschlicher und politischer Ebene.
5. Der irrationale Charakter des Krieges erreichte in der Periode des Zerfalls eine neue Stufe. Dies zeigten die Kriegsabenteuer der USA im Irak und in Afghanistan deutlich. Diese beiden Kriege verursachten größte ökonomische Kosten, doch das Erreichte war äußerst gering, wenn nicht negativ. Die USA konnten in diesen Kriegen ihre militärische Übermacht demonstrieren, doch sie erreichten ihre Ziele keinesfalls: weder die Stabilisierung des Iraks und Afghanistans noch die Unterordnung der alten Alliierten des Westblocks unter die Fittiche der USA. Heute hinterlässt der etappenweise Rückzug der US- und der NATO-Truppen aus Afghanistan und dem Irak eine absolut unstabile Situation in diesen Ländern, was die Instabilität in der gesamten Region verstärkt. Gleichzeitig verlassen die anderen Parteien in diesem militärischen Abenteuer das Schiff wie Ratten in jede Richtung.
6. In den vergangenen Monaten hat sich das chaotische Wesen der imperialistischen Spannungen und Konflikte durch die Situation in Syrien und dem Fernen Osten erneut bestätigt. In beiden Fällen handelt es sich um Konflikte, welche die Gefahr einer größeren Ausbreitung und Destabilisierung in sich tragen. Im Fernen Osten gibt es zunehmende Spannungen zwischen einzelnen Staaten der Region. In letzter Zeit sind es Spannungen, bei denen mehrere Staaten beteiligt sind, von den Philippinen bis nach Japan. China und Japan liegen im Streit um die Senkaku-/Diyao-Inseln, Japan und Südkorea um die Inseln Takeshima/Dokdo, während es andere Spannungen gibt, die Taiwan, Vietnam und Burma betreffen. Doch der spektakulärste Konflikt ist zweifellos derjenige zwischen Nord- und Südkorea, Japan und den USA. Trotz der dramatischen wirtschaftlichen Krise hat Nordkorea seine militärischen Ausgaben erhöht mit dem Ziel, auf die anderen Länder Druck auszuüben, besonders auf die USA, um damit wirtschaftliche Zugeständnisse zu erzwingen. Doch diese abenteuerliche Politik beinhaltet zwei Gefahren. Auf der einen Seite die Gefahr des Hineinziehens des chinesischen Riesen, welcher Nordkoreas einziger Verbündeter darstellt und der immer heftiger seine imperialistischen Interessen vorantreibt, wo immer er kann: im Fernen Osten sowieso, aber auch im Nahen Osten mit der Allianz mit dem Iran (welcher der Hauptlieferant von Kohlenwasserstoffen ist), aber auch in Afrika, wo eine verstärkte wirtschaftliche Präsenz existiert, welche die Basis für eine eventuelle militärische Präsenz ist. Auf der anderen Seite beinhaltet die abenteuerliche Politik des nordkoreanischen Staates, eines Staates, dessen brutales Polizeiregime Ausdruck seiner Zerbrechlichkeit ist, die Gefahr, jeder Kontrolle zu entgleiten und in eine unkontrollierte militärische Dynamik zu rutschen, deren Konsequenzen schwer abzusehen sind. Wir können jetzt schon sagen, dass dies eine Tragödie mehr in der langen Liste der militärischen Barbarei wäre, welche die Erde erfasst hat.
7. Der Bürgerkrieg in Syrien folgte dem “Arabischen Frühling”, der das Regime von Assad geschwächt hatte und eine Büchse der Pandora mit Konflikten und Widersprüchen öffnete, welche das eiserne Regime jahrzehntelang unter Kontrolle gehalten hatte. Die westlichen Staaten sind für eine Absetzung Assads, doch sie sind absolut unfähig, eine Alternative anzubieten, da die Opposition komplett gespalten ist und ein guter Teil aus Islamisten besteht. Gleichzeitig unterstützt Russland das Assad Regime militärisch, welches Russland im Gegenzug die Stationierung seiner Kriegsflotte in Tartus garantiert. Es ist nicht der einzige Staat, der das Regime unterstützt: auch der Iran und China halten Assad die Stange. Syrien ist deshalb zum Schauplatz eines blutigen Konfliktes geworden, in den verschiedene imperialistische Staaten ersten und zweiten Ranges verwickelt sind – Rivalitäten, unter denen die Bevölkerung im Nahen Osten schon seit Jahrzehnten leidet. Die Tatsache, dass die Ausdrücke des „Arabischen Frühlings“ in Syrien nichts zugunsten der unterdrückten und ausgebeuteten Massen brachten, sondern in einen Krieg mündeten, der schon mehr als 100.000 Tote gefordert hat, ist ein Zeichen der Schwäche der Arbeiterklasse in diesem Land – die einzige Kraft, die der militärischen Barbarei etwas entgegensetzen könnte. Dies trifft, wenn auch nicht in derselben tragischen Form, ebenfalls auf die anderen arabischen Länder zu, in denen der Fall der alten Diktatoren zum Aufstieg des rückständigsten Sektors der Bourgeoisie an die Macht geführt hat, der Islamisten in Ägypten und Tunesien, oder im noch größeren Chaos Libyens.
Syrien ist heute ein neues Beispiel der Barbarei, die der Kapitalismus in seiner Phase des Zerfalls auf der Welt verursacht. Einer Barbarei, welche die Form blutiger militärischer Konfrontationen annimmt, aber auch Zonen betrifft, in denen nicht Krieg herrscht, aber in denen die Gesellschaft wie in Lateinamerika im Chaos versinkt, wo Drogenbanden in Komplizenschaft mit Teilen des Staatsapparates in einigen Gebieten ihr eigenes Terrorregime installiert haben.
8. Auf der Ebene der Umweltzerstörung haben die Folgen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft eine apokalyptische Qualität erreicht. Auch wenn der Kapitalismus von Beginn weg auf seiner Suche nach Profit und Akkumulation durch einen extremen Raubbau im Namen der „Eroberung der Natur“ gekennzeichnet war, so haben die Folgen dieser Tendenz in den letzten dreißig Jahren ein Niveau der Zerstörungen angenommen, wie sie weder in vorangegangenen Gesellschaften noch in der „Blut und Schweiß“-Zeit der Geburt des Kapitalismus vorhanden waren. Die Sorge des revolutionären Proletariates gegenüber dem zerstörerischen Charakter des Kapitalismus besteht schon seit langem, wie auch die Gefahr schon seit langem besteht. Schon Marx und Engels warnten vor den negativen Auswirkungen – auf die Natur und auf die Menschen – der Menschenkonzentration in den ersten industriellen Zentren von Großbritannien um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im selben Geist haben Revolutionäre in verschiedensten Epochen den ignoranten Charakter der kapitalistischen Entwicklung verstanden und angeprangert und die Gefahren für die Arbeiterklasse und die gesamte Menschheit aufgezeigt. Heute geht es schlicht um das Überleben des Planeten.
Die gegenwärtige Tendenz hin zu einer definitiven und unumkehrbaren Zerstörung der Natur ist alarmierend, wie die Szenarien der globalen Erwärmung, die Ausplünderung des Planeten, Abholzung, Bodenerosion, Artenzerstörung, Wasser-, Meeres- und Luftverschmutzung und Nuklearkatastrophen deutlich zeigen. Letztere sind Beispiele der permanenten Zerstörungsgefahr durch das, was der Kapitalismus in seiner verrückten Logik entwickelt hat, ein Damoklesschwert über den Köpfen der Menschheit. Die Bourgeoisie versucht, die Umweltzerstörung der Schwäche des Individuums, dem individuellen „Fehlen eines ökologischen Bewusstseins“ in die Schuhe zu schieben, sie kreiert so eine Atmosphäre der Schuld und Angst. Diese Versuche, das Problem anzugehen, sind so heuchlerisch, weil es nicht die Schuld des Individuums ist, auch nicht von einzelnen Firmen oder Nationen. Es ist vielmehr die Logik der Verwüstung in einem System der Akkumulation, dessen Hauptziel nur der Profit ist und das keine Skrupel kennt, sich alles zu unterwerfen, solange es einen unmittelbaren Nutzen herauspressen kann, auch wenn es damit vielleicht für immer den Stoffwechsel zwischen Leben und Erde untergräbt.
Dies ist die unausweichliche Folge des Widerspruchs zwischen den Produktivkräften – den menschlichen und natürlichen –, welche der Kapitalismus entwickelt hat und die heute eingezwängt werden und unkontrolliert zu explodieren drohen, und den dazu antagonistischen Produktionsverhältnissen, die auf der Teilung der Gesellschaft in Klassen und auf der kapitalistischen Konkurrenz beruhen. Die Überwindung dieser dramatischen Weltlage muss die Arbeiterklasse in ihren revolutionären Bemühungen stimulieren, denn nur durch die Zerstörung des Kapitalismus wird das Leben wieder aufblühen können.
9. Die Hilflosigkeit der herrschenden Klasse gegenüber der Umweltzerstörung, auch wenn es den Eindruck macht, dass sie sich der negativen Dimension für die Menschheit bewusster geworden ist, hat ihre Wurzeln in der Unmöglichkeit, die Widersprüche zu überwinden, welche die kapitalistische Produktionsweise auszeichnen. Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise ist der Hauptgrund für die Barbarei, welche die Gesellschaft immer mehr erfasst. Für die kapitalistische Produktionsweise gibt es keinen Ausweg. Ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten haben diese Produktionsweise in die Sackgasse geführt, und es gibt keinen Ausweg außer der Abschaffung dieser Gesetzmäßigkeiten, der Abschaffung von sich selbst. Der Motor der kapitalistischen Entwicklung war von Anbeginn weg die Eroberung neuer Märkte außerhalb seiner eigenen Sphäre. Die Handelskrisen, welche der Kapitalismus seit den frühen Jahren des 19. Jahrhunderts durchlebte, die Ausdruck des Problems waren, dass die vom Kapitalismus erzeugten Waren nicht genügend Käufer fanden, wurden durch eine exzessive Zerstörung von Kapital, aber vor allem auch durch eine Eroberung neuer Märkte überwunden, vor allem in vom Standpunkt des Kapitals noch unterentwickelten Zonen. Deshalb war jenes Jahrhundert das Jahrhundert der Eroberungen: Für jede entwickelte kapitalistische Macht war es lebenswichtig, Zonen zu ergattern, aus denen sie billiges Rohmaterial erhielten, die aber auch als Absatzmärkte für ihre Waren dienten. Der Erste Weltkrieg war im Kern die Folge davon, dass die Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Mächte abgeschlossen war und somit neue Eroberungen nur noch mittels Konfrontationen mit anderen Kolonialmächten gemacht werden konnten. Doch dies heißt nicht, dass es keine außerkapitalistischen Märkte mehr gab, auf welchen der Warenüberschuss abgesetzt werden konnte. Rosa Luxemburg schrieb kurz vor dem Ersten Weltkrieg: „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.“ (Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Kapitel 32)
Der Erste Weltkrieg war der erste schreckliche Ausdruck dieser neuen Epoche der “Katastrophen und Konvulsionen”, in welche die kapitalistische Produktionsweise eintrat, „selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist“. Und 10 Jahre nach dem großen imperialistischen Gemetzel war die Krise der 1930er Jahre der zweite Ausdruck davon, eine Krise, welche geradeaus ins zweite generalisierte imperialistische Massaker führte. Doch die Periode des „Wiederaufschwungs“ nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Aufschwung, der durch noch vor Ende des Krieges lancierte Mechanismen des westlichen Blocks gesteuert wurde (vor allem das Abkommen von Bretton Woods 1944) und der auf einer systematischen Intervention des Staates in die Wirtschaft beruhte, bewies, dass der Kapitalismus noch nicht auf seine „natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist“. Die offene Krise, die Ende der 1960er Jahre ausbrach, zeigte aber, wie das System dieser Schranke näher kam, vor allem durch das Ende des Entkolonialisierungsprozesses, der paradoxerweise zur Schaffung neuer Märkte beitrug. Seither hat das zunehmende Schwinden außerkapitalistischer Märkte den Kapitalismus immer mehr in die generalisierte Überproduktion getrieben, in die Flucht in Kredite, einen Sturzflug, in dem immer mehr Schulden akkumuliert werden, die mit immer geringerer Wahrscheinlichkeit zurückbezahlt werden können.
10. Der wachsende Einfluss des Finanzsektors in der Wirtschaft zulasten des eigentlichen produktiven Sektors, wobei der Finanzsektor heute von Politikern und Journalisten als Sündenbock für die Krise stigmatisiert wird, ist mitnichten das Resultat des Sieges einer Art des ökonomischen Denkens über die andere („Monetaristen“ gegen „Keynesianisten“, oder „Neoliberale“ gegen „Interventionisten“). Er entspringt der Tatsache, dass die Flucht in den Kredit den Institutionen, welche Kredite verleihen, den Banken, mehr Gewicht geben. In diesem Sinne ist die „Finanzkrise“ nicht der Grund der ökonomischen Krise und der Rezession. Ganz im Gegenteil ist es die Überproduktion, welche die Quelle der „Finanzialisierung“ darstellt, und es ist das zunehmende Risiko, in die Produktion zu investieren - weil der Weltmarkt zunehmend gesättigt ist -, welche das Geld immer mehr in die Spekulation treibt. All die „linken“ Wirtschaftstheorien, die zur „Zügelung des internationalen Kapitals“ aufrufen, um die Krise zu überwinden, sind nichts als naive Träume, da sie die wirklichen Gründe des Aufblähens des Finanzsektors außer Acht lassen.
11. Die “Sub-prime-Krise“ 2007, die Finanzpanik 2008 und die Rezession 2009 stellten einen neuen wichtigen Schritt des Kapitalismus in seine unumkehrbare Krise dar. Über Jahrzehnte hatte der Kapitalismus auf den Kredit gebaut und ihn missbraucht, um der drohenden Tendenz der Überproduktion entgegenzuwirken, welche sich vor allem in einer Folge von Rezessionen ausdrückte, die zunehmend tiefer wurden, der jeweilige Aufschwung aber immer schwächer. Das Resultat war, wenn man die Schwankungen von Jahr zu Jahr beiseitelässt, das Sinken der durchschnittlichen Wachstumsraten von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, während die Arbeitslosigkeit stetig anstieg. Die Rezession von 2009 war die schlimmste seit derjenigen der 1930er Jahre, und die Arbeitslosenzahlen stiegen in vielen Ländern auf ein seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erreichtes Niveau. Nur eine massive Intervention des IWF, die am G20-Gipfel vom März 2009 entschieden wurde, rettete die Banken vor einem generellen Bankrott, der durch ihre Anhäufung von „toxischen Schulden“ zustande gekommen war, das heißt durch Kredite an Schuldner, die sie nicht mehr zurückzahlen konnten. Die „Schuldenkrise“, wie sie die bürgerlichen Kommentatoren nannten, erreichte somit ein höheres Niveau: Es waren nicht mehr nur Individuen (wie es in den USA während der Hypothekenkrise der Fall gewesen war), nicht nur Unternehmen oder Banken, die unfähig wurden, ihre Schulden oder auch nur die Zinsen dieser Schulden zurückzuzahlen. Es waren jetzt ganze Staaten, die mit einem enormen Gewicht an Schuldenlasten konfrontiert waren, mit „Staatsschulden“, was ihre Interventionsfähigkeit, die eigenen nationalen Ökonomien mit Budgetdefiziten zu beleben, noch mehr schwächte.
12. In diesem Kontext ereignete sich im Sommer 2011 das, was als „Eurokrise“ bezeichnet wurde. Wie beim japanischen oder amerikanischen Staat steigerten sich die Schulden der europäischen Staaten auf spektakuläre Weise, vor allem in denjenigen Ländern der Eurozone, deren Wirtschaft am zerbrechlichsten oder am meisten abhängig von den illusorischen Präventivmaßnahmen war, die zuvor ergriffen worden waren – den PIIGS (Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien). In den Staaten mit eigener Währung wie den USA, Japan oder Großbritannien können Staatsschulden kurzfristig mittels Druckens von Geld kompensiert werden. So hat das amerikanische FED große Mengen von amerikanischen Staatsanleihen (Treasury Bonds) aufgekauft, das heißt es hat die verbrieften Schuldanerkennungen des Staates zurück genommen, um sie in Dollarnoten zu verwandeln. Doch diese Möglichkeit besteht nicht für diejenigen Staaten, welche die nationale Währung zugunsten des Euro abgeschafft haben. Der Möglichkeit der „Monetarisierung“ der Schulden beraubt, haben die Staaten der Eurozone keine andere Wahl, als mehr zu borgen, um die Löcher in den Staatskassen zu stopfen. Wenn die Staaten von Nordeuropa noch fähig sind, geliehenes Geld von privaten Banken zu akzeptablen Zinsen zu erhalten, so gibt es diese Möglichkeit für die PIIGS nicht mehr, deren Schulden mit horrenden Zinsen belastet sind, weil sie immer zahlungsunfähiger werden. Dies zwingt sie zu einer Serie von „Rettungsplänen“ von Seiten der EZB und dem IWF, begleitet von einem großen Druck, die staatlichen Defizite zu vermindern. Die Konsequenzen dieser Maßnahmen sind dramatische Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse; doch sie erlauben es dem Staat immer noch nicht, das Defizit zu reduzieren, denn die Rezession, die mit der Ausgabenbremse ausgelöst wird, führt zu einer Verminderung der Einkommen und damit auch der Steuereinnahmen. Somit bringen die Notfallmedikamente, die zur Genesung des Patienten gedacht waren, denselben immer mehr in Todesgefahr. Dies ist ein Grund für den kürzlich gefällten Entscheid der Europäischen Union, die Forderung nach einer Reduktion der Defizite in gewissen Ländern abzuschwächen, wie in Spanien und Frankreich. Die ganze Sackgasse des Kapitalismus wird hier erneut deutlich: Schulden wurden eingesetzt, um die ungenügenden Absatzmärkte zu kompensieren, doch dies führt zu keinem Wachstum, wie die ab 2007 einsetzende Finanzkrise verdeutlicht. Wie auch immer, all die Maßnahmen, die zur erneuten Beschränkung der Schulden ergriffen werden, konfrontieren den Kapitalismus mit seiner Überproduktionskrise, und das in einem internationalen Kontext der permanenten Zuspitzung und Begrenzung des Spielraums für finanzielle Manöver.
13. Die so genannten Schwellenländer, vor allem die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China), deren Wachstumsraten im Vergleich zu den USA, Japan oder Westeuropa besser waren, stellen keine Widerlegung der Unüberwindbarkeit der kapitalistischen Widersprüche dar. In Wirklichkeit ist der „Erfolg“ dieser Länder (wobei hier auch die Unterschiede hervorgehoben werden müssen: Russland zum Beispiel lebt vor allem vom Export von Rohstoffen, besonders Erdgasen) eine Konsequenz der generellen Überproduktionskrise der kapitalistischen Wirtschaft, welche durch die verschärfte Konkurrenz zwischen den Unternehmen zur drastischen Verminderung der Lohnkosten drängt, was zu einer Verlagerung von großen Teilen des Produktionsapparats (Automobil-, Textil- und Bekleidungs-, Elektroindustrie, usw.) aus den alten Industriestaaten in Gebiete geführt hat, in denen die Löhne viel tiefer sind. Die enge Bindung der Wirtschaft dieser Schwellenländer an Exporte in die hochentwickelten Staaten wird zweifellos früher oder später zu Erschütterungen führen, wenn die Verkäufe durch die Rezession einbrechen.
14. Wie wir vor vier Jahren schrieben: „Auch wenn das kapitalistische System nicht wie ein Kartenhaus zusammenstürzen wird, auch wenn der Rückgang der Produktion nicht endlos weitergehen wird, bleibt es bei der Perspektive eines immer tieferen Versinkens in der historischen Sackgasse und der Vorbereitung von noch größeren Erschütterungen als jene, die wir derzeit erleben. Seit mehr als vier Jahrzehnten hat sich die herrschende Klasse als unfähig erwiesen, die Zuspitzung der Krise zu verhindern. Heute ist die Lage viel verheerender als in den 1960er Jahren.“ (Internationale Revue Nr. 44, 18. Kongress der IKS, Resolution zur internationalen Lage). Dies bedeutet aber nicht, dass es zu einer vergleichbaren Situation wie 1929 oder in den 1930er Jahren kommt. Vor 70 Jahren war die Bourgeoisie angesichts des Kollapses ihrer Wirtschaft komplett überrumpelt, und die Politik, in die sich jeder Staat im Alleingang stürzte, führte nur zu einer Verschärfung der Krise. Die wirtschaftliche Entwicklung der letzten 40 Jahre hat gezeigt, dass, auch wenn es unmöglich ist, die Talfahrt in die Krise zu vermeiden, die herrschende Klasse fähig geworden ist, diese Dynamik zu verlangsamen und ein Szenario der allgemeinen Panik wie am „Schwarzen Donnerstag“ des 24. Oktobers 1929 zu verhindern. Es gibt einen weiteren Grund, weshalb wir nicht auf eine Situation wie in den 1930er Jahren zusteuern. Damals ging die Schockwelle von der stärksten Macht der Welt aus, den USA, und breitete sich danach auf die zweitgrößte aus, Deutschland. In diesen zwei Ländern manifestierten sich die härtesten Zeichen der Krise wie die Massenarbeitslosigkeit von über 30% der arbeitenden Bevölkerung, die endlosen Schlangen vor den Arbeitsämtern und Suppenküchen, während Länder wie Großbritannien und Frankreich relativ verschont blieben. Heute spielt sich in den Staaten von Südeuropa Vergleichbares ab (vor allem in Griechenland), aber ohne das Ausmaß des Elends der Arbeiterklasse in den 1930er Jahren in den USA und Deutschland zu erreichen. Gleichzeitig sind die am meisten entwickelten Länder von Nordeuropa, die USA und Japan noch weit weg von einem solchen Szenario. Dies weil einerseits ihre nationalen Ökonomien fähiger geworden sind, der Krise zu begegnen, doch auch weil die Arbeiterklasse in diesen Ländern, vor allem in Europa, nicht bereit ist, ein solches Niveau von Angriffen auf ihre Lebensbedingungen zu akzeptieren. Dieser wichtige Faktor bei der Entwicklung der Krise unterliegt keinem strikt ökonomischen Determinismus, sondern spielt sich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse ab - dem Kräfteverhältnis zwischen den zwei wichtigsten sozialen Klassen der Gesellschaft - zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse.
15. Auch wenn die herrschende Klasse die eiternden Wunden ihrer Gesellschaft als Schönheitsflecken zu präsentieren versucht, beginnt die Menschheit, aus einem Schlaf aufzuwachen, der ein Albtraum geworden ist, und den totalen Bankrott dieser Gesellschaft zu erkennen. Doch lediglich das vage Bewusstsein und der Drang nach einer anderen Ordnung als einer brutalen Welt, die sich im Zerfall befindet, beutet noch lange nicht, dass die Arbeiterklasse von der Überwindung dieses Systems überzeugt ist, und noch weniger, dass sie daran ist, eine Perspektive hin zu einer neuen Welt zu entwickeln. Die beispiellose Zuspitzung der Krise des Kapitalismus durch den Zerfall ist der Rahmen, in dem sich der Klassenkampf heute abspielt, was mit sich bringt, dass dieser Kampf sich nicht einfach in offenen Konfrontationen zwischen zwei gesellschaftlichen Klassen abspielt. Es gilt hier die besonderen Bedingungen der gegenwärtigen Kämpfe zu sehen, seit sie sich im Kontext einer Krise abspielen, welche seit 40 Jahren anhält, und deren graduelle Auswirkungen – nebst einzelnen Ausbrüchen – die Arbeiterklasse an die langsame Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen gewöhnt hat, was es schwieriger macht, die Bedeutung der Angriffe zu verstehen und darauf konsequent zu reagieren. Darüber hinaus ist es eine Krise, deren Rhythmus schwer verstehen lässt, wer hinter den Angriffen steht, welche sich durch ihre langsame und gestaffelte Natur auszeichnen. Dies unterscheidet sich stark von offensichtlichen und unmittelbaren Erschütterungen im gesamten sozialen Leben in einer Situation des Krieges. So gibt es Unterschiede in der Entwicklung des Klassenkampfes – auf der Ebene der möglichen Reaktionen, der Breite, der Tiefe, der Ausbreitung und des Inhalts – in einer Situation des Krieges einerseits, welche sofort und unaufschiebbar zum Kampf drängt (wie es zu Beginn des 20. Jahrhunderts während dem Ersten Weltkrieg der Fall war, auch wenn es zunächst keine unmittelbare Antwort auf den Krieg gab), und in einer sich langsam entwickelnden Krise andererseits.
Der Ausgangsbedingung für die heutigen Kämpfe ist die Abwesenheit einer Klassenidentität innerhalb des Proletariats, welches seit dem Eintritt des Kapitalismus in seine Phase des Zerfalls große Schwierigkeiten hat, nicht nur seine historische Perspektive zu entwickeln, sondern sich selbst als Klasse wahrzunehmen. Der sogenannte „Tod des Kommunismus“, der angeblich durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989 stattgefunden haben soll, löste eine ideologische Kampagne aus, welche das Ziel hatte, die Existenz der Arbeiterklasse überhaupt in Frage zu stellen. Dies hatte eine scherwiegende Wirkung auf das Bewusstsein und die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse. Die Auswirkungen dieser Kampagne haben den Verlauf des Klassenkampfes bis zum heutigen Zeitpunkt belastet. Doch trotz alledem zeichnet sich, wie wir es seit 2003 unterstrichen haben, eine Tendenz hin zu Klassenkonfrontationen ab, welche durch verschiedenste Bewegungen bestätigt wurde, in denen die Arbeiterklasse der Bourgeoisie gegenüber „ihre Existenz zeigte“. Die weltweite Arbeiterklasse hat nicht aufgehört zu kämpfen, auch wenn die Kämpfe nicht die erhoffte Breite und Tiefe erreicht haben, die angesichts der dramatischen Situation gefordert sind. Doch über den Klassenkampf in Begriffen wie „was sein sollte“ nachzudenken, als wäre die heutige Situation einfach vom Himmel gefallen, ist keine Methode für Revolutionäre. Die Schwierigkeiten und das Potential des Klassenkampfes zu verstehen, war immer eine Aufgabe, die Geduld und eine historische und materialistische Herangehensweise erforderte, um in das angebliche Chaos Ordnung zu bringen, um zu verstehen, was neu und schwierig ist und auf was wir bauen können.
16. Nur in diesem Kontext von Krise, Zerfall und dem fragilen subjektiven Zustand der Arbeiterklasse kann man die Schwächen, Unzulänglichkeiten, Fehler, aber auch die potentielle Stärke der Kämpfe verstehen, was uns in der Überzeugung bestärkt, dass die kommunistische Perspektive nicht in automatischer oder mechanischer Art von den Umständen bestimmt wird. Während der letzten zwei Jahre haben sich Bewegungen entfaltet, die wir mit der Metapher der fünf Ströme beschrieben:
1. Soziale Bewegungen junger Menschen in prekären Arbeitssituationen, Arbeitslosigkeit oder im Studium, welche mit dem Kampf gegen das CPE-Gesetz in Frankreich 2006 begannen, mit der Revolte in Griechenland 2008 weitergingen, und 2011 in der Bewegung der Empörten und Occupy gipfelten.
2. Bewegungen die massiv waren, doch von der Bourgeoisie gut kontrolliert und im Vorfeld vorbereitet wurden, wie in Frankreich 2007, Frankreich und Großbritannien 2010, Griechenland 2010-2012, usw.
3. Bewegungen, die unter dem Gewicht der klassenübergreifenden Ideologie litten, wie in Tunesien und Ägypten 2011.
4. Ansätze massiver Streiks in Ägypten 2007, Vigo (Spanien) 2006, China 2009.
5. Bewegungen in Fabriken oder in einzelnen Industriesektoren, die vielversprechende Zeichen enthielten, wie bei Lindsey 2009, bei Tekel 2010 oder diejenige der Elektrizitätsangestellten in Großbritannien 2011.
Diese fünf Ströme gehören trotz ihrer Unterschiede der Arbeiterklasse. Jeder drückt auf seine Art eine Bemühung der Arbeiterklasse aus, zu sich selber zurückzufinden trotz all der Schwierigkeiten und Hindernisse, die ihr von der Bourgeoisie in den Weg gelegt werden. Jeder enthält eine Dynamik der Suche, der Klärung und der Vorbereitung des Klassenterrains. In unterschiedlicher Weise sind sie durch die Vollversammlungen Teil der Suche nach „der Welt, die uns zum Sozialismus führen wird“ (wie es Rosa Luxemburg bezüglich der Arbeiterräte ausdrückte). Der am weitesten fortgeschrittene Ausdruck dieser Tendenz waren die Bewegungen der Empörten und Occupy – vor allem in Spanien – denn sie waren diejenigen, welche am deutlichsten die Spannungen, Widersprüche und das Potential des heutigen Klassenkampfes aufzeigten. Trotz der Präsenz der verarmten Schichten des Kleinbürgertums zeichneten sich diese Bewegungen aus durch ihre Suche nach Solidarität, durch die Vollversammlungen, durch die Bemühungen, eine Debattenkultur zu entwickeln, durch die Fähigkeit, nicht in die Fallen der Repression zu laufen, in Ansätzen durch den Internationalismus und durch eine große Sensibilität für subjektive und kulturelle Aspekte. Es ist diese Dimension der Vorbereitung des subjektiven Terrains, durch welche all diese Bewegungen ihre Bedeutung für die Zukunft bewiesen haben.
17. Die Bourgeoisie hat ihrerseits Zeichen der Unruhe gezeigt angesichts dieser „Wiederauferstehung“ ihres weltweiten Totengräbers, der reagiert auf den Horror, der ihm täglich zum Zwecke der Aufrechterhaltung des Systems auferlegt wird. Der Kapitalismus hat seine Offensive ausgeweitet mit einer Verstärkung der gewerkschaftlichen Einbindung, der Ausstreuung demokratischer Illusionen und mit dem Feuerwerk des Nationalismus. Es ist kein Zufall, wenn sich seine Gegenoffensive auf das Thema konzentriert: Die Zuspitzung der Krise und ihre Auswirkungen auf die Lebensbedingungen des Proletariats rufen einen Widerstand hervor, den die Gewerkschaften aufzufangen und zu kanalisieren versuchen mit Aktionen, die die Einheit der Kämpfe aufbrechen und den Vertrauensverlust des Proletariats in seine eignen Kräfte möglichst in die Länge ziehen.
Da sich die heute zu beobachtende Entwicklung des Klassenkampfes in einem Rahmen der offenen Krise des Kapitalismus seit fast 40 Jahren abspielt – was gewissermaßen eine neuartige Situation im Vergleich zu den früheren Erfahrungen der Arbeiterbewegung darstellt -, versucht die Bourgeoisie, das Proletariat davon abzuhalten, das weltweite und historische Wesen der Krise zu erkennen, indem sie dieses versteckt. So verhindern die Idee der „nationalen“ Lösungen und das Aufkommen von nationalistischen Diskursen das Verständnis des wirklichen Charakters der Krise, das aber unabdingbar ist, damit der Kampf des Proletariats eine radikale Richtung einschlägt. Denn das Proletariat nimmt sich nicht selber als Klasse wahr, sein Widerstand läuft im Moment tendenziell darauf hinaus, allgemein eine Empörung gegen alles, was in der Gesellschaft stattfindet, zum Ausdruck zu bringen. Dieses Fehlen einer Klassenidentität und somit einer Klassenperspektive erlaubt es der Bourgeoisie, Verschleierungen über die „Bürgerrechte“ und die Kämpfe zugunsten einer „wirklichen Demokratie“ zu produzieren. Und es gibt weitere Ursachen für diesen Verlust an Klassenidentität, die ihre Wurzeln in der Struktur selber der kapitalistischen Gesellschaft und in der Form haben, in der sich die Krise gegenwärtig vertieft. Der Zerfall, der eine brutale Verschlimmerung der minimalsten menschlichen Überlebensbedingungen nach sich zieht, führt auch zu einer schleichenden Verelendung der Menschen auf persönlichem, geistigem und sozialem Gebiet. Dies drückt sich aus in einer „Vertrauenskrise“ der Menschheit. Hinzu kommt, dass die Verschärfung der Krise über die Ausbreitung der Arbeitslosigkeit und der prekären Überlebensbedingungen die Sozialisierung der Jugend erschwert und die Flucht in eine Welt der Abstraktion und der Vereinzelung erleichtert.
18. So sind die Bewegungen dieser beiden letzten Jahre und insbesondere die „sozialen Bewegungen“ durch zahlreiche Widersprüche gekennzeichnet. So widerspricht insbesondere die Seltenheit von spezifischen Forderungen scheinbar dem „klassischen“ Modell eines Weges vom Besonderen zum Allgemeinen, den wir im Klassenkampf erwartet haben. Aber wir müssen auch die positiven Aspekte der allgemeinen Herangehensweise berücksichtigen, die daher rührt, dass wir die Auswirkungen des Zerfalls auf einer allgemeinen Ebene spüren und dass die wirtschaftlichen Angriffe der herrschenden Klasse ihrem Wesen nach universell sind. Heute hat der Weg, den das Proletariat unter die Füße genommen hat, seinen Ausgangspunkt im „Allgemeinen“, so dass sich die Frage der Politisierung tendenziell deutlich direkter stellt. Die ausgebeuteten Massen sind mit dem offensichtlichen Bankrott des Systems und mit den verheerenden Auswirkungen des Zerfalls konfrontiert, so dass ihre Revolte nur vorankommen kann, wenn sie die Probleme als Folgen der Dekadenz des Systems und der Notwendigkeit seiner Überwindung begreifen. Genau in diesem Zusammenhang werden die eigentlich proletarischen Kampfmethoden wichtig, die wir beobachten (Vollversammlungen, offene und brüderliche Debatten, Solidarität, Entfaltung einer mehr und mehr politischen Perspektive), denn es sind Methoden, die eine kritische Reflektion und die Schlussfolgerung erlauben, dass das Proletariat nicht nur in der Lage ist, den Kapitalismus zu zerstören, sondern auch, eine neue Welt aufzubauen. Ein entscheidender Moment in diesem Prozess wird erreicht sein, wenn die Kämpfe, die vom Arbeitsplatz ausgehen, mit den allgemeineren Mobilisierungen zusammen kommen – eine Perspektive, die sich abzuzeichnen beginnt, trotz der Schwierigkeiten, auf die wir in den kommenden Jahren treffen werden. Die ist der Inhalt der Perspektive des Zusammenfließens der „fünf Ströme“, von dem wir oben gesprochen haben, in „ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen“, wie Rosa Luxemburg den Massenstreik beschrieben hat.
19. Um diese Perspektive des Zusammenfließens zu verstehen, ist das Verhältnis zwischen Klassenidentität und Klassenbewusstsein von zentraler Bedeutung, und eine Frage stellt sich: Kann sich das Bewusstsein ohne Klassenidentität entwickeln, oder wird diese entstehen durch die Entwicklung des Bewusstseins? Die Entwicklung des Bewusstseins und einer geschichtlichen Perspektive ist nach richtigem Verständnis verbunden mit der Rückgewinnung der Klassenidentität, aber wir können nicht erwarten, dass dieser Prozess in kleinen Schritten nach einem vorbestimmten Rhythmus ablaufe: zuerst die Identität schmieden, dann kämpfen, dann das Bewusstsein und schließlich die Perspektive entwickeln – oder irgendeine andere Reihenfolge all dieser Bestandteile. Die Arbeiterklasse erscheint heute nicht als je länger je massenhafter auftretender Gegenpol, so ist auch die Entwicklung einer kritischen Haltung durch ein Proletariat, das sich noch nicht als es selber erkennt, das wahrscheinlichste. Die Lage ist vielschichtig, aber es spricht vieles dafür, dass wir eine Antwort in der Form einer allgemeinen Fragestellung erleben werden, die in politischer Hinsicht der Möglichkeit nach positiv ist, aber nicht von einer unterschiedenen, klar abgrenzenden Klassenidentität ausgeht, sondern von Bewegungen, die versuchen, ihre eigene Perspektive im eigenen Kampf zu finden. Wie wir 2009 gesagt haben: „Damit das Bewusstsein über die Möglichkeit einer kommunistischen Revolution in der Arbeiter_innenklasse bedeutend an Boden gewinnen kann, muss sie Vertrauen in ihre eigenen Kräfte schöpfen, und dies geschieht durch die Entfaltung von massenhaften Kämpfen.“ (Resolution zur internationalen Lage, Punkt 11, 18. Kongress der IKS) Die Formulierung „ihre Kämpfe entfalten, um das Vertrauen in sich selbst und ihre Perspektive wieder zu finden“ wird der Sache gerecht, denn sie beinhaltet die Erkennung „seiner selbst“ und einer Perspektive, aber die Entwicklung dieser Bestandteile kann erst aus den Kämpfen selber herrühren. Das Proletariat „schafft“ nicht sein Bewusstsein, sondern es „begreift“, ergreift das Bewusstsein darüber, was es selber ist.
In diesem Prozess liegt der Schlüssel in der Debatte, damit die Unzulänglichkeiten der beschränkten Gesichtspunkte kritisiert, die Fallen demontiert, die Suche nach Sündenböcken abgelehnt, das Wesen der Krise verstanden werde, etc. In dieser Hinsicht sind die Tendenzen zur offenen und brüderlichen Debatte der letzten Jahre vielversprechend für diesen Politisierungsprozess, der die Klasse voranbringen sollte. Die Welt zu verändern, indem wir uns selber verändern – dies beginnt Gestalt anzunehmen in der Initiativergreifung zu Debatten und in der Diskussion von Sorgen, die sich um die Kritik der Ketten drehen, die das Proletariat lähmen. Der Prozess der Politisierung und Radikalisierung braucht die Debatte, um den herrschenden Zustand zu kritisieren und eine historische Erklärung für die Probleme zu geben. In dieser Hinsicht stimmt nach wie vor, dass „die Verantwortung der revolutionären Organisationen, insbesondere der IKS, darin liegt, aktiver Teil der Reflektion zu sein, die schon heute in der Klasse stattfindet, und zwar nicht nur mittels aktiver Intervention in den Kämpfen, die sie zu entfalten beginnt, sondern auch durch die Stimulierung der Haltung der Gruppen und Einzelpersonen, die vorhaben, sich ihrem Kampf anzuschließen.“ (Resolution zur internationalen Lage des 17. Kongresses der IKS, 2007) Wir müssen fest davon überzeugt sein, dass die Verantwortung der Revolutionäre in der kommenden Phase darin besteht, zur Entwicklung des entstehenden Bewusstseins beizutragen, das zwar erst in leisen, aber doch vernehmbaren Zweifeln und Kritiken im Proletariat zum Ausdruck kommt – als Katalysator zu wirken. Dieser Beitrag besteht im Wesentlichen in der Fortsetzung und Vertiefung der theoretischen Arbeit, nicht nur gegen die Auswirkungen des Zerfalls, sondern auch als Mittel, um das gesellschaftliche Feld geduldig zu befruchten, als Medizin gegen den Immediatismus in unseren Aktivitäten, denn ohne die Radikalisierung und die Vertiefung der Theorie durch die Minderheiten wird die Theorie nie die Massen ergreifen.