Gespeichert von InternationaleRevue am
Wir stützen uns auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung ab
1. Bei der Erarbeitung einer Bilanz über unsere Analysen zur internationalen Lage, welche wir während der letzten 40 Jahren gemacht haben, lassen wir uns vom Kommunistischen Manifest von 1848 inspirieren, der ersten offenen Erklärung der marxistischen Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung. Die Errungenschaften des Kommunistischen Manifests sind bekannt: die Anwendung einer historisch-materialistischen Methode, welche den Übergangscharakter aller sozialen Gesellschaften, die bisher existiert haben, aufzeigt; die Anerkennung, dass der Kapitalismus, auch wenn er eine revolutionäre Rolle spielte, indem er den Weltmarkt vereinigte und die Produktivkräfte entwickelte, Widersprüche in sich birgt, welche sich in den wiederholten Überproduktionskrisen ausdrücken, ebenfalls nur eine Übergangsetappe in der Geschichte der Menschheit ist; die Anerkennung der Arbeiterklasse als Totengräber der bürgerlichen Produktionsweise; die Notwendigkeit für die Arbeiterklasse, ihre Kämpfe auf ein Niveau der politischen Machtergreifung hochzustemmen, um überhaupt die Grundlagen einer kommunistischen Gesellschaft zu legen; die entscheidende Rolle einer kommunistischen Minderheit als Ausdruck und zugleich aktiver Faktor in den Kämpfen der Arbeiterklasse.
2. Diese Erkenntnisse bilden nach wie vor die Grundlage des kommunistischen Programms von heute. Marx und Engels, die einer Methode treu waren, welche historisch und selbstkritisch war, zeigten die Fähigkeit, im Nachhinein einzusehen, dass gewisse Teile des Kommunistischen Manifests überholt waren oder durch die Erfahrung der Geschichte widerlegt worden waren. So folgerten sie nach den Ereignissen der Pariser Kommune 1871, dass die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse die Zerstörung des existierenden bürgerlichen Staates erfordert, und nicht lediglich seine Eroberung. Schon lange zuvor stellten sie in den Debatten, die innerhalb der Liga der Kommunisten nach der Niederlage der Revolutionen von 1848 stattfanden, fest, dass sich das Kommunistische Manifest in der Annahme, der Kapitalismus befinde sich bereits in einer grundlegenden Sackgasse und es stünde nur eine kurze Übergangszeit von der bürgerlichen zu proletarischen Revolution bevor, getäuscht hatte. Gegen die hyper-aktivistische Tendenz um Willich und Schapper unterstrichen sie die Notwendigkeit, für die Revolutionäre, viel tiefer greifende Überlegungen über die Perspektiven der kapitalistischen Gesellschaft, welche sich noch im Aufstieg befand, anzustellen. Doch auch wenn sie diese Irrtümer anerkannten, so stellten sie die grundlegende Methode nicht in Frage – sie kamen vielmehr darauf zurück, um den programmatischen Errungenschaften der Bewegung eine noch solidere Grundlage zu geben.
3. Die Passion für den Kommunismus und der brennende Wunsch, das Ende der kapitalistischen Ausbeutung zu erleben, haben Kommunisten immer wieder dazu verführt, ähnliche Fehler zu begehen wie Marx und Engels 1848. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und die gigantische revolutionäre Erhebung in den Jahren 1917–20, die dieser Krieg provozierte, wurden von den Kommunisten berechtigterweise als definitive Bestätigung für das Eintreten des Kapitalismus in eine neue Epoche gesehen – die Epoche seines Niedergangs und deshalb die Epoche der proletarischen Revolution. Die Weltrevolution wurde durch die Machtergreifung des Proletariats in Russland 1917 tatsächlich auch auf die Tagesordnung gesetzt. Doch die klarsten Teile der Kommunisten in der damaligen Zeit tendierten zu einer Unterschätzung der enormen Schwierigkeiten, mit denen die Arbeiterklasse konfrontiert war, denn das Selbstvertrauen und das moralische Rückgrat hatten durch den Verrat der alten Arbeiterorganisationen einen schweren Schlag erlitten. Es war ein Proletariat, erschöpft durch die jahrelangen imperialistischen Massaker, über dem immer noch der Schatten des Reformismus schwebte und das unter dem Einfluss des Opportunismus litt, der in den drei vorangegangenen Jahrzehnten in der Arbeiterbewegung um sich gegriffen hatte. Die Antwort der Führung der Kommunistischen Internationale auf diese Probleme war das Abgleiten in neue Formen des Opportunismus in der Hoffnung, einen Einfluss in den Massen zu gewinnen. So zum Beispiel mit der „Taktik“ der Einheitsfront mit zweifelsfreien Agenten der herrschenden Klasse, die in der Arbeiterbewegung aktiv waren. Dieser opportunistische Kurs brachte die gesunde Reaktion linker Strömungen innerhalb der Kommunistischen Internationale hervor, vor allem die Kommunistische Linke in Italien und Deutschland, doch auch sie waren mit der großen Schwierigkeit konfrontiert, die neuen historischen Bedingungen wirklich zu verstehen. In der Kommunistischen Linken in Deutschland waren die Tendenzen, welche die Theorie der „Todeskrise“ übernommen hatten, unfähig, den Beginn der Dekadenz des Kapitalismus zu erkennen. Da die Dekadenz sich als eine Periode der Krisen und Kriege manifestierte, verstanden diese Tendenzen die Dekadenz als eine Fahrt des Systems gegen die Mauer und sie sprachen ihm jegliche Möglichkeit der Erholung ab. Ein Ergebnis dieser Analyse waren abenteurerische Aktionen mit dem Ziel, die Arbeiterklasse zu einem tödlichen Schlag gegen den Kapitalismus zu provozieren; ein anderes Ergebnis war die Gründung der „Kommunistischen Arbeiter-Internationale“ als Eintagsfliege, gefolgt von einer „rätistischen“ Phase – ein um sich greifender Verzicht auf die Notwendigkeit einer Klassenpartei. Die Unfähigkeit des Großteils der Kommunistischen Linken in Deutschland, auf den Rückfluss der revolutionären Welle zu antworten, war entscheidend für das Auseinanderfallen der Mehrheit ihrer organisatorischen Ausdrücke.
4. Im Gegensatz zur Kommunistischen Linken in Deutschland war die Kommunistische Linke in Italien fähig, die tiefgreifende Niederlage der Arbeiterklasse auf Weltebene Ende der 1920er Jahre zu erkennen und theoretische und organisatorische Antworten für die neue Phase im Klassenkampf zu erarbeiten. Dies beinhaltete das Konzept eines Wechsels im historischen Kurs, die Bildung einer Fraktion und die Notwendigkeit, eine „Bilanz“ der weltrevolutionären Welle und der programmatischen Positionen der Kommunistischen Internationale zu ziehen. Diese Klarheit erlaubte es der italienischen Fraktion, entscheidende programmatischen Schritte zu vollziehen, während sie gleichzeitig die internationalistischen Positionen zu verteidigen hatte, während rund um sie herum alle dem Antifaschismus in die Arme fielen und damit den Weg zum Krieg beschritten. Doch auch die Fraktion war nicht gegen theoretische Krisen und Rückschritte gefeit: 1938 wurde die Zeitschrift BILAN in OCTOBRE umbenannt, dies in der Erwartung einer neuen revolutionären Welle, welche sich aus dem sich abzeichnenden Krieg und einer „Krise der Kriegswirtschaft“, die darauf folgen würde, ergeben würde. In der Nachkriegszeit erlag die Kommunistische Linke in Frankreich – welche aufgrund einer Krise der Fraktion während des Krieges und gegen die übereiligen Haltung, welche 1943 zur Gründung der Internationalistischen Kommunistischen Partei geführt hatte, entstanden war und die Fähigkeit zeigte, in einer sehr arbeitsamen Zeit zwischen 1946 und 1952 eine Synthese der wichtigsten Beiträge der Italienischen und Deutschen Kommunistischen Linken zu bilden sowie ein besseres Verständnis der Anpassung des Kapitalismus durch totalitäre und staatliche Formen zu entwickeln – aufgrund eines falschen Verständnisses der Nachkriegsperiode und der Erwartung eines bald ausbrechenden dritten Weltkrieges einer Auflösung.
5. Trotz gravierender Irrtümer bleibt die grundsätzlich eingeschlagene Gangart von BILAN und der Kommunistischen Linken in Frankreich gültig, und sie bildete das Fundament für die Gründung der IKS zu Beginn der 1970er Jahre. Die IKS formierte sich auf der Basis einer Gesamtheit von zentralen Errungenschaften der Kommunistischen Linken. Dies nicht nur auf der Grundlage von Klassenpositionen im Widerstand gegen die nationalen Befreiungskämpfe und alle Kriege im Kapitalismus, der radikalen Kritik an den Gewerkschaften und dem Parlamentarismus, der Entlarvung der kapitalistischen Natur der sog. „Arbeiterparteien“ oder „sozialistischen“ Länder, sondern auch:
– des organisatorischen Erbes, das von BILAN und der Kommunistischen Linken in Frankreich entwickelt worden war. Vor allem auf ihrer Unterscheidung zwischen Fraktion und Partei und der Kritik an rätistischen und substitutionistischen Auffassungen der Rolle der Organisation und zusätzlich der Anerkennung der Fragen der Funktionsweise und des militanten Verhaltens als eigenständige politische Themen;
– einer Gesamtheit von politischen Elementen, die der neuen Organisation eine klare Perspektive für die Epoche, vor der sie steht, geben. Hier vor allem die Frage des historischen Kurses und die Analyse über das globale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen; das Konzept der Dekadenz des Kapitalismus und der ökonomischen Widersprüche des Systems, die sich vertiefen; die Tendenz hin zum Krieg und die Frage der Bildung neuer imperialistischer Blöcke; die entscheidende Rolle des Staatskapitalismus bei der Aufrechterhaltung eines Systems trotz seiner historischen Überlebtheit.
Das Verständnis über die heutige Periode
6. Die Frage der Fähigkeit der IKS, das organisatorische Erbe der Kommunistischen Linken aufzunehmen und weiterzuentwickeln, ist in anderen Berichten für den 21. Kongress behandelt. Diese Resolution konzentriert sich auf diejenigen Elemente, welche die Analyse über die internationale Lage seit unserer Gründung leiteten. Hier ist es klar, dass die IKS nicht nur von der Vergangenheit geerbt hat, sondern auch fähig war, verschiedenste Aspekte weiterzuentwickeln:
– Ausgerüstet mit dem Konzept des historischen Kurses war die IKS fähig zu erkennen, dass die Ereignisse im Mai–Juni 1968 in Frankreich und die internationale Welle von Kämpfen, die darauf folgte, das Ende der konterrevolutionären Periode ankündigten und einen neuen Kurs hin zu massiven Klassenkonfrontationen eröffneten. Wir waren ebenfalls fähig, eine Analyse über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und die tatsächlichen Fortschritte und Rückschläge der Klassenbewegung in einem globalen und historischen Rahmen weiterzuentwickeln. Dabei vermieden wir es, lediglich empirisch auf jede Episode des internationalen Klassenkampfes zu antworten.
– Abgestützt auf die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus verstanden die Gruppen, welche sich zusammenschlossen, um die IKS zu gründen – im Gegensatz zur Theorie der Situationisten – , dass diese Kampfwelle nicht durch die Langweile der Konsumgesellschaft provoziert worden war, sondern durch das Wiederaufbrechen der offenen Krise des Kapitalismus. In all den Jahren ihrer Existenz hat die IKS den Verlauf der ökonomischen Krise verfolgt und ihre permanente Verschärfung unterstrichen.
– Im Verständnis, dass das Wiederauftauchen der ökonomischen Krise die Weltmächte dazu treiben kann, in einen Konflikt zu geraten und einen neuen Weltkrieg vorzubereiten, ist die IKS immer von der Notwendigkeit ausgegangen, ihre Analyse über das Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Blöcken und zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse weiterzutreiben, denn ein Widerstand gegen die ökonomische Krise bildet auch eine Barriere gegen die Möglichkeiten des Systems, einen neuen generalisierten kriegerischen Holocaust zu entfachen.
– Dank ihrem Konzept des Staatskapitalismus war die IKS in der Lage, eine kohärente Erklärung des Wesens der langandauernden Krise zu liefern, die Ende der 1960er Jahre ausgebrochen war und die Bourgeoisie dazu nötigte, verschiedenste Mechanismen in Gang zu setzten (Verstaatlichungen, Privatisierungen, massive Kreditvergaben usw.), um das Wertgesetz zu manipulieren und damit die explosivsten Auswirkungen hinauszuschieben oder zu bremsen. Aus demselben Grund war die IKS fähig zu erkennen, an welchem Punkt die Bourgeoisie in der Phase der Dekadenz ihren Staat einsetzt, um alle möglichen Manöver (auf der Ebene der Wahlen, mit gewerkschaftlichen Aktionen, ideologischen Kampagnen usw.) zu vollziehen, um Verwirrung in den Klassenkampf zu streuen und die Entwicklung des Bewusstsein zu verhindern. Derselbe theoretische Rahmen hat es der IKS erlaubt, die Hintergründe der Krise der sog. „sozialistischen Länder“ und des Zusammenbruchs des russischen Blocks 1989 aufzuzeigen.
– Dank ihrem Konzept des historischen Kurses, ihren Analysen der Entwicklung der imperialistischen Konflikte und des Klassenkampfes war die IKS die einzige proletarische Organisation, welche verstand, dass der Zusammenbruch des alten Blocksystems Produkt einer historischen Blockade zwischen den Klassen war, und dass dieser Zusammenbruch den Eintritt des Kapitalismus in eine neue, finale Phase der Dekadenz einleitete – die Phase des Zerfalls –, welche wiederum neue Schwierigkeiten für das Proletariat und neue Gefahren für die Menschheit mit sich bringt.
7. Nebst der Fähigkeit, sich die Errungenschaften der Arbeiterbewegung anzueignen und diese weiter zu entwickeln, ist die IKS wie alle anderen revolutionären Organisationen der Vergangenheit dem mannigfaltigen Druck, den die soziale Ordnung hervorbringt, ausgesetzt, so auch den ideologischen Formen, die dieser Druck beinhaltet – vor allem dem Opportunismus, dem Zentrismus und dem Vulgärmaterialismus. Vor allem in den Analysen über die internationale Situation verfiel die IKS immer wieder der Ungeduld, der politischen Kurzsichtigkeit und Ausdrücken des mechanistischen Materialismus, was wir bei Organisationen der Vergangenheit schon beobachtet hatten. Diese Schwächen haben sich wegen der Bedingungen, in der unsere Organisation gegründet wurde, in der Geschichte der IKS verstärkt, denn wir litten unter dem historischen Bruch mit den Organisationen der Vergangenheit, unter dem Einfluss der stalinistischen Konterrevolution, welche eine entstellte Vision des proletarischen Kampfes und der proletarischen Moral verkörperte, sowie unter dem starken Einfluss der kleinbürgerlichen Revolte der 1960er Jahre. Das Kleinbürgertum als Klasse ohne Zukunft war per Definition die Verkörperung der politischen Kurzsichtigkeit. Diese Tendenzen haben sich in der Periode des Zerfalls nur noch verstärkt, was ein aktiver Faktor beim Verlust einer Zukunftsperspektive spielt.
Der Klassenkampf
8. Von Beginn weg hat sich die Gefahr der politischen Kurzsichtigkeit in den Arbeiten der IKS über das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen manifestiert. Die Periode nach 1968 wurde korrekt als Ende der Konterrevolution eingeschätzt, doch beinhaltete die Charakterisierung des neuen historischen Kurses als „Kurs hin zur Revolution“ eine lineare und schnelle Ausbreitung der unmittelbaren Kämpfe bis hin zur Überwindung des Kapitalismus. Doch selbst, als die IKS diese Formulierung korrigiert hatte, blieb sie auf einer Vision haften, die davon ausging, dass die Kämpfe, die sich zwischen 1978 und 1989 abspielten, trotz aller zeitweiligen Rückschläge eine fast ununterbrochene Offensive der Arbeiterklasse darstellen würden. Die immensen Schwierigkeiten der Klasse, von einer defensiven Bewegung zur Politisierung ihrer Kämpfe und zur Entwicklung einer revolutionären Perspektive zu schreiten, wurden nicht ausreichend betrachtet und analysiert. Auch wenn die IKS fähig war, den Beginn des Zerfalls und die Tatsache, dass der Zusammenbruch der Blöcke einen beträchtlichen Rückschritt des Klassenkampfes zur Folge hatte, zu erkennen, so waren wir dennoch immer sehr stark von der Hoffnung besetzt, die Vertiefung der ökonomischen Krise würde wieder zu „Wellen“ des Kampfes führen wie in den 1970er und 80er Jahren. Auch wenn wir richtig festgestellt hatten, dass es 2003 eine Wende im Rückfluss gab, so haben wir die enormen Schwierigkeiten, mit denen die junge Generation der Arbeiterklasse konfrontiert ist, um überhaupt eine klare Perspektive für ihre Kämpfe zu entwickeln, meist unterschätzt – ein Faktor, der schlussendlich sowohl die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit als auch ihre politisierten Minderheiten betrifft. Die Fehler in der Analyse haben auch gewisse falsche, ja sogar opportunistische Richtungen in der Intervention in den Klassenkämpfen und beim Aufbau der Organisation genährt.
9. Auch wenn die Theorie des Zerfalls (welche im Wesentlichen der letzte Beitrag des Genossen MC war) ein unabdingbarer Kompass zum Verständnis der aktuellen Periode ist, so hat sich die IKS oft schwer getan, alle Konsequenzen davon zu verstehen. Im Besonderen war dies der Fall, als wir die Schwierigkeiten der Arbeiterklasse in den 1990er Jahren erkennen und erklären mussten. Wir waren zwar fähig zu verstehen, wie die Bourgeoisie die Auswirkungen des Zerfalls nutzte, um enorme ideologische Kampagnen gegen die Arbeiterklasse vom Stapel zu lassen – im Besonderen die Aussaat der Lügen über den „Tod des Kommunismus“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks –, wir haben aber nicht genügend tief untersucht, wie weit der Prozess des Zerfalls dazu tendierte, das Selbstvertrauen und die Solidarität der Arbeiterklasse zu untergraben. Zudem hatten wir Schwierigkeiten, den Einfluss der Auflösung der alten Arbeiterkonzentrationen in gewissen zentralen Ländern des Kapitalismus und die Auslagerungen in zuvor „unterentwickelte Länder“ auf die Klassenidentität zu erkennen. Auch wenn wir über ein Verständnis darüber verfügten, wie entscheidend die Politisierung der Kämpfe der Arbeiterklasse ist, um dem Zerfall entgegenzutreten, so begriffen wir erst sehr spät, dass für die Arbeiterklasse die Wiedererlangung einer Klassenidentität und die Entwicklung einer politischen Perspektive eine entscheidende moralische und kulturelle Dimension beinhaltet.
Die Wirtschaftskrise
10. Die Schwierigkeiten der IKS haben sich sicher am vehementesten auf der Ebene des Verständnisses der ökonomischen Krise gezeigt. Dies vor allem:
– Auf der allgemeinen Ebene durch eine Tendenz, einer verdinglichten Vision der kapitalistischen Ökonomie zu verfallen, als wäre diese eine Maschine, die lediglich durch objektive Gesetze gesteuert ist, und dabei auszublenden, dass der Kapitalismus zuallererst und vor allem ein soziales Verhältnis ist, wo die Anstrengungen der Menschen – in Form von sozialen Klassen – niemals komplett aus einer Analyse über den Gang der ökonomischen Krise ausgeschlossen werden dürfen. Dies trifft vor allem in der Epoche des Staatskapitalismus zu, in der die herrschende Klasse permanent gezwungen ist, in die Wirtschaft einzugreifen, und sich selbst den „immanenten“ Gesetzten entgegenstemmen muss, wobei sie gleichzeitig die Gefahr des Klassenkampfes als Element ihrer ökonomischen Politik mit einzuberechnen hat.
– Durch ein eingeschränktes Verständnis der ökonomischen Theorie von Rosa Luxemburg, das aus der falschen Übertreibung herrührt, der Kapitalismus habe schon all seine Expansionsmöglichkeiten seit 1914 verloren (oder spätestens seit den 1960er Jahren). In Wirklichkeit hatte Rosa Luxemburg, als sie 1913 ihre Theorie entwickelte, eingeräumt, dass es noch sehr große außerkapitalistische Zonen gibt, welche noch ausgebeutet werden können, auch wenn gleichzeitig die Möglichkeit schwindet, dass dies ohne direkte Konflikte zwischen den imperialistischen Staaten über die Bühne gehen kann.
– Die Anerkennung der realen Tatsache, dass der Kapitalismus mit dem Schwinden dieser Expansionsmöglichkeiten immer mehr dazu genötigt ist, auf die Mittel der Verschuldung zurückzugreifen, wurde manchmal zu einer Art Allerweltserklärung, welche die dahinterliegende Frage der Rolle des Kredits in der Akkumulation ausblendete. Oder noch schlimmer, die Organisation sagte wiederholt voraus, dass die Grenzen des Kredits bereits erreicht seien.
– All diese Aspekte waren Teil einer Sichtweise des automatischen Zusammenbruchs des Kapitalismus, welche zur Zeit der „Kreditkrise“ von 2008 überhandnahm. Verschiedene interne Berichte und Artikel in unserer Presse vertraten den Standpunkt, der Kapitalismus sei am Ende seiner Möglichkeiten angelangt und steuere auf eine ökonomische Blockade, ja einen brutalen Zusammenbruch zu. In Wahrheit liegt, wie es Rosa Luxemburg schon formuliert hatte, die wirkliche Katastrophe des Kapitalismus darin, die Menschheit in einen Niedergang, eine Agonie über lange Zeit zu führen, welche die Gesellschaft in einer zunehmenden Barbarei versinken lässt. Das „Ende“ des Kapitalismus ist nicht eine rein ökonomische Krise, es drückt sich vielmehr auf der Ebene des Militarismus und des Krieges aus, es sei denn, dieses Ende werde bewusst durch eine proletarische Revolution gesetzt (zusätzlich zu den Voraussagen von Rosa Luxemburg haben wir heute auch noch eine ökologische Zerstörung zu befürchten, welche selbst wieder die Tendenz hin zum Krieg beschleunigt). Die Idee eines plötzlichen und totalen Zusammenbruchs schlug auch unsere eigenen Analysen über die Fähigkeiten der herrschenden Klasse in den Wind, im Rahmen des Staatskapitalismus das System mit allen möglichen politischen und finanziellen Manipulationen hinauszuzögern.
– Das Bestreiten jeglicher Expansionsmöglichkeiten des Kapitalismus in der Phase der Dekadenz in einigen zentralen Texten der IKS hat es der Organisation sehr schwer gemacht, den Aufstieg Chinas oder anderer „neuer Ökonomien“ in der Zeit nach dem Zusammenbruch der alten Blockkonstellation zu erklären. Auch wenn diese Entwicklungen, wie viele behauptet haben, die Dekadenz des Kapitalismus nicht in Frage stellen, sondern selber ein Ausdruck davon sind, so stellen sie dennoch die Position in Frage, nach der es in der Periode der Dekadenz keine industrielle Entwicklung in Regionen der „Peripherie“ geben könne. Selbst wenn wir fähig waren, einige der simpelsten Mythen über die „Globalisierung“ in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Blöcke zu widerlegen (Mythen, die sowohl von der bürgerlichen Rechten gestreut wurden, welche ein neues glorreiches Kapitel im Aufstieg des Kapitalismus sah, als auch von der bürgerliche Linken, die sich ihrer zur Wiederbelebung ihrer alten nationalistischen und staatlichen Lösungen bediente), so waren wir dennoch nicht fähig, den Kern der Wahrheit in der Globalisierungs-Mythologie zu erkennen: die Tatsache, dass das Ende des alten autarken Modells neue kapitalistische Investitionssphären eröffnete, einschließlich die Ausbeutung einer neuen enormen Quelle von Arbeitskräften, die nicht in direkt kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen aufgezogen worden waren.
– Diese Fehler in der Analyse sind mit der Tatsache verbunden, dass die Organisation große Schwierigkeiten hatte, ihr Verständnis über die Frage der Ökonomie in einer assoziierten Weise zu entwickeln. Eine Tendenz, die Fragen der Ökonomie einer Sphäre von „Experten“ zuzuordnen, zeigte sich in der Debatte über die „30 Glorreichen Jahre“, welche wir im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts in der Organisation führten. Auch wenn die IKS ein Bedürfnis hatte zu verstehen und zu erklären, weshalb sie die Idee zurückwies, nach welcher der Wiederaufbau von durch den Krieg zerstörten Ökonomien alleine eine Erklärung für das Überleben des Systems in seiner Dekadenz ist, war diese Debatte in Wirklichkeit ein misslungener Versuch, das wirkliche Problem anzugehen. Diese Debatte ist innerhalb wie außerhalb der Organisation nicht wirklich verstanden worden und hat uns theoretisch orientierungslos zurück gelassen. Diese Frage muss wieder in den Rahmen der gesamten Epoche der Dekadenz gestellt werden und sollte die Frage der Kriegsökonomie und die Bedeutung der Irrationalität des Krieges in der Dekadenz klären.
Die imperialistischen Spannungen
11. Bei den imperialistischen Spannungen hat die IKS im Allgemeinen eine solide Analyse erstellt, welche die verschiedenen Phasen in der Konfrontation der Blöcke in den 1970er und 80er Jahren aufzeigte. Auch wenn wir etwas „überrascht“ waren vom plötzlichen Zusammenbruch des Ostblocks und der UdSSR nach 1989, so hatten wir bereits die theoretische Handhabe entwickelt, um die inneren Schwächen der stalinistischen Regime zu analysieren. Durch die Verknüpfung dieser Situation mit der Frage des Militarismus und mit dem Konzept des Zerfalls, das die IKS in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu entwickeln begonnen hatte, war die IKS die erste Organisation im proletarischen Milieu, die den Zusammenbruch des Blocksystems, den Niedergang der Hegemonie der USA und die schnelle Entwicklung des „Jeder gegen Jeden“ auf imperialistischer Ebene voraussehen konnte. Im Bewusstsein, dass die Tendenz hin zur Formierung von Blöcken nach 1989 nicht verschwunden war, zeigten wir die Schwierigkeiten auf, mit denen selbst der wahrscheinlichste Hauptkandidat, das wiedervereinigte Deutschland, für die Führungsrolle eines Blocks gegen die USA konfrontiert ist: die Schwierigkeit, je wieder seine imperialistischen Ambitionen voll ausleben zu können. Wir hatten aber größere Schwierigkeiten dabei, die Fähigkeit Russlands vorauszusehen, sich als Akteur auf der imperialistischen Bühne wieder aufzurichten. Auch den Aufstieg von China, als neuer bedeutender Akteur in den Rivalitäten der Großmächte, welche sich in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten abspielten, haben wir viel zu spät erkannt, eine Schwäche die direkt mit unserem Problem verbunden ist, den ökonomischen Aufstieg Chinas zu begreifen.
Ein besseres Verständnis der noch gültigen Perspektiven
12. Das Vorhandensein all der Schwächen soll keineswegs Anlass für eine Demoralisierung, sondern vielmehr Ansporn zur Entfaltung eines theoretischen Programms sein, welches die IKS befähigt, all die Aspekte der aktuellen Weltlage besser zu verstehen. Der Beginn einer kritischen Bilanz unserer letzten 40 Jahre, welche die Berichten für den Kongress unternommen haben, die Versuche, zu den Wurzeln unserer Methode bei der Analyse des Klassenkampfes und der ökonomischen Krise vorzudringen, die Neudefinierung unserer Rolle als Organisation in der Periode des Zerfalls des Kapitalismus – das sind Zeichen einer kulturellen Wiedergeburt in der IKS. In der kommenden Phase muss die IKS auch auf grundlegende theoretische Fragen über das Wesen des Imperialismus und über die Dekadenz zurückkommen, um einen solideren Rahmen für unsere Analysen über die internationale Lage zu schaffen.
13. Der erste Schritt in der kritischen Bilanz über unsere Analysen der internationalen Situation in den letzten 40 Jahren ist die Anerkennung unserer Fehler und der Beginn der vertieften Suche nach ihren Ursachen. Es wäre verfrüht zu versuchen, schon alle Konsequenzen für die Analyse der heutigen Weltlage und ihre Perspektive abzustecken. Dennoch können wir sagen, dass trotz unserer Schwächen das Fundament unserer Perspektiven gültig bleibt:
– Auf der Ebene der Wirtschaft gibt es genug Gründe zu erwarten, dass sich die Krise weiter vertieft, und auch wenn es keine finale Apokalypse gibt, so wird es Phasen geben, welche das System tief erschüttern, und ebenso ein Anhalten der Prekarisierung und epidemischen Arbeitslosigkeit, die schon heute schwer auf der Arbeiterklasse lasten.
– Wir dürfen auch die Elastizität dieses Systems und die Entschlossenheit der herrschenden Klasse, es trotz seiner historischen Überlebtheit auf den Beinen zu halten, nicht unterschätzen. Doch wie wir immer hervorgehoben haben, tragen die Mittel, welche das Kapital gegen seine letalen Krankheiten einsetzt und die kurzfristig eine Erholung bringen, auf lange Frist nur zur Verschärfung der Situation bei.
– Auf der Ebene der imperialistischen Spannungen kann man heute eine deutliche Verschärfung des militärischen Chaos feststellen, vor allem in der Ukraine, dem Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und in der Region des Chinesischen Meers, was auch die erhöhte Gefahr von „Gegenschlägen“ in den zentralen Ländern beinhaltet (wie die Massaker in Paris und Kopenhagen vor kurzem). Die Bühne der imperialistischen Konflikte vergrößert sich und die Allianzen, die sich formieren, ebenfalls, wie wir es im Fall des Konfliktes zwischen Russland und dem „Westen“ bezüglich der Ukraine oder der verstärkten Kooperation zwischen Russland und China in den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten und anderswo sehen. Doch diese Allianzen bleiben sehr beschränkt und beinhalten nicht die Bedingungen für stabile Blöcke. Die Hauptgefahr, mit der die Menschheit heute konfrontiert ist, ist nicht mehr die eines großen klassischen Weltkriegs, sondern die einer Ausbreitung der regionalen Konflikte und einer unkontrollierbaren Spirale der Zerstörung.
Die Vorboten dieser Spirale sind schon spürbar, und sie haben sehr negative Auswirkungen auf die Arbeiterklasse. Wenn die Arbeiter in den „peripheren“ Ländern sich direkt in die aktuellen Konflikte mobilisieren lassen oder sich darin massakrieren und die Arbeiter in den zentralen Ländern unfähig sind, sich gegen die zunehmende Barbarei zu wehren, dann verstärkt dies lediglich die Tendenz hin zur Atomisierung und Hoffnungslosigkeit. Doch trotz der reellen Gefahren, welche die steigende Flut des Zerfalls in sich trägt, ist das Potential der Arbeiterklasse, auf diese in der Geschichte der Menschheit noch nie gesehene Krise zu antworten, nicht erschöpft, wie uns die Bewegung der Studenten 2006 in Frankreich oder die sozialen Revolten von 2011 zeigten, in denen die Arbeiterklasse, auch wenn sie sich nicht als Klasse erkannt hat, deutliche Zeichen ihrer Fähigkeit gezeigt hat, sich über alle Spaltungen hinweg in den Straßen und Vollversammlungen zu vereinigen. Vor allem die jungen Arbeiterinnen und Arbeiter, die sich in diesen Bewegungen engagiert haben, haben durch die Art und Weise, wie sie begonnen haben, der Brutalität der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegenzutreten und die Frage einer neuen Gesellschaft zu stellen, erste scheue Schritte hin zur Bekräftigung der Tatsache gemacht, dass der Klassenkampf nicht nur ein ökonomischer Kampf ist, sondern ein politischer Kampf, dessen Ziel das bleibt, was schon das Kommunistische Manifest von 1848 so kühn hervorhob: die Errichtung der Diktatur des Proletariats und der Beginn einer neuen menschlichen Kultur.