Kritik an Pannekoeks Lenin als Philosoph Teil 3 aus: Internationalisme 1948

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„Die Revolution hält einen Lehrstuhlin antiker Geschichte für Kautsky frei...“ und in Philosophie für Harper

 Nach unserer diversen Kritik an Harpers Philosophie wollen wir nun zeigen, wie der politische Standpunkt, den er aus seiner Philosophie ableitet, ihn in der Praxis von revolutionären Positionen abbrachte. (Ursprünglich hatten wir nicht vor, dies zu vertiefen, sondern wollten einfach aufzeigen, dass, während sich die ganze Kritik Harpers am so genannten mechanistischen Materialismus auf eine korrekte, wenngleich ziemlich schematische Erläuterung des Problems menschlicher Theorie und Praxis stützt, ihre praktische politische Anwendung ihn ebenfalls zu einem vulgär-mechanistischen Standpunkt führte.)

Für Harper:

1)  war die Russische Revolution in ihren philosophischen Manifestationen (die Kritik des Idealismus) einzig und allein eine Manifestation bürgerlich-materialistischen Denkens – ein typischer Ausdruck des russischen Milieus und seiner Bedürfnisse;

2)  verspürte Russland wirtschaftlich gesehen, da von ausländischem Kapital kolonisiert, das Bedürfnis, sich mit der Revolution des Proletariats zu verbünden, „und selbst“, wie er sagt, “Lenin musste sich auf die Arbeiterklasse stützen, und weil sein Kampf rücksichtslos radikal sein musste, übernahm er die radikalste Ideologie des gegen das Weltkapital kämpfenden westlichen Proletariats[1], den Marxismus.“

Jedoch fügt er hinzu:

„So wie aber in der russischen Revolution zwei Charaktere der westlichen Entwicklung sich mischten, die bürgerliche Revolution in ihren Aufgaben, die proletarische in ihrer aktiven Kraft, so musste auch die dazu gehörende bolschewistische Theorie eine Mischung von bürgerlichem Materialismus in den Grundanschauungen und proletarischem Materialismus in der Klassenkampflehre sein.“ (Lenin als Philosoph; aus: Anton Pannekoek, Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, Germinal, S. 359)

Und hier bezeichnet Harper die Auffassungen Lenins und seiner Freunde als typisch russische Form des Marxismus; für ihn war Plechanow der westlichste Marxist, wenngleich auch dieser noch nicht völlig frei von bürgerlichem Materialismus gewesen sei.

Wenn es einer bürgerlichen Bewegung wirklich möglich ist, sich auf “eine revolutionäre Bewegung des Proletariats im Kampf gegen den Weltkapitalismus“ (Harper) zu stützen, und wenn das Resultat dieses Kampfes die Etablierung einer Bürokratie als herrschende Klasse ist, die die internationale proletarische Revolution um ihre Früchte bringt, dann ist die Tür offen für die Schlussfolgerung, die James Burnham gezogen hatte, eine Schlussfolgerung, derzufolge die Techno-Bürokratie im Kampf gegen die alte kapitalistische Gesellschaftsform die Macht übernommen habe, indem sie sich auf eine Arbeiterbewegung gestützt habe. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist der Sozialismus eine Utopie.

Es ist kein Zufall, dass Harpers Schlussfolgerungen mit den Ansichten Burnhams übereinstimmen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Harper an den Sozialismus „glaubt“, während Burnham „glaubt“, dass der Sozialismus eine Utopie ist.[2] Doch beide teilen dieselbe kritische Methode, die der revolutionären und gleichzeitig objektiven Methode fremd ist.

Harper, der der III. Internationalen angehört hat, der die holländische kommunistische Partei gegründet hatte, der sich in den entscheidenden Revolutionsjahren in der KI (Kommunistische Internationale) engagiert hatte, der sich daran beteiligt hatte, das Proletariat Europas zur Beteiligung an diesem „konterrevolutionären russischen Staat“ zu verleiten – dieser Harper gibt selbst die Erklärung:

„... hätte man es damals gekannt“ (nämlich Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus), “man hätte (es) voraussagen können“, nämlich die Degeneration der Russischen Revolution und des Bolschewismus zu einem Staatskapitalismus, der die Arbeiter_innen mit Füßen tritt.

Man könnte Harper antworten, dass „aufgeklärte“ Marxisten dies vorausgesagt haben und zu denselben Schlussfolgerungen wie Harper über die Russische Revolution gekommen sind und dies lange vor ihm; wir können z.B. Karl Kautsky zitieren.

Karl Kautskys Position zur Russischen Revolution wurde durch die ausführliche Debatte zwischen ihm sowie Lenin und Rosa Luxemburg der Öffentlichkeit ausreichend dargelegt (Lenin, Gegen den Strom; Kautsky, Die Diktatur des Proletariats; Rosa Luxemburg, Die russische Revolution; Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus).

Aus den Kautskys Rosa Luxemburg und der Bolschewismus folgenden Artikeln[3], die 1922 in der Form einer Broschüre in Frankreich und Belgien veröffentlicht wurden, wird größtenteils ersichtlich, wie sehr in mehr als einem Punkt Harpers Schlussfolgerung seinen Positionen ähnelt.

„Und so kommen wir [Kautsky] in die paradoxe Situation, hie und da die Bolschewiki gegen manche Luxemburgische Anklage verteidigen zu müssen.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 34).

Was Kautsky hier tut, ist, die „Irrtümer“ der Bolschewiki (die Luxemburg in ihrem Pamphlet kritisiert) zu verteidigen, indem er sie als logische Konsequenzen der bürgerlichen Revolution in Russland darstellt, indem er aufzeigt, dass die Bolschewiki nur ausführen konnten, wozu das russische Milieu sie bestimmt hatte, nämlich die bürgerliche Revolution.

Um ein paar Beispiele zu geben: Rosa kritisierte die bolschewistischen Losungen und ihre Praxis der individuellen Landbesitznahme durch die Aufteilung des Landes unter den Kleinbauern, was, wie sie meinte, zu allen möglichen Schwierigkeiten führen würde, und befürwortete die sofortige Kollektivierung des Landes. Lenin hat bereits auf diese Argumente geantwortet, die Kautsky aus einer anderen Sicht anführte (siehe das Kapitel Liebedienerei vor der Bourgeoisie unter dem Schein einer ‘ökonomischen Analyse’ in: Die sozialistische Revolution und der Renegat Kautsky, Lenin-Werke, Bd. 28).

„Kein Zweifel, damit [die Aufteilung des Landes] ist ein gewaltiges Hindernis für den Fortschritt des Sozialismus in Russland entstanden. Aber dieser Vorgang ließ sich nicht verhindern, er hätte bloß rationeller vonstatten gehen können, als es durch die Bolschewiki geschah. Er bezeugt eben, dass Russland sich im wesentlichen im Stadium der bürgerlichen Revolution befindet. Darum wird die bürgerliche Agrarreform des Bolschewismus ihn überdauern, während seine sozialistischen Maßnahmen bereits von ihm selbst als unhaltbar anerkannt worden sind.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 35).

Man weiß, dass der „Scharfsinn“ Kautskys durch diesen anderen „Sozialisten“ Stalin völlig widerlegt worden war, der den Boden kollektivierte und die Industrie „sozialisierte“, während die Revolution bereits völlig erstickt worden war.

Und hier eine längere Kostprobe von Kautsky über die Entwicklung des Marxismus in Russland, die der Dialektik Harpers ziemlich nahe kommt (siehe Lenin als Philosoph – Die russische Revolution):

„Wie bei den Franzosen, übernahmen auch bei den Russen die Revolutionäre von den Reaktionären diesen Glauben an die vorbildliche Bedeutung der eigenen Nation für die anderen Nationen. […]“

„Als der Marxismus aus dem faulen Westen nach Russland kam, musste er diese Illusion aufs schärfste bekämpfen und zeigen, dass die soziale Revolution nur aus einem hoch entwickelten Kapitalismus hervorgehen könne. Dass die Revolution, der Russland entgegengehe, zunächst eine bürgerliche nach dem Muster der vorhergegangenen des Westens sein müsste.

Aber diese Auffassung erschien den ungeduldigsten der marxistischen Elemente auf die Dauer doch zu beengend und lähmend. Namentlich seit 1905, seit der ersten Revolution, in der das russische Proletariat sich so sieghaft geschlagen und das Proletariat ganz Europas begeistert hatte.

Bei den radikaleren Elementen der russischen Marxisten vollzog sich nun eine besondere Färbung ihres Marxismus. Derjenige Teil seiner Lehren, der den Sozialismus abhängig macht von den ökonomischen Bedingungen, von der Hochentwicklung des industriellen Kapitalismus, verblasste jetzt für sie immer mehr. Dafür bekam immer kräftigere Farben die Lehre vom Klassenkampf. Er wurde immer mehr als bloßer Kampf mit allen Gewaltmitteln um politische Macht, losgelöst von seiner materiellen Basis, betrachtet. Bei dieser Auffassung der Dinge kam man schließlich dahin, im russischen Proletariat eine außerordentliche Erscheinung zu sehen, das Vorbild für das Proletariat der Welt. Und die Proletarier der anderen Länder fingen an, das zu glauben, und im russischen Proletariat den Führer des gesamten internationalen Proletariats zum Sozialismus zu begrüßen.

Das ist nicht unschwer zu erklären. Der Westen hatte seine bürgerlichen Revolutionen hinter sich. Vor sich die proletarischen Revolutionen. Aber diese erheischten eine Kraft des Proletariats, die es noch nirgends erreicht hatte. So standen wir im Westen im Zwischenstadium zwischen zwei revolutionären Epochen, was die Geduld der radikalen Elemente dort auf eine harte Probe stellte.

Russland dagegen war so rückständig, dass es die bürgerliche Revolution, den Sturz des Absolutismus, noch vor sich hatte. Diese Aufgabe erheischte kein so starkes Proletariat wie die Eroberung der Alleinherrschaft durch die Arbeiterklasse im Westen. Die russische Revolution trat daher früher ein als die des Westens. Sie war dem Wesen nach eine bürgerliche; das konnte aber eine Zeitlang verborgen bleiben dadurch, dass die bürgerlichen Klassen in Russland heute noch weit schwächer sind, als sie in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts waren. Übersah man die ökonomische Grundlage, betrachtete man nur den Klassenkampf und die relative Kraft des Proletariats, dann konnte eine Zeitlang wirklich scheinen, als sei das russische Proletariat dem westeuropäischen überlegen.“ (Kautsky, Rosa Luxemburg und der Bolschewismus in Der Kampf, 1922, S. 40 und 41).

Eines nach dem anderen übernahm Harper, wenn auch etwas philosophischer, die Argumente Kautskys.

Kautsky stellte zwei Auffassungen des Sozialismus gegenüber:

In der ersten kann der Sozialismus nur auf der Grundlage eine fortgeschrittenen Kapitalismus verwirklicht werden (Kautskys Position und die der Menschewiki; diese Position wurde auch von den deutschen Sozialdemokraten, einschließlich Noske, benutzt, um die Russische Revolution zu kritisieren. Es ist eine Auffassung, die im Grunde zur Ergreifung staatskapitalistischer Maßnahmen, unterstützt von einer „Massenpartei“, gegen das revolutionäre Proletariat führte).

In der zweiten Auffassung, im „Kampf um die politische Macht, getrennt von seiner wirtschaftlichen Basis“, wäre es möglich, dass der Sozialismus sogar in Russland errichtet wird (dies Kautskys Lesart der bolschewistischen Position).

In Wirklichkeit sagten Lenin und Trotzki: Die bürgerliche Revolution in Russland kann nur durch die Erhebung des Proletariats gemacht werden. Da die Erhebung des Proletariats die objektive Tendenz hat, sich auf internationaler Ebene zu entwickeln, können wir angesichts des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte auf weltweiter Ebene hoffen, dass diese russische Erhebung eine allgemeine Bewegung auslöst.

Allein vom Standpunkt der Produktivkraftentwicklung in Russland aus betrachtet, drängte die Russische Revolution zu einer bürgerlichen Revolution; doch die Verwirklichung des Sozialismus ist sehr wohl möglich unter der Bedingung eines weltweiten Ausbruchs der Revolution. Lenin und Trotzki nahmen genauso wie Rosa Luxemburg an, dass das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte auf der ganzen Welt den Sozialismus nicht nur möglich, sondern auch notwendig macht; dieses Niveau hatte eine Stufe erreicht, die sie übereinstimmend als die „Ära der (Welt-)Kriege und der Revolutionen“ qualifizierten; allein über die ökonomischen Faktoren in dieser Situation waren sie uneins. Damit der Sozialismus wahr wird, durfte die Russische Revolution nicht isoliert bleiben.

Wie die Menschewiki antwortete Kautsky, dass Lenin und Trotzki in der Revolution nur den „voluntaristischen“ Faktor der Machtergreifung durch einen bolschewistischen „Putsch“ erblickten, und ging so weit, den Bolschewismus mit dem Blanquismus zu vergleichen.

All diese „aufgeklärten“ Marxisten und Sozialisten sind exakt jene, die Harper als Beispiel zu zitieren scheint, als jene, die “... die Warnungen wiederholt“ haben, die gegen “die Führung der internationalen Arbeiterbewegung durch die Russen“ waren wie Kautsky:

„Dass Lenin den Marxismus als die Theorie der proletarischen Revolution nicht verstand, dass er das Wesen des Kapitalismus, der Bourgeoisie, des Proletariats in ihrer höchsten Entwicklung nicht verstand, zeigte sich, sobald  nach 1917 von Russland aus, durch die III. Internationale, das westeuropäische Proletariat zur ‘Weltrevolution’ geführt werden sollte, und auf die Warnungen der Marxisten des Westens nicht geachtet wurde.“ (Lenin als Philosoph, in: Die Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution, S. 361)

Betrachtet man all die gelehrten Unterscheidungen Kautskys zwischen dem rückständigen Russland und dem Westen, zwischen „russischen“ und westlichen Marxisten, findet man hier all die Kritik der Kautsky nahestehenden „zentristischen“ Marxisten wieder.

Sie alle, mit Kautsky an der Spitze, warfen den Bolschewiki vor, den rückständigen Zustand der russischen Wirtschaft nicht berücksichtigt zu haben, obwohl Trotzki seit langem, das erste Mal 1905, auf all diese „ehrenwerten Familienoberhäupter“ (Lenin) meisterhaft geantwortet hatte, indem er zeigte, wie einerseits das fortgeschrittene Niveau der Industriekonzentrationen in Russland und andererseits das rückständige Gesellschaftsleben (die verspätete bürgerliche Revolution) dafür sorgten, dass Russland sich in einem konstant revolutionären Zustand befinde; und diese Revolution sei proletarisch oder gar nichts.

Harper, der seine Theorie und seine philosophische Kritik auf Kautskys Theorie und geschichts-ökonomischer Kritik errichtet hat, sagt, dass aufgrund der rückständigen ökonomischen Lage Russlands und aufgrund der Unvermeidlichkeit der bürgerlichen Revolution in Russland die Philosophie der Russischen Revolution vom ökonomischen Standpunkt aus das ökonomische Denken Marx’ in der ersten Phase fortführen musste, d.h. die Feuerbachsche, revolutionär-bürgerliche, demokratische Phase: „Religion ist Opium des Volkes“ (die Kritik der Religion). Es sei also normal, dass Lenin und seine Freunde die zweite Phase der marxistischen Philosophie, die revolutionäre, proletarische, dialektische Phase: „das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“, nicht erreichten. (Harper vergisst darauf hinzuweisen – auch wenn es unmöglich für ihn war, davon nicht gewusst zu haben -, dass der Hauptkampf der Bolschewiki vor 1918 sich gegen all die Strömungen rechts von ihnen in der Sozialdemokratie richtete, gegen Regierungs- und die zentristischen Fraktionen, und dies in einem sehr breiten Umfang, in allen europäischen Presseerzeugnissen und Broschüren in allen Sprachen, wohingegen Materialismus und Empiriokritizismus erst viel später einer breiteren russischen Öffentlichkeit bekannt wurde, noch später ins Deutsche und noch viel später ins Französische übersetzt und kaum außerhalb Russlands gelesen wurde. Man fühlt sich berechtigt zu fragen, ob der Geist von Materialismus und Empiriokritizismus in den Artikeln und Broschüren enthalten war, was Harper nicht einmal versucht zu beweisen, und dies aus gutem Grund.) Einerlei, Harper schließt wie Kautsky daraus, dass „trotz“ der voluntaristischen Auffassung über den Klassenkampf von Lenin und Trotzki, die “das russische Proletariat zum Dirigenten der Weltrevolution“ machen wollten, die Revolution, philosophisch betrachtet, dazu verdammt war, bürgerlich zu sein, da Lenin und seine Freunde eine Feuerbachsche, bürgerlich-materialistische Philosophie rezipiert haben (Marx erste Phase).

Diese Ideen bringen Harper und Kautsky zusammen, sowohl in ihrer Annäherung an die Grundlagen des Problems als auch in der Form, die sie ihrer Denkweise und ihrer Kritik an den Bolschewiki verleihen, die sie beschuldigen, die Weltrevolution vom Kreml aus dirigieren zu wollen.

Doch da ist mehr. Harper beweist in seinem philosophischen Exposé, dass Engels kein dialektischer Materialist war, sondern, was seine Auffassungen auf dem Gebiet des Wissens angeht, tief verhaftet war mit den Naturwissenschaften und dem bürgerlichen Materialismus. Um diese Theorie zu verifizieren, erfordert es eine Exegese von Engels’ Schriften, die Harper nicht geliefert hat, während Mondolfo in einem wichtigen Werk über den dialektischen Materialismus allem Anschein nach das Gegenteil beweisen will, was zeigt, dass dieser Streit nicht neu ist. Wie dem auch sei, ich glaube, dass die jungen Generationen in den ihnen vorausgehenden Generationen etwas sehen können, was wir auch bei Lenin oder bei Engels feststellen können, die die Philosophie ihrer Zeit auf der Grundlage desselben Niveaus der wissenschaftlichen Kenntnisse und mitunter zu schematisch kritisierten. Man sollte jedoch vor allem ihre allgemeine Haltung und nicht sie als Philosophen beurteilen, also zuerst sehen, ob sie sich in ihrer allgemeinen Haltung auf dem Feld der Praxis positionieren, der Thesen von Marx über Feuerbach. 

In diesem Sinn muss man einräumen, dass das, was Sydney Hook über das Werk Lenins in „Understanding Marx“ sagt, der Realität weitaus näherkommt:

„Es ist merkwürdig, dass Lenin allem Anschein nach nicht die Unvereinbarkeit zwischen einerseits seinem politischen Aktivismus sowie der wechselseitigen, dynamischen Philosophie der Aktion von Was tun? und andererseits der absolut mechanischen Erkenntnistheorie bemerkte, die er in Materialismus und Empiriokritizismus so heftig verteidigte. Hier folgt er Wort für Wort Engels’ Behauptung, dass ‘Empfindungen die Kopien sind, die Fotos, das Spiegelbild der Dinge’ und dass der Geist kein aktiver Faktor in der Erkenntnis sei. Er scheint zu glauben, dass, argumentiert man für die Beteiligung des Geistes als ein aktiver Faktor in der Erkenntnis, bedingt durch das Nervensystem und der gesamten Geschichte der Vergangenheit, daraus folgen muss, dass der Geist alles erschafft, was existiert, einschließlich seines eigenen Gehirns. Das wäre Idealismus in seiner charakteristischsten Gestalt, und Idealismus heißt Religion und Gottglaube.

Doch der Übergang von der ersten zur zweiten Aussage ist der unlogischste, den man sich vorstellen kann. In Wirklichkeit musste Lenin im Interesse seiner Auffassung vom Marxismus als Theorie und Praxis der sozialen Revolution einräumen, dass Bewusstsein eine aktive Sache ist, ein Prozess, in dem Materie, Kultur und Geist wechselseitig miteinander reagieren, und dass die Wahrnehmungen nicht die Erkenntnis bilden, sondern ein Bestandteil des Materials sind, aufgearbeitet von der Erkenntnis.

Dies ist die Position, die Marx in seinen Thesen über Feuerbach und in Die deutsche Ideologie einnimmt. Wer immer die Empfindungen als exakte Kopien der äußeren Welt betrachtet, die von sich aus zur Erkenntnis führen, kann nicht Fatalismus und Mechanismus vermeiden. In Lenins politischen Schriften findet man keine Spur dieser Locke’schen, dualistischen Erkenntnislehre. Sein Was tun? enthält, wie wir gesehen haben, eine aufrichtige Zustimmung zur aktiven Rolle der Klassenerkenntnis im gesellschaftlichen Prozess. Es sind seine praktischen Schriften, die sich mit den konkreten Problemen der Agitation, Revolution und Rekonstruktion befassen, in denen man die wirkliche Philosophie Lenins findet...“ (Understanding Marx, Sydney Hook, eigene Übersetzung)[4]

Ein beredtes Zeugnis und der wahrste Ausdruck für das, was Sydney Hook sagt, der Harper in dieselbe Ecke wie Plechanow und Kautsky stellt, ist dieses anschauliche Zitat aus Trotzkis Mein Leben.

Auf Plechanow zu sprechen kommend, sagt er: “Ihn untergrub gerade das, was Lenin stark machte: das Nahen der Revolution (...) Er war Propagandist und Polemiker des Marxismus, aber nicht revolutionärer Politiker des Proletariats. Je unmittelbarer die Revolution herannahte, um so ersichtlicher verlor Plechanow den Boden unter den Füßen.“ (Trotzki, Mein Leben, Der Parteikongreß und die Spaltung)

Man sieht also, dass es weniger die philosophische These Harpers ist, die originell ist (sie ist im Gegenteil eine Auffassung, die vor ihm schon andere hatten), sondern vielmehr die Schlussfolgerung, die er zieht.

Diese Schlussfolgerung ist eine fatalistische Schlussfolgerung von der Art Kautskys. Kautsky zitiert in seiner Broschüre Rosa Luxemburg und der Bolschewismus einen Satz, den Engels ihm in einem persönlichen Brief geschrieben hatte:

„... die wirklichen, nicht illusorischen Aufgaben einer Revolution werden immer infolge dieser Revolution gelöst...“ (Engels an Kautsky, 7.2.1882, MEW, Bd. 35, S. 269)

Dies ist es, was uns Kautsky in seiner Broschüre beweisen möchte, dies ist es, womit Harper in Lenin als Philosoph argumentiert (für jene, die ihm in seinen Schlüssen folgen wollen). Und nachdem er den bürgerlichen Materialismus bei Lenin und bei Engels bekämpft hat, gelangt er zu einer noch vulgäreren mechanischen Schlussfolgerung über die Russische Revolution: „zwangsläufiges Produkt“, „wirkliche, nicht illusorische Aufgaben“. Die Russische Revolution habe erzeugt, was sie erzeugen musste – es stehe alles geschrieben in Materialismus und Empiriokritizismus und in den ökonomischen Bedingungen; das Weltproletariat sei schlicht als ideologischer Deckmantel für all dies benutzt worden. Mehr noch, Pannekoek argumentiert, dass die neue Klasse an der Macht in Russland ganz natürlich die Denkweise des Leninismus, seinen bürgerlichen Materialismus in ihrem Kampf gegen die etablierten bürgerlichen Schichten verinnerlicht habe, die auf philosophischer Ebene in den religiösen Kretinismus, den Mystizismus und Idealismus zurückgefallen sowie konservativ und reaktionär geworden seien. Dieser frische Wind, diese neue Philosophie der staatskapitalistischen Klasse, der Intelligenz und der Techniker, finde ihren Daseinsgrund im Empiriokritizismus und im Stalinismus und erlebe in allen Ländern einen „Aufstieg“, etc., etc.

So haben wir folgende Gleichung:

Marx’ erste Phase = Lenins Empiriokritizismus = Stalin!!!

Ohne Harper zu kennen, hat Burnham dies sehr gut begriffen, so wie zahllose Anarchisten diese Gleichung gerne endlos wiederholen, ohne sie verstanden zu haben. Es ist offensichtlich, dass Harper dies nicht ganz so brutal sagt, doch die Tatsache, dass er all den Schlussfolgerungen der bürgerlichen Apologeten und der Burnham’schen Anarchisten Tür und Tor öffnet, reicht aus, um den konstitutiven Makel seines Lenin als Philosoph aufzuzeigen.

Wenn er sich schließlich dazu veranlasst sieht, die „rein proletarischen“ Lehren aus der Russischen Revolution zu ziehen (ich möchte darauf hinweisen, dass Harper und Kautsky stets von der „russischen“ Revolution und selten von der „Oktoberrevolution“ sprechen, was ein bedeutsamer Unterschied ist), und wenn er diese „rein proletarische“ Lehre zieht, indem er die Handlungen der russischen Arbeiterklasse vom „bürgerlichen Einfluss der Bolschewiki“ trennt, dann sagt er letztendlich, dass die Generalstreiks und Sowjets „per se“ die russische Revolution erzeugten und dass sie uns folgende positive Lehren bringen:

1) Das Proletariat muss sich ideologisch „Mensch für Mensch“ vom bürgerlichen Einfluss losmachen.

2)  Es muss nach und nach lernen, die Fabriken zu leiten und die Produktion zu organisieren.

3) Die Generalstreiks und die Räte sind die ausschließlichen Waffen des Proletariats.

Und es stellt sich heraus, dass diese Schlussfolgerung eine raffinierte Art von Reformismus und darüber hinaus völlig anti-“dialektisch“ ist.

Das „Mensch für Mensch“-Losmachen von der bürgerlichen Ideologie würde, selbst wenn es realisierbar wäre, den Sozialismus letztendlich um Jahrhunderte hinauszögern und die marxistische Doktrin wie eine schöne Legende erscheinen lassen, die man den Kindern der Proletarier erzählt, um ihnen Mut zu machen, sich dem Leben zu stellen. Wenn jeder Mensch sich individuell von der herrschenden Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft befreien muss, dann ist der Marxismus nichts anderes als eine Idee – eine ewig gültige Idee, aber nicht mehr. In Wirklichkeit kann es nur der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit unter bestimmten historischen Bedingungen gelingen, sich davon zu befreien und leidenschaftlicher als sonst in eine Auseinandersetzung mit dem alten System zu treten. Der Sozialismus kann nicht „Mensch für Mensch“ verwirklicht werden, nach Art der alten Reformisten, die glaubten, sie könnten „erst den Menschen reformieren, ehe sie die Gesellschaft reformieren“, sind doch beide nicht voneinander zu trennen. Die Gesellschaft verändert sich, wenn die Menschheit in Bewegung gerät, um diese Veränderung zu bewirken; und das Proletariat gerät in Bewegung nicht „Mensch für Mensch“, sondern „wie ein einziger Mensch“, wenn es sich unter den entsprechenden historischen Bedingungen befindet.

Die Tatsache, dass Harper in einer scheinbar neuen Form das alte, dumme Zeug der Reformisten wiederholt, erlaubt ihm, mit philosophisch-dialektischer Phrasendrescherei die Probleme, die Hauptachsen der Russischen Revolution wegzuzaubern und sie in die Versenkung der „Gründe des russischen Staates“ verschwinden zu lassen, um die wirklichen Probleme der Russischen Revolution zu vertuschen, um ihre fundamentalen Beiträge als nichts anderes als Gründe für den russischen Staat abzulehnen. Es handelt sich um die Position Lenins gegen den Krieg und um Trotzkis Theorie der permanenten Revolution.

Oh ja, meine Herren Kautsky und Harper, man mag mit einer rein negativen Kritik der philosophischen und ökonomischen Theorien Lenins und Trotzkis zuweilen ins Schwarze treffen, aber dies heißt nicht, dass man dadurch eine revolutionäre Position erlangt. Mit ihren politischen Positionen in der entscheidenden Aufstandsphase der Russischen Revolution waren Lenin und Trotzki wahrhaftige marxistische Revolutionäre.

Es reicht nicht aus, zwanzig Jahre nach der Schlacht, an der man sich selbst in vorderster Front beteiligt hatte, die philosophische Schlussfolgerung zu ziehen, dass all dies im stalinistischen Staat enden musste, und zu sagen, dass das Eine das Produkt des Anderen sei. Man muss sich auch fragen, wie und warum Lenin und Trotzki sich auf die internationale Arbeiterbewegung stützen konnten, und uns offen sagen, ob der Stalinismus das unweigerliche Produkt dieser Bewegung ist.

Harper wie auch Kautsky sind nicht in der Lage, uns darauf zu antworten, weil ihre politischen Positionen gegenüber der Bourgeoisie im imperialistischen Krieg oder in einer sich im Aufwind befindlichen revolutionären Periode keine Konzepte haben, die allein es ihnen gestatten würden, sich diesen Problemen anzunähern. Sie mögen Lenin als „Philosoph“ oder als „Staatschef“ kennen, doch sie nehmen Lenin nicht als marxistischen Revolutionär wahr, als das wahre Gesicht Lenins angesichts des imperialistischen Krieges und das wahre Gesicht Trotzkis angesichts einer mechanischen Auffassung der „unvermeidlich“ kapitalistischen Entwicklung Russlands. Sie kennen nicht das wahre Gesicht des Oktobers, der nicht nur aus den Massenstreiks, auch nicht allein aus den Sowjets bestand; Sowjets, denen Lenin nicht bedingungslos anhing (wie Harper), weil er der Meinung war, dass die Formen der Macht des Proletariats spontan aus seinem Kampf hervorgehen. Und hierin, glaube ich, war Lenin ebenfalls marxistischer, weil er sich weder an die Sowjets noch an die Gewerkschaften noch an den Parlamentarismus (selbst wenn er sich täuschte) auf definitive Weise band, sondern auf eine Weise, die sich dem Momentum des Klassenkampfes anpasste.

Wohingegen die quasi theologische Anhänglichkeit Harpers an seinen Räten in dieser Hinsicht gleichsam die Form der Mitbestimmung der Arbeiter im kapitalistischen Regime annimmt, als eine Ausbildung in Sozialismus. Es ist nicht die Rolle der Revolutionäre, eine Ausbildung dieser Art zu machen. Mit dieser Ausbildung „Mensch für Mensch“ in der Theorie des Sozialismus ist die Menschheit dazu verdammt, auf ewig versklavt und entfremdet zu sein, mit oder ohne Räte, mit oder ohne „Rätekommunisten“ und ihren Ausbildungsmethoden im Fach Sozialismus unter kapitalistischem Regime, dem gewöhnlichen Reformismus, der Kehrseite der Kautskyanischen Münze.

Was den „eigentlichen“ Klassenkampf mit seinen „geeigneten Mitteln“ wie den Streik etc. betrifft, so hat man das Ergebnis gesehen. Es kommt der Theorie der Streikkultur der heutigen Trotzkisten und der Anarchisten sehr nahe, die gegenwärtig die alte Tradition der „Gewerkschafter“ und der „Wirtschaftsexperten“ aufrechterhalten und die von Lenin in Was tun? so scharf kritisiert worden waren. Dies bedeutet, dass die antigewerkschaftliche Position der „Rätekommunisten“, vom rein negativen Standpunkt aus betrachtet korrekt, nicht weniger falsch „an sich“ ist, weil die Gewerkschaften durch ihre Brüderchen, die Sowjets, ersetzt werden, die dieselbe Rolle spielen. Man glaubt, dass man nur den Namen wechseln muss, um den Inhalt zu verändern. Man nennt die Partei nicht mehr Partei, die Gewerkschaften nicht mehr Gewerkschaften, sondern ersetzt sie durch gleichartige Organisationen, die dieselbe Funktion ausüben, aber einen anderen Namen tragen. Auch wenn man eine Katze „Tiger“ nennt, so wird sie für uns immer noch dieselbe Anatomie und denselben Platz in der Welt besitzen, abgesehen von den wenigen, für die sie zu einem Mythos geworden ist; es ist merkwürdig, dass „dialektische“ Philosophen und Materialisten den gleichermaßen verbohrten Geist und die gleichermaßen engstirnigen Ansichten haben, um uns dazu zu verleiten, ihre Welt der mythologischen Konstruktionen, eine Welt von „Tigern“ im   Verhältnis zur Welt der Katzen, als neue Welt hinzunehmen.

Also: in der alten Welt war ein Kautsky ein gewöhnlicher Reformist, in der neuen Welt sind Trotzkisten, Anarchisten und Rätekommunisten „authentische Revolutionäre“; dabei sind sie viel oberflächlichere Reformisten als der scharfsinnige Theoretiker des Reformismus, Kautsky.

Die Tatsache, dass Harper auf die klassischen Argumente des bürgerlichen Reformismus, menschewistische und Kautsky’sche, zurückgreift (und unlängst das Aufeinandertreffen dieses Standpunktes mit dem Burnhams), kann nicht groß erstaunen. Statt zu versuchen, als Marxisten Lehren aus dieser revolutionären Epoche zu ziehen (wie Marx und Engels z.B., die die Lehren aus der Pariser Kommune gezogen hatten), möchte Harper die Russische Revolution und den mit ihr verbundenen Bolschewismus (ganz so wie der Blanquismus und Proudhonismus mit der Pariser Kommune verknüpft war) „in Bausch und Bogen“ verurteilen.

Harper kommt der Realität sehr nahe. Wenn er, statt die Bolschewiki zu verurteilen, sich dem „russischen Milieu“ angepasst zu haben, sich gefragt hätte, auf welchem geistigen Niveau sich diese Linke der Sozialdemokratie, von der alle abstammten, befunden hatte, hätte er ganz andere Schlüsse in seinem Buch ziehen müssen, weil er gesehen hätte, dass dieses Niveau (selbst bei den Fortgeschritteneren in Sachen Dialektik) nicht erlaubt hätte, einige Probleme zu lösen, auf die die Russische Revolution gestoßen war (die Probleme der Partei und des Staates), Probleme, von denen am Vorabend der Russischen Revolution kein Marxist eine genaue Vorstellung  hatte (und dies aus gutem Grund).

Wir behaupten und versuchen es zu beweisen, dass es die Bolschewiki waren, die 1917 in der Gesamtheit des philosophischen, ökonomischen und politischen Kenntnisstandes die fortgeschrittensten Revolutionäre in der gesamten Welt waren, und dies zu einem großen Teil dank der Präsenz Lenins und Trotzkis.

Wenn die darauffolgenden Ereignisse dem zu widersprechen scheinen, so nicht wegen ihrer intellektuellen Entwicklung, die dem „russischen Milieu“ angepasst ist, sondern wegen des allgemeinen Niveaus der internationalen Arbeiterbewegung, was ebenfalls philosophische Fragen aufwirft, die Harper nicht einmal anschneiden möchte.

Philippe

 

[1] Siehe weiter unten die Zitate Kautskys über Die Lehre des westlichen Proletariats.

[2] In einer nächsten Ausgabe werden wir sehen, wie einer der Schüler Harpers, Canne Meijer, bedauerlicher- und traurigerweise zum gleichen Befund über den „Sozialismus als Utopie“ gelangt wie Burnham. Im Kern ist dies, mit noch mehr Geschwätz, auch die Schlussfolgerung der Gruppe Socialisme ou Barbarie und ihres Mentors Chaulieu-Castoriadis-Cardan.

[3] Folgende Zitate von Karl Kautsky aus: Der Kampf, Sozialdemokratische Monatsschrift, Wien, Februar 1922.

[4] Und dies zum „spezifisch russischen Milieu“ von Harper-Kautsky: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“ (Marx, Thesen über Feuerbach, These 3)

 

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Internationale Revue 54