24. Internationaler Kongress der IKS: Resolution zur internationalen Lage

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Präambel

Diese Resolution steht in Kontinuität mit dem Bericht über den Zerfall des 22. IKS-Kongresses, der Resolution über die internationale Lage des 23. Kongress und dem Bericht über Pandemie und Zerfall des 24. Kongresses. Sie basiert auf der These, dass die Dekadenz des Kapitalismus nicht nur verschiedene Stadien oder Phasen durchläuft, sondern dass wir seit den späten 1980er Jahren ihre letzte Phase, die Phase des Zerfalls, erreicht haben; ferner, dass der Zerfall selbst eine Geschichte hat, und ein zentrales Ziel dieser Texte ist es, den theoretischen Rahmen des Zerfalls anhand der Entwicklung der Weltlage zu "überprüfen". Sie haben gezeigt, dass die wichtigsten Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte in der Tat die Gültigkeit dieses Rahmens bestätigt haben, wie die Verschärfung des "Jeder für sich" auf internationaler Ebene, das "Zurückschlagen" der Zerfallsphänomene in die Kernländer des Weltkapitalismus durch die Zunahme des Terrorismus und der Flüchtlingskrise, wie der Aufstieg des Populismus und der Verlust der politischen Kontrolle durch die herrschende Klasse, die fortschreitende Fäulnis der Ideologie durch die Verbreitung von Sündenbockdenken, religiösem Fundamentalismus und Verschwörungstheorien zeigen. Und so wie die Zerfallsphase der konzentrierte Ausdruck aller Widersprüche des Kapitals ist, vor allem in seiner Epoche des Niedergangs, so ist die gegenwärtige Covid-19-Pandemie ein Destillat aller wichtigsten Erscheinungen des Zerfalls – und ein aktiver Faktor bei seiner Beschleunigung.

Die Endphase des kapitalistischen Niedergangs und das sich beschleunigende Chaos

1. Die Covid-19-Pandemie, die erste von solchem Ausmaß seit dem Ausbruch der Spanischen Grippe 1918, ist der wichtigste Moment in der Entwicklung der kapitalistischen Zerfallsperiode seit der endgültigen Eröffnung der Periode im Jahr 1989. Die Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die daraus resultierenden sieben bis zwölf Millionen und mehr Todesfälle zu verhindern, bestätigt, dass das kapitalistische Weltsystem, sich selbst überlassen, die Menschheit in den Abgrund der Barbarei und in ihre Zerstörung zieht und dass nur die proletarische Weltrevolution dieses Abgleiten aufhalten und die Menschheit in eine andere Zukunft führen kann.

2. Die IKS steht mehr oder weniger allein mit der Verteidigung der Theorie des Zerfalls. Andere Gruppen der kommunistischen Linken lehnen sie völlig ab, entweder, wie im Fall der Bordigisten, weil sie nicht akzeptieren, dass der Kapitalismus ein System im Niedergang ist (oder bestenfalls in diesem Punkt inkonsequent und zweideutig sind); oder, wie im Fall der Internationalistischen Kommunistischen Tendenz, weil das Reden über eine "letzte" Phase des Kapitalismus viel zu apokalyptisch klinge, oder weil die Definition des Zerfalls als Abstieg ins Chaos eine Abweichung vom Materialismus sei, der nach Ansicht der IKT die Wurzeln jedes Phänomens in der Wirtschaft und vor allem in der Tendenz zum Fall der Profitrate zu finden versucht. All diese Strömungen scheinen die Tatsache zu ignorieren, dass unsere Analyse in Kontinuität mit den Richtlinien der Kommunistischen Internationale von 1919 steht, die nicht nur darauf bestand, dass der imperialistische Weltkrieg von 1914-18 den Eintritt des Kapitalismus in die „Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung“, die „Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats" ankündigte, sondern auch betonte, dass „die alte kapitalistische »Ordnung« nicht mehr“ existiere, „sie kann nicht mehr bestehen. Das Endresultat der kapitalistischen Produktionsweise ist das Chaos. Und dieses Chaos kann nur die größte, produktive Klasse überwinden: die Arbeiterklasse. Sie muss eine wirkliche Ordnung schaffen, die kommunistische Ordnung.“ So wurde das Drama, vor dem die Menschheit stand, in der Tat in den Begriffen Ordnung gegen Chaos dargestellt. Und die Gefahr eines chaotischen Zusammenbruchs wurde mit der „Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise“ in Verbindung gebracht, mit anderen Worten: mit einem grundlegenden Element des Systems selbst – eines Systems, das dem Marxismus zufolge auf einem qualitativ höheren Niveau als in jeder früheren Produktionsweise beinhaltet, dass die Produkte menschlicher Arbeit zu einer fremden Macht werden, die über und gegen ihre Schöpfer steht. Die Dekadenz des Systems stellt somit aufgrund seiner unlösbaren Widersprüche eine neue Spirale in diesem Kontrollverlust dar. Und wie die Plattform der Komintern erklärt, treibt die Notwendigkeit, zu versuchen, die kapitalistische Anarchie innerhalb jedes Nationalstaates zu überwinden – durch Monopole und vor allem durch staatliche Interventionen – sie nur auf neue Höhen im globalen Maßstab, was im imperialistischen Weltkrieg gipfelt. Während also der Kapitalismus auf bestimmten Ebenen und für bestimmte Phasen seine angeborene Tendenz zum Chaos zurückhalten kann (z.B. durch die Mobilisierung für den Krieg in den 1930er Jahren oder die Periode des Wirtschaftsbooms, die auf den Krieg folgte), geht die am tiefsten greifende Tendenz in Richtung der "inneren Zersetzung", die für die Komintern die neue Epoche charakterisiert.

3. Während die Richtlinien der Komintern vom Beginn einer „neuen Epoche“ sprachen, gab es innerhalb der Komintern Tendenzen, die katastrophale Lage der Nachkriegswelt als eine endgültige Krise im unmittelbaren Sinne zu sehen und nicht als ein ganzes Zeitalter von Katastrophen, das viele Jahrzehnte dauern könnte. Und das ist ein Irrtum, in den Revolutionäre schon oft verfallen sind (aufgrund einer fehlerhaften Analyse, aber auch weil es nicht möglich ist, den genauen Moment mit Sicherheit vorherzusagen, wann ein Umschlag auf historischer Ebene erfolgt): 1848, als das Kommunistische Manifest bereits verkündete, dass die Hülle des Kapitals zu eng geworden war, um die Produktivkräfte, die es in Bewegung gesetzt hatte, zu fassen; 1919-20 mit der Theorie des brutalen Zusammenbruchs des Kapitals, die insbesondere von der deutschen kommunistischen Linken entwickelt wurde; 1938 mit Trotzkis Auffassung, dass die Produktivkräfte aufgehört hatten zu wachsen. Die IKS selbst hat auch die Fähigkeit des Kapitalismus unterschätzt, auf seine eigene Weise zu expandieren und sich zu entwickeln, sogar in einem allgemeinen Kontext des fortschreitenden Niedergangs, vor allem im Fall des stalinistischen China nach dem Zusammenbruch des russischen Blocks. Jedoch sind diese Fehler Produkte einer unmittelbaren Interpretation der kapitalistischen Krise, nicht ein inhärenter Fehler in der Dekadenztheorie selbst, die den Kapitalismus in dieser Periode eher als eine wachsende Fessel für die Produktivkräfte denn als ein absolutes Hindernis sieht.  Aber der Kapitalismus befindet sich seit mehr als einem Jahrhundert im Niedergang, und die Erkenntnis, dass wir an die Grenzen des Systems stoßen, ist völlig konsistent mit dem Verständnis, dass die Wirtschaftskrise trotz aller Höhen und Tiefen im Wesentlichen permanent geworden ist; dass die Mittel der Zerstörung nicht nur ein solches Niveau erreicht haben, dass sie alles Leben auf dem Planeten vernichten könnten, sondern sich in den Händen einer zunehmend instabilen Welt-"Ordnung" befinden; dass der Kapitalismus eine planetarische ökologische Katastrophe heraufbeschworen hat, wie es sie in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Zusammengefasst basiert die Erkenntnis, dass wir uns tatsächlich im Endstadium der kapitalistischen Dekadenz befinden, auf einer nüchternen Einschätzung der Realität. Noch einmal: Dies sollte auf einer historischen, nicht auf einer tageszeitlichen Zeitskala gesehen werden. Aber es bedeutet, dass diese letzte Phase unumkehrbar ist und es keine andere historische Alternative als den Kommunismus oder die Zerstörung der Menschheit geben kann; vor dieser Alternative stehen wir heute.

4. Im Gegensatz zu den von der herrschenden Klasse propagierten Ansichten ist die Covid-19-Pandemie kein rein "natürliches" Ereignis, sondern resultiert aus einer Kombination natürlicher, sozialer und politischer Faktoren, die alle mit dem Funktionieren des kapitalistischen Systems im Zerfall verbunden sind. Das "wirtschaftliche" Element ist hier in der Tat entscheidend, und zwar wiederum auf mehr als einer Ebene. Es ist die Wirtschaftskrise, die verzweifelte Jagd nach Profit, die das Kapital dazu getrieben hat, in jeden Teil der Weltoberfläche einzudringen, um sich das zu schnappen, was Adam Smith das "freie Geschenk" der Natur nannte, und dabei die verbleibenden Schutzgebiete für wildes Leben zu zerstören und das Risiko von Zoonose-Krankheiten enorm zu erhöhen. Der Finanzcrash von 2008 wiederum führte zu einer brutalen Kürzung der Investitionen in die Erforschung neuer Krankheiten, in medizinische Ausrüstung und Behandlung, was die tödlichen Auswirkungen des Coronavirus exponentiell erhöhte. Dies wurde wiederum verschärft durch die massiven Angriffe auf das Gesundheitswesen (Kürzung der Bettenzahlen und des Personals usw.), das durch die Pandemie völlig überfordert wurde. Und die Verschärfung des Wettbewerbs "Jeder für sich" zwischen Unternehmen sowohl wie zwischen Nationen weltweit hat die Bereitstellung von Sicherheitsmaterial und Impfungen stark verzögert. Und auch entgegen den utopischen Hoffnungen gewisser Teile der herrschenden Klasse wird die Pandemie nicht zu einer harmonischeren Weltordnung führen, wenn sie erst einmal in Schach gehalten ist. Nicht nur, weil diese Pandemie wahrscheinlich nur ein Warnzeichen für noch schlimmere Pandemien ist, die noch kommen werden, da die grundlegenden Bedingungen, die sie hervorgebracht haben, von der Bourgeoisie nicht angegangen werden können, sondern auch, weil die Pandemie eine weltwirtschaftliche Rezession, die sich schon vor der Pandemie abzeichnete, erheblich verschlimmert hat. Das Ergebnis wird das Gegenteil von Harmonie sein, da die nationalen Wirtschaften versuchen werden, sich im Kampf um schwindende Märkte und Ressourcen gegenseitig die Kehle durchzuschneiden. Dieser verschärfte Wettbewerb wird sich sicherlich auch auf militärischer Ebene äußern. Und die "Rückkehr zur Normalität" des kapitalistischen Wettbewerbs wird neue Lasten auf die Schultern der Ausgebeuteten der Welt legen, die die Hauptlast der Bemühungen des Kapitalismus tragen müssen, einen Teil der gigantischen Schulden wieder einzutreiben, die er durch seine Versuche, die Krise zu bewältigen, ausgegeben hat.

5. Kein Staat kann vorgeben, ein Modell für den Umgang mit der Pandemie zu sein. Wenn es einigen Staaten in Asien anfangs gelungen ist, effizienter mit ihr umzugehen (wobei Länder wie China die Zahlen und die Wirklichkeit des wahren Ausmaßes der Pandemie frisiert haben), so liegt das an ihrer Erfahrung im Umgang mit Pandemien auf sozialer und kultureller Ebene, da dieser Kontinent historisch gesehen den Boden für die Entstehung neuer Krankheiten bot, und vor allem daran, dass diese Staaten die während der SARS-Epidemie im Jahr 2003 geschaffenen Mittel, Institutionen und Koordinationsverfahren beibehalten haben. Die Ausbreitung des Virus auf Weltebene, die internationale Bildung neuer Varianten, stellen gerade das Problem auf der Ebene dar, auf der die Ohnmacht der Bourgeoisie am deutlichsten zutage tritt, vor allem ihre Unfähigkeit, einheitlich und koordiniert vorzugehen (wie das jüngste Scheitern des Vorschlags, einen Vertrag zum Kampf gegen Pandemien zu unterzeichnen, zeigt) und dafür zu sorgen, dass die gesamte Menschheit den Schutz von Impfstoffen erhält.

6. Die Pandemie, ein Produkt der Zersetzung des Systems, offenbart sich somit als eine gewaltige Kraft zur weiteren Beschleunigung dieser Zerfallsphase. Darüber hinaus bestätigt ihre Auswirkung auf die mächtigste Nation der Erde, die USA, was bereits im Bericht zum 22. Kongress festgestellt wurde: die Tendenz, dass die Auswirkungen des Zerfalls mit verstärkter Kraft in das Herz des kapitalistischen Weltsystems zurückkehren. In der Tat befinden sich die USA jetzt im "Zentrum" des globalen Zerfallsprozesses. Die katastrophale Fehlbehandlung der Covid-Krise durch die populistische Trump-Administration hat sicherlich wesentlich dazu beigetragen, dass die USA die höchsten Todesraten der Welt durch diese Krankheit aufweisen. Gleichzeitig wurde das Ausmaß der Spaltungen innerhalb der herrschenden Klasse in den USA durch die umstrittenen Wahlen im November 2020 und vor allem durch die Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger am 6. Januar 2021, angestachelt durch Trump und seine Entourage, offengelegt. Dieses Ereignis zeigt, dass die innere Zerrissenheit der USA die gesamte Gesellschaft durchzieht. Obwohl Trump aus der Regierung verdrängt wurde, bleibt der Trumpismus eine starke, schwer bewaffnete Kraft, die sich sowohl auf der Straße als auch an den Wahlurnen äußert. Und da der gesamte linke Flügel des Kapitals sich hinter dem Banner des Antifaschismus versammelt, besteht die reale Gefahr, dass die Arbeiterklasse in den USA in gewaltsame Konflikte zwischen rivalisierenden Fraktionen der Bourgeoisie verwickelt wird.

7. Die Ereignisse in den USA verdeutlichen auch den fortschreitenden Zerfall der ideologischen Strukturen des Kapitalismus, wobei wiederum die USA "Vorreiter" sind. Der Amtsantritt der populistischen Trump-Administration, der starke Einfluss des religiösen Fundamentalismus, das wachsende Misstrauen gegenüber der Wissenschaft haben ihre Wurzeln in bestimmten Faktoren der Geschichte des amerikanischen Kapitalismus, aber die Entwicklung des Zerfalls und insbesondere der Ausbruch der Pandemie haben alle Arten von irrationalen Ideen in den Mainstream des politischen Lebens gebracht, die genau die völlige Perspektivlosigkeit für die Zukunft widerspiegeln, die die bestehende Gesellschaft bietet.

Insbesondere die USA sind zum Knotenpunkt für die Ausstrahlung von "Verschwörungstheorien" in der gesamten fortgeschrittenen kapitalistischen Welt geworden, vor allem über das Internet und die sozialen Medien, die die technologischen Mittel zur weiteren Untergrabung der Grundlagen jeglicher Vorstellung von objektiver Wahrheit in einem Ausmaß bereitgestellt haben, von dem der Stalinismus und der Nationalsozialismus nur träumen konnten. Verschwörungstheorien, die in verschiedenen Formen auftreten, haben bestimmte gemeinsame Merkmale: die personalisierte Sichtweise über geheime Eliten, die die Gesellschaft aus dem Verborgenen heraus steuerten, eine Ablehnung wissenschaftlicher Methoden und ein tiefes Misstrauen gegenüber allen offiziellen Diskursen. Im Gegensatz zur Mainstream-Ideologie der Bourgeoisie, die die Demokratie und die bestehende Staatsmacht als wahre Repräsentanten der Gesellschaft darstellt, haben die Verschwörungstheorien ihr Gravitationszentrum im Hass auf die etablierten Eliten, einem Hass, den sie gegen das Finanzkapital und die klassische demokratische Fassade des staatskapitalistischen Totalitarismus richten. Das verleitete Vertreter der Arbeiterbewegung in der Vergangenheit dazu, diesen Ansatz als "Sozialismus der Narren" zu bezeichnen (August Bebel, mit Bezug auf den Antisemitismus) – ein Fehler, der vor dem Ersten Weltkrieg noch verständlich war, heute aber gefährlich wäre. Der verschwörungstheoretische Populismus ist kein verzerrter Versuch, sich dem Sozialismus oder irgendetwas, das dem proletarischen Klassenbewusstsein ähnelt, zu nähern. Eine seiner Hauptquellen ist die Bourgeoisie selbst: der Teil der Bourgeoisie, der sich darüber ärgert, gerade aus den elitären inneren Kreisen seiner eigenen Klasse ausgeschlossen zu sein, unterstützt von anderen Teilen der Bourgeoisie, die ihre frühere zentrale Position verloren haben oder dabei sind, sie zu verlieren. Die Massen, die diese Art von Populismus hinter sich herzieht, sind weit davon entfernt, von der Bereitschaft beseelt zu sein, die herrschende Klasse herauszufordern, sondern hoffen, indem sie sich mit dem Kampf um die Macht derjenigen identifizieren, die sie unterstützen, in irgendeiner Weise an dieser Macht teilzuhaben oder zumindest von ihr auf Kosten anderer begünstigt zu werden.

8. Während das Voranschreiten des kapitalistischen Zerfalls neben der chaotischen Zuspitzung der imperialistischen Rivalitäten in erster Linie die Form der politischen Zersplitterung und des Kontrollverlusts der herrschenden Klasse annimmt, bedeutet dies nicht, dass die Bourgeoisie bei ihren Bemühungen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, nicht mehr auf den Staatstotalitarismus zurückgreifen könnte. Im Gegenteil, je mehr die Gesellschaft zum Auseinanderbrechen neigt, desto verzweifelter wird das Vertrauen der Bourgeoisie in die zentralisierende Staatsmacht, die das Hauptinstrument dieser machiavellistischsten aller herrschenden Klassen ist. Die Reaktion der Fraktionen der herrschenden Klasse, die dem allgemeinen Interesse des nationalen Kapitals und des Staates gegenüber verantwortlicher gesonnen sind, auf den Aufstieg des Populismus ist ein typisches Beispiel dafür. Die Wahl Bidens, unterstützt durch eine enorme Mobilisierung der Medien, von Teilen des politischen Apparats und sogar des Militärs und der Sicherheitsdienste, drückt diese reale Gegentendenz zur Gefahr der sozialen und politischen Desintegration aus, die am deutlichsten vom Trumpismus verkörpert wird. Kurzfristig können solche "Erfolge" als Bremse gegenüber dem wachsenden sozialen Chaos fungieren. Angesichts der Covid-19-Krise zeigen die beispiellosen Abschottungsmaßnahmen, die als letztes Mittel die unkontrollierte Ausbreitung der Krankheit aufhalten sollen; der massive Rückgriff auf die Staatsverschuldung, um ein Minimum an Lebensstandard in den fortgeschrittenen Ländern zu erhalten; die Mobilisierung wissenschaftlicher Ressourcen, um einen Impfstoff zu finden – das Bedürfnis der Bourgeoisie, das Bild des Staates als Beschützer der Bevölkerung zu bewahren, und ihren Unwilligkeit, angesichts der Pandemie Glaubwürdigkeit und Autorität zu verlieren. Längerfristig führt dieser Rückgriff auf den Staatstotalitarismus aber eher zu einer weiteren Verschärfung der Widersprüche des Systems. Die nahezu Lähmung  der Wirtschaft und die Anhäufung von Schulden können kein anderes Ergebnis haben, als die globale Wirtschaftskrise zu beschleunigen, während auf der sozialen Ebene die massive Ausweitung der polizeilichen Befugnisse und der staatlichen Überwachung, die zur Durchsetzung der Lockdown-Gesetze eingeführt wurden – und zwangsläufig zur Rechtfertigung aller Formen von Protest und Dissens verwendet werden –, das Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment zusehends verschärfen, was sich hauptsächlich auf dem antiproletarischen Terrain der "Bürgerrechte" ausdrückt.

9. Der offensichtliche Charakter der politischen und ideologischen Zerfallsprozesse in der führenden Macht der Welt bedeutet nicht, dass die anderen Zentren des Weltkapitalismus in der Lage wären, alternative Festungen der Stabilität zu bilden. Am deutlichsten wird dies wiederum im Fall von Großbritannien, das gleichzeitig von den höchsten Covid-Todesraten in Europa und den ersten Symptomen der selbst zugefügten Wunde des Brexit heimgesucht wird sowie der realen Möglichkeit eines Auseinanderbrechens in seine konstituierenden "Nationen" gegenübersteht. Die aktuellen hässlichen Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und der EU über die Verwendbarkeit und Verteilung von Impfstoffen bieten einen weiteren Beweis dafür, dass der Haupttrend in der globalen bürgerlichen Politik heute in Richtung zunehmender Fragmentierung und nicht in Richtung Einheit angesichts eines "gemeinsamen Feindes" geht. Europa selbst ist von diesen zentrifugalen Tendenzen nicht verschont geblieben, nicht nur in Bezug auf den Umgang mit der Pandemie, sondern auch in Bezug auf die Frage der "Menschenrechte" und der Demokratie in Ländern wie Polen und Ungarn. Es ist bemerkenswert, dass selbst zentrale Länder wie Deutschland, das früher als relativer "sicherer Hafen" politischer Stabilität galt und auf seine wirtschaftliche Stärke bauen konnte, diesmal von einem wachsenden politischen Chaos betroffen ist. Die Beschleunigung des Zerfalls im historischen Zentrum des Kapitalismus ist sowohl durch einen Kontrollverlust als auch durch zunehmende Schwierigkeiten bei der Herstellung politischer Homogenität gekennzeichnet. Auch wenn die EU nach dem Verlust ihrer zweitgrößten Volkswirtschaft nicht unmittelbar von größeren Spaltungen bedroht ist, hängen diese Bedrohungen weiterhin über dem Traum von einem vereinten Europa. Und während die chinesische Staatspropaganda die wachsende Uneinigkeit und Inkohärenz der "Demokratien" hervorhebt und sich selbst als Bollwerk globaler Stabilität präsentiert, ist Pekings zunehmender Rückgriff auf Repression im Innern, wie gegen die "Demokratiebewegung" in Hongkong und die uigurischen Muslime, in Wirklichkeit ein Beweis dafür, dass China eine tickende Zeitbombe ist. Das außergewöhnliche Wachstum Chinas ist selbst ein Produkt des Zerfalls. Die wirtschaftliche Öffnung während der Deng-Periode in den 1980er Jahren mobilisierte riesige Investitionen, vor allem aus den USA, Europa und Japan. Das Tiananmen-Massaker 1989 machte deutlich, dass diese wirtschaftliche Öffnung von einem unflexiblen politischen Apparat durchgesetzt wurde, der nur durch eine Kombination aus Staatsterror, einer rücksichtslosen Ausbeutung der Arbeitskraft, die Hunderte Millionen Arbeiter einem Dauerzustand als Wanderarbeiter unterwirft, und einem rasenden Wirtschaftswachstum, dessen Fundamente nun zunehmend wackelig erscheinen, dem Schicksal des Stalinismus im russischen Block entgehen konnte. Die totalitäre Kontrolle über den gesamten Gesellschaftskörper, die repressive Verhärtung der stalinistischen Fraktion von Xi Jinping, ist kein Ausdruck von Stärke, sondern eine Manifestation der Schwäche des Staates, dessen Zusammenhalt durch die Existenz von Fliehkräften innerhalb der Gesellschaft und wichtigen Cliquenkämpfen innerhalb der herrschenden Klasse gefährdet ist.

Der Weg des Kapitalismus zur Zerstörung der Menschheit

10. Im Gegensatz zu einer Situation, in der die Bourgeoisie in der Lage ist, die Gesellschaft für den Krieg zu mobilisieren wie in den 1930er Jahren, ist die Endphase des Weges, des Rhythmus und der Formen der Dynamik des verfaulenden Kapitalismus in Richtung Zerstörung der Menschheit schwieriger vorherzusagen, weil er das Ergebnis einer Konvergenz verschiedener Faktoren ist, von denen einige teilweise verborgen sein können. Das Endergebnis, so betonen die Thesen zum Zerfall, ist dasselbe: „Seiner eigenen Logik und seinen letzten Konsequenzen überlassen, führt [der Kapitalismus] die Gesellschaft zum gleichen Ergebnis wie der Weltkrieg. Ob man brutal von einem thermonuklearen Bombenhagel in einem Weltkrieg ausgelöscht wird oder durch die Umweltverschmutzung, die Radioaktivität der Atomkraftwerke, den Hunger, die Epidemien und die Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte (in denen auch Atomwaffen eingesetzt werden können) vernichtet wird, läuft letztendlich aufs gleiche hinaus. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Zerstörung besteht darin, daß die erste schneller ist, während die zweite langsamer ist, dafür aber umso mehr Leid verursacht.“ Heute jedoch werden die Konturen dieses Vernichtungstriebes schärfer. Die Folgen der Naturzerstörung durch den Kapitalismus lassen sich immer weniger leugnen, ebenso wie das Versagen der Weltbourgeoisie mit all ihren globalen Konferenzen und Versprechen, sich in Richtung einer "grünen Wirtschaft" zu bewegen, einen Prozess aufzuhalten, der untrennbar mit dem Bedürfnis des Kapitalismus verbunden ist, in seinem konkurrierenden Streben nach dem Akkumulationsprozess jeden letzten Winkel des Planeten zu durchdringen. Die Covid-Pandemie ist wahrscheinlich der bisher bedeutendste Ausdruck dieses tiefgreifenden Ungleichgewichts zwischen Mensch und Natur, aber auch andere Warnzeichen mehren sich, vom Schmelzen des Polareises bis zu den verheerenden Bränden in Australien und Kalifornien und der Verschmutzung der Ozeane durch den Abfall der kapitalistischen Produktion.

11. Gleichzeitig mehren sich die "Massaker der verschiedenen kriegerischen Konflikte", da der Kapitalismus in seiner letzten Phase in ein zunehmend irrationales imperialistisches "Jeder gegen jeden" stürzt. Die zehnjährige Agonie in Syrien, einem Land, das nun durch einen Konflikt, an dem mindestens fünf rivalisierende Lager beteiligt sind, völlig ruiniert ist, ist vielleicht der deutlichste Ausdruck dieses erschreckenden "Haifischbeckens", aber wir sehen ähnliche Erscheinungsformen in Libyen, am Horn von Afrika und im Jemen; Kriege, die durch das Aufkommen regionaler Mächte wie dem Iran, der Türkei und Saudi-Arabien unterstützt und verschlimmert wurden, von denen keiner die Disziplin der globalen Hauptmächte akzeptieren kann: Diese Mächte zweiten oder dritten Ranges können bedingte Bündnisse mit den mächtigsten Staaten schmieden, nur um sich in anderen Situationen als Gegner zu konfrontieren (wie im Fall der Türkei und Russlands im Krieg in Libyen). Die wiederkehrenden militärischen Konfrontationen in Israel/Palästina zeugen ebenfalls von der Unlösbarkeit vieler dieser Konflikte, und in diesem Fall wurde das Abschlachten von Zivilisten durch die Entwicklung einer Pogromstimmung innerhalb Israels selbst verschärft, was die Auswirkungen der Zersetzung sowohl auf militärischer als auch auf sozialer Ebene zeigt. Gleichzeitig beobachten wir eine Verschärfung der Konflikte zwischen den Weltmächten. Die Verschärfung der Rivalitäten zwischen den USA und China war bereits unter Trump zu beobachten, aber die Biden-Administration wird in dieselbe Richtung weitergehen, wenn auch unter anderen ideologischen Vorwänden, wie z.B. Chinas Menschenrechtsverletzungen; gleichzeitig hat die neue Administration angekündigt, dass sie sich nicht mehr vor Russland "wegducken" wird, das nun seinen Stützpunkt im Weißen Haus verloren hat. Und auch wenn Biden versprochen hat, die USA wieder in eine Reihe von internationalen Institutionen und Abkommen einzubinden (zum Klimawandel, zum iranischen Atomprogramm, zur NATO...), bedeutet das nicht, dass die USA auf ihre Fähigkeit verzichten werden, allein zur Verteidigung ihrer Interessen zu handeln. Der Militärschlag gegen proiranische Milizen in Syrien durch die Biden-Administration nur Wochen nach der Wahl war eine klare Aussage in diesem Sinne. Das Streben eines Jeder-für-sich wird es für die Vereinigten Staaten immer schwieriger, wenn nicht gar unmöglich machen, ihre Führungsrolle durchzusetzen – ein Beispiel für die Beschleunigung des Jeder-gegen-jeden in der Zerfallsperiode.

12. Innerhalb dieses chaotischen Bildes steht zweifellos die wachsende Konfrontation zwischen den USA und China tendenziell im Mittelpunkt. Die neue Administration hat damit ihr Bekenntnis zum "Tilt to the East" (zur Neigung nach Osten, jetzt unterstützt von der Tory-Regierung in Großbritannien) demonstriert, die bereits eine zentrale Achse der Außenpolitik Obamas war. Konkretisiert hat sich dies in der Entwicklung der "Quad", einer explizit antichinesischen Allianz zwischen den USA, Japan, Indien und Australien. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir auf die Bildung stabiler Blöcke und einen allgemeinen Weltkrieg zusteuern.

Der Weg zum Krieg wird immer noch durch die starke Tendenz des „Jeder-für-sich“ und Chaos auf imperialistischer Ebene behindert, während der Kapitalismus in den zentralen kapitalistischen Ländern noch nicht über die politischen und ideologischen Elemente verfügt – einschließlich insbesondere einer politischen Niederlage der Arbeiterklasse –, welche die Gesellschaft ‚vereinigen‘ und den Weg zum Weltkrieg ebnen könnten. Die Tatsache, dass wir immer noch in einer im Wesentlichen multipolaren Welt leben, wird insbesondere durch das Verhältnis zwischen Russland und China verdeutlicht. Während Russland sich in bestimmten Fragen sehr willig gezeigt hat, sich mit China zu verbünden, im Allgemeinen in Opposition zu den USA, ist es sich nicht weniger der Gefahr bewusst, sich seinem östlichen Nachbarn unterzuordnen, und ist einer der Hauptgegner von Chinas "Neuer Seidenstraße" in Richtung imperialistischer Hegemonie.

13. Das bedeutet nicht, dass wir in einer Ära größerer Sicherheit lebten als in der Periode des Kalten Krieges, die unter der Bedrohung durch ein nukleares Armageddon litt. Im Gegenteil: Wenn die Phase des Zerfalls durch einen zunehmenden Kontrollverlust der Bourgeoisie gekennzeichnet ist, so gilt dies auch für die enormen Mittel der Zerstörung – nukleare, konventionelle, biologische und chemische –, die von der herrschenden Klasse angehäuft worden und nun über eine weitaus größere Zahl von Nationalstaaten verteilt sind als in der vorangegangenen Periode.  Wir sehen zwar keinen kontrollierten Marsch in Richtung Krieg, der von disziplinierten Militärblöcken angeführt würde, aber wir können die Gefahr einseitiger militärischer Ausbrüche oder sogar grotesker Unfälle nicht ausschließen, die eine weitere Beschleunigung des Abgleitens in die Barbarei bedeuten würden.

Eine noch nie dagewesene Wirtschaftskrise

14. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus außerhalb einer Weltkriegssituation ist die Wirtschaft direkt und tiefgreifend von einem Phänomen betroffen – der Covid-19-Pandemie –, das nicht direkt mit den Widersprüchen der kapitalistischen Wirtschaft zusammenhängt. Das Ausmaß und die Bedeutung der Auswirkungen der Pandemie als Produkt der Agonie eines Systems, das sich in völliger Zersetzung befindet und völlig obsolet ist, veranschaulicht die beispiellose Tatsache, dass das Phänomen der kapitalistischen Zersetzung nun auch massiv und in globalem Maßstab die gesamte kapitalistische Wirtschaft betrifft. Dieses Eindringen der Auswirkungen des Zerfalls in die Wirtschaftssphäre wirkt sich direkt auf die Entwicklung der neuen Phase der offenen Krise aus und läutet eine in der Geschichte des Kapitalismus noch nie dagewesene Situation ein. Die Auswirkungen des Zerfalls, welche die Mechanismen des Staatskapitalismus, die bisher zur "Begleitung" und Begrenzung der Auswirkungen der Krise eingerichtet wurden, tiefgreifend verändern, bringen einen Faktor der Instabilität und Zerbrechlichkeit, der wachsenden Unsicherheit in die Situation ein.

Das Chaos, das sich der kapitalistischen Wirtschaft bemächtigt, bestätigt Rosa Luxemburgs Ansicht, dass der Kapitalismus keinen rein ökonomischen Zusammenbruch erleben wird. „Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalsherrschaft zur Notwendigkeit machen werden, selbst ehe sie noch ökonomisch auf ihre natürliche selbstgeschaffene Schranke gestoßen ist.“ (Akkumulation des Kapitals, Kapitel 32)

15. Indem die Pandemie ein kapitalistisches System traf, das sich bereits seit Anfang 2018 in einem deutlichen Abschwung befand, konkretisierte sie schnell die Vorhersage des 23. Kongresses der IKS, dass wir auf einen neuen Absturz in die Krise zusteuern.

Die gewaltige Beschleunigung der Wirtschaftskrise – und die Ängste der Bourgeoisie – lassen sich an der Höhe der enormen Schuldenmauer ablesen, die eilig errichtet wurde, um den Produktionsapparat vor dem Bankrott zu bewahren und ein Minimum an sozialem Zusammenhalt zu gewährleisten.

Eine der wichtigsten Erscheinungsformen der Schwere der gegenwärtigen Krise liegt – im Gegensatz zu vergangenen Situationen offener Wirtschaftskrisen und im Gegensatz zur Krise von 2008 – darin, dass die zentralen Länder (Deutschland, China und die USA) gleichzeitig getroffen wurden und zu den am stärksten von der Rezession betroffenen Ländern gehören, in China durch einen starken Rückgang der Wachstumsrate 2020. Die schwächsten Staaten sehen ihre Wirtschaft durch Inflation, den Wertverfall ihrer Währung und Verarmung stranguliert.

Nach vier Jahrzehnten des Rückgriffs auf Kredit und Schulden, um der wachsenden Tendenz zur Überproduktion entgegenzuwirken, unterbrochen von immer tieferen Rezessionen und immer begrenzteren Erholungen, markierte die Krise von 2007-9 bereits einen weiteren Schritt im Abstieg des Kapitalismus in eine irreversible Krise. Während massive staatliche Interventionen das Bankensystem vor dem völligen Ruin bewahren konnten und die Verschuldung in noch schwindelerregendere Höhen trieben, wurden die Ursachen der Krise von 2007-09 nicht überwunden. Die Widersprüche der Krise verschoben sich auf eine höhere Ebene mit einer erdrückenden Schuldenlast für die Staaten selbst. Die Versuche, die Volkswirtschaften wieder anzukurbeln, führten nicht zu einer wirklichen Erholung: Ein seit dem Zweiten Weltkrieg beispielloses Element war, dass abgesehen von den USA, China und in geringerem Maße auch Deutschland die Produktionsniveaus in allen anderen wichtigen Ländern zwischen 2013 und 2018 stagnierten oder sogar sanken. Die extreme Fragilität dieser "Erholung", indem sie alle Voraussetzungen für eine weitere deutliche Verschlechterung der Weltwirtschaft versammelte, nahm die aktuelle Situation bereits vorweg.
Trotz des historischen Ausmaßes der Erholungspläne und weil die Wiederankurbelung der Wirtschaft auf so chaotische Weise erfolgt, ist noch nicht absehbar, wie – und in welchem Ausmaß – es der Bourgeoisie gelingen wird, die Situation zu stabilisieren, da diese von allerlei Ungewissheiten geprägt ist, vor allem hinsichtlich der Entwicklung der Pandemie selbst.

Im Gegensatz zu dem, was die Bourgeoisie 2008 tun konnte, als sie die G7 und die G20, in welchen sich die wichtigsten Staaten zusammengefunden hatten, versammelte und in der Lage war, sich auf eine koordinierte Antwort auf die Kreditkrise zu einigen, reagiert heute jedes nationale Kapital in verzettelter Form, ohne jede andere Sorge als die Wiederbelebung der eigenen Wirtschaftsmaschinerie und ihr Überleben auf dem Weltmarkt, ohne Abstimmung zwischen den Hauptkomponenten des kapitalistischen Systems. ‚Jeder für sich selbst‘ ist entscheidend vorherrschend geworden.

Die offensichtliche Ausnahme des europäischen Konjunkturprogramms, einschließlich der Vergemeinschaftung von Schulden zwischen den EU-Ländern, erklärt sich aus dem Bewusstsein der beiden wichtigsten EU-Staaten, dass ein Minimum an Zusammenarbeit zwischen ihnen notwendig ist, um eine größere Destabilisierung der EU zu vermeiden, um ihren Hauptrivalen China und den USA die Stirn zu bieten, auch auf die Gefahr hin, eine beschleunigte Abwertung ihrer Position in der Weltarena zu riskieren.

Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, die Pandemie einzudämmen und die Lähmung der Produktion zu vermeiden, führte zum "Krieg der Masken" und zum "Krieg der Impfstoffe" Der gegenwärtige Krieg der Impfstoffe, die Art und Weise, wie sie hergestellt und verteilt werden, ist ein Spiegel der Zerrissenheit, die die Weltwirtschaft befallen hat.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks hat die Bourgeoisie alles getan, um eine gewisse Zusammenarbeit zwischen den Staaten aufrechtzuerhalten, indem sie sich insbesondere auf die aus der Zeit der imperialistischen Blöcke geerbten Organe der internationalen Regulierung stützte. Dieser Rahmen der "Globalisierung" ermöglichte es, die Auswirkungen der Phase des Zerfalls auf der wirtschaftlichen Ebene zu begrenzen, indem die Möglichkeit der "Assoziierung" von Nationen in verschiedenen Gebieten der Wirtschaft – Finanzen, Produktion usw. – maximal vorangetrieben wurde.

Mit der Verschärfung der Krise und der imperialistischen Rivalitäten wurden die multilateralen Institutionen und Mechanismen bereits durch die Tatsache auf die Probe gestellt, dass die Hauptmächte zunehmend ihre eigene Politik betrieben, insbesondere China, indem es sein riesiges paralleles Netzwerk, die Neue Seidenstraße, aufbaute, und die USA, die dazu neigten, jenen Institutionen den Rücken zu kehren, weil sie nicht mehr geeignet waren, die vorherrschende Rolle der USA zu erhalten. Der Populismus trat bereits als ein Faktor in Erscheinung, der die schon bedenkliche wirtschaftliche Lage verschlimmerte, indem er ein Element der Unsicherheit angesichts der Auswirkungen der Krise einführte. Seine Machtübernahme in verschiedenen Ländern beschleunigte die Abstumpfung der Mittel, die der Kapitalismus seit 1945 eingesetzt hatte, um ein Abdriften in einen Rückzug hinter nationale Grenzen zu vermeiden, was nur zu einer unkontrollierten 'Ansteckung', d.h. Befeuerung der Wirtschaftskrise führen kann.

Die Entfesselung der Dynamik des „jeder-für-sich“ ergibt sich aus dem durch die Krise verschärften Widerspruch im Kapitalismus zwischen dem immer globaler werdenden Maßstab der Produktion und der nationalen Struktur des Kapitals. Indem er ein wachsendes Chaos innerhalb der Weltwirtschaft hervorruft (mit der Tendenz zur Zersplitterung der Produktionsketten und der Aufteilung des Weltmarktes in regionale Zonen, zur Stärkung des Protektionismus und der Vervielfachung einseitiger Maßnahmen), ist dieser völlig irrationale Zug jeder Nation, sich auf Kosten aller anderen zu retten, kontraproduktiv für jedes nationale Kapital und eine Katastrophe auf Weltebene und ein entscheidender Faktor für die Verschlechterung der gesamten Weltwirtschaft.

Dieses Vorpreschen der "verantwortungsvollsten" bürgerlichen Fraktionen in Richtung eines zunehmend irrationalen und chaotischen Managements des Systems und vor allem das beispiellose Voranschreiten dieser Tendenz hin zu „jedem für sich“, offenbart einen zunehmenden Kontrollverlust der herrschenden Klasse über ihr eigenes System.

16. Als einzige Nation mit einer positiven Wachstumsrate im Jahr 2020 (2 %) ist China nicht als großer Sieger oder gestärkt aus der Pandemiekrise hervorgegangen, auch wenn es auf Kosten seiner Rivalen vorübergehend an Boden gewonnen hat. Ganz im Gegenteil. Die anhaltende Wachstumsverschlechterung seiner Wirtschaft, die weltweit am höchsten verschuldet ist und zudem eine niedrige Auslastung der Kapazitäten und einen Anteil an "Zombie-Unternehmen" von über 30% aufweist, zeugt davon, dass China von nun an nicht mehr in der Lage ist, die Rolle zu spielen, die es in den Jahren 2008-11 bei der Wiederankurbelung der Weltwirtschaft gespielt hat.

China ist konfrontiert mit einer Verkleinerung der Märkte auf der ganzen Welt, mit dem Wunsch zahlreicher Staaten, sich aus der Abhängigkeit von der chinesischen Produktion zu befreien, und mit der Gefahr der Zahlungsunfähigkeit einiger Länder, die in das Projekt der Seidenstraße eingebunden und die am stärksten von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie betroffen sind. Die chinesische Regierung verfolgt daher eine Ausrichtung auf die binnenwirtschaftliche Entwicklung des Plans "Made in China 2025" und des Modells des "Doppelten Kreislaufs", das auch darauf abzielt, den Verlust der Auslandsnachfrage durch die Stimulierung der Binnennachfrage zu kompensieren. Dieser politische Neuausrichtung stellt jedoch keine "Hinwendung nach innen" dar, der chinesische Imperialismus wird und kann der Welt nicht den Rücken kehren. Im Gegenteil, das Ziel dieses Wandels ist es, eine nationale Autarkie auf dem Gebiet der Schlüsseltechnologien zu erlangen, um desto mehr in der Lage zu sein, jenseits der eigenen Grenzen an Boden zu gewinnen. Er stellt eine neue Stufe in der Entwicklung ihrer Kriegswirtschaft dar. All dies verursacht mächtige Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, zwischen den Anhängern der Lenkung der Wirtschaft durch die Kommunistische Partei Chinas und denen, die mit der Marktwirtschaft und dem Privatsektor verbunden sind, zwischen den "Planern" der Zentralbehörde und den lokalen Behörden, die die Investitionen selbst lenken wollen. Sowohl in den Vereinigten Staaten (in Bezug auf die "GAFA"-Technologieriesen aus dem Silicon Valley) als auch – noch entschiedener – in China (in Bezug auf Ant International, Alibaba usw.) gibt es eine starke Bewegung des zentralen Staatsapparats hin zur Zerschlagung von Unternehmen, die zu groß (und zu mächtig) werden, um sie zu kontrollieren.

17. Die Folgen der rasenden Umweltzerstörung durch den sich zersetzenden Kapitalismus, die Phänomene der Klimaveränderung und der Zerstörung der Artenvielfalt, führen in erster Linie zu einer weiteren Verelendung der am meisten benachteiligten Teile der Weltbevölkerung (Afrika südlich der Sahara und Südasien) oder derjenigen, die Opfer militärischer Konflikte sind. Aber sie betreffen mehr und mehr alle Volkswirtschaften, an ihrer Spitze die entwickelten Länder.

Wir erleben derzeit die Vervielfachung extremer meteorologischer Phänomene, extrem heftige Regenfälle und Überschwemmungen, große Brände, die durch die Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur (Städte, Straßen, Flussanlagen) zu enormen finanziellen Verlusten in Stadt und Land führen. Diese Phänomene stören das Funktionieren des industriellen Produktionsapparates und schwächen auch die Produktivität der Landwirtschaft. Die globale Klimakrise und die daraus resultierende zunehmende Desorganisation des Weltmarktes für Agrarprodukte bedrohen die Ernährungssicherheit vieler Staaten.

Der sich zersetzende Kapitalismus verfügt nicht über die Mittel, um die globale Erwärmung und die ökologische Verwüstung wirklich zu bekämpfen. Diese wirken sich schon jetzt zunehmend negativ auf die Reproduktion des Kapitals aus und können nur ein Hindernis für die Rückkehr zum Wirtschaftswachstum sein.

Getrieben von der Notwendigkeit, veraltete Schwerindustrien und fossile Brennstoffe zu ersetzen, stellt die "grüne Wirtschaft" keinen Ausweg für das Kapital dar, weder auf der ökologischen noch auf der ökonomischen Ebene. Ihre Produktionsnetzwerke sind nicht grüner und nicht weniger umweltschädlich. Das kapitalistische System ist nicht in der Lage, sich auf eine "Grüne Revolution" einzulassen. Das Vorgehen der herrschenden Klasse in diesem Bereich verschärft unweigerlich die zerstörerische wirtschaftliche Konkurrenz und die imperialistischen Rivalitäten. Das Entstehen neuer und potenziell profitabler Sektoren, wie z.B. die Produktion von Elektrofahrzeugen, könnte bestenfalls bestimmten Teilen der stärkeren Volkswirtschaften zugutekommen, aber angesichts der Grenzen zahlungsfähiger Märkte und der zunehmenden Probleme, auf die der immer massivere Einsatz von Geldschöpfung und Verschuldung stößt, werden sie nicht in der Lage sein, als Lokomotive für die Wirtschaft als Ganzes zu fungieren. Die "Grüne Wirtschaft" ist auch ein privilegiertes Mittel mächtiger ideologischer Mystifikationen über die Möglichkeit, den Kapitalismus zu reformieren, und eine erlesene Waffe gegen die Arbeiterklasse, die Werksschließungen und Entlassungen rechtfertigt.

18. Als Reaktion auf die zunehmenden imperialistischen Spannungen erhöhen alle Staaten ihre militärischen Anstrengungen, sowohl in Bezug auf den Umfang als auch auf die Dauer. Die militärische Spirale dehnt sich auf immer mehr "Konfliktzonen" aus, wie z.B. Cyber-Sicherheit und die zunehmende Militarisierung des Weltraums. Alle Atommächte fahren ihre Atomprogramme diskret wieder hoch. Alle Staaten modernisieren und passen ihre Streitkräfte an.

Dieser irrsinnige Rüstungswettlauf, zu dem jeder Staat durch die Gesetze der interimperialistischen Konkurrenz unrettbar verdammt ist, ist umso irrationaler, als das zunehmende Gewicht der Kriegswirtschaft und der Rüstungsproduktion einen beträchtlichen Teil des nationalen Reichtums absorbiert: Diese gigantische Masse an Militärausgaben im Weltmaßstab bedeutet, auch wenn sie eine Profitquelle für die Waffenhändler darstellt, eine Sterilisierung und eine Zerstörung von Teilen des Gesamtkapitals. Die Investitionen, die bei der Produktion und dem Verkauf von Waffen und Rüstungsgütern realisiert werden, bilden keineswegs den Ausgangspunkt oder die Quelle für die Akkumulation neuer Profite: Einmal produzierte oder erworbene Waffen dienen nur dazu, Tod und Zerstörung zu säen oder in Arsenalen ungenutzt herumzustehen, bis sie veraltet sind und ersetzt werden müssen. Die ökonomischen Auswirkungen dieser völlig unproduktiven Ausgaben "werden für das Kapital katastrophal sein. Angesichts bereits unüberschaubarer Haushaltsdefizite ist die massive Erhöhung der Militärausgaben, die das Anwachsen der zwischenimperialistischen Antagonismen notwendig macht, eine wirtschaftliche Belastung, die den Abstieg des Kapitalismus in den Abgrund nur beschleunigen wird" (Report on the International Situation, in International Review 35 [engl./frz./span. Ausgabe]).

19. Nach Jahrzehnten gigantischer Verschuldung gehen die massiven Liquiditätsspritzen, die in den jüngsten Konjunkturprogrammen enthalten sind, weit über das Volumen früherer Interventionen hinaus. Die Milliarden von Dollar, die durch die amerikanischen, europäischen und chinesischen Pläne freigesetzt wurden, haben die Weltverschuldung auf den Rekordwert von 365% des Welt-BIP gebracht.

Die Verschuldung, die vom Kapitalismus während seiner gesamten Epoche der Dekadenz immer wieder als Linderungsmittel für die Krise der Überproduktion eingesetzt wurde, ist eine Maßnahme, um die Dinge auf Kosten noch schwererer Krämpfe in die Zukunft zu verschieben. Sie hat jetzt ein noch nie dagewesenes Ausmaß angenommen. Seit der Großen Depression hat die Bourgeoisie ihre Entschlossenheit gezeigt, ein System, das zunehmend von der Überproduktion und der schwindenden Verfügbarkeit von Märkten bedroht ist, durch immer raffiniertere Mittel der staatlichen Intervention am Leben zu erhalten, die darauf abzielen, eine umfassende Kontrolle über ihre Wirtschaft auszuüben. Aber sie hat keine Möglichkeit, die wirklichen Ursachen der Krise zu bekämpfen. Selbst wenn es keine feste, vorherbestimmte Grenze für die überstürzte Flucht in die Verschuldung gibt, einen Punkt, an dem eine Fortsetzung unmöglich wird, kann diese Politik nicht unbegrenzt weitergehen, ohne schwerwiegende Auswirkungen auf die Stabilität des Systems infolge der Schuldenlast zu haben, wie die immer häufigeren und ausgedehnteren Krisen des letzten Jahrzehnts zeigen – aber auch, weil sich eine solche Politik, zumindest in den letzten vier Jahrzehnten, als immer weniger effektiv bei der Wiederbelebung der Weltwirtschaft erwiesen hat.

Die Schuldenlast verurteilt das kapitalistische System nicht nur zu immer verheerenderen Konvulsionen (Bankrott von Unternehmen und sogar von Staaten, Finanz- und Währungskrisen usw.), sondern kann auch, indem sie den Spielraum der Staaten, die Gesetze des Kapitalismus zu überlisten, immer mehr einschränkt, ihre Fähigkeit zur Wiederbelebung ihrer jeweiligen Volkswirtschaften nur behindern.

Die Krise, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet, wird die schwerste der gesamten Dekadenzperiode werden, und ihre historische Bedeutung wird sogar die erste Krise dieser Epoche, die Krise, die 1929 begann, übertreffen. Nach mehr als 100 Jahren Zuspitzung kapitalistischer Dekadenz,  mit einer Wirtschaft, die durch den Militärsektor verwüstet, durch die Auswirkungen der Umweltzerstörung geschwächt, in ihren Reproduktionsmechanismen durch Verschuldung und staatliche Manipulationen tiefgreifend verändert, der Pandemie zum Opfer gefallen ist und zunehmend unter allen anderen Auswirkungen der Zersetzung leidet, ist es eine Illusion zu glauben, dass es unter diesen Bedingungen eine dauerhafte Erholung der Wirtschaft geben wird.

20. Gleichzeitig sollten Revolutionäre nicht der Versuchung erliegen, in eine "katastrophenhafte" Vision einer Weltwirtschaft am Rande des endgültigen Zusammenbruchs zu verfallen. Die Bourgeoisie wird weiterhin bis zum Tode um das Überleben ihres Systems kämpfen, sei es mit direkten wirtschaftlichen Mitteln (wie der Ausbeutung unerschlossener Ressourcen und potenzieller neuer Märkte, typisch für Chinas Projekt der Neuen Seidenstraße) oder politisch, vor allem durch die Manipulation von Krediten und die Missachtung des Wertgesetzes. Das bedeutet, dass es immer noch Phasen der Stabilisierung zwischen den wirtschaftlichen Erschütterungen mit immer schwerer wiegenden Folgen geben kann.

21. Die Rückkehr zu einer Art "Neo-Keynesianismus", die durch die enormen Ausgabenverpflichtungen der Biden-Administration und Initiativen zur Erhöhung der Unternehmenssteuern eingeleitet wurden – wenngleich auch motiviert durch die Notwendigkeit, die bürgerliche Gesellschaft zusammenzuhalten, und durch die ebenso dringende Notwendigkeit, sich den schärfer werdenden imperialistischen Spannungen zu stellen –, zeigt die Bereitschaft der herrschenden Klasse, mit verschiedenen Formen des Wirtschaftsmanagements zu experimentieren, nicht zuletzt, weil die Mängel der in den Thatcher-Reagan-Jahren eingeführten neoliberalen Politik unter dem Licht der Pandemiekrise stark zutage getreten sind. Allerdings können solche politischen Veränderungen die Weltwirtschaft nicht davor bewahren, zwischen den beiden Gefahren von Inflation und Deflation, neuen Kreditklemmen und Währungskrisen zu schwanken, die alle zu brutalen Rezessionen führen.

22. Die Arbeiterklasse zahlt einen hohen Preis für die Krise. Erstens, weil sie der Pandemie am unmittelbarsten ausgesetzt ist und die Hauptleidtragende der Ansteckungen ist, und zweitens, weil das Absacken der Wirtschaft die schwersten Angriffe seit der Großen Depression auf allen Ebenen der Arbeits- und Lebensbedingungen entfesselt, obgleich nicht alle Teile der Klasse auf die gleiche Art betroffen sein werden.

Die Vernichtung von Arbeitsplätzen war 2020 viermal so groß wie 2009, aber das volle Ausmaß des bevorstehenden massiven Anstiegs der Massenarbeitslosigkeit ist noch nicht bekannt. Obwohl die öffentlichen Subventionen, die in einigen Ländern an Teilarbeitslose ausgezahlt werden, den sozialen Schock abmildern sollen (in den Vereinigten Staaten zum Beispiel ist das Durchschnittseinkommen der Lohnempfänger im ersten Jahr der Pandemie laut offizieller Statistik sogar gestiegen – zum ersten Mal in der Geschichte des Kapitalismus während einer Rezession –, werden Millionen von Arbeitsplätzen sehr bald verschwinden.

Die exponentielle Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und die allgemeine Senkung der Löhne werden zu einem gigantischen Anstieg der Verarmung führen, von der viele Arbeiter bereits betroffen sind. Die Zahl der Hungeropfer in der Welt hat sich verdoppelt und in den westlichen Ländern gibt es wieder Hunger.

Diejenigen, die noch einen Job haben, müssen mit einer höheren Arbeitsbelastung und einer verschärften Ausbeutungsrate rechnen.
Von den Bemühungen der Bourgeoisie, die wirtschaftliche Situation zu "normalisieren", hat die Arbeiterklasse nichts anderes zu erwarten als Entlassungen und Lohnkürzungen, verschärftem Stress und Angst, drastische Erhöhungen der Sparmaßnahmen auf allen Ebenen, im Bildungswesen sowie bei den Gesundheitsrenten und Sozialleistungen. Kurzum, wir werden eine Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf einem Niveau erleben, das keine der Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg bisher erlebt hat. 

23. Da die kapitalistische Produktionsweise in ihre Dekadenz eingetreten ist, wächst der Druck, diesen Niedergang mit staatskapitalistischen Maßnahmen zu bekämpfen. Die Tendenz zur Stärkung der staatskapitalistischen Organe und Formen ist jedoch alles andere als eine Stärkung des Kapitalismus; im Gegenteil, sie sind Ausdruck der zunehmenden Widersprüche auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Mit der Beschleunigung des Zerfalls im Gefolge der Pandemie erleben wir auch eine starke Zunahme der staatskapitalistischen Maßnahmen. Diese sind nicht Ausdruck einer größeren staatlichen Kontrolle über die Gesellschaft, sondern vielmehr Ausdruck der wachsenden Schwierigkeiten, die Gesellschaft als Ganzes zu organisieren und ihre zunehmende Tendenz zur Fragmentierung zu verhindern.

Die Perspektiven für den Klassenkampf

24. Die IKS erkannte Anfang der 90er Jahre, dass der Zusammenbruch des Ostblocks und die endgültige Eröffnung der Zerfallsphase dem Proletariat wachsende Schwierigkeiten bereiten würden: Der Mangel an politischer Perspektive, der schon in den 80er Jahren ein zentrales Element der Schwierigkeiten der Klassenbewegung war, wurde durch die ohrenbetäubenden Kampagnen über den Tod des Kommunismus ernsthaft verschärft; in Verbindung damit wurde das Klassenbewusstsein des Proletariats in der neuen Periode stark geschwächt, sowohl durch die atomisierenden und spaltenden Auswirkungen des gesellschaftlichen Zerfalls als auch durch die bewussten Bemühungen der herrschenden Klasse, diese Auswirkungen durch ideologische Kampagnen (das "Ende der Arbeiterklasse") und die "materiellen" Veränderungen, die durch die Politik der Globalisierung herbeigeführt wurden (Auflösung traditioneller Zentren des Klassenkampfes, Verlagerung von Industrien in Regionen der Welt, in denen die Arbeiterklasse nicht den gleichen Grad an historischer Erfahrung hatte usw.), zu verschärfen.

25. Die IKS neigte dazu, die Tiefe und Dauer dieses Rückzugs im Klassenkampf zu unterschätzen und sah oft Anzeichen dafür, dass der Rückfluss kurz vor der Überwindung stünde und wir bald darauf neue internationale Wellen des Kampfes wie in der Periode nach 1968 erleben würden. Im Jahr 2003 sagte die IKS auf der Grundlage neuer Kämpfe in Frankreich, Österreich und anderswo eine Wiederbelebung der Kämpfe durch eine neue Generation von Proletariern voraus, die weniger von den antikommunistischen Kampagnen beeinflusst worden waren und einer zunehmend unsicheren Zukunft gegenüberstehen würden. In hohem Maße wurden diese Vorhersagen durch die Ereignisse von 2006-2007, insbesondere den Kampf gegen den CPE in Frankreich, und von 2010-2011, insbesondere durch die Indignados-Bewegung in Spanien, bestätigt. Diese Bewegungen zeigten Fortschritte auf der Ebene der Solidarität zwischen den Generationen, der Selbstorganisation durch Versammlungen, der Diskussionskultur, der wirklichen Sorge um die Zukunft der Arbeiterklasse und der Menschheit als Ganzer. In diesem Sinne zeigten sie das Potenzial für eine Vereinigung der wirtschaftlichen und politischen Dimensionen des Klassenkampfes. Es dauerte jedoch lange, bis wir die immensen Schwierigkeiten verstanden, mit denen diese neue Generation konfrontiert war, die unter den Bedingungen der Zerfallserscheinungen "aufgewachsen" war, Schwierigkeiten, die das Proletariat daran hinderten, den Rückzug nach 1989 in dieser Zeit umzukehren.

26. Ein Schlüsselelement in diesen Schwierigkeiten war die fortgesetzte Erosion der Klassenidentität. Dies hatte sich bereits in den Kämpfen von 2010/11 gezeigt, insbesondere in der Bewegung in Spanien: Trotz der wichtigen Fortschritte, die auf der Ebene des Bewusstseins und der Organisation gemacht wurden, sah sich die Mehrheit der Indignados eher als "Bürger*innen" denn als Teil einer Klasse, was sie anfällig für die demokratischen Illusionen machte, mit denen Leute wie Democracia Real (der späteren Podemos) hausieren gingen, und später für das Gift des katalanischen und spanischen Nationalismus. In den nächsten Jahren wurde der Rückfluss, der dieser Bewegungen folgte, durch den raschen Aufstieg des Populismus vertieft, der neue Spaltungen in der internationalen Arbeiterklasse schuf – Spaltungen, die nationale und ethnische Gräben ausschlachtete, angeheizt durch die pogromistischen Einstellungen der populistischen Rechten, aber auch politische Spaltungen zwischen Populismus und Anti-Populismus. Überall auf der Welt wuchsen Wut und Unzufriedenheit, die auf ernsthafter materieller Entbehrung und echten Zukunftsängsten beruhten; aber in Ermangelung einer proletarischen Antwort wurde ein Großteil davon in klassenübergreifende Revolten wie die Gelbwesten in Frankreich kanalisiert, in Kampagnen zu einzelnen Themen auf dem bürgerlichen Terrain wie die Klimaproteste, in Bewegungen für Demokratie gegen Diktatur (Hongkong, Weißrussland, Myanmar usw.) oder in das unentwirrbare Geflecht rassischer und sexueller Identitätspolitik, die dazu dienen, die entscheidende Frage der proletarischen Klassenidentität als einzige Grundlage für eine authentische Antwort auf die Krise der kapitalistischen Produktionsweise weiter zu verschleiern.  Die Ausbreitung dieser Bewegungen – ob sie nun als klassenübergreifende Revolten oder offen bürgerliche Mobilisierungen auftreten – hat nicht nur für die Arbeiterklasse als Ganzes, sondern auch für die kommunistische Linke selbst, für die Organisationen, die die Verantwortung haben, das Klassenterrain zu definieren und zu verteidigen, erhebliche Schwierigkeiten geschaffen.

Ein deutliches Beispiel dafür war die Unfähigkeit der Bordigisten und der IKT zu erkennen, dass die durch den Polizistenmord an George Floyd im Mai 2020 provozierte Wut sofort in bürgerliche Kanäle umgeleitet wurde. Aber auch die IKS ist angesichts dieser oft verwirrenden Vielzahl von Bewegungen auf wichtige Probleme gestoßen und wird im Rahmen ihrer kritischen Bilanz auf die letzten 20 Jahre Art und Ausmaß der Fehler, die wir in der Zeit vom Arabischen Frühling 2011 über die sogenannten Kerzenscheinproteste in Südkorea bis zu diesen neueren Revolten und Mobilisierungen gemacht haben, ernsthaft untersuchen müssen.

27. Insbesondere die Pandemie hat der Arbeiterklasse erhebliche Schwierigkeiten bereitet:

- Die Mehrheit der Arbeiter*innen erkennt die Realität dieser Krankheit und die realen Gefahren, die durch das Zusammenkommen in großer Zahl entstehen, was die Möglichkeit von Vollversammlungen und Arbeiterdemonstrationen verhindert; das Proletariat ist nicht nur mit der Bourgeoisie konfrontiert, sondern auch und in einem unmittelbareren Sinne mit dem Virus. Im Allgemeinen sind Situationen, in denen Naturkatastrophen eine überragende Rolle spielen, für die Entwicklung des Klassenkampfes nicht förderlich. Die Empörung Voltaires gegen die Natur wegen des Erdbebens von Lissabon ließ sich nicht verallgemeinern. Im Gegensatz zum "sozialen Erdbeben" des Massenstreiks von 1905 in Russland brachte das Erdbeben von 1906 in San Francisco die Sache des Proletariats ebenso wenig voran wie das von 1923 in Tokio.
- Wie immer zögert die Bourgeoisie nicht, die Auswirkungen des Zerfalls gegen die Arbeiterklasse einzusetzen. Während die Lockdowns in erster Linie durch die Einsicht der Bourgeoisie motiviert waren, dass sie keine andere Möglichkeit hatte, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, wird sie sicherlich die Situation ausnutzen, um die Atomisierung und die Ausbeutung der Arbeiterklasse durchzusetzen, insbesondere durch das neue Modell des "Homeoffice". Dieser neue Schritt in der Atomisierung der arbeitenden Bevölkerung ist eine Quelle wachsenden psychologischen Leidens, besonders unter der Jugend (mit steigenden Suizidraten).

- Ebenso hat die herrschende Klasse die Bedingungen der Pandemie genutzt, um ihre Systeme der Massenüberwachung zu verstärken und neue repressive Gesetze einzuführen, die Proteste und Demonstrationen einschränken, neben zunehmend offener Polizeigewalt gegen alle Ausdrucksformen sozialer Unzufriedenheit.

- Der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge der Kontakteinschränkungen wird weder in dieser Situation noch kurzfristig ein Faktor für die Vereinheitlichung der Arbeiterkämpfe sein, sondern eher die Atomisierung weiter verstärken.

- Obwohl die Lockdowns eine große soziale Unzufriedenheit hervorgerufen haben, hat diese, wenn sie sich offen geäußert hat wie in Spanien im Februar und in Deutschland im April 2021, überwiegend die Form von Protesten "für individuelle Freiheit" angenommen, die für die Arbeiterklasse eine totale Sackgasse sind.

 - Ganz allgemein hat die Zeit der Pandemie einen weiteren Aufschwung der "Identitätspolitik" erlebt, in der die Unzufriedenheit mit dem Leben unter dem gegenwärtigen System in einen Strudel aufeinanderprallender Identitäten auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht, Kultur usw. aufgesplittert wird, die eine große Bedrohung für die Wiederherstellung der einzigen Identität darstellen, die in der Lage ist, die gesamte Menschheit hinter sich zu vereinen und zu befreien: die proletarische Klassenidentität. Darüber hinaus verbirgt sich hinter diesem Chaos konkurrierender Identitäten, die die gesamte Bevölkerung durchdringen, der Wettbewerb zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen von rechts bis links, der die Gefahr in sich birgt, die Arbeiterklasse in neue Formen des reaktionären "Kulturkampfes" und sogar in einen gewaltsamen Bürgerkrieg zu zerren.

28. Trotz der enormen Probleme, vor denen das Proletariat steht, lehnen wir die Vorstellung ab, dass die Klasse bereits im Weltmaßstab besiegt sei oder kurz vor einer solchen Niederlage stehe, die mit der der Konterrevolution vergleichbar wäre, einer Niederlage, von der sich das Proletariat möglicherweise nicht mehr erholen könne. Das Proletariat als ausgebeutete Klasse kann nicht umhin, durch die Schule der Niederlagen zu gehen, aber die zentrale Frage ist, ob das Proletariat bereits so sehr vom unerbittlichen Vormarsch der Zerfallsphase überwältigt worden ist, dass sein revolutionäres Potenzial effektiv untergraben worden ist. Die Einschätzung einer solchen Niederlage in der Zerfallsphase ist eine weitaus komplexere Aufgabe als in der Periode vor dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Proletariat offen gegen den Kapitalismus erhoben hatte und durch eine Reihe von schweren Niederlagen zerschlagen wurde, oder in der Periode nach 1968, als das Haupthindernis für den Vorstoß der Bourgeoisie in Richtung eines neuen Weltkriegs die Wiederaufnahme des Kampfes durch eine neue und unbesiegte Generation von Proletarisierten war. Wie wir bereits in Erinnerung gerufen haben, birgt die Zerfallsphase in der Tat die Gefahr, dass das Proletariat einfach nicht reagiert und über einen langen Zeitraum hinweg zermahlen wird – eher ein "Tod durch tausend Stiche" als eine frontale Klassenkonfrontation. Demgegenüber behaupten wir, dass es immer noch genügend Beweise gibt, die zeigen, dass trotz des unzweifelhaften "Voranschreitens" der Zerfallsphase, trotz der Tatsache, dass die Zeit nicht mehr zugunsten der Arbeiterklasse läuft, das Potential für eine tiefgreifende proletarische Wiederbelebung – die zu einer Wiedervereinigung zwischen der ökonomischen und der politischen Dimension des Klassenkampfes führt – nicht verschwunden ist. Das zeigt sich anhand:

- des Fortbestehens wichtiger proletarischer Bewegungen, die in der Zerfallsphase (2006-7, 2010-11, etc.) entstanden sind;

- des Umstandes, dass wir vor der Pandemie einige embryonale und sehr zerbrechliche Anzeichen für ein Wiederaufleben des Klassenkampfes sahen, insbesondere in Frankreich 2019.  Und auch wenn diese Dynamik dann durch die Pandemie und die Lockdowns weitgehend blockiert wurde, gab es in mehreren Ländern auch während der Pandemie einige Arbeiterproteste, vor allem zu Fragen der Sicherheit, insbesondere der Hygiene, am Arbeitsplatz.
- Der kleinen, aber bedeutsamen Anzeichen einer unterirdischen Reifung des Bewusstseins, die sich in einem Versuch des globalen Nachdenkens über das Scheitern des Kapitalismus und der Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft in einigen Bewegungen zeigte (insbesondere in derjenigen der Indignados 2011), aber auch durch das Auftauchen von jungen Leuten, die nach Klassenpositionen suchen und sich dem Erbe der Kommunistischen Linken zuwenden.

- Noch wichtiger ist, dass die Situation, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, nicht mehr dieselbe ist wie nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Beginn der Phase des Zerfalls im Jahr 1989. Damals war es möglich, diese Ereignisse als Beweis für den Tod des Kommunismus und den Sieg des Kapitalismus, für den Beginn einer strahlenden Zukunft für die Menschheit darzustellen. Dreißig Jahre Zerfallsphase haben diese ideologische Täuschung einer helleren Zukunft schwer untergraben, und insbesondere die Pandemie hat die Verantwortungslosigkeit und Fahrlässigkeit aller kapitalistischen Regierungen und die Realität einer von tiefen wirtschaftlichen Spaltungen zerrissenen Gesellschaft aufgedeckt, in der wir keineswegs "alle in einem Boot" sitzen. Im Gegenteil, die Pandemie und der Lockdown haben eher den Zustand der Arbeiterklasse offenbart, sowohl als Hauptopfer der Gesundheitskrise, aber auch als Quelle aller Arbeit und aller materieller Produktion, insbesondere zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Dies kann eine der Grundlagen für eine zukünftige Wiederherstellung der Klassenidentität sein. Und zusammen mit der wachsenden Einsicht, dass der Kapitalismus eine völlig überholte Produktionsweise ist, war dies bereits ein Element für das Auftreten der politisierten Minderheiten, deren Motivation vor allem darin bestand, die dramatische Situation der Menschheit zu verstehen.

- Auf einer breiteren historischen Ebene schließlich hat der Prozess des Zerfalls den assoziierten Charakter der Arbeit im Kapitalismus nicht beseitigt. Dies gilt trotz der durch den Zerfall hervorgerufenen gesellschaftlichen Atomisierung, trotz bewusster Versuche, die Arbeitskraft durch Strategien wie die "Gig Economy" zu fragmentieren, trotz ideologischer Kampagnen, die darauf abzielen, die besser ausgebildeten Teile des Proletariats als "Mittelschicht" darzustellen. Das Kapital mobilisiert weltweit immer mehr Arbeiter*innen, der Prozess der Proletarisierung und damit die Ausbeutung der lebendigen Arbeit geht unvermindert weiter. Die Arbeiterklasse ist heute größer und vernetzter denn je, aber mit dem Fortschreiten des Zerfalls verstärkt sich die soziale Atomisierung und Isolierung. Dies drückt sich auch in den Schwierigkeiten der Arbeiterklasse aus, ihre eigene Klassenidentität zu erfahren. Nur durch die Kämpfe der Arbeiterklasse auf ihrem eigenen Klassenterrain ist sie in der Lage, ihre "assoziierte" Macht zu schaffen, die eine Vorwegnahme der assoziierten Arbeit im Kommunismus ausdrückt. Die Arbeiter werden vom Kapital im Produktionsprozess zusammengeführt, die gemeinsame Arbeit wird unter Zwang realisiert, aber der revolutionäre Charakter des Proletariats bedeutet, diese Verhältnisse in einem kollektiven Kampf dialektisch umzukehren. Die Ausbeutung der gemeinsamen Arbeit wird ‚umgedreht‘ im Kampf gegen die Ausbeutung und für die Befreiung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit, für eine Gesellschaft, die es versteht, das volle Potenzial der assoziierten Arbeit bewusst zu nutzen.

In diesem Sinne enthält der Abwehrkampf der Arbeiterklasse den Keim der qualitativ höheren gesellschaftlichen Beziehungen, die das Endziel des Klassenkampfes sind – das, was Marx die "frei assoziierten Produzenten" nannte.  Durch die Assoziation, durch die Zusammenführung aller seiner Bestandteile, Fähigkeiten und Erfahrungen kann das Proletariat mächtig werden, kann es der immer bewusstere und geeintere Kämpfer für und Vorbote einer befreiten Menschheit werden.

29. Trotz der Tendenz, dass der Prozess des Zerfalls auf die Wirtschaftskrise reagiert, bleibt diese auch in der gegenwärtigen Phase der "Verbündete des Proletariats". Wie es die Thesen zum  Zerfall ausdrücken: "Aber darüber hinaus, und das ist das Element, das in letzter Instanz die Entwicklung der Weltlage bestimmt, bildet derselbe Faktor, der sich am Anfang der Entwicklung des Zerfalls befindet, den wesentlichen Ansporn für den Kampf und die Bewußtwerdung der Klasse, die eigentliche Bedingung für ihre Fähigkeit, dem ideologischen Gift der gesellschaftlichen Fäulnis zu widerstehen. Denn auch wenn das Proletariat kein Terrain findet, um die Teilkämpfe gegen die Auswirkungen des Zerfalls zu vereinen, bildet sein Kampf gegen die direkten Auswirkungen der Krise die Grundlage für die Weiterentwicklung seiner Klassenstärke und Einheit.  (...) Dies ist so, weil:

- die ökonmischen Attacken (Lohnsenkungen, Entlassungen, Verschärfung der Arbeitshetze, etc.) im Gegensatz zu den Auswirkungen des Zerfalls (z.B. die Umweltverschmutzung, die Drogensucht, die Unsicherheit usw.), die relativ unterschiedslos alle Gesellschaftsschichten erfassen und einen günstigen Nährboden für klassenübergreifende Kampagnen und Mystifikationen bilden (wie Ökologie, Anti-AKW-Bewegungen, antirassistische Mobilisierungen usw.), direkt aus der Krise herrühren, die ganz spezifisch das Proletariat (das heißt, die Mehrwert produzierende und auf diesem Terrain das Kapital konfrontierende Klasse) betrifft;

- die Wirtschaftskrise im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zerfall, der hauptsächlich den Überbau betrifft, ein Phänomen ist, das direkt die Infrastruktur der Gesellschaft selbst ergreift, auf denen dieser Überbau ruht; daher stellt die Krise die ultimativen Ursachen der gesamten Barbarei bloß, unter der  die Gesellschaft leidet, und ermöglicht somit der Arbeiterklasse, sich der Notwendigkeit einer radikalen Umwälzung dieses Systems bewußt zu werden, ohne zu versuchen, einige Teilaspekte zu verbessern." (These 17)

30. Folglich müssen wir jede Tendenz zurückweisen, die Bedeutung der "defensiven", ökonomischen Kämpfe der Klasse herunterzuspielen, was ein typischer Ausdruck der modernistischen Anschauung ist, die die Klasse nur als eine ausgebeutete Kategorie und nicht gleichermaßen als historische, revolutionäre Kraft sieht. Es ist natürlich richtig, dass der ökonomische Kampf allein die Folgen der Verwesung nicht aufhalten kann: Wie es in den Thesen zum Zerfall heißt: "Um der Bedrohung ein Ende zu machen, die der Zerfall darstellt, reicht der Widerstand der Arbeiter gegen die Folgen der Krise nicht mehr aus: allein die kommunistische Revolution kann solch einer Gefahr beikommen." Aber es ist ein großer Fehler, die ständige, dialektische Wechselwirkung zwischen den ökonomischen und politischen Aspekten des Kampfes aus den Augen zu verlieren, wie Rosa Luxemburg in ihrer Arbeit über den Massenstreik von 1905 betonte; und wiederum in der Hitze der deutschen Revolution von 1918/19, als die "politische" Dimension offen zutage trat, bestand sie darauf, dass das Proletariat immer noch seine ökonomischen Kämpfe als einzige Grundlage für die Organisierung und Vereinigung als Klasse entwickeln müsse. Es wird die Kombination eines erneuerten Verteidigungskampfes auf einem Klassenterrain sein, der auf die objektiven Grenzen der sich zersetzenden bürgerlichen Gesellschaft stößt und durch die Intervention der revolutionären Minderheit befruchtet wird, die es der Arbeiterklasse ermöglichen wird, eine notwendige umfassende proletarische Politisierung zu erreichen – um ihre revolutionäre Perspektive wiederzuerlangen und die Menschheit aus dem Albtraum des sich zersetzenden Kapitalismus herauszuführen.

31. In einer ersten Phase wird die Wiederentdeckung der Klassenidentität und der Kampfbereitschaft der Klasse eine Form des Widerstands gegen die zersetzenden Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls darstellen – ein Bollwerk gegen die weitere Zersplitterung und Spaltung der Arbeiterklasse ihrer selbst. Ohne die Entwicklung des Klassenkampfes neigen solche Phänomene wie die Zerstörung der Umwelt und die Ausbreitung des militärischen Chaos dazu, Gefühle der Ohnmacht und den Rückgriff auf falsche Lösungen wie Ökologismus und Pazifismus zu verstärken. Aber in einem weiter entwickelten Stadium des Kampfes, wenn eine revolutionäre Situation herangereift ist, kann die Realität dieser Bedrohungen für das Überleben der Spezies zu einem Faktor der Einsicht werden, dass der Kapitalismus tatsächlich die Endphase seines Niedergangs erreicht hat und dass die Revolution der einzige Ausweg ist. Insbesondere die Kriegstreiberei des Kapitalismus – vor allem, wenn die Großmächte direkt oder indirekt daran beteiligt sind – kann ein wichtiger Faktor für die Politisierung des Klassenkampfes sein, da sie sowohl eine sehr konkrete Zunahme der Ausbeutung und der physischen Gefahr mit sich bringt als auch eine weitere Bestätigung dafür, dass die Gesellschaft vor der folgenschweren Wahl zwischen Sozialismus und Barbarei steht. Aus Faktoren der Demobilisierung und Verzweiflung können diese Bedrohungen die Entschlossenheit des Proletariats stärken, dieses sterbende System zu beseitigen.

"Auch kann das Proletariat in der Zukunft nicht darauf hoffen, die Schwächung, die der Zerfall in der Bourgeoisie selbst bewirkt, zu seinen Gunsten auszunutzen. In dieser Periode muß es sein Ziel sein, den schädlichen Auswirkungen des Zerfalls in seinen eigenen Reihen zu trotzen, indem es nur auf seine eigenen Kräfte zählt, auf seine Fähigkeit baut, sich kollektiv und solidarisch für die Verteidigung seiner Interessen als ausgebeutete Klasse einzusetzen (selbst wenn die Propaganda der Revolutionäre ständig die Gefahren des Zerfalls unterstreichen muß). Nur in der vorrevolutionären Periode, d.h. wenn das Proletariat zur Offensive übergegangen ist, wenn es sich direkt und offen im Kampf für seine eigenen historische Perspektive engagiert, kann es bestimmte Effekte des Zerfalls, insbesondere den Zerfall der bürgerlichen Ideologie und der Kräfte der kapitalistischen Macht, als Hebel benutzen und gegen das Kapital wenden." (Thesen zum Zerfall)

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Internationale Revue 57