Die FAU unterstützt den Krieg in der Ukraine

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«Direkte Aktion», die Zeitschrift der Freien Arbeiter Union FAU im deutschsprachigen Raum, veröffentlichte im März 2022 die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU zur russischen Invasion in der Ukraine, welche mit den Satz «Keinen Handschlag für den Krieg und alle seine Profiteure – alles für die globale Solidarität» endet.[1]

Lehnt die FAU damit strikt jegliche Parteinahme in diesem Krieg ab und bekämpft sie ihn auch konsequent? Nein, denn die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU enthält eine ganze Serie politischer Positionen, die mit einer internationalistischen Haltung gegen den Krieg ganz und gar nichts zu tun haben. Sie gehen bei genauerem Hinschauen weit über harmlose Konfusionen hinaus und führen geradeaus aufs Terrain der Bourgeoise und in die Hände der Kriegspolitik der herrschenden Klasse. In Wirklichkeit steckt hinter dieser Erklärung die findige Verteidigung der kapitalistischen Demokratie und ihrer typischen Argumente für den Krieg. Anstatt sich vehement und ohne Unterschied gegen alle Lager im Krieg in der Ukraine zu wenden und sie offen zu entblößen, stellt sich die FAU tatsächlich auf die eine Seite, die der Ukraine und ihrer Verbündeten.

Die Erklärung des Internationalen Komitees der FAU ist sehr kurz und einiges ist lediglich angedeutet, so ihre Haltung zur Politik des deutschen Imperialismus gegenüber dem Krieg in der Ukraine, der abstrakte Slogan der FAU nach „globaler Solidarität“. Die FAU scheint auch davon auszugehen, dass „humanitäre Krisen“ im Kapitalismus (welcher als Ganzes nicht anderes als eine permanente humanitäre Katastrophe darstellt!) überwunden werden können. Zentral ist jedoch ihre unter dem Strich demokratische und linksbürgerliche Rechtfertigung des Krieges. Inwieweit alle Teile, Mitglieder oder Sympahisanten der enorm heterogenen anarchosyndikalistischen Bewegung mit dieser Erklärung einverstanden sind, ist unklar, doch wir müssen sie beim Wort nehmen, vor allem weil es kein Artikel eines einzigen Mitglieds ist, sondern die Erklärung eines Komitees, das sich als offizieller Vertreter des Anarchosyndikalismus präsentiert.

Internationalismus

Die Arbeiterbewegung hat eine lange Erfahrung mit dem Krieg und hat ihre schmerzhaften Lehren daraus ziehen müssen. Die entscheidende ist dabei die Position des revolutionären Internationalismus, welcher die einzig gültige Antwort der Arbeiterklasse auf den Krieg sein kann und es in der Geschichte auch konkret war. All dies scheint die FAU nicht zu kennen, geschweige denn verstanden zu haben.

Die zwei zentralen Lehren aus der Konfrontation der Arbeiterbewegung mit dem Krieg seien hier unterstrichen: Im Gegenteil zu den Auffassungen des Pazifismus,  der von einem möglichen Frieden im Kapitalismus ausgeht und gerade angesichts des Ersten Weltkrieges erbärmlich zusammenbrach, ist die Auslöschung des  Krebsgeschwürs des Krieges einzig und allein durch die Überwindung des Kapitalismus als historisch überfälliges, dekadentes und sich heute in einem irrationalen Zerfallsprozess befindliches System möglich. Nicht Friedensverhandlungen und der Waffenstillstand zwischen Kriegsparteien, der nur eine Pause im permanenten Krieg darstellt, nicht Friedensversprechungen linker Regierungen, nicht die militärische Besetzung von Kriegsgebieten durch „Friedenstruppen“ können ein Problem lösen, das dem Kapitalismus immanent ist und sich permanent verstärkt. Auch wenn der Krieg in der Ukraine, wie viele schon zuvor, einmal beendet ist, wird die kriegerische Spirale nicht abbrechen. Nur durch eine weltweite proletarische Revolution ist dies möglich, auch wenn dies weit weg zu scheint. Die Arbeiterklasse musste, nachdem die Russische Revolution von 1917 und die revolutionären Erhebungen in anderen kriegführenden Ländern zeitweilig den Krieg stoppen konnten, die schmerzvolle Lehre „Krieg oder Revolution“ ziehen. Wie Lenin es 1918 formulierte: „Internationalismus bedeutet Bruch mit den eigenen Sozialchauvinisten (d.h. den Vaterlandsverteidigern) und mit der eigenen imperialistischen Regierung, bedeutet revolutionären Kampf gegen diese Regierung, bedeutet ihren Sturz, (...)“[2]. “Es gibt nur einen wirklichen Internationalismus: die hingebungsvolle Arbeit an der Entwicklung der revolutionären Bewegung und des revolutionären Kampfes im eigenen Lande, die Unterstützung (durch Propaganda, durch moralische und materielle Hilfe) eben eines solchen Kampfes, eben einer solchen Linie und nur einer solchen allein in ausnahmslos allen Ländern.”[3]

Der Internationalismus besteht nicht lediglich aus einer Ablehnung des Krieges, sondern geht davon aus, dass nur eine Kraft in der Gesellschaft, nur der Klassenkampf des Proletariats, das Potential hat dem Krieg zu stoppen und zu beseitigen. Ein Kampf der Arbeiterklasse,  der in allen Ländern denselben Charakter hat und der sich auch international zusammenschliessen muss. Der Pazifismus, die Friedensbewegungen, Aufrufe zur Verweigerung sind nicht Ausdruck eines revolutionären Kampfes und auch nicht ein „erster Schritt in die richtige Richtung“. Im Gegenteil verdecken sie die Tatsache, dass der Kampf gegen den Krieg zwischen den zweit zentralen Klassen in der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, ausgefochten wird. Sie sind ein Schmelztiegel aller Art von demokratischen Illusionen. Deshalb stützt sich eine internationalistische Haltung auf den Kassenkampf des Proletariats und auf nichts anderes.

Diese Pfeiler des Internationalismus waren die wichtigsten Streitpunkte auf den Konferenzen von Zimmerwald 1915 und Kienthal 1916 gegen den Krieg. Nicht die offenen Kriegsbefürworter waren die grösste Gefahr für die Arbeiterklasse, sondern die verdeckten, jene die sich in eine Arbeiter-Terminologie hüllten, den Krieg vordergründig ablehnten aber schwer zu durchschauen waren. Das gilt auch heute noch. Die FAU hätte mit ihrer schnell sichtbaren Unterstützung für die eine Seite im Krieg in der Ukraine nicht einmal in diesen Reihen der Schein-Internationalisten einen Platz gefunden!     

„Freiheitsrechte“

„Die militärische Aggression der russischen Regierung fordert aktuell Tote und Verletzte, zerstörte Städte, Gemeinschaften und Existenzen, sie verfolgt die Macht und Wirtschaftsinteressen weniger, bezahlt mit dem Blut und dem Leben von Tausenden. Langfristig droht sie die – auch heute schon begrenzten – Freiheitsrechte der ukrainischen Bevölkerung völlig zugunsten der politischen Diktatur auszulöschen“. Von welchen „Freiheitsrechten“ spricht die FAU, welche der ukrainische Staat der Arbeiterklasse offenbar noch teilweise garantiert? Die Arbeiterklasse in der Ukraine wird auf genauso rücksichtslose Weise wie in Russland vom "ihrem" kapitalistischen Staat, an dessen Spitze heute die Selensky-Regierung steht, als Kanonenfutter an die Front gezwungen und als Schutzschild verwendet. Alles unter Androhungen, Repression und dem strikten Verbot das Land zu verlassen. Beide Seiten in diesem Krieg zeichnen sich unterschiedslos durch militärische Brutalität in unvorstellbarer Dimension aus. Anstatt den rücksichtslosen Charakter der beiden Regime – in Russland unter Putins Clique als auch in der Ukraine unter dem vom «Komiker» zum Militärchef mutierten Selenksy – an den Pranger zu stellen und zu betonen, dass die Arbeiterklasse keine der beiden Seiten zu verteidigen sondern zu bekämpfen hat, verharmlost die FAU die wirkliche Lage, indem sie von der Gefahr eines Verlusts von bestehenden "Freiheitsrechten" der ukrainischen Bevölkerung spricht. Für die FAU ein erstes Argument die ukrainische Demokratie zu verteidigen. Ist das nicht blanker Hohn?

Wenn der Krieg immer den Charakter des kapitalistischen Staates und seine Politik gegenüber der Arbeiterklasse offen zutage bringt, entlarvt er auch die speziell auf das Proletariat gezielten Lügen und Vernebelungsmanöver der Politik des Staatskapitalismus, wie „demokratische Wahlen auch in Kriegszeiten“ oder „Gewerkschaftsfreiheit auch in Kriegszeiten“. Letzteres wird speziell von anarchosyndikalisten Organisationen für ihre sogenannte „transnationale und basisdemokratische Gewerkschaftsbewegung“ als wunderbares Geschenk für die Arbeiterklasse betrachtet. Gewerkschaften, gleichfalls wie der Parlamentarismus,  mit dem sie Hand in Hand gehen, sind zentrale und unverzichtbare Aspekte der bürgerlichen Demokratie, der intelligentesten Form der Diktatur des Kapitalismus. Im Staat mitbestimmen und damit angeblich die Freiheit und Gerechtigkeit der Demokratie für die Arbeiterklasse zu erreichen. All dies reiht sich  gegenwärtig direkt in die Kriegspropaganda des ukrainischen Staates und ihrer Verbündeten wie der USA ein, denn diese basiert im gegenwärtigen Krieg gezielt auf dieser hochgelobten „Verteidigung der Demokratie“. Die Gewerkschaften in der Ukraine, von links nach rechts, sind Teil der Kriegsanstrengungen, um eine noch möglichst kriegsfähige Industrie aufrechtzuerhalten und ihre routinierte Kontrollfunktion innerhalb der Arbeiterklasse auszuüben.

Das unterschiedslos brutale, kaltblütige aber einfacher durchschaubare kapitalistische Regime in Russland unter der Fuchtel der Putin-Regierung versucht den Krieg als „Entnazifizierung“ zu verkaufen. Der russische Staat stellt seine Kriegspropaganda aus historischen Gründen (Krieg zwischen Russland und Deutschland zwischen 1942-45) ähnlich auf den Boden der angeblichen Verteidigung der „Freiheitsrechte" gegen den Faschismus. Der Antifaschismus war gerade im Zweiten Weltkrieg im Vergleich zum unverblümt blutdürstigen Faschismus die siegreiche Ideologie, um die Arbeiterklasse auf die Schlachtbank zu zwingen, geschickt eingesetzt vom Stalinismus sowie den Alliierten. Der Mythos der “Freiheitsrechte” kennt viele couleurs.

Die Erklärung der FAU unterscheidet mit ihrer Messlatte der „Freiheitsrechte“ zwischen (aus der Sicht der Arbeiterklasse wie sie wohl meinen) unterschiedlichen Staaten: die Ukraine als das mit deutlichem Abstand „kleinere Übel“ als Russland. Demokratische Freiheitsrechte sollen diesen Unterschied ausmachen, die es laut FAU durch die Einreihung in die Verteidigung der Ukraine aufrecht zu erhalten gilt. Im dekadenten Kapitalismus jedoch gibt es gegenüber der Arbeiterklasse keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klasse, sei es auf nationaler Ebene sowie auch international. Was sie unterscheidet ist vor allem die Ideologie, hinter der sie ihre Ziele verstecken, sei es demokratisch, mit offenem Nationalismus oder populistischer Propaganda.      

Lassen wir darauf gerade die KRAS (Konföderation Revolutionärer Anarcho-Syndikalisten), eine anarcho-syndikalistische internationalistische Gruppe aus Russland eine Antwort geben, welche, ganz im Gegenteil zur FAU, in einer eigenen Stellungnahme gegen den Krieg in der Ukraine bewusst beide Seiten gleichsam denunziert und bekämpft: „Die herrschenden Eliten Russlands und der Ukraine, angestiftet und provoziert vom Weltkapital, gierig nach Macht und aufgebläht mit den Milliarden, die dem arbeitenden Volk gestohlen wurden, haben sich zu einem tödlichen Kampf zusammengefunden. Ihr Durst nach Profit und Herrschaft wird nun von gewöhnlichen Menschen - genau wie uns - mit Blut bezahlt. (...) Welche "humanistische", nationalistische, militaristische, historische oder sonstige Rhetorik den aktuellen Konflikt auch immer rechtfertigen mag, dahinter stehen nur die Interessen derjenigen, die politische, wirtschaftliche und militärische Macht haben. Für uns, die Werktätigen, Rentner und Studenten, bringt er nur Leid, Blut und Tod. Die Bombardierung friedlicher Städte, die Beschießung, das Töten von Menschen sind durch nichts zu rechtfertigen. (...)Wir rufen die Menschen im Hinterland auf beiden Seiten der Front, die Werktätigen Russlands und der Ukraine, dazu auf, diesen Krieg nicht zu unterstützen, ihm nicht zu helfen - im Gegenteil, ihm mit aller Kraft zu widerstehen![4]

Trotz Bedenken... vor allem Applaus an die Bourgeoisie der USA und der EU

Dass sich die FAU auf dem Terrain der Bourgeoise befindet, ist keinesfalls übertrieben. Was finden wir als nächstes in der Erklärung? „Auch wenn wir den aktuellen Druck gegen die russische Regierung und Banken begrüßen, halten wir die moralische Entrüstung der NATO-Staaten und der EU vor dem Hintergrund ihrer eigenen imperialistischen Politik für wenig glaubwürdig. Wir denken dabei beispielsweise an die Angriffskriege der türkischen Regierung auf Armenien, den Nord-Irak, Nord-Ost-Syrien, wir sprechen von der mangelnden Unterstützung für die Aufstände in Belarus oder Hongkong, wir sprechen von der mangelnden Unterstützung für die WiderständlerInnen in Sudan und Myanmar. Entschieden wenden wir uns gegen jeglichen Imperialismus.“ Die FAU „begrüsst“ die Politik der einen Seite im Krieg gegen die andere - klare Worte! Der Druck von Seiten der USA und Staaten der EU (alle selbstverständlich mit unterschiedlichen Zielen, Engagement und gegenseitigen Spannungen) besteht aus wirtschaftlichen Sanktionen, unter denen die Zivilbevölkerung leidet, Waffenlieferungen, Ausbildung der ukrainischen Armee und vielem mehr..... also nackte Kriegsführung. Diesen „Druck“ zu begrüssen, wie es die FAU macht, steht komplett im Widerspruch zu einer internationalistischen Haltung gegen den Krieg.

Was steckt hinter der fatalen Logik der FAU? Einerseits, wie schon oben beschrieben, ist sie direkt Resultat der Auffassung, dass die Arbeiterklasse dem demokratischen Kapitalismus Vorzug geben soll. Vor allem aber begründet die FAU ihr Schulterklopfen für die Politik der USA und von EU-Staaten damit, dass Russland militärisch die Grenze überschritten hat und der Angreifer in die Schranken gewiesen werden muss. Auch ausserhalb des Krieges in der Ukraine beschwert sich die FAU über die "mangelnde Unterstützung" für demokratische Bewegungen gegen einen militärischen Angreifer. Offenbar ersehnt sich die FAU eine solche Unterstützung und einen härteren Gang, der im Krieg immer zentral auf militärischer Ebene stattfindet, von den USA und Staaten der EU gegen den türkischen Angreifer. Welche Kriegspartei als erste die Grenze überschreitet, ist für die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Oragnisationen bezüglich ihrer Haltung gegenüber dem Krieg nicht bestimmend. Der Krieg ist im Kapitalismus Permanenz, Alltag und allgemeine Lebensform geworden und trägt als Ganzes einen imperialistischen Charakter. Jeder Staat, ob klein oder riesig, hat als fester Bestandteil dieser mörderischen Dynamik einen imperialistischen Charakter und betreibt eine Politik nach diesen Gesetzmässigkeiten. Hinter dem Vorgehen, Kriegsparteien in Angreifer und Verteidiger zu unterscheiden, so wie wir es in der Erklärung vorfinden, lauert unverblümt die  Rechtfertigung des “Verteidigungskrieges”.

Auf beiden Seiten gegen den Krieg kämpfen... oder nicht?

Wenn die FAU dazu aufruft, „den mutigen Anti-KriegsdemonstrantInnen in Russland und Belarus alle erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen“, so bleibt die andere Seite im Krieg ungeschoren. Lediglich auf der Ebene der Desertionen („unterstützt DeserteurInnen beider Seiten“) scheint die FAU mit dem ukrainischen Staat nicht vollkommen einverstanden zu sein. Eine internationalistische Positionen verteidigt den Standpunkt, dass sich die Arbeiterklasse dem imperialistischen Krieg in allen Ländern unter denselben grundsätzlichen Prinzipien entgegenstellen muss, Prinzipien, die unabhängig sind von den Kräften, über die sie für einen solchen Kampf verfügt. Dies bedeutet nicht, die Lage in den am Krieg beteiligten Ländern ausser Acht zu lassen, mit der Illusion, durch einen radikalen Aufruf die Klasse zu einem mächtigen Widerstand gegen den Krieg mobilisieren zu können.    

Es gibt tatsächlich einen Unterschied zwischen der Situation der Arbeiterklasse in der Ukraine und in Russland. In der Ukraine kann die Arbeiterklasse bislang durch die Bourgeoisie erfolgreich mittels der nationalistischen Propaganda der Vaterlandsverteidigung (begleitend aber auch durch das Verbot für Wehrpflichtige das Land zu verlassen) in den Krieg mobilisiert werden und hat ideologisch eine fatale Niederlage erlitten. Die russische Bourgeoise hingegen muss mit grösster Vorsicht perspektivlose Männer aus armen Regionen als Kanonenfutter mobilisieren, dies obwohl bisher keine proletarische Reaktionen gegen den Krieg in Russland sichtbar wurden. Wir gehen davon aus, dass in der gegenwärtigen Situation in der Ukraine aber auch in Russland, obwohl die Situation nicht identisch ist, isoliert keine Reaktion der Arbeiterklasse gegen den Krieg zu erwarten ist. Diese muss sich wenn schon in den westeuropäischen Ländern, in denen das Proletariat eine grosse, zwar noch beschränkte Abneigung gegen diesen Krieg als Ganzes hat, zeigen. Das Proletariat in Westeuropa befindet sich nicht in derselben Lage, da es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr auf breiter Ebene in einen Krieg mobilisiert werden konnte und somit, verbunden mit den weitreichendsten historischen Erfahrungen, eine zentrale Verantwortung im Kampf gegen den Krieg hat. Es ist die Entwicklung des Klassenkampfes in Westeuropa gegen die fatalen Auswirkungen des Krieges auf das Proletariat, welche für einen Widerstand der Arbeiterklasse in der Ukraine und Russland eine Perspektive bieten kann. 

Das Schweigen der FAU über einen notwendigen Widerstand der Arbeiterklasse in der Ukraine gegen den Krieg stützt sich jedoch nicht auf eine wirkliche Analyse was für das Proletariat momentan “möglich” ist, sondern auf ihrer Entscheidung, welcher Bourgeoisie der Rücken freigehalten werden soll. Obwohl komplett unbedeutend im Vergleich zur deutschen Sozialdemokratie zur Zeit des Ersten Weltkriegs, verkörpert die FAU grundsätzlich dieselbe Methode: Die deutsche Sozialdemokratie vertrat die absurde und nationalistische  Position, dass ein militärischer Sieg Deutschlands die Situation in Deutschland stabil halten werde und damit die Basis für Vorteile und Sicherheit für die deutsche Arbeiterklasse garantiert würden. Schlussfolgerung: Arbeiter zieht in den Krieg! Es scheint, dass sich die FAU von einem Schweigen der Arbeiterklasse in der Ukraine gegenüber “ihrer” genauso kriegsbesessenen Regierung den Vorteil und die Sicherheit der “Freiheitsrechte” verspricht. Stillhalte-Politik ist Unterstützung des Krieges.

Desertionen, mit denen sich die FAU (eben ausnahmsweise einmal für beide Kriegslager gültig!) solidarisch erklärt, sind eine Reaktion der Verzweiflung an der blutigen Kriegsfront. Wenn Desertionen eine verständliche Reaktion auf die Brutalität des Krieges und den unter Drohung der Exekution stattfindenden Zwang sich als Kanonenfutter hinzugeben sind, so bleiben sie immer zum individuellen Akt verdammt, zur Flucht, zum sich verstecken, zum gejagt sein, zur permanenten Angst verraten zu werden oder auch nach Beedigung des Krieges den Stempel des “Vaterlandsverräters” zu behalten. Die Arbeiterklasse kann sich dem Krieg nur kollektiv entgegenstellen, vor allem durch den Klassenkampf hinter den Fronten, in den Betrieben. Die Erfahrungen gerade aus dem Ersten Weltkrieg haben gezeigt, dass nur dies einer Reaktion der Soldaten an der Front gegen den Krieg eine Perspektive geben kann. Doch gerade auch dort ist es das kollektive Niederlegen der Waffen, welches der gewichtige Schritt ist, um der Bourgeoisie entgegenzutreten und damit das traurige Schicksal der individuellen Deserteure zu vermeiden.

Es ist kein Zufall, dass die FAU nur die Frage der Desertionen aufgreift. Das Insistieren auf eine kollektive Reaktion der zwangsmobilisierten Arbeiter in Uniform (auch wenn sie heute in Russland und der Ukraine nicht möglich ist) ist ihrer Methode allzu fern. Die Position der FAU ist auch typisch für viele Organisationen und Strömungen, die vom Anarchismus geprägt sind, der, mit wenigen Ausnahmen, die individuelle Rebellion immer im Zentrum hatte.

„Selbstverteidigungseinheiten“

Die gravierendste Forderung in der  Erklärung der FAU ist diejenige nach Selbstverteidigungseinheiten: „Im jetzigen Angriffskrieg gegen die ukrainische Bevölkerung rufen wir euch auf: Organisiert Wohnungen, Arbeitsstellen, Behörden-Unterstützung und Fahrdienste für die Geflüchteten aus der Ukraine, spendet Geld, Medikamente, Schutzausrüstungen wie Helme und Schutzwesten an linke Selbstverteidigungs- und Sanitätseinheiten, unterstützt DeserteurInnen beider Seiten, (...)”. Die Erklärung appelliert an die Arbeitersolidarität, um unter anderem “Selbstverteidigungseinheiten” zu unterstützen. Das Leid der Zivilbevölkerung in der Ukraine durch den tobenden Krieg ist grenzenlos, und nur die Flucht von Millionen konnte viele vor dem Tod durch die Bomben beider Kriegsparteien bewahren. Solidarität aus den Reihen der Arbeiterklasse für Flüchtlinge war immer – so zum Beispiel im Zeiten Weltkrieg - ein Ausdruck der Abneigung innerhalb der Arbeiterklasse gegen den Krieg, auch wenn sie nicht einmal in Ansätzen fähig war, sich als Klasse gegen den Krieg zu stemmen. Das Solidaritätsgefühl innnerhalb der Arbeiterklasse für Kriegsopfer kann aber von der herrschenden Klasse leicht missbraucht werden. Heute ist es die Aufopferung vieler Arbeiterfamilien in Westeuropa, welche als Stütze für die Politik und Strategie der westeuropäischen Bourgeoise ausgenutzt wird: “Deutschland hilft den Kriegsopfern”, doch in Tat und Wahrheit hilft ihnen die Arbeiterklasse... und der Staat liefert Waffen!

In der Erklärung der FAU geforderte „Selbstverteidigungseinheiten“, demnach mit Waffen ausgerüstete Gruppen, sind und waren nie etwas anderes als Teil des Krieges. Es gibt schon seit kurz nach Kriegsausbruch im Februar 2022 anarchistische bewaffnete Gruppen, welche offen mit der ukrainischen Armee zusammenarbeiten oder mittlerweile direkt Teil davon geworden sind. Makaber, dass dies auch auf der russischen Kriegsseite existiert. Die KRAS hat solche Absurditäten aufs Schärfste denunziert. Ob die Erklärung der FAU hier eine Naivität, eine Phantasie, oder was auch immer ausdrückt, „Selbstverteidigungseinheiten“, auch wenn sie als im Interesse der Leidenden dargestellt werden, fügen sich direkt in die militärische Barbarei der Bourgeoisie ein. Dies wäre nicht anders in Russland, wenn der Krieg auch auf das Terrain Russlands übergreifen würde. Jede Kriegspartei baut darauf, solche zivile Mobilisierungen des “Selbstschutzes”, also Bürgerwehren im Krieg, in ihre Strategie einbauen zu können. Zur nationalen Kriegsmobilisierung sind sie unabdingbarer Teil, Verbindungsglied zwischen der Zivilbevölkerung und der Armee.

Wir übertreiben nicht, wenn wir die Erklärung der FAU als Unterstützung des Krieges bezeichnen. In einem von der FAU gemachten, publizierten und nicht mit einer Silbe kritisierten Interview mit einem ukrainischen Gewerkschafter fordert dieser: „Ich möchte alle auffordern, die Ukraine zu unterstützen, ukrainische Flüchtlinge und ukrainische MigrantInnen zu unterstützen und allen in der Ukraine zu helfen.“ Man kann die tragische Logik, welche nichts mit einer internationalistischen Haltung zu tun hat, kaum klarer ausdrücken. Offenbar stört der Aufruf das eine Kriegslager zu unterstützen die FAU nicht.

Mario, 13.11.2022


[2]„Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“, Oktober 1918, Lenin, Werke, Bd. 28

[3]“Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution”, April 1917, Lenin, Werke, Bd. 24

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Krieg in der Ukraine