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Schon in unseren Berichten zur nationalen Lage vor der Pandemie haben wir auf die Stärke der deutschen Wirtschaft, die sich entgegen dem Trend der Weltwirtschaft bislang auch in der Periode des Zerfalls behaupten konnte[1], als auch auf die Schwächen dieser besonderen Entwicklung und Stellung hingewiesen. Bereits die Pandemie und der wachsende Druck des Zerfalls auch auf die deutsche Bourgeoisie hat neben den politischen Folgen (siehe unsere Artikel dazu) insbesondere auf der ökonomischen Ebene diese spezifische Stärke ins Wanken gebracht. Mit der Auslösung des Krieges in der Ukraine potenzieren sich die ökonomischen Schlachtfelder für die deutsche Bourgeoisie. Die spezielle Beziehung zu Russland ist nachhaltig zerstört, die ökonomisch zentralen Beziehungen zu den USA bzw. zu China ein Minenfeld. In diesem Artikel wollen wir einige dieser Schlachtfelder und Minenfelder aufzeigen, jedoch hauptsächlich betonen, dass mit der Vielzahl von Herausforderungen und Instabilitäten die deutsche Wirtschaft besonders stark betroffen ist und sein wird. Somit reiht sich Deutschland in die allgemeine Tendenz ein, die durch eine Verschärfung der Gegensätze und die wachsende Gefahr der Kettenreaktionen geprägt ist.[2] Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Periode des scheinbar „sicheren Hafens“ von Wohlstand und Stabilität, der natürlich schon immer für große Teile der Arbeiterklasse in Wirklichkeit für Arbeitsverdichtung auf der einen und Verarmung auf der anderen Seite oder auch für beides, stand, bald der Vergangenheit angehört. Wir sollten uns auch in Deutschland auf einen kommenden Sturm vorbereiten, der die beiden Hauptklassen des Kapitalismus, die Bourgeoisie und die Arbeiterklasse, deutlicher und offener in Konflikt bringen wird.
Der Krieg als Zäsur
Der Ukrainekrieg ist für Deutschland in vielerlei Hinsicht eine tiefgreifende Zäsur, oder wie Bundeskanzler Scholz es bezeichnete: eine Zeitenwende. Tatsächlich ist Deutschland durch die Rückkehr des Kriegs auf europäischen Boden auf verschiedenen Ebenen mit am heftigsten betroffen. Auf militärischer und ökonomischer Ebene sind die Einschnitte am tiefsten. Die Veränderungen auf militärischer Ebene haben wir in dem vorherigen Artikel behandelt.[3] In diesem Artikel möchten wir uns auf die ökonomischen Auswirkungen konzentrieren. Die ökonomischen Folgen treffen auf kein bis dahin krisenfreies, von den Zuspitzungen der ökonomischen Interessenskonflikte verschontes Land. Im Gegenteil: Die schwerwiegenden Konsequenzen des Krieges stellen eine qualitative Verschärfung einer Kette von sich zuspitzenden Widersprüchen dar. Sie erschüttern ein Land, welches seit Jahren tiefgründig von einer strukturellen Krise unterminiert wurde, die jahrelang durch die Vorteile, die Deutschland aus der besonderen Beziehung zu Russland (Energie- und Rohstoffabkommen) und China (Produktionsstandort und Hauptabnehmer für deutsche Industriegüter) ziehen konnte, überdeckt wurden. Wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass Deutschland bis in die 2000er hinein als „Gewinner“ der weltweiten Zuspitzung des Zerfalls angesehen werden konnte. Diese besondere ökonomische Position wird nun in der Zwickmühle der zunehmenden imperialistischen, ökonomischen, ökologischen und sozialen Zuspitzungen, die die aktuelle Phase des Zerfalls ausmachen,[4] pulverisiert.
Eine astronomische Anhäufung des Schuldenbergs
1. Corona und Schulden
Ähnlich wie alle anderen Staaten auf der Welt hat auch die deutsche Wirtschaft seit Jahren einen massiven Schuldenberg angehäuft, der durch die staatlichen Interventionen nach 2008 noch rasanter angeschwollen ist. Mit der Ausbreitung der Corona-Pandemie trat das deutsche Kapital eine Art Flucht nach vorne an, indem es ein Rettungspaket nach dem anderen verabschiedete. Zwar hatte man sich anfangs wie viele anderen Staaten auf der Jagd nach medizinischem Gerät und Ausrüstung zu einem Exportstopp solcher Produkte hinreißen lassen, frei nach dem Motto „jeder für sich“, aber in einer weiteren Phase wurden in Abstimmung mit der EU die bis dahin größten Rettungspakete gemeinsam verabschiedet (650 Mrd. EU). Bei dem Gießkannenverfahren erhielten selbst vorher schon insolvenzbedrohte Kaufhäuser wie Karstadt und Galeria Kaufhof (vergebliche) staatliche Finanzspritzen. Die Rechnung für diese Rettungsoperationen aus der Pandemiezeit wird der Arbeiterklasse noch aufgebrummt werden.
2. Umweltzerstörung und Schulden
Hinzu kommen die immer weiter ausufernden Kosten der Zerstörung der Umwelt. Allein die Flutkatastrophe an der Ahr im Juli 2021 hinterließ 8,5 Mrd. Euro Versicherungsschäden, und der Bund musste kurz danach das höchste je in der Bundesrepublik aufgelegte Hilfspaket nach einer Flut beschließen: 30 Milliarden Euro. Die 2022 durch die Hitzewelle aufgetretenen Ernteausfälle und Waldbrandschäden reißen weitere Löcher in die Haushalte. Dabei stehen wir erst am Anfang dieser Lawine von Wetterextremen, die auf der ganzen Welt astronomische Kosten verursachen.
Vor dem Krieg hatten sich schon diese Faktoren angehäuft (alter Schuldenberg, Pandemie-Rettungspakete, Zinsklemme, internationaler Konkurrenzkampf und staatliche Finanzspritzen). Mit dem Krieg wurde eine neue Schwelle überschritten. Der Rechnungshof-Präsident bringt es drastisch auf den Punkt: "In 70 Jahren Bundesrepublik hat der Bund einen Schuldenberg von 1,3 Billionen Euro angehäuft. In nur drei Jahren - 2020 bis 2022 - steigt der Berg um sagenhafte 800 Milliarden Euro auf dann über zwei Billionen Euro"[5]
3. Ukrainekrieg und Schulden
Als der Ukrainekrieg im Februar 2022 ausgelöst wurde, beschloss die Ampelkoalition innerhalb kürzester Zeit eine Verdoppelung des Rüstungshaushaltes, d.h. um 100 Mrd. Euro. Mittlerweile fordert man offen und direkt, die Bundeswehr soll sich auf Angriffe „ohne Vorwarnung“ und „mit großer, gegebenenfalls sogar existenzieller Schadenswirkung“ vorbereiten und dabei in Europa als „Führungsnation“ auftreten. Damit sollen 2023 rund 50,1 Milliarden Euro aus dem regulären Etat zuzüglich 8,4 Milliarden Euro aus dem 100 Milliarden Euro schweren Sonderprogramm für die Armee locker gemacht werden. Der Rüstungswettlauf und die Erneuerung und Erweiterung vieler Waffensysteme hat jetzt erst eingesetzt, aber die Kosten dafür werden auch der Arbeiterklasse aufgehalst werden.
4. Schulden und die Rückkehr der „explodierenden“ Inflation
Mit dem Krieg explodierten die Energiepreise, mit den Energiepreisen die Lebensmittelpreise, mit den Lebensmittelpreisen ging eine allgemeine Erhöhung der Preise einher. Mittlerweile wurden die höchsten Preissteigerungsraten seit 70 Jahren (d.h. seit Anfang der 1950er Jahre) registriert. Diese Preisspirale trifft auf die tieferliegende inflationäre Tendenz in der Periode des Kapitalismus in der Dekadenz, „sie drückt sich in steigenden Preisen aus, ist aber die Folge des Gewichts der unproduktiven Ausgaben in der Gesellschaft, deren Kosten sich auf die produzierten Güter auswirken“ und „ein weiterer Faktor der Inflation ist das Ergebnis der Geldentwertung, die mit der unkontrollierten Ausweitung der weltweiten Verschuldung einhergeht, die sich heute 260 % der Weltproduktion nähert.“[6]
Die Rückkehr der Preisspirale im Herzen Europas ist ein Zeichen für die wachsende Schwäche der deutschen Bourgeoisie. Bisher hatte sie versucht, diese auf die Ränder der EU zu beschränken. Auch wenn sie die Arbeiterklasse treffen, sind sie kein gezielter Angriff auf die Arbeiterklasse, wie die zahllosen Versuche, die Kosten abzumildern (Energiepauschale, Preisdeckel, etc.) zeigen. Gleichzeitig trifft die Preisspirale die produzierende Industrie und erhöht den Wettbewerbsdruck auf die deutsche Industrie massiv, was wiederum durch staatliche Subventionen beantwortet wird.
Das deutsche Kapital - in der Mangel von USA und China
1. Subventionskrieg mit den USA
Begünstigt durch die Tatsache, dass die Verschuldungspolitik bis zu diesem Wendepunkt noch durch eine lange Phase der Niedrigzinsen (gar Null- und Negativzinsen) gewissermaßen noch verlockender gemacht worden, griff der Staat mit riesigen zinsgünstigen finanziellen Zuwendungen der Wirtschaft unter die Arme, um im internationalen Konkurrenzkampf mithalten zu können. Aufwendige Modernisierungsinvestitionen zur Förderung der Abwehrkraft gegen chinesische Konkurrenz wurden in neue Fabriken gesteckt, während man gleichzeitig seit Jahren bei der Infrastruktur (Bahn, Straßen, Brücken, Datenverkehr), der Verwaltung, im Erziehungswesen oder Gesundheitswesen den Rotstift angesetzt hatte, so dass in vielen Schulen keine oder nur völlig unzureichende Internetstrukturen und Geräte vorhanden waren, die Internetversorgung in ganzen Regionen sträflich unterentwickelt war und die Verhältnisse sich im Gesundheitswesen radikal verschlechterten.
Das Herz der deutschen Industrie ist nach wie vor wettbewerbsfähig[7], sogar marktführend geblieben. Somit ist Deutschland eines der wenigen EU-Länder, das sein verarbeitendes Gewerbe in den vergangenen Jahrzehnten halten konnte. Das staatskapitalistische Instrumentarium z.B. der Hermes-Kredite für Exporte und Investitionsgarantien hat deutschen Unternehmen geholfen, neue Märkte zu erschließen und der Konkurrenz besser standzuhalten. Aber die neuen Schlachtfelder um die Halbleiterindustrie oder die Batterieproduktion (ganz zu schweigen von den höchst spekulativen Projekten der Wasserstoffproduktion) sind ohne staatliche Hilfen nicht denkbar. Hier steht Deutschland in unmittelbarer Konkurrenz mit der klar imperialistisch ausgerichteten Investitionspolitik des chinesischen und US-amerikanischen Kapitals (die ersteren offen staatlich-militärisch, die letzteren in dieser verdeckt militärisch-privaten Zwitterform, die die Unternehmen des Silicon-Valley ausmachen). Deutschland hat beispielsweise angekündigt, in den folgenden Jahren bis zu 15 Milliarden Euro für die Förderung der Mikroelektronikbranche zur Verfügung zu stellen, doch das erste Investitionsvorhaben in Magdeburg mit 2,7 Mrd. Euro wird der US-amerikanische Hersteller Intel erhalten.[8]
2. Aber all das treibt die Schuldenspirale weiter voran
Hinzu kommt, dass die USA gezielt sowohl Investitionsprogramme auflegen, um die Re-Industrialisierung der USA zu fördern (eine von Obama über Trump zu Biden ungebrochene Politik des „Make America Great Again“) als auch Sanktionsprogramme einsetzt, um ihre ökonomische Stellung gegenüber der europäischen Wirtschaftskraft (und in ihrem Zentrum Deutschland) zu stärken. US-Investitionsprogramme versprechen deutlich höhere Staatszuschüsse, um so Investoren vom Bau neuer Fabriken im Ausland abzuhalten.[9] Die Folge: Die Tendenz zu einer Art partieller Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten ginge dann mit der Tendenz zur Deindustrialisierung in gewissen Gebieten Deutschlands einher. Auch haben die USA Russland durch die Sanktionen als Großlieferanten für Energie ersetzt, genauer gesagt: verdrängt. Prognosen sagen voraus, dass die USA 2030 der mit erheblichem Abstand wichtigste Erdgaslieferant Europas sein werden – mit einem Jahresvolumen von wohl 170 Milliarden Kubikmetern; das ist deutlich mehr, als im Jahr 2021 Russland lieferte (155 Milliarden Kubikmeter). Subventionen und Sanktionen (unter dem Deckmäntelchen der Klimarettung, der Kriegsfolgen oder der Inflationsbekämpfung) werden als imperialistische Druckmittel zur Niederringung des europäischen Partners und Rivalen eingesetzt.
3. Die Abhängigkeit von China
Die USA haben China zu einem Gegner erklärt, der bis 2030 ökonomisch niedergerungen werden soll. Neben der vorher entstandenen fatalen Energieabhängigkeit von Russland, die Deutschland nunmehr entscheidend geschwächt hat, ist das deutsche Kapital äußerst besorgt wegen der stark gewachsenen Abhängigkeit von China. China ist mit einem Handelsvolumen von 246 Milliarden Euro im Jahr 2021 zum sechsten Mal Deutschlands wichtigster Handelspartner. Deutschland importiert aus keinem anderen Land der Welt mehr Produkte als aus China. Laut einer Umfrage des ifo-Instituts sind 46 Prozent der Unternehmen, die Rohstoffe oder Produkte weiterverarbeiten, auf China angewiesen, besonders betroffen die Automobil, die Chemie- oder die Elektroindustrie. Eine kritische Abhängigkeit besteht auch bei Seltenen Erden, die unter anderem für den Bau von Elektromotoren oder Windturbinen gebraucht werden. In vielen Branchen ist die Abhängigkeit noch größer. Im Pharmabereich wurde durch die Billigproduktion in China und anderen Produktionsstätten in Asien eine extreme Abhängigkeit von diesen Lieferanten aufgebaut, die nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern auch aus militärischer Sicht nicht länger vom Standpunkt des deutschen Kapitals hingenommen werden kann. Insofern möchte das deutsche Kapital seine Abhängigkeit von China verringern, auch wenn alleine am China-Geschäft mehr als eine Million Arbeitsplätze hängen und deutsche Autobauer wie VW, BMW und Daimler mehr Autos in China als in Deutschland produzieren. Die Investitionen deutscher Unternehmen in der Volksrepublik nähern sich mittlerweile dem Wert von 100 Milliarden Euro.[10] Der Run zum Aufbau verstärkter Beziehungen zu anderen asiatischen Staaten hat längst eingesetzt. Diese Lockerung der Abhängigkeit von China, wie wir schon im voran gegangenen Artikel betont haben[11], entspricht dem ureigensten Interesse des deutschen Kapitals und ist gleichzeitig Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen in dessen Reihen.
Hinzu kommt jedoch, dass die USA im Zuge ihrer Offensive gegen China Deutschland (wie natürlich auch andere Staaten) stark einbinden, ja für die USA „dienstbar“ machen wollen, was wiederum auf Kosten des deutschen Kapitals ginge. Während die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft gegenüber Russland vor allem im Energiebereich bestand, ist die Abhängigkeit gegenüber China sehr viel größer und eine wesentliche Reduzierung, gar Unterbrechung des Geschäfts mit China wäre wie ein Schlaganfall für das deutsche Kapital. Es muss sich deshalb mit Händen und Füßen gegen den Druck der USA wehren. Deshalb werden sich die Auseinandersetzungen auf allen Ebenen - weltweit, zwischen den USA und Europa – vor allem Deutschland und Frankreich - innerhalb der Regierung, innerhalb der Parteien weiter um die Frage, welche Haltung gegenüber China und den USA, verschärfen.
Das deutsche Kapital ist sich dessen bewusst, dass beim Kampf der USA gegen deren wichtigsten Herausforderer China eine relative Einheit unter den beiden rivalisierenden Parteien in den USA Demokraten und Republikaner herrscht. Sollte Trump wiedergewählt werden, haben deutsche Autobauer und andere Kapitalvertreter Trumps Äußerungen nicht vergessen, dass er deutsche Mercedes auf New Yorker Straßen als eine Bedrohung wahrnimmt, mit anderen Worten, er nimmt offen deutsche Produkte als Konkurrenz ins Visier.
Da die USA nunmehr im Windschatten der Russlandsanktionen ebenso Strafmaßnahmen gegenüber Firmen angeordnet haben, die in bestimmten Branchen in China tätig sind, und weil aufgrund enger deutscher Verflechtungen mit China deutsche Firmen davon besonders hart getroffen sein werden, sieht sich das deutsche Kapital deshalb der Gefahr ausgesetzt, nicht nur von der chinesischen Konkurrenz immer mehr bedroht zu werden, sondern auch von den USA selbst. Bislang ist die deutsche Industrie – trotz einiger Vorteile in einigen Bereichen – von China immer mehr bedrängt und gar übertroffen worden. China hat erst kürzlich Deutschland als zweitgrößten Autoexporteur der Welt überholt. Bei E-Mobilität hat China die Nase schon lange vorn. Klar ist: Wie auch immer die Entscheidungen getroffen werden, jede wird Nachteile nach sich ziehen. Bleibt man in China, geht man ein unberechenbares geopolitisches Risiko ein. Geht man nicht tiefer hinein, wird z.B. in der Automobilbranche der Druck der chinesischen Konkurrenz und Tesla der deutschen Autoindustrie noch mehr zusetzen. Auch wenn die US-Regierung unter Biden in einer anderen Tonart spricht, ist der reale Druck gegenüber den europäischen Staaten, insbesondere gegenüber Deutschland nicht geringer als der durch Trumps Republikaner. Wie oben erwähnt hat kein Land in der Größenordnung für den Ukrainekrieg solch einen hohen Preis gezahlt. Und mit dem zu erwartenden steigenden Druck der USA gegenüber China zeichnet sich ein Überlebenskampf für das deutsche Kapital ab.
In welchem Maße man dabei gemeinsam mit der EU, insbesondere mit Frankreich reagieren kann, steht im Augenblick in den Sternen, denn ähnlich wie zu Beginn der Pandemie, als Deutschland auch im Alleingang Exportverbote erließ, handelte die deutsche Regierung ohne entsprechende Abstimmung bei der Verabschiedung des Wumms-Paketes (d.h. bei dem 200 Mrd. Energiepflaster) oder als Scholz entgegen dem Vorschlag von Macron, der diesen nach China begleiten wollte, ohne EU-Absprache deutsche Interessen ausfechten wollte.
Kapitalistische Anarchie erklettert neue Höhen
Zu all diesen Bedrohungsfaktoren kommt eine weitere Dynamik hinzu, die auch neue Ausmaße erreicht hat. Waren im Laufe der letzten Jahrzehnte durch die jüngste Phase der Globalisierung neue Produktionsstätten in vielen Ländern mit Billiglöhnen hochgezogen und damit neue Lieferketten entstanden, hat damit auch eine neue Abhängigkeit Einzug gehalten und damit auch neue Gefahren gebracht. Eine Unterbrechung der Lieferketten z.B. allein durch frenetische Lockdowns in China bedeutet, dass entweder die entsprechenden Vorprodukte nicht produziert werden, oder irgendwo in den Containern auf Schiffen oder in Häfen festhängen. Derzeit stecken mehr als 13% der Güter weltweit in Staus. Bei der Verknappung von Chips wirkt sich dies nicht weniger dramatisch aus.[12]
Den irren Gesetzen des Kapitalismus zufolge bedeutet Verknappung der Waren aber gleichzeitig die Möglichkeit von zusätzlichen Preissteigerungen und höheren Gewinnchancen. So melden sämtliche Hersteller steigende Gewinnmargen und Rekordergebnisse. Dahinter stecken zum Teil lediglich die Verknappung und Unterbrechung des zuvor relativ ungestörten, von politischen Restriktionen freien Welthandels.[13] Mit der Pandemie und dem Krieg hat sich auch hier das Blatt gewendet. Ein weiterer Aspekt dieses irren Wahnsinns: „Produktionsstillstand wegen Materialmangels. Autos sind Mangelware geworden! Nach einer Analyse des Ifo-Instituts hat sich bei deutschen Autoherstellern inklusive Zulieferer ein Rekordwert an unerledigten Aufträgen angehäuft. Die Auftragsreichweite in dieser Schlüsselindustrie ist mit 7,4 Monaten ungewöhnlich groß geworden. Die Hersteller selber, vor allem BMW und Daimler, vermelden für einzelne Modelle Lieferzeiten von bis zu 12 Monaten und mehr. VW nimmt teilweise sogar gar keine Aufträge mehr an. Stark betroffen sind dabei vor allem Elektro-Fahrzeuge.[14]
Der Weltmarkt und die Tiefe der Produktionsketten (die Weltfabrik) haben im Zerfall neue Höhen erklommen. Doch nun entfesselt sich das altbekannte „launische Spiel“ der kapitalistischen Anarchie, welches schon Rosa Luxemburg so treffend herausgearbeitet hatte.[15] Wenn nunmehr Produktions- und Lieferunterbrechungen wie die direkte Schließung von Pipelines wie Northstream 2 mit anschließender Sprengung, die Blockade von Lebensmittellieferungen aus russischen und ukrainischen Häfen, die Spätfolgen der Lockdowns und anschließenden Staus in Häfen weltweit noch mehr Chaos und Anarchie verursachen, steckt die Wurzel all dieses Übels im Kapitalismus. Die Folge: Wegen der weltumspannenden und tiefen sektoralen Verflechtung ihrer globalen Liefer- und Produktionsnetzwerke wird die deutsche Wirtschaft besonders arg in Mitleidenschaft gezogen.
Arbeitskräftemangel – eine neue Geißel
Wir dürfen an dieser Stelle eine neue Geißel nicht vergessen, die nicht zum klassischen Erscheinungsbild der Krise gehört, aber viele Kernländer des Kapitalismus (und nun auch China[16]) betrifft. In der Regel bauten die Unternehmer unter dem Druck der Krise immer weiter Personal ab – so wie es z.B. im Gesundheitswesen, im öffentlichen Dienst, Bildungsbereich und in vielen anderen Branchen seit Jahren gängige Praxis ist. Gleichzeitig sind die Unternehmer jedoch in vielen Branchen und Berufen verzweifelt auf der Suche nach qualifiziertem und selbst wenig oder nicht qualifiziertem Personal. Der Fachkräftemangel übertreffe in manchen Bereichen Hunderttausende. In Deutschland fehlen ca. 100.000 LKW-Fahrer (in Europa ca. 400.000). Allein dieser Faktor fehlendes Personal verursacht immer wieder Produktionsausfälle und oft leere Regale.[17] Trotz der Millionenfachen Arbeitsmigration aus den Osteuropäischen Ländern kämpft Deutschland mit einem wachsenden Arbeitskräftemangel, der auch durch eine offenere Migrationspolitik nicht bekämpft werden konnte. Wie sich dieser in manchen Branchen „leergefegte“ Arbeitsmarkt auf die Lohnentwicklung und Arbeitsbedingungen auswirken wird, ist im Augenblick schwer zu kalkulieren, wird aber als eine weitere Bürde für das Kapital wirken (wir werden in einem zukünftigen Artikel darauf eingehen).
Stürmische Zeiten werden kommen
Trotz all dieser Minenfelder, die das deutsche Kapital unausweichlich in Zugzwang bringen werden, hat die Kapitalistenklasse bislang noch nicht zum massiven Angriff auf die Arbeiterklasse geblasen. Während der Pandemie hat man versucht zu beschwichtigen, zu beruhigen, indem z.B. über lange Zeit Kurzarbeitergeld geleistet und viele andere Finanzspritzen gesetzt wurden. Nun zwingen die Folgekosten aus der Gesamtlage mit dem Brandbeschleuniger Ukrainekrieg den Staat immer weiter den Kredithahn aufzudrehen. Große Summen fließen in Entlastungen für viele Haushalte zum Beispiel durch einen Heizkostenzuschuss und einen Sofortzuschlag für Familien mit Kindern. Für alle Steuerzahler steigt der Grundfreibetrag, auf den man keine Einkommensteuer zahlt. Außerdem werden für drei Monate die Energiesteuern auf Sprit gesenkt. Alle einkommensteuerpflichtig Beschäftigten bekommen eine Energiepreispauschale von 300 Euro. Rentner, Studenten, Auszubildende bekommen ebenfalls Zuschüsse von 200 Euro usw. Die jüngsten Tarifabschlüsse im Metallbereich von 5% 2023 und 3,2% 2024 sowie eine Einmalzahlung von 3000 Euro für die gesamte Laufzeit bei einer gegenwärtigen Inflation von 10% zeigen, dass man durch gewisse Zugeständnisse das Schlimmste abfedern will. Unterdessen schreitet aber die Verarmung weiter fort (wir werden in einem späteren Artikel näher darauf eingehen).
Der Blick auf dieses ganze Minenfeld zeigt, dass an mehreren Stellen explosive Sprengkraft für die Wirtschaft vorhanden ist. Keiner dieser Faktoren lässt sich „zurückschrauben“ oder reduzieren. Welche Auswirkungen dies auf die Politik der herrschenden Klasse, ihre Vorgehensweise usw. haben wird sowie welche Konsequenzen sich damit für die Arbeiterklasse ergeben, werden wir in einem weiteren Artikel behandeln.
WT, Ende Dez. 2022
[1]„Nach der Verabschiedung der Agenda 2010 und den damit verbundenen Angriffen gegen die Arbeitsbedingungen der Beschäftigen galt Deutschland jahrelang als der "Gewinner" der Wirtschaftskrise nach 2008, als ein scheinbar sicherer Hafen in einem instabilen Umfeld. Sowohl innerhalb der EU als auch international insgesamt u.a. dank der Schwächung der globalen Führungsrolle der USA und durch ein geschicktes Taktieren mit China und Russland (die von den USA heftig attackiert werden) konnte Deutschland lange Zeit seine Führungsposition als exportstarke Nation ausbauen.“ https://de.internationalism.org/content/2993/pandemie-deutschland, und siehe unsere Berichte 2016 und 2018 https://de.internationalism.org/content/bericht-zur-nationalen-lage-deutschlands-fruehjahr-2018
https://de.internationalism.org/content/2675/bericht-und-praesentation-u...
[4]Siehe dazu unsere Analyse des letzten Kongresses: https://de.internationalism.org/content/2999/24-internationaler-kongress-der-iks-bericht-ueber-die-pandemie-und-die-entwicklung-des sowie weitere Texte, die zu unserer Analyse der Lage erscheinen.
[6] Siehe dazu unseren englisch-sprachigen Artikel: https://en.internationalism.org/content/17259/world-economy-hit-accelera...
[7] Das Herzstück bildet nach wie vor der mittelständische Maschinenbau, der Automobilsektor und die Elektro-, Mess- und Regeltechnik die jede Massenproduktion benötigt https://die-deutsche-wirtschaft.de/lexikon-der-deutschen-weltmarktfuehrer/
[8] https://www.gole m.de/news/halbleiter-chipbranche-in-deutschland-erhaelt-milliardenfoerderung-2205-165763.html
[9] Siehe der Streit um das 369 Mrd. Dollar Paket der US Regierung zu Förderung strategischer Sektoren für „saubere Energie“ Inflation Reduction Act https://www.tagesschau.de/ausland/europa/us-subventionen-101.html und https://www.manager-magazin.de/unternehmen/industrie/robert-habeck-wirts...
[10] Rund 68 Prozent der Produktionsorte von Pharma-Wirkstoffen, die für Europa bestimmt sind, liegen im kostengünstigeren Asien, heißt es in einer Studie des Pharmaverbands vfa. Allein China sei für rund 40 Prozent der weltweiten Antibiotikaexporte verantwortlich.
[12] In der Autoindustrie heißt das, dass der Absatz im "Heimatmarkt" Europa lag im April 2022 um 20,6 Prozent unter dem Vorjahresniveau. In Italien betrug das Minus sogar 33 Prozent, in Frankreich waren es 22,6 Prozent und in Deutschland auch 21,5 Prozent, in China, bisher der Wachstumsmotor der Branche, brachen die Verkäufe im April um 43,1 (!) Prozent ein. In den USA waren es noch 19,2 Prozent, in Japan 15,3 Prozent und in Brasilien 16,7 Prozent. Als Folge der Produktionsstörungen (insbesondere wegen fehlender Speicherchips) werden laut "Automobilwoche" im Inland 2022 etwa 700.000 Autos weniger gebaut werden können und damit rund ein Drittel der geplanten Jahresproduktion. Mit Ausnahme von Porsche sind alle Hersteller betroffen, vor allem aber VW. Laut Prognosen von IHS Markit wird allein die Marke VW in diesem Jahr global über eine halbe Million Einheiten verlieren. Bei den Premiummarken BMW und Mercedes-Benz fehlen bis Jahresende 100.000 beziehungsweise 80.000 Fahrzeuge.
[13] Ohne russische Lieferungen von Aluminium, Magnesium, Palladium und Platin für den Bau von Katalysatoren und Elektrobatterien können Autos "made in Germany" nur noch in geringen Stückzahlen gebaut werden. Und ohne Speicherchips aus China und Asien überhaupt keins.
[15] „Wo jedoch die Bourgeoisie zu Hause ist, da herrscht als alleiniges Gesetz über den Wirtschaftsverhältnissen die freie Konkurrenz. Damit ist aber jeglicher Plan, jegliche Organisation aus der Wirtschaft verschwunden. Freilich, blicken wir in einen einzelnen Privatbetrieb, in eine moderne Fabrik oder einen gewaltigen Komplex von Fabriken und Werken, wie bei Krupp, in eine landwirtschaftliche Bonanzafarm in Nordamerika, so finden wir dort die strengste Organisation, die weitgehendste Arbeitsteilung, die raffinierteste, auf wissenschaftlicher Erkenntnis basierte Planmäßigkeit. Dort klappt alles aufs Wunderbarste, von einem Willen, einem Bewußtsein geleitet. Kaum verlassen wir aber die Tore der Fabrik oder der Farm, als uns auch schon das Chaos empfängt. Während die zahllosen Einzelteile - und ein heutiger Privatbetrieb, auch der riesigste, ist nur ein Splitter der großen Wirtschaftsbande, die sich über die ganze Erde erstrecken -, während die Einzelteile aufs strengste organisiert sind, ist das Ganze der sogenannten "Volkswirtschaft", das heißt der kapitalistischen Weltwirtschaft, völlig unorganisiert. In dem Ganzen, das sich über Ozeane und Weltteile schlingt, macht sich kein Plan, kein Bewußtsein, keine Regelung geltend; nur blindes Walten unbekannter, ungebändigter Kräfte treibt mit dem Wirtschaftsschicksal der Menschen sein launisches Spiel. Ein übermächtiger Herrscher regiert freilich auch heute die arbeitende Menschheit: das Kapital. Aber seine Regierungsform ist nicht Despotie, sondern Anarchie.
Und diese eben macht es, daß die gesellschaftliche Wirtschaft Resultate hervorbringt, die den beteiligten Menschen selbst unerwartet und rätselhaft sind, sie macht es, daß die gesellschaftliche Wirtschaft zu einer uns fremden, entäußerten, von uns unabhängigen Erscheinung geworden ist, deren Gesetze wir ebenso ergründen müssen, wie wir die Erscheinungen der äußeren Natur untersuchen, wie wir die Gesetze zu ergründen suchen, die das Leben des Pflanzenreichs und des Tierreichs, die Veränderungen in der Erdrinde und die Bewegungen der Himmelskörper beherrschen. Die wissenschaftliche Erkenntnis muß hinterdrein den Sinn und die Regel der gesellschaftlichen Wirtschaft aufdecken, die der bewußte Plan ihr nicht von vornherein diktiert hat.
Es ist nun klar, weshalb es den bürgerlichen Nationalökonomen unmöglich ist, das Wesen ihrer Wissenschaft klar herauszuheben, den Finger in die Wunde ihrer Gesellschaftsordnung zu legen, sie in ihrer inneren Gebrechlichkeit zu denunzieren. Erkennen und bekennen, daß Anarchie das Lebenselement der Kapitalsherrschaft ist, heißt in gleichem Atem des Todes.“ Einführung in die Nationalökonomie, Rosa Luxemburg, Bd. 5, S. 579
[16] „Die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter zwischen 16 und 59 ging innerhalb der vergangenen fünf Jahre um 20 Millionen Menschen zurück. Bei diesem Tempo wird die erwerbstätige Bevölkerung vom einstigen Höchststand von 925 Millionen im Jahr 2011 bis 2050 auf 700 Millionen Menschen geschrumpft sein. Dann ist jeder dritte Chinese ein Rentner. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt schon jetzt bei stolzen 77 Jahren und das mit einem Pro-Kopf-Einkommen von Bulgarien. Für das ökonomische und soziale Gleichgewicht des Landes bringt das große Herausforderungen: Immer weniger Arbeitskräfte müssen die Altersversorgung der über 60-Jährigen gewährleisten. Das relativ schlecht ausgebaute Gesundheits- und Sozialsystem gerät unter Druck.“ - https://www.dw.com/de/sierens-china-das-schrumpfende-volk/a-48177620, 03.04.2019