Die Politik der Schweizer Bourgeoisie gegenüber der kriegerischen Weltlage – Auf allen Hochzeiten zu tanzen, wird schwieriger

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In der apokalyptischen Gegenwart scheint das Gebiet der Schweiz eine Insel des Wohlstands zu sein. Stimmt es, dass das Alpenland so reich ist? Je nach Statistik gibt es hier die höchsten Löhne der Welt und die höchste Dichte an Großunternehmen, gemessen am Bruttoinlandprodukt. Die Bevölkerung ist in den letzten 20 Jahren um 20 % gewachsen. Und jedes Jahr findet in Davos das World Economic Forum statt, wo sich die gegenwärtigen Führer der Welt sehen und gesehen werden. – Woher die Prosperität und die Anziehungskraft inmitten des sonstigen Zerfalls?

Gleichzeitig ist festzuhalten, dass 1,34 Millionen, also 15,6% der Menschen in der Schweiz in Armut oder armutsgefährdet leben.[1] Dazu kommen ständig steigende Lebenskosten wie die Mieten, die immer stärker die Lebensbedingungen der ausgebeuteten Klasse verschlechtern.

Wir müssen bei Gelegenheit auf die Bedingungen für das Proletariat oder auch auf die wirtschaftlichen Veränderungen in der Schweiz zurückkommen. Hier geht es uns um das international brisanteste Thema: die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen, des Krieges – im Rahmen des Zerfalls.

Das Kapital und sein (Klein-)Staat müssen sich auf einem heißer werdenden Kontinent behaupten. Das Land ist weder EU-Mitglied, noch gehört es offiziell zur NATO. Wie verteidigt die Regierung in Zusammenarbeit mit dem Rest der herrschenden Klasse ihre Interessen? – Wie erfolgreich tun sie dies?

Außenpolitik, Diplomatie und sogenannte Neutralität

Die ideologische Fahne, unter der die Barke treibt, heißt Neutralität. Früher nannte man sie immerwährende oder bewaffnete Neutralität, heute bezeichnen sie die verschiedenen Parteien als integrale (Christoph Blocher, SVP) oder aktive (Micheline Calmy-Rey, SP) oder kooperative (Ignazio Cassis, FDP) Neutralität.

Schon lange vor der Machtergreifung der Bourgeoisie und der Bildung eines modernen Nationalstaats 1848 galt sie für diesen kleinen Staat als klügste außenpolitische Richtlinie und wurde von den Großmächten teils aktiv unterstützt (Frankreich/Russland) oder mindestens faktisch anerkannt (Habsburg-Österreich). Im imperialistischen Zeitalter ist das Prinzip immer wieder unter argen Druck geraten. Während des Ersten Weltkriegs gab es große Spannungen in der Schweiz zwischen den deutsch- und französischsprachigen Fraktionen der herrschenden Klasse, bei denen es Affinitäten zur einen bzw. anderen Kriegspartei gab (zum Dreibund hinter Deutschland bzw. zur Entente um Frankreich). Im Zweiten Weltkrieg offenbarte sich die Neutralität als ziemlich hilflos, da in den ersten Kriegsjahren, umzingelt von den Achsenmächten, die „neutrale“ Schweiz in den deutschen Wirtschaftsraum integriert wurde und z.B. der Finanzplatz Devisen für die Kriegsführung Hitler-Deutschlands einbrachte.[2]

Im Kalten Krieg (1949-1989) war die offizielle Schweiz faktisch Teil des westlichen Blocks gegen den Ostblock, wenn auch formal immer noch „neutral“.

Im Laufe des Kalten Kriegs wurde auch die Rüstungsbeschaffung der Schweizer Armee, nach anfänglichen Schwierigkeiten mit den USA, nur noch bei den Westmächten getätigt.[3] Wie im Zweiten Weltkrieg Nazideutschland, kümmerte sich auch die USA wenig um die Schweizer Neutralität. Ein Beispiel war, dass die militärische Planung der NATO den Schweizer Luftraum zwischen zwei NATO Luftwaffenflotten aufgeteilt hatte, als gäbe es keinen neutralen schweizerischen Luftraum noch eine Schweizer Luftwaffe (siehe auch M. Jorio, Die Schweiz und ihre Neutralität, S.383). Der zeitweilige Transit von Militärmaterial durch die Schweiz schien wie eine Fortsetzung der neutralitätspolitischen Probleme des Zweiten Weltkriegs. Auch gab es immer wieder diplomatische Demarchen, wegen Überflügen von NATO-Flugzeugen (ebenda, S. 379).

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der in gewissen Kreisen einhergehenden Friedenseuphorie wurden diese Illusionen mit den nicht abbrechenden neuen Kriegen namentlich in Jugoslawien, im Nahen Osten und in der Ukraine brutal zerschmettert. Nichtsdestotrotz versucht die Schweiz aufgrund ihrer Reputation als neutrales Land, ihre „Guten Dienste“ anzubieten. Eigentlich hätte die «Ukraine-Friedenskonferenz» im Juni 2024 auf dem Bürgenstock in der Innerschweiz eine diplomatische Show unter der Fahne der Neutralität werden sollen. Die Resultate sind erbärmlich. Die bürgerlichen Medien applaudierten verhalten zum angeblichen Erfolg, der darin bestand, dass es keine größeren Pannen gab und die Sicherheit der wichtigen Leute aus 92 Ländern an dieser Konferenz immer gewährleistet gewesen sei. Bescheidene Ziele. Von den BRICS-Staaten war nur Indien vertreten. Die doch nicht so neutralen Gastgeber luden die eine Kriegspartei, Russland, gar nicht ein. Hätte Putin überhaupt jemanden geschickt? China kam auf jeden Fall auch nicht. Die sogenannte Friedenskonferenz war eine Veranstaltung zur Unterstützung Selenskyjs im Krieg durch seine Verbündeten. «Die Bezeichnung als Ukraine-Solidaritätskonferenz wäre zutreffender», schreibt die Neue Zürcher Zeitung kurz nach der Konferenz in ihrem Format PRO Global, das vertiefte Analysen und umfassende Einordnungen verspricht (19.06.2024).

Unter dem etwas löchrigen Deckmantel der Neutralität versucht die herrschende Klasse für den hiesigen Staatskapitalismus die Interessen bestmöglich zu verteidigen. Die Devise lautet: möglichst lange mit allen profitabel Handel treiben und überhaupt Beziehungen pflegen, sich aus bewaffneten Konflikten möglichst raushalten – und umgekehrt die sogenannten Guten Dienste für Verhandlungen zwischen Kriegsparteien anbieten oder wenigstens Kommunikationskanäle offen halten. Darauf setzten die USA beispielsweise in der Kubakrise 1961-62, als sie die diplomatischen Beziehungen mit dem Regime von Fidel Castro abbrach und die schweizerische Regierung mit der amerikanischen Interessenvertretung in Havanna beauftragte. Heute besteht ein ähnliches Mandat im Iran. Die Kommunikation zwischen den USA und Iran läuft über die Schweizer Botschaft, so anscheinend auch vor dem iranischen Angriff mit Raketen, Drohnen und Marschflugkörpern gegen Israel im April 2024 als Antwort auf die Tötung iranischer Diplomaten in Damaskus. Allerdings spielten bei der Kommunikation zwischen den verfeindeten Lagern Kanäle über andere Staaten, konkret China und Oman, wohl eine wichtigere Rolle. Die Schweizer Diplomatie ist für den formellen Schein einer Restkommunikation zuständig, während in besonders angespannten Situationen auch informelle Kanäle erforderlich sind.

Auch die Selenskyj-Regierung wollte im Sommer 2022 von der Schweiz, dass sie die Interessen der Ukraine in Moskau vertrete. Doch es klappte nicht. Russland akzeptierte die Ausübung des Mandats durch die Schweiz nicht, da sie ihren Status als neutralen Staat durch ihren Anschluss an die westlichen Sanktionen verspielt habe.

Obwohl die Neutralität der Schweiz eher Schein als Wirklichkeit ist, schaffte diese Politik über lange Perioden günstige Bedingungen für das Kapital. Oft war zwar auch ziemlich viel Glück im Spiel; und doch erlaubte es diese politische Linie der Bourgeoisie mit ein paar Bücklingen und viel Heuchelei, den Zerstörungen der beiden Weltkriege auf eigenem Territorium auszuweichen.

Die UNO hat einen ihrer Nebensitze in Genf, wo die internationale Diplomatie und die Geheimdienste ihre Netze weben. „Heute sind in der Stadt am Lac Léman knapp 240 ausländische Vertretungen angesiedelt, Dutzende von internationalen Organisationen, hunderte von NGOs. Es liegt also in der Natur des Sache, dass sich hier auch zahlreiche Agent:innen tummeln. Genf gilt heute zusammen mit Brüssel und Wien zu den drei Spionage-Hotspots in Europa.“[4]

Die schweizerische Bourgeoisie schafft es so, auf dem internationalen Parkett präsenter zu sein, als es eigentlich der Größe, der geostrategischen Wichtigkeit des Landes und auch seiner Wirtschaft entspricht.

Beim Ukraine-Krieg sind verschiedene Widersprüche in der herrschenden Klasse der Schweiz, die schon länger schwelten, verschärft zum Vorschein gekommen. Die sog. aktive Neutralität wurde vor allem von der früheren sozialdemokratischen Außenministerin Micheline Calmy-Rey während ihrer Amtszeit (2003-2011, aber auch in ihrem Buch von 2020) vorangetrieben. Umgekehrt kämpfte schon damals die SVP heftig dagegen. Der heutige EDA-Chef Ignazio Cassis nimmt in einer softeren Version als Calmy-Rey die Haltung der sog. kooperativen Neutralität ein, nachdem die Regierung wegen ihrer zögerlichen Unterwerfung unter die vorherrschende US- und EU-Sanktionspolitik in der Presse angeprangert worden ist. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ist es aber der Bourgeoisie gelungen, eine mehr oder weniger kohärente Außenpolitik zu betreiben, die sich auf die sog. demokratischen Werte beruft. Die SVP und andere rechte Gruppierungen, die weiterhin an einer „integralen Neutralität“ festhalten, die aber in Wirklichkeit nur in der Phantasie der Rechten und deren alten helvetischen Mythen besteht, haben im April 2024 mit über 130‘000 beglaubigten Unterschriften eine gleichnamige Volkinitiative eingereicht.[5]

Mittlerweile geht die Diskussion um die Integration auch in formellen „Verteidigungsinstitutionen“ wie die NATO[6] und den europäischen „Luftraumverteidigung“[7] oder an PESCO-Projekten[8] (Permanent Structured Cooperation) weiter. Es bestätigt sich, dass in zugespitzten Situationen die Neutralität, wie immer sie definiert wird, immer mehr durchlöchert wird.

Für die Arbeiterklasse hat das schon jetzt negative Auswirkungen, mit Sparbeschlüssen zugunsten der Aufrüstung.

Wirtschaftspolitik

Für die Schweizer Wirtschaft sind insbesondere zwei große Bereiche wichtig: erstens die Exportindustrie mit Chemie (Novartis, Roche), Nahrungsmitteln (Nestlé), Maschinen, Uhren (Rolex, Patek Philippe); zweitens der Finanzsektor mit den Banken, Versicherungen – und Kryptowährungen. Weil die Steuern für Großunternehmen in gewissen Kantonen sehr niedrig sind, gibt es zahlreiche weltweit operierende Firmen, die hier ihren Sitz wählen, aber sonst eigentlich keine traditionelle Beziehung zur Schweiz haben (Glencore, Gunvor[9]).

Mit dem Ukrainekrieg geriet die Neutralität der Schweiz sofort auch in wirtschaftlicher Hinsicht in Bedrängnis. Aufgrund des Druckes aus den USA, aber auch der EU hielt es die Regierung mit Außenminister Cassis nicht lange aus, sich bei den westlichen Sanktionen gegen Russland versteckt zu halten. Schon Ende Februar 2022 schloss sie sich den Sanktionspaketen der EU an und hat diese Politik seither fortgesetzt, wenn auch in letzter Zeit mit Zähneknirschen und unter Vorbehalten.[10]   

Dazu gehörte auch die Blockierung russischen Vermögens im Ausland. In der Schweiz ging es einmal um Gelder im Wert von anfänglich rund 7,5 Milliarden Franken und 17 Liegenschaften sanktionierter Privatpersonen aus Russland, die der Bund eingefroren hat. – Weiter sollen sich bis zu zwei Prozent der russischen Zentralbankengelder in der Schweiz befinden. Sie sind offiziell nicht eingefroren, dürfen de facto aber nicht transferiert werden. In der Schweiz waren Ende 2023 russische Zentralbankgelder für umgerechnet rund 7,2 Milliarden Franken blockiert (NZZ 23.04.2024).

Die US-Regierung will entsprechende von ihr blockierte Gelder konfiszieren und für den Krieg gegen Russland verwenden. Sie macht Druck auf ihre Alliierten, d.h. wirtschaftlichen Konkurrenten in Europa, dasselbe zu tun. Die EU will nur die Erträge, d.h. Zinsen aus den eingefrorenen Geldern einziehen.

Die Schweiz wehrt sich gegen beides. Der Grund ist einfach: Wenn die Mächtigen und Reichen aus aller Welt zusehen müssen, wie Geld von ihresgleichen auf Schweizer Banken je nach Weltlage beschlagnahmt wird, erleidet das Vertrauen in diese Banken Schaden. Die Verteidiger des Finanzplatzes Schweiz wehren sich gegen so weit gehende Sanktionen und argumentieren mit rechtlichen Bedenken. Die Linken, die am meisten ins Kriegsfeuer blasen, haben ihre rechtlichen Gegenargumente: «Es wäre durchaus legal, die Zinserträge der russischen Vermögen abzuschöpfen. Dazu müssten die Staaten, wo die Gelder eingefroren sind, die Zinserträge zu annährend 100 Prozent besteuern.»[11]

Es gibt außer diesen blockierten russischen Geldern noch geschätzte weitere 150 Milliarden von bisher nicht oder nur von einzelnen Staaten sanktionierten Russ:innen in der Schweiz. «Niemand scheint genau sagen zu können, wie viel Geld reiche Russinnen und Russen in der Schweiz gebunkert haben. Die Schweizerische Bankiervereinigung schätzt die Summe auf rund 150 Milliarden Franken. Im Vergleich zu den 2,2 Billionen Franken Offshore-Vermögen, die von Schweizer Banken verwaltet werden, sind das weniger als 10%.»[12]

Die USA drängen darauf, die Schweiz in die Taskforce zur Aufspürung von russischen Oligarchengeldern (einer G7-Arbeitsgruppe) aufzunehmen, was von einigen Teilen der Bourgeoisie in der Schweiz abgelehnt wird. «Obwohl die Schweiz zum westlichen Lager gehört, betonen die Schweizer Parteien SVP, FDP sowie einzelne Mitglieder der Mitte und GLP die Bedeutung der offiziellen Neutralität des Landes.»[13] Darüber beklagt sich die trotzkistische Bewegung für den Sozialismus BFS[14], die den Bundesrat auffordert, die Sanktionen gegen Russland konsequenter umzusetzen und umgekehrt die Ukraine stärker zu unterstützen.

Unabhängig von der Rolle, die diese linksbürgerlichen Kräfte in der Gesellschaft und der staatskapitalistischen Politik spielen, ist unverkennbar, dass der Spielraum der Schweiz auf dem imperialistischen Schachbrett kleiner wird. Nach 1989 und dem Zusammenbruch der beiden Blöcke boten sich neue Möglichkeiten, doch heute ist die sogenannte Neutralität für die Schweiz kein Schutzschild mehr gegen die Kriegswirtschaft, die sich allgemein ausbreitet. Dabei steht die Schweiz nicht nur im Clinch zwischen den USA und China, sondern auch in demjenigen zwischen der EU und dem neuen Trump-Amerika. Dass die Schweiz in der Diplomatie und der Finanzwelt übergewichtig ist, macht sie für die Großmächte zur umso beliebteren Zielscheibe, wie es sich schon in den relativ vorteilhaften zwei Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch des Ostblocks angedeutet hat – erinnert sei an die Nazigold-Affäre und die Demontage des Bankgeheimnisses in den 1990er bzw. 2000er Jahren unter US-amerikanischer Führung, aber auch mit Unterstützung aus Deutschland.[15] Doch heute mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten weht der Schweizer Bourgeoisie ein noch härterer Wind ins Gesicht.

Waffen für die Ukraine und Aufrüstung der Schweiz

Als Rüstungsproduzent spielt die Schweiz global keine bedeutende Rolle. Umgekehrt ist es aber für den eigenen Staatskapitalismus im Interesse einer minimalen Glaubwürdigkeit erforderlich, dass ein allfälliger Invasor mit einer Gegenwehr zu rechnen hat („bewaffnete Neutralität“). Dies setzt eine minimale Selbstversorgung bei der Waffenproduktion voraus.

Auf dem Terrain der internationalen imperialistische Spannungen ist die Haltung der Schweiz zu den Waffenlieferungen an die Ukraine weniger wichtig als der Nachvollzug der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Trotzdem gibt es auch hier Druck von den sogenannten Partnern – den USA und der EU.

Stein des Anstoßes ist das Prinzip der Neutralität bei Waffengeschäften. Schon seit 1972 beschränkt in der Schweiz das Kriegsmaterialgesetz den Waffenexport. Es gilt ein Waffenausfuhrverbot in Kriegsgebiete. Auslandgeschäfte werden nicht bewilligt, wenn „das Bestimmungsland in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist“ (Art. 22a Abs. 2 lit. a KMG). – Vorgesehen ist dabei auch, dass grundsätzlich nur ausländische Regierungen Waffen erhalten (und nicht Private), wobei diese Regierungen zudem eine Nichtwiederausfuhr-Erklärung unterschreiben müssen (Art. 18 KMG).

Die Schweiz kam deshalb unter Druck, als z.B. EU-Länder (Deutschland, Spanien, Dänemark) in der Schweiz produzierte Munition für den deutschen Flugabwehrpanzer Gepard in die Ukraine bringen wollten. Bisher weigerte sich die Schweizer Regierung, die Bewilligung zur Wiederausfuhr zu erteilen. Die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats (einer der beiden Parlamentskammern) reichte schon im Januar 2023 einen Vorstoß zur Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes ein – eine Lex Ukraine: Die Wiederausfuhr sollte ohne Bewilligung möglich werden, wenn „die Wiederausfuhr des Kriegsmaterials an die Ukraine im Zusammenhang mit dem russisch-ukrainischen Krieg erfolgt“ (aus dem Text der parlamentarischen Initiative). Der Vorstoß blieb im Parlamentsgetriebe stecken. Trotzdem versucht die Regierung weiterhin, dass Kriegsmaterialgesetz zu lockern. Diskutiert wird nun über eine Änderung, die es der Exekutive beim Entscheid über Waffenexporte erlauben würde, von den gesetzlichen Kriterien abzuweichen, wenn «außerordentliche Umstände vorliegen» und die «Wahrung der außen- oder der sicherheitspolitischen Interessen des Landes dies erfordert».

Wirtschaftlich/militärischer Hintergrund ist: „Die Lockerung ist aus Sicht des Bundesrats doppelt wichtig. Zum einen für die Sicherheitsindustrie, deren ausländische Kunden durch die heutige Regelung abgeschreckt werden könnten. Zum anderen aber auch für die Schweiz selbst, weil für ihre Armee die Präsenz von Firmen der Sicherheits- und Wehrtechnik existenziell ist, diese aber allein vom Heimmarkt nicht leben können.“ (NZZ 16.05.2024) – Sowohl rüstungstechnisch im Kleinen wie auch militärstrategisch im Großen kann es sich die Schweizer Armee nicht leisten, einen von der NATO unabhängigen Kurs zu fahren.

Im politischen Gerangel innerhalb der Bourgeoisie fällt auf, dass wie in anderen Ländern die Linke unter dem Deckmantel der Verteidigung der Demokratie, große Anstrengungen betreibt, die Schweiz aufzurüsten oder wieder kriegstauglich zu machen, wie das in Deutschland vom SPD-Kriegsminister proklamiert wurde. Der sog. Kuhhandel Anfang 2024 von 15 Milliarden Franken, die für Rüstung und für weitere Hilfen an die Ukraine gedacht waren, welchen das Parlament schließlich ablehnte, sollte unter der Federführung der Linken und der Mitte von der Sicherheitspolitischen Kommission zu Stande kommen.

Im Prinzip sind die Rüstungsausgaben erst bei knapp 0,8 % des BIP – also weit entfernt vom Nato-Ziel 2 %. Da aber das BIP pro Kopf in der Schweiz hoch ist, sind auch die Pro-Kopf-Rüstungsausgaben mit rund 700 Dollar vergleichbar mit denjenigen in Frankreich oder Deutschland.

Anfang 2024 inszenierte die Armeeführung ein Drama um eine, wenn nicht gar zwei fehlende Milliarden Franken im Armee-Haushalt. Die Armee unter Chef Thomas Süssli sieht sich in ernsthaften finanziellen Schwierigkeiten. (...)Für die nächsten zwei Jahre fehlt eine Milliarde Franken, um bereits getätigte Rüstungskäufe zu bezahlen. (...) Die finanziellen Probleme der Armee sind weit drastischer als bislang angenommen. Eine Milliarde Franken fehlt in den nächsten zwei Jahren, um offene Zahlungen zu begleichen. Nun erwägt die Armee, einzelne Beschaffungen ganz abzubrechen.

Die Schweizer Armee steckt in weit tieferen finanziellen Schwierigkeiten als bislang angenommen. Schon die Ankündigung, zwei geplante öffentliche Grossanlässe abzusagen, stiess in der Politik von links bis rechts auf Entrüstung und Kritik. Abgesagte Anlässe sind nur die Spitze des Eisbergs“ (20 Minuten 31.01.2024).

Der Erfolg: Von links bis rechts ist sich die Schweizer Bourgeoise einig das aufgerüstet werden muss. Die weltweite Kriegsspirale lässt ihr immer weniger Spielraum für eine möglichst eigenständige Politik wie seit Jahrzenten.

27.12.2024, F&H


[1] Armut in der Schweiz, Caritas (PDF - Stand 2022)

[2] Die Integration der Schweiz in den Wirtschaftsraum der Achsenmächte ab Sommer 1940 war innenpolitisch – unter Beibehaltung der staatlichen Unabhängigkeit und Neutralität weitgehend akzeptiert. Selbst Gewerkschaften und die ab 1943 im Bundesrat vertretene SP unterstützten diese Außenhandelspolitik, welche der Landesversorgung, der Vollbeschäftigung und dem sozialen Frieden dienen sollte. M. Jorio, Die Schweiz und ihre Neutralität, S. 279

[3] Angesichts der schwierigen Rüstungsbeschaffung im Westen fasst man 1950 im schweizerischen Militärdepartement sogar die Beschaffung von Panzern in der Sowjetunion ins Auge. Diese Idee wie auch der Kauf von Mig-15-Kampfjets wurden aber wegen des herrschenden Antikommunismus rasch aufgegeben. M. Jorio, Die Schweiz und ihre Neutralität, S. 377

[5] Mit Unterstützung vom linken Rand des bürgerlichen Lagers, der PdA (der Nachfolgepartei der degenerierten Kommunistischen Partei der Schweiz), https://kommunisten.ch/index.php?article_id=2230.  

[6] Schweizer Armee soll weiterhin an Nato-Übungen teilnehmen, swinssinfo.ch 18.09.2024

[7] Die nicht ganz so neutrale Schweiz, Frankfurter Allgemeine 07.07.2023

[9] Aufgrund seiner Position im Ölhandel ist Gunvor von den Sanktionen gegen Russland direkt betroffen (https://www.publiceye.ch/de/themen/rohstoffhandel/russisches-erdoel-dubai-zieht-alle-register-um-die-schweiz-zu-verdraengen).  

[10] Beim 14. Sanktionspaket der EU im Juni 2024 machte die Schweizer Regierung im Oktober 2024 nicht mehr vollständig mit und lässt Schlupflöcher für die Umgehung von Sanktionen durch schweizerische Tochtergesellschaften im Ausland zu, was von der Linken der Bourgeoisie kritisiert wird (Schweiz übernimmt nicht alle Russland-Sanktionen der EU, srf.ch/news 17.10.2024).

[11] Watson 19.04.2024

[13] Dies meldet erfreut Russia Today am 18.04.2024.

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Schweizer Imperialismus