Veröffentlichung in: „Proletarian Tribune“ (Russland)
1.
Seit der Niederlage der internationalen revolutionären Welle in der
Mitte der 20er Jahre des 20.Jahrhunderts gab es keine Begriffe, die
mehr verdreht oder missbraucht wurden als die des Kommunismus und des
Marxismus.
Die
Annahme, die stalinistischen Regimes des früheren Ostblocks oder Länder
wie China, Kuba und Nordkorea heute seien Ausdruck des Kommunismus oder
Marxismus, ist tatsächlich die große Lüge des 20.Jahrhunderts. Sie wird
bewusst und ständig von allen Fraktionen der herrschenden Klasse
benutzt, von der extremen Rechten bis hin zur extremen Linken. Während
des 2.imperialistischen Weltkrieges von 1939-45 wurde der Mythos der
„Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes“ in Verbindung mit den
Begriffen „Antifaschismus“ und „Verteidigung der Demokratie“ dazu
benutzt, die Arbeiter innerhalb und außerhalb Russlands für das
abscheulichste Gemetzel in der Menschheitsgeschichte zu mobilisieren.
Die
Periode von 1945-89 wurde von der Rivalität zwischen den beiden großen
imperialistischen Blöcken unter amerikanischer und russischer Führung
geprägt. Während dieser Zeit fand diese Lüge eine enorme Verbreitung:
Im Osten diente sie dazu, die Ambitionen des russischen Kapitals zu
rechtfertigen, im Westen zu zweierlei Sachen: als ideologischer
Deckmantel im Falle eines imperialistischen Konflikts („Verteidigung
der Demokratie gegen den sowjetischen Totalitarismus“) und als Mittel,
um das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu vergiften. Indem sie auf den
sowjetischen Gulag zeigten, hämmerten sie folgende Botschaft in die
Köpfe: Wenn das Sozialismus ist, würdet ihr nicht lieber den
Kapitalismus haben, trotz aller Fehler?
Dieses
Thema wurde noch ohrenbetäubender verwendet, als der Kollaps des
Ostblocks als Zeichen des angeblichen „Todes des Kommunismus“, des
angeblichen „Bankrotts des Marxismus“ und schlussendlich des
vermeintlichen „Endes der Arbeiterklasse“ herhalten musste.
Dabei
war die Haltung der bürgerlichen Linksextremen, besonders der
Trotzkisten, die bei aller Kritik an der „bürokratischen Entartung“
immer noch von der grundlegenden Herrschaft der Arbeiterklasse im
stalinistischen Gebäude sprachen, Wasser auf die Mühlen der
Bourgeoisie.
2.
Dieser ungeheure Wust ideologischer Verdrehungen diente dazu, die
wirkliche Kontinuität und die Weiterentwicklung des Marxismus im
20.Jahrhundert zu verbergen. Die falschen Vertreter des Marxismus – die
Stalinisten und Trotzkisten, jedwede Sorte der akademischen
„Marxologen“, Modernisierer und Philosophen – wurden in den Mittelpunkt
des Interesses gerückt, während seine wirklichen Vertreter ins Abseits
verbannt, als bedeutungslose Sekten abgetan und zunehmend als Fossilien
einer verlorenen Welt beschimpft, wenn nicht gar immer heftiger massiv
unterdrückt und mundtot gemacht wurden.
Um
die wirkliche Kontinuität des Marxismus in diesem Jahrhundert zu
rekonstruieren, ist es notwendig, damit zu beginnen, was der Marxismus
per definitionem ist:
Seit
seinen ersten Ausführungen im Kommunistischen Manifest 1848 definierte
sich der Marxismus nicht als Produkt isolierter „Denker“, sondern als
theoretischer Ausdruck der realen Bewegung des Proletariats. Als
solcher kann der Marxismus nur eine kämpferische Theorie sein, eine,
die ihr parteiliches Festhalten an der Sache der ausgebeuteten Klasse
durch die unnachgiebige Verteidigung von deren zukünftigen,
unmittelbaren und historischen Interessen zum Ausdruck bringt.
Diese
Verteidigung schließt, da sie auf der Fähigkeit basiert, an den
grundlegenden Werten und unverrückbaren Prinzipien, wie zum Beispiel
dem proletarischen Internationalismus, festzuhalten, die ständige
Bereicherung und Weiterentwicklung der marxistischen Theorie in
direkter und lebendiger Beziehung mit der Erfahrung der Arbeiterklasse
mit ein.
Außerdem
kann sich der Marxismus als das Produkt einer Klasse, die kollektive
Arbeit und kollektiven Kampf vereinigt, nur durch organisierte
Kollektive – durch revolutionäre Fraktionen und Parteien - entwickeln.
So erschien das Kommunistische Manifest als das Programm der ersten
marxistischen Organisation in der Geschichte, dem Bund der Kommunisten.
3.
Im 19. Jahrhundert, als der Kapitalismus noch ein expandierendes,
aufsteigendes System war, hatte die Bourgeoisie es weniger nötig, die
ausbeuterische Natur ihrer Herrschaft zu verstecken, zu erklären, dass
schwarz gleich weiß und dass ihr Kapitalismus in Wirklichkeit
Sozialismus sei. Ideologische Perversitäten dieses Typs sind vor allem
Ausdruck des historischen Niedergangs des Kapitalismus. Sie sind
deutlicher Ausdruck der Bemühungen der Bourgeoisie, den Marxismus
selbst als Werkzeug der Verschleierung zu missbrauchen. Aber auch in
der aufsteigenden Phase des Kapitalismus nahm der unnachgiebige Druck
der herrschenden Ideologie auf die Arbeiterklasse häufig die Form
falscher Vorstellungen vom Sozialismus an. Deswegen war das
Kommunistische Manifest gezwungen, sich deutlich vom „feudalen“,
„bürgerlichen“ und „kleinbürgerlichen“ Sozialismus abzugrenzen.
Deswegen musste die marxistische Fraktion in der 1.Internationalen
einen Kampf an zwei Fronten führen: gegen den Bakunismus einerseits und
den „Staatssozialismus“ von Lassalle andererseits.
4.
Die Parteien der 2. Internationalen wurden auf der Grundlage des
Marxismus gegründet und so gesehen verkörpern sie einen beträchtlichen
Schritt nach vorn gegenüber der 1. Internationalen, die ein Bündnis
verschiedener Tendenzen innerhalb der Arbeiterbewegung gewesen war.
Aber da sie in einer Periode von enormen kapitalistischen Wachstum
wirkten, als der Kampf um Reformen im Mittelpunkt der Aktivitäten der
Arbeiterklasse stand, waren die demokratischen Parteien besonders
anfällig für den Druck der Integration in das kapitalistische System.
Dieser Druck zeigte sich innerhalb dieser Parteien durch die
Entwicklung reformistischer Strömungen. Diese Strömungen
argumentierten, zum einen müssten die marxistischen Vorhersagen über
den unvermeidlichen Sturz des Kapitalismus überarbeitet werden, zum
anderen sei es durchaus möglich, ohne revolutionäre Unterbrechungen
friedlich zum Sozialismus zu gelangen.
Während
dieser Periode, besonders in den späten 90er Jahren des 19. und Anfang
des 20. Jahrhunderts, wurde die Kontinuität des Marxismus von den
„linken“ Strömungen aufrechterhalten, die kompromisslos die
grundlegenden marxistischen Prinzipien verteidigten.
Sie
sahen als erste, dass der proletarische Kampf unter neuen Bedingungen
stattfand, als der Kapitalismus die Grenzen seiner aufstrebenden Epoche
erreicht hatte.
Die
Namen, die stellvertretend für den linken Flügel der Sozialdemokratie
stehen, sind sehr bekannt: Lenin in Russland, Luxemburg in Deutschland,
Pannekoek in Holland, Bordiga in Italien. Aber es ist ebenso wichtig,
sich daran zu erinnern, dass niemand dieser Militanten isoliert
arbeitete. Während das Feuer des Opportunismus durch die Internationale
wütete, verbanden sie sich zunehmend miteinander und arbeiteten als
organisierte Fraktion – die Bolschewiki in Russland, die Gruppe
„Tribune“ in Holland, beide sowohl in ihren jeweiligen Parteien wie
auch international.
5.
Der imperialistische Krieg von 1914 und die russische Revolution von
1917 bestätigten die marxistische Sichtweise, dass der Kapitalismus
unweigerlich in eine „Epoche der sozialen Revolution“ eintreten würde,
und beschleunigten eine grundlegende Spaltung innerhalb der
Arbeiterbewegung.
Zum
ersten Mal fanden sich Organisationen, die sich alle auf Marx und
Engels beriefen, auf beiden Seiten der Barrikaden wieder: die
offiziellen sozialdemokratischen Parteien, deren Mehrheit in die Hände
der ehemaligen „Reformisten“ gefallen war, und die den
imperialistischen Krieg unterstützten, wobei sie sich auf Marxens
Frühschriften beriefen und die Oktoberrevolution denunzierten, indem
sie darlegten, dass Russland erst die Phase der bürgerlichen
Entwicklung zu durchlaufen hätte. Damit wechselten sie unwiderruflich
ins Lager der Bourgeoisie, rekrutierten für den Krieg 1914 und wurden
die Bluthunde der Konterrevolution von 1918.
Dies
zeigt sehr deutlich, dass die Anhängerschaft zum Marxismus nicht in
frommen Sprüchen oder Parteietiketten besteht, sondern in der
lebendigen, praktischen Arbeit. Es waren allein Strömungen des linken
Flügels, die das Banner des proletarischen Internationalismus während
des imperialistischen Holocausts hochhielten, sich zur Verteidigung der
proletarischen Revolution in Russland sammelten und die Streiks und
Aufstände anführten, die in zahlreichen Ländern im Krieg ausbrachen.
Und es waren genau dieselben Strömungen, die den Kern der neuen
Kommunistischen Internationale von 1919 bildeten.
6.
1919 war der Höhepunkt der revolutionären Welle nach dem Krieg. Die
Positionen der Kommunistischen Internationalen auf ihrem
Gründungskongress waren die fortgeschrittensten der proletarischen
Bewegung: - für den totalen Bruch mit den Verrätern - für
Massenaktionen und Massenstreiks, wonach die neue Periode der
imperialistischen Dekadenz verlangte - für die Zerschlagung des
kapitalistischen Staates - für die internationale Diktatur der
Arbeiterräte.
Diese
Programmatik zeigte ganz deutlich den Einfluss der revolutionären
Welle, aber sie war schon zuvor durch die politischen und theoretischen
Beiträge der linken Fraktionen innerhalb der alten Parteien vorbereitet
worden: Beispielsweise hatten Luxemburg und Pannekoek gegen Kautskys
legalistische Sichtweise der schrittweisen Machtergreifung die
Konzeption des Massenstreiks als den Kernpunkt der Revolution
herausgearbeitet. Gegen Kautskys parlamentarischen Kretinismus hatten
Pannekoek, Bucharin und Lenin erneut Marxens Insistieren auf der
Notwendigkeit, den bürgerlichen Staat zu zerschlagen und den
„Kommunestaat“ zu gründen, in Erinnerung gerufen und weiterentwickelt.
Diese theoretischen Entwicklungen sollten in der Stunde der Revolution
zum Bestandteil der praktischen Politik werden.
7.
Der Rückgang der revolutionären Welle und die Isolation der russischen
Revolution verursachten innerhalb der kommunistischen Internationale
und der Rätemacht in Russland einen Prozess der Degeneration. Die
bolschewistische Partei verschmolz zunehmend mit einem bürokratischen
Staatsapparat, der in umgekehrtem Verhältnis zu den proletarischen
Macht- und Beteiligungsorganen - den Sowjets, den Fabrikkomitees und
Roten Garden - anwuchs. Innerhalb der Internationalen erzeugten die
Versuche, Massenunterstützung in einer Phase zurückflutender
Massenaktionen zu gewinnen, opportunistische „Lösungen“ - eine
zunehmende Tendenz zur Arbeit in den Parlamenten und den
Gewerkschaften, den Appell an die „Völker des Ostens“, sich gegen den
Imperialismus zu erheben, und besonders die Politik der Einheitsfront,
die die mühsam gewonnene Klarheit über das Wesen der Sozialpatrioten
zerstörte.
Aber
eben in dem Maße, wie der Opportunismus in der 2.Internationalen wuchs,
rief er eine proletarische Antwort in Form der linken Strömungen
hervor. Es waren die Strömungen der Kommunistischen Linken, die der
Flut des Opportunismus der 3. Internationalen widerstanden. Viele
Wortführer der Kommunistischen Linken wie Pannekoek und Bordiga hatten
sich bereits in der alten Internationalen als die besten Vertreter des
Marxismus gezeigt.
Die
Kommunistische Linke war im Kern eine internationale Strömung mit
Niederschlag in vielen Ländern - von Bulgarien bis England, von den USA
bis Südafrika. Aber die bedeutendsten Repräsentanten konnte man in
jenen Ländern finden, in denen die marxistische Tradition am stärksten
war: in Deutschland, Italien und Russland.
8.
In Deutschland verband sich die Tiefe der marxistischen Tradition mit
dem gewaltigen Einfluss der proletarischen Massenbewegung. Dies
erzeugte einige der fortgeschrittensten politischen Positionen,
beispielsweise in Fragen des Parlamentarismus und der Gewerkschaften.
Der
Linkskommunismus erschien als Antwort auf die ersten Anzeichen des
Opportunismus in der deutschen KPD und in der Internationalen.
Speerspitze des Linkskommunismus war die KAPD, die sich 1920 bildete,
als die linke Opposition in der KPD durch ein hinterhältiges Manöver
ausgeschlossen wurde. Von der Führung der Kommunistischen
Internationalen als „infantil“ und „anarchosyndikalistisch“ beschimpft,
basierte ihre Ablehnung des alten Parlamentarismus und der
Gewerkschaftstaktiken auf einer profunden marxistischen Analyse der
Dekadenz des Kapitalismus, die diese Taktiken überflüssig machten und
an ihre Stelle neue Formen der Klassenorganisation setzte: die
Fabrikkomitees und die Arbeiterräte.
Das
Gleiche gilt für die rigorose Ablehnung der alten Massenparteikonzepte
der Sozialdemokratie, an deren Stelle die Propagierung einer Partei mit
einem klaren programmatischen Kern, eine direkt vom Bolschewismus
übernommene Position, trat. Die unversöhnliche Verteidigung dieser
Errungenschaften gegen eine Rückkehr zur alten sozialdemokratischen
Taktik machte die KAPD zum Kern einer internationalen Strömung, die in
einer Reihe von Ländern einen Widerhall fand. Beispielsweise in
Holland, dessen revolutionäre Bewegung durch die Arbeit Gorters und
Pannekoeks eng mit Deutschland verbunden war. Dies soll nicht heißen,
dass der Linkskommunismus in Deutschland nicht an gravierenden
Schwächen litt. Seine Tendenz, den Niedergang des Kapitalismus eher in
Form einer endgültigen „Todeskrise“ statt eines langwierigen
Niedergangsprozesses zu betrachten, machte es für ihn schwierig, das
Abebben der revolutionären Welle zu erkennen, und machte ihn anfällig
für die Gefahr des Voluntarismus. Hierdurch kam es zu deutlichen
Schwächen in der Organisationsfrage, was dazu führte, vorschnell mit
der KI zu brechen und 1922 eine neue Internationale zu gründen. Diese
„Risse in seiner Rüstung“ hinderten den Linkskommunismus in Deutschland
und Holland daran, der in den 20er Jahren einsetzenden Woge der
Konterrevolution zu widerstehen. Vielfach durch die Ideologie des
„Rätekommunismus“ verseucht, führte dies zu einem desaströsen Prozess
der Zersplitterung und der Verneinung der Notwendigkeit einer klaren
politischen Organisation.
9.
In Italien andererseits war die Kommunistische Linke, die anfänglich
eine Mehrheitsposition innerhalb der Kommunistischen Partei Italiens
(KPI) innehatte, besonders klar in der Organisationsfrage. Dies half
ihr nicht nur einen mutigen Kampf gegen den Opportunismus innerhalb der
degenerierenden Internationale zu führen, sondern außerdem eine
kommunistische Fraktion ins Leben zu rufen, die in der Lage war, den
Schiffbruch der revolutionären Bewegung zu überleben und darüber hinaus
die marxistische Theorie während der dunklen Nacht der Konterrevolution
weiterzuentwickeln. Schon während der frühen 20er Jahre basierten ihre
Argumente gegen die Beteiligung am bürgerlichen Parlament, gegen das
Verschmelzen der kommunistischen Vorhut mit den großen zentristischen
Parteien um der Illusion des „Masseneinflusses“ willen, gegen die
Parolen der „Einheitsfront“ und der „Arbeiterparlamente“ auf einem
tiefen Verständnis der marxistischen Methode.
Das
Gleiche gilt für ihre Analyse des neuen Phänomens, des Faschismus, und
ihre konsequente Ablehnung jedweder antifaschistischen Front mit den
Parteien der „demokratischen“ Bourgeoisie. Der Name Bordiga ist
unwiderruflich mit dieser Phase in der Geschichte der italienischen
Kommunistischen Linken verbunden. Aber trotz des sehr hohen
Stellenwerts des militanten Beitrages dieses Genossen ist die
italienische Linke ebenso wenig auf Bordiga zu reduzieren wie der
Bolschewismus auf Lenin: Beide sind organische Produkte der
proletarischen, politischen Bewegung.
10.
Wie bereits aufgezeigt, resultierte die Isolation der Revolution in
Russland aus der zunehmenden Trennung zwischen der Arbeiterklasse und
einem wachsenden bürokratischen Staatsapparat – dessen tragischster
Ausdruck die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes der Arbeiter
und Matrosen durch die eigene Partei der Arbeiter, durch die
bolschewistische Partei war, die sich mehr und mehr mit dem Staat
verband.
Aber
gerade weil sie eine proletarische Partei war, produzierte der
Bolschewismus eine Reihe innerer Reaktionen gegen die eigene
Degeneration. Lenin selbst, der 1917 der klarste Sprecher des linken
Parteiflügels war, verfasste vor allem kurz vor seinem Lebensende
einige scharfe und äußerst zutreffende Kritiken gegenüber dem Abgleiten
der Partei in den Bürokratismus. Und ungefähr zur gleichen Zeit wurde
Trotzki zum Hauptrepräsentanten einer linken Opposition, die versuchte,
zum einen die proletarische Demokratie innerhalb der Partei
wiederherzustellen, zum anderen die schlimmsten Auswüchse der
stalinistischen Konterrevolution, wie die Theorie des „Sozialismus in
einem Land“, zu bekämpfen. Aber weil der Bolschewismus in einem hohen
Maße seine Rolle als proletarische Vorhut durch die Verschmelzung mit
dem Staat untergraben hatte, neigten die meisten wichtigen Strömungen
in der Partei dazu, von weniger bekannten Persönlichkeiten geführt zu
werden, die dafür aber näher an der Klasse als an der Staatsmaschine
standen. Schon 1919 hatte die demokratisch, zentralistische Gruppe,
angeführt von Ossinski, Smirnow und Sopranow, vor dem „Absterben“ der
Räte und dem zunehmenden Abrücken von den Prinzipien der Pariser
Kommune gewarnt. Ähnliche Kritiken äußerte 1921 die Arbeiteropposition
unter der Führung von Kollontai und Schljapnikow, die sich allerdings
später als weniger rigoros und überlebensfähig als die Gruppe „Dezist“
erwies, die in den 20ern fortfuhr, eine bedeutsame Rolle zu spielen,
und sich anschickte, einen ähnlichen Weg wie die italienische Linke zu
gehen.
1923
veröffentlichte die Arbeitergruppe unter der Führung von Miasnikow ihr
Manifest und unternahm eine wichtige Intervention in den
Arbeiterstreiks. Ihre Positionen waren sehr nah bei denen der KAPD
angesiedelt.
All
diese Gruppen tauchten nicht außerhalb der bolschewistischen Partei
auf, sie blieben innerhalb der Partei, um für eine Rückkehr zu den
ureigensten Prinzipien der Revolution zu kämpfen. Aber als die Kräfte
der bürgerlichen Konterrevolution innerhalb der Partei Fuß fassten,
wurde es zur Schlüsselfrage der verschiedenen Oppositionsgruppen, die
wahre Natur dieser Konterrevolution zu erkennen und mit jeder
sentimentalen Loyalität gegenüber ihren organisierten Ausdrücken zu
brechen.
Die
grundlegende Divergenz zwischen Trotzki und der russischen
Kommunistischen Linken war folgende: Während Trotzki zeitlebens die
Sowjetunion und sogar die proletarische Klassennatur der
stalinistischen Partei verteidigte, erkannten die Linkskommunisten in
dem Triumph des Stalinismus trotz seiner „linken Schwenks“, die viele
trotzkistische Genossen sehr verwirrte, den Triumph des Klassenfeindes
und schlossen daraus auf die Notwendigkeit für eine neue Revolution.
Wie
dem auch sei: Viele der besten trotzkistischen Oppositionellen – die
sogenannten „Unversöhnlichen“ - wechselten zu den Positionen der
Kommunistischen Linken in den späten 20er und frühen 30er Jahren. Doch
gegen Ende des Jahrzehnts hatte der stalinistische Terror diese Gruppen
gänzlich vernichtet.
11.
Die 30er Jahre waren, um es mit den Worten Victor Serges zu sagen die
„Mitternacht des Jahrhunderts“. Die letzten Brandherde der
revolutionären Welle – der Generalstreik in England 1926, der Aufstand
in Schanghai 1927 - waren verloschen. Aus den einstmals kommunistischen
Parteien waren Parteien der nationalen Verteidigung geworden. Der
faschistische und stalinistische Terror wütete am schlimmsten gerade in
jenen Ländern, in denen die revolutionäre Bewegung am weitesten
gediehen war; und die gesamte kapitalistische Welt bereitete sich auf
einen weiteren Holocaust vor. Unter diesen Bedingungen sahen sich die
überlebenden revolutionären Minderheiten mit Exil, Repression und einer
wachsenden Isolation konfrontiert. So wie die Klasse als Ganzes der
Demoralisierung und der Kriegsideologie der Bourgeoisie erlag, konnten
die Revolutionäre nicht hoffen, einen großen Einfluss auf die
unmittelbaren Klassenkämpfe zu haben.
Trotzkis
Fehleinschätzung dieser Situation sollte seine linke Opposition in eine
zunehmende opportunistische Richtung lenken - die französische
„Kehrtwende“, zurück in die sozialdemokratischen Parteien, Kapitulation
vor dem Antifaschismus usw., in der vergeblichen Hoffnung, „die Massen
zu gewinnen“. Der Höhepunkt dieses Kurses, eher für den Trotzkismus als
für Trotzki selbst, war die Integration in die Kriegsmaschinerie der
Bourgeoisie in den 40er Jahren. Seitdem sind der Trotzkismus ebenso wie
die Sozialdemokratie und der Stalinismus fester Bestandteil des
kapitalistischen Herrschaftsapparates und egal, was für formale
Ansprüche sie haben, sie haben nichts mit einer Kontinuität des
Marxismus zu tun.
12.
Entgegengesetzt zu dieser Entwicklung definierte die italienische
Fraktion um die Zeitschrift BILAN die zentralen Aufgaben der Stunde
folgendermaßen: erstens nicht die grundlegenden Prinzipien des
Internationalismus angesichts des voranschreitenden Krieges zu
verraten; zweitens eine Analyse des Scheiterns der revolutionären Welle
im ganzen und der russischen Revolution im Besonderen vorzulegen und
sorgfältig die geeigneten Lehren so herauszuarbeiten, dass sie als
theoretische Grundlagen der neuen Parteien dienen können, die aus einer
zukünftigen Wiederbelebung des Klassenkampfes hervortreten würden.
Der
Krieg in Spanien war ein besonders harter Test für die damaligen
Revolutionäre. Viele von ihnen hatten schon vor dem antifaschistischen
Sirenengeheul kapituliert. Sie waren unfähig zu sehen, dass der auf
allen Seiten imperialistische Krieg eine Generalprobe für den kommenden
Weltkrieg war. BILAN blieb standhaft und rief zum Klassenkampf sowohl
gegen die faschistischen als auch gegen die republikanischen Fraktionen
der Bourgeoisie auf, so wie Lenin beide Lager des 1. Weltkrieges
denunziert hatte.
Zur
selben Zeit gewannen die theoretischen Ausarbeitungen dieser
Strömungen, die später in Belgien, Frankreich, und Mexiko Fraktionen
hervorbringen sollten, stark an Bedeutung: ihre Analyse des Niedergangs
der russischen Revolution – die nie den proletarischen Charakter von
1917 in Frage stellte; ihre Untersuchung der Probleme der
Übergangsperiode; ihre Arbeit über die Wirtschaftskrise und die Wurzeln
der kapitalistischen Dekadenz; ihre Zurückweisung der Position der
Kommunistischen Internationalen (KI) zur Unterstützung „nationaler
Befreiungskämpfe“; ihre Ausarbeitungen zur Frage der Klasse und der
Fraktion; ihre ständigen und brüderlichen Polemiken mit anderen
proletarischen politischen Strömungen. In diesen und vielen anderen
Bereichen erfüllte die italienische Linke unbestritten eine
hervorragende Aufgabe, indem sie die pragmatische Grundlage für die
proletarische Partei festlegte.
13.
Die gänzliche Zerschlagung der Gruppen der Kommunistischen Linken in
Deutschland wurde durch den Naziterror vollzogen. Einige geheime
revolutionäre Aktivitäten wurden unter dem Hitlerregime fortgesetzt.
Während der 30er Jahre wurde die Verteidigung revolutionärer Positionen
der deutschen Linken in Holland bewerkstelligt, insbesondere durch die
Arbeit der Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK), in Amerika durch
eine Gruppe unter Führung von Paul Mattick. So wie Bilan blieb die
Holländische Linke, selbst angesichts der Vielzahl von lokalen
imperialistischen Kriegen, die den Weg zum globalen Massenkrieg
säumten, dem Internationalismus treu und widerstand den Verlockungen
der „Verteidigung der Demokratie“.
Sie
fuhr fort, ihr Verständnis in der Gewerkschaftsfrage zu vertiefen, in
der Frage neuer Formen der Arbeiterorganisation in der Epoche des
kapitalistischen Niederganges, in der Frage der materiellen Wurzeln der
kapitalistischen Krise sowie in der Frage der Tendenz zum
Staatskapitalismus. Ebenso behielt sie ihre wichtige Rolle während der
Intervention im Klassenkampf bei, insbesondere in bezug auf die
Arbeitslosen. Doch die holländische Linke schlingerte, traumatisiert
durch die Niederlage der russischen Revolution, zunehmend in die
rätistische Ablehnung der politischen Organisation - und dies hatte
auch für ihre Klarheit über ihre eigene Rolle Folgen. Hiermit war eine
völlige Ablehnung des Bolschewismus und der russischen Revolution, die
als von Beginn an bürgerlich abgetan wurde, verbunden. Diese Theorien
waren die Saat des späteren Unterganges. Und obgleich der
Linkskommunismus in Holland selbst die Nazibesatzung überlebte und gar
eine wichtige Organisation nach dem Krieg hervorbrachte– den
Spartacusbond -, die sich zunächst der Position der KAPD in der
Parteifrage wieder annäherte, machten es die Konzessionen der
Holländischen Linken gegenüber dem Anarchismus in der
Organisationsfrage dem Spartacusbond unglaublich schwierig, in den
kommenden Jahren organisatorisch zu überleben. Heute stehen wir kurz
vor dem Verschwinden dieser Strömung.
14.
Die italienische Linke andererseits behielt ihre organisatorische
Kontinuität bei, wenngleich auch hier die Konterrevolution ihren Preis
forderte. Kurz vor dem Krieg gab es bei der italienischen Linken große
Verwirrung wegen der „Theorie der Kriegswirtschaft“, die das
Bevorstehen des Krieges verneinte. Aber sie setzte ihre Arbeit fort,
besonders durch die Gründung einer französischen Fraktion mitten im
imperialistischen Krieg. Gegen Ende des Krieges verursachte der
Ausbruch größerer proletarischer Streiks weitere Konfusionen in den
Reihen der Fraktion. Die Mehrheit kehrt nach Italien zurück und gründet
mit Bordiga, der seit den späten 20er Jahren politisch inaktiv war, die
Internationalistische Kommunistische Partei Italiens, die sich zwar
gegen dem imperialistischen Krieg widersetzte, aber auf ein unklares
Programm sowie eine falsche Analyse der damaligen Periode stützte, die
sie als eine Zeit ansteigender Klassenkämpfe einschätzte.
Diese
politische Richtung wurde durch die Mehrheit der französischen Fraktion
bekämpft, die schneller erkannte, dass die Periode durch die siegreiche
Konterrevolution geprägt war und somit die Aufgaben der Fraktion noch
nicht vollendet waren. Die Gauche Communiste de France (GCF) setzte
ihre Arbeit im Geiste Bilans fort, und während sie ihre Verantwortung
zur Intervention im unmittelbaren Klassenkampf nicht leugnete, richtete
sie doch ihre Hauptenergie auf die Arbeit zur Klärung politischer und
theoretischer Fragen. Sie machte eine Reihe wichtiger Fortschritte
besonders in der Frage des Staatskapitalismus, der Übergangsperiode,
der Gewerkschaftsfrage und der Partei. Da die Beibehaltung der streng
marxistischen Methode so typisch für die italienische Linke war, konnte
sie einige der besten Beiträge der deutsch-holländischen Linken in
ihrem programmatischen Fundus mit aufnehmen.
15.
Bis 1952 hatte sich die GCF, fälschlicherweise vom unausweichlichen 3.
Weltkrieg überzeugt, faktisch aufgelöst. Im selben Jahr spaltete sich
die IKP in Italien in eine „bordigistische“ Richtung und jene unter der
Führung von Onarato Damen, einem Militanten, der auch während der
faschistischen Periode politisch aktiv geblieben war. Die
„bordigistische“ Richtung war klarer in ihrem Verständnis der
reaktionären Natur dieser Periode. Aber sie tendierte bei ihrem
Bemühen, den Marxismus standfest zu verteidigen, dazu, dem Dogmatismus
zu verfallen. Ihre (neue!) Theorie der „Invarianz des Marxismus“
(„Unveränderlichkeit“) verleitete sie dazu, die von der Fraktion in den
30er Jahren gemachten Fortschritte wieder zu negieren und in vielen
Punkten wieder zu der „Orthodoxie“ der Kommunistischen Internationale
zurückzukehren. Die verschiedenen bordigistischen Gruppen von heute (es
gibt alleine drei von ihnen, die sich selbst als „Internationale
kommunistische Partei“ bezeichnen) sind die direkten Nachkommen dieser
Tendenz. Die Richtung um Damen besaß eine viel größere Klarheit in
grundlegenden politischen Fragen, wie zum Beispiel der Rolle der
Partei, der Gewerkschaften, der nationalen Befreiung und des
Staatskapitalismus, aber sie drang nie zu den ursprünglichen
schwerwiegenden Fehlern vor, wie sie in der Gründung der IKP angelegt
waren. Während der 50er und 60er Jahre stagnierten diese Gruppen,
besonders die bordigistische Strömung, die sich hinter einer Mauer des
Sektierertums verschanzte. Die Bourgeoisie war ihrem Ziel der
Eliminierung aller organisierten Ausdrücke des Marxismus dadurch sehr
nahe gekommen, indem sie das lebenswichtige Glied zerbrach, das die
revolutionären Organisationen mit der großen Tradition der
Arbeiterbewegung verbindet.
16.
Gegen Ende der 60er Jahre erschien das Proletariat mit dem
Generalstreik in Frankreich vom Mai 1968 und der nachfolgenden
Explosion von Arbeiterkämpfen überall auf der Welt wieder auf der
geschichtlichen Bühne. Dieses Wiederauftauchen brachte eine neue
Generation politisierter Elemente hervor, die sich um Klärung
kommunistischer Positionen bemühte. Es stimulierte die existierenden
revolutionären Gruppen und führte zur Bildung neuer Gruppen, die
versuchten, das linkskommunistische Erbe anzutreten. Zunächst war
dieses neue politische Milieu aufgrund seiner Abgrenzung gegenüber dem
„autoritären“ Image des Bolschewismus stark von der rätekommunistischen
Ideologie beeinflusst. Als es heranreifte, verstand dieses Milieu es
zunehmend, seine gegen die Organisation gerichtete Haltung aufzugeben
und seine Kontinuität mit der gesamten marxistischen Tradition zu
erkennen. Es ist kein Zufall, dass heute die meisten Strömungen des
revolutionären Milieus von derjenigen italienischen linken Strömung
abstammen, die ein so starkes Gewicht auf die Organisationsfrage und
die Aufrechterhaltung einer intakten revolutionären Tradition gelegt
hat. Beide bordigistischen Gruppen und das Internationale Büro für die
Revolutionäre Partei (IBRP) sind die Erben der Internationalistischen
Kommunistischen Partei Italiens, während die IKS (Internationale
Kommunistische Strömung) hauptsächlich ein Nachkommen der französischen
Linken, der GCF ist.
17. Die proletarische Wiederbelebung in den späten 60ern ist einem schwierigen Weg gefolgt.
Sie
hat Auf- und Abschwünge erlebt und traf dabei auf viele
Schwierigkeiten. Aber keine war größer als die mächtige Kampagne der
Bourgeoisie vom angeblichen „Tod des Kommunismus“. Diese Kampagne war
selbst Teil der direkten Angriffe auf die Kommunistische Linke, die
fälschlicherweise als „Negationsströmung“ beschimpft wurde, welche die
Existenz der Nazigaskammern verleugnet. Die Schwierigkeiten dieses
Gesamtprozesses wiederum haben viele Steine in den Weg des
revolutionären Milieus gelegt, was sein Wachstum und seine Einigung
behinderte. Aber trotz all dieser Widrigkeiten ist und bleibt die
linkskommunistische Strömung von heute die einzige lebendige
Kontinuität des authentischen Marxismus, die einzig mögliche Brücke zur
Bildung der zukünftigen kommunistischen Weltpartei.
Deshalb
ist es sehr wichtig, dass sich, komme, was da wolle, jene neuen
militanten Elemente, überall auf der Welt in dieser Periode weiterhin
entfalten, sich mit den Gruppen der Kommunistischen Linken verbinden,
mit ihnen diskutieren, und schlussendlich mit ihnen zusammenwachsen.
Wenn sie das tun, werden sie ihren eigenen Beitrag zum Aufbau der
revolutionären Partei leisten, ohne die es keine erfolgreiche
Revolution geben kann.