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Vor 80 Jahren im März 1921, vier Jahre nach der erfolgreichen Machtübernahme durch die Arbeiterklasse in der russischen Oktoberrevolution 1917, unterdrückte die bolschewistische Partei gewaltsam eine Erhebung in der Garnison der baltischen Flotte in Kronstadt auf der kleinen Insel Kotlin im finnischen Meerbusen, 30 Kilometer von Petrograd entfernt.
Die bolschewistische Partei hatte im Kampf gegen die konterrevolutionären Armeen der russischen und ausländischen Bourgeoisien eine mehrjährige Erfahrung im Führen eines blutigen Bürgerkrieges gesammelt. Doch der Aufstand der Kronstädter Garnison war neu und anders: Es war ein Aufstand von Innen, von der Arbeiterklasse, die das Sowjetregime unterstützt hatte, die die Avantgarde der Oktoberrevolution gewesen war und nun Klassenforderungen aufstellte, um etliche inakzeptable Deformationen und Verirrungen der neuen Machthaber zu korrigieren.
Die gewaltsame Niederschlagung dieses Kampfes bildete seitdem einen Bezugspunkt für das Verständnis der Bedeutung des revolutionären Projektes. Und heute, wo die Bourgeoisie alles daran setzt, der Arbeiterklasse zu beweisen, dass es einen unerschütterlichen Zusammenhang zwischen Marx und Lenin sowie Stalin und dem Gulag gibt, um so mehr.
Wir haben nicht die Absicht, in alle historischen Details zu gehen. Frühere Artikel in der Internationalen Revue haben sich mit dem Ereignis bereits detailliert befasst. (Internationale Revue, engl./franz./span. Ausgabe, Nr. 3: „Die Lehren von Kronstadt“, und Nr. 100: „Das Proletariat und der Staat in der Übergangsperiode“)
Im Gegenteil, wir wollen die Gelegenheit dieses Jubiläums wahrnehmen, um uns polemisch mit zwei Arten von Argumenten über den Aufstand von Kronstadt auseinanderzusetzen: erstens die anarchistische Verwendung der Ereignisse, um die autoritäre, konterrevolutionäre Natur des Marxismus und der Parteien, die in seinem Namen agieren, zu beweisen; zweitens der Gedanke, der noch immer im proletarischen Lager heute existiert, wonach die Niederschlagung der Rebellion eine „tragische Notwendigkeit“ gewesen sei, um die Errungenschaften des Oktobers zu verteidigen.
Die anarchistische Sichtweise
Der anarchistischen Historiker Voline schreibt: „Lenin hat von der Kronstädter Bewegung nichts begriffen – oder wollte vielmehr nichts begreifen. Für ihn und seine Partei ging es einzig und allein darum, die Macht zu behaupten, koste es was es wolle. (...) Als autoritäre und staatsgläubige Marxisten konnten die Bolschewiki keine Freiheit der Massen zulassen, keine Unabhängigkeit ihrer Aktion. Sie hatten überhaupt kein Vertrauen in die freien Massen. Sie waren überzeugt, dass der Sturz ihrer Diktatur das Ende des ganzen begonnenen Werkes, die Gefährdung der Revolution überhaupt bedeuten würde, der Revolution, mit der sie ihre Diktatur verwechselten. (...) Kronstadt war der erste vollkommen unabhängige Versuch des Volkes, sich von jedem Joch zu befreien und die Soziale Revolution zu verwirklichen: Es war ein direkter, entschlossener und kühn durchgeführter Versuch der werktätigen Massen selbst, ohne „politische Hüter“, ohne „Führer“ oder Vormund. Kronstadt war der erste Schritt zur Dritten, zur Sozialen Revolution. Kronstadt fiel. Aber es tat, was es tun musste, und das ist das Entscheidende. In dem verwirrenden und finsteren Labyrinth der Wege, die sich den revolutionären Massen anbieten, ist Kronstadt ein strahlender Leuchtturm, der den richtigen Weg erhellt. Dabei ist es unwichtig, dass die Aufständischen – unter den spezifischen Bedingungen – noch von einer Macht (der Sowjets) sprachen, anstatt den Begriff und die Vorstellung einer Macht für immer zu verbannen, anstatt von Koordination, Organisation und Administration zu sprechen. Dies war der letzte Tribut an die Vergangenheit. Wenn die uneingeschränkte Diskussions-, Organisations- und Handlungsfreiheit von den werktätigen Massen selbst endgültig errungen sein wird, wenn der wahre Weg der unabhängigen Aktivität des Volkes beschritten sein wird, dann folgt alles übrige zwangsläufig, automatisch.“ (Voline, Der Aufstand von Kronstadt, Unrast-Verlag, Seiten 128 und 133. Originaltitel: Die unbekannte Revolution)
Für die Anarchisten, deren Sichtweisen Voline prägnant ausdrückt, war die Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes also die natürliche, logische Konsequenz aus den marxistischen Auffassungen der Bolschewiki. Der Substitutionismus der Partei, die Identität zwischen der Diktatur des Proletariats und der Parteidiktatur und die Schaffung eines Übergangsstaates seien Ausdruck ihrer überbordenden Gier nach Macht, Autorität über die Massen gewesen, in die sie kein Vertrauen besessen hätten. Bolschewismus bedeutete Voline zufolge die Ersetzung der einen Form der Unterdrückung durch eine andere.
Doch war Kronstadt für ihn nicht nur eine Revolte, sondern ein Modell für die Zukunft. Indem der Kronstädter Sowjet sich selbst auf wirtschaftliche und soziale Aufgaben (Koordination, Organisation, Administration) beschränkt, und sich nicht um politische Aufgaben (dem Gerede über die Sowjetmacht) geschert habe, habe er bildhaft gemacht, wie eine wahre soziale Revolution aussehen müsste: eine Gesellschaft ohne Führer, ohne Parteien, ohne Staat, ohne Macht jeglicher Art, eine Gesellschaft der sofortigen und völligen Freiheit.
Dumm nur für die Anarchisten, dass die erste Lektion sich auffällig mit der vorherrschenden Ideologie der Weltbourgeoisie deckt, wonach eine kommunistische Revolution nur zu einer neuen Form der Tyrannei führt.
Diese Übereinstimmung in der Sichtweise zwischen den Anarchisten und der Bourgeoisie ist nicht zufällig. Beide behandeln die Geschichte mit den Abstraktionen der Gleichheit, Solidarität und Brüderlichkeit gegen Hierarchie, Tyrannei und Diktatur. Die Bourgeoisie benutzte diese moralischen Prinzipien zynisch und heuchlerisch gegen die Oktoberrevolution, um die Brutalität der konterrevolutionären Kräfte zwischen 1918 und 1920 zu rechtfertigen, als sie bewaffnete Interventionen gegen Russland anführte und es wirtschaftlich strangulierte. Die praktische Alternative der Anarchisten zum Bolschewismus ist auf der anderen Seite eine naive Utopie, wo die historischen Probleme, denen die proletarische Revolution gegenüber steht, auf mysteriöse Weise wegschmelzen.
Doch wie die Ereignisse von Spanien 1936 bestätigen, bleibt der anarchistischen Naivität, nachdem sie die marxistische historische Konzeption der Revolution verworfen hat, nur noch, vor der praktischen Konterrevolution der Bourgeoisie zu kapitulieren.
Wenn die Bolschewiki grundsätzlich von einer Manie für die völlige Machtausübung motiviert waren, wie Voline behauptet, dann ist der Anarchismus im Gegensatz dazu unfähig, auf eine ganze Reihe von Fragen zu antworten, die von der historischen Realität aufgeworfen werden. Wenn das ultimative Ziel der Bolschewiki die Macht war, warum verdammten sie sich dann, anders als die Mehrheit der Sozialdemokraten, selbst zu einer Periode der Ächtung zwischen 1914 und 1917, als sie den imperialistischen Krieg denunzierten und dazu aufriefen, ihn in einen Bürgerkrieg zu verwandeln? Warum weigerten sie sich dann, anders als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre, zusammen mit der liberalen Bourgeoisie Russlands nach der Februarrevolution von 1917 der Provisorischen Regierung beizutreten, und forderten stattdessen: „Alle Macht den Räten“?
Warum vertrauten sie den Fähigkeiten der russischen Arbeiterklasse, im Oktober die proletarische Weltrevolution zu beginnen, anders als der überwiegende Rest der internationalen Sozialdemokratie, die das dortige Proletariat für zu rückständig und zahlenmäßig für zu klein hielten, um die Bourgeoisie zu stürzen?
Warum vertrauten sie der Unterstützung durch die Arbeiterklasse, errangen und behielten sie, als es darum ging, die notwendigen Opfer zu erbringen, um die alliierte Blockade zu überleben und mit Waffen in den Händen den konterrevolutionären Armeen zu widerstehen?
Wie ist es zu erklären, dass sie das Weltproletariat dazu inspirierten, dem russischen Vorbild mit eigenen revolutionären Versuchen in ganz Europa und in der restlichen Welt zu folgen? Wie konnte die bolschewistische Partei die Initiative bei der Schaffung einer neuen Kommunistischen Internationalen auf Weltebene übernehmen?
Und schließlich: Weshalb trat der Integrationsprozess der Partei in die Staatsmaschinerie, ihre Aneignung der Massenorgane der Arbeitermacht – die Arbeiterräte und Fabrikkomitees – und letztendlich der Gebrauch von Gewalt gegen den Klassenkampf nicht über Nacht auf, sondern erst nach einer längeren Periode?
Die Theorie von der den Bolschewiki innewohnenden „Boshaftigkeit“ erklärt weder die Degeneration der Russischen Revolution im Allgemeinen noch die Kronstädter Episode im Besonderen.
Ab 1921 war die Revolution in Russland und die sie anführende bolschewistische Partei mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Die Ausbreitung der Revolution auf Deutschland und andere Länder schien weitaus weniger wahrscheinlich als 1919. Die Lage der Weltwirtschaft hatte sich verhältnismäßig stabilisiert, und der Spartakusaufstand, Angelpunkt der Weltrevolution, war gescheitert. Innerhalb Russlands war die Lage, trotz des Sieges im Bürgerkrieg, infolge der wiederholten Anschläge durch konterrevolutionäre Armeen und der wirtschaftlichen Strangulierung, die von der internationalen Bourgeoisie bewusst organisiert worden war, dramatisch. Die industrielle Infrastruktur lag in Trümmern, und die Arbeiterklasse war durch ihre Opfer auf den Schlachtfeldern zunächst im Ersten Weltkrieg und dann im Bürgerkrieg und schließlich dadurch dezimiert, dass sie in Scharen die Städte verlassen und aufs Land gehen mussten, um zu überleben. Auch sahen sich die Bolschewiki einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem Regime nicht nur unter den Bauern gegenüber, die eine Reihe von Erhebungen in den Provinzen in Gang setzten, sondern vor allem unter den Arbeitern, die Mitte Februar 1921 eine Streikwelle in Petrograd auslösten. Und dann kam Kronstadt.
Wie konnte Russland eine Bastion der Weltrevolution bleiben, die Verdrossenheit der Arbeiterklasse und die wirtschaftliche Auflösung überstehen und gleichzeitig auf die späte Hilfe durch die Arbeiterrevolutionen in anderen Ländern und besonders in Europa warten? Die Anarchisten haben keine Erklärung für die Degeneration der Revolution, außer, ihre Augen vor dem Problem der politischen Souveränität des Proletariats, der Zentralisierung ihrer Macht, der internationalen Ausdehnung der Revolution und der Übergangsperiode zur kommunistischen Gesellschaft zu schließen. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Bolschewiki einem katastrophalen Irrtum aufgesessen waren, als sie auf den Aufstand von Kronstadt militärisch antworteten und den Widerstand der Arbeiterklasse als einen Akt des Verrates und der Konterrevolution behandelten. Doch die bolschewistische Partei konnte nicht von der nachträglichen Einsicht profitieren wie die heutigen Revolutionäre. Sie konnte lediglich die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu jener Zeit nutzen, die niemals zuvor mit der immens schwierigen Aufgabe konfrontiert war, sich innerhalb einer feindlichen, kapitalistischen Umwelt an der Macht zu halten. Weder das Verhältnis der Sowjets zur Partei der Arbeiterklasse nach der erfolgreichen Machtergreifung noch das Verhältnis von beiden zum Übergangsstaat, der unvermeidbar war, um den bürgerlichen Staat erfolgreich zu zerschlagen, war verstanden worden.
Als sie das Staatsruder übernahm und allmählich die Arbeiterräte und Fabrikkomitees dem Staat einverleibte, stocherte die bolschewistische Partei im Dunkeln. Gemäß der vorherrschenden Meinung innerhalb der damaligen Arbeiterbewegung kam die Hauptgefahr für die Revolution von außerhalb des neuen Staatsapparates: von der internationalen Bourgeoisie und von der Bauernschaft sowie der russischen Bourgeoisie im Exil. Keine Tendenz in der kommunistischen Bewegung zu jener Zeit, nicht einmal der linke Flügel, hatte eine alternative Perspektive, auch wenn es Manche, auch innerhalb der bolschewistischen Partei, gab, die vor der Bürokratisierung des Regimes warnten. Aber ihre Rezepte waren nur bedingt wirksam und enthielten zudem andere Gefahren. Die Arbeiteropposition von Kollontai und Schljapnikow forderte die Gewerkschaften auf, die Arbeiter gegen die staatlichen Exzesse zu verteidigen, und übersah dabei, dass die Arbeiterräte sie als Massenorgane des revolutionären Proletariats abgelöst hatten.
Es gab so manchen in der bolschewistischen Partei, der gegen die Zerschlagung der Revolte opponierte: die Parteimitglieder in Kronstadt, die sich der Bewegung anschlossen, und Elemente wie Gawrjil Miasnikow, der später die Arbeitergruppe gründen sollte und sich der militärischen Lösung widersetzte. Doch die existierenden linken Tendenzen in der Partei und in der Kommunistischen Internationalen unterstützten, trotz ihrer Kritik am bolschewistischen Regime, unbeirrt die Anwendung von Gewalt. Die Arbeiteropposition meldete sich gar freiwillig bei den Stoßtruppen. Die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands, die KAPD, die gegen die Parteidiktatur opponierte, stimmte dennoch der militärischen Handlungen gegen die Kronstädter Rebellion zu (dies hindert einige Anarchisten wie die Anarchistische Föderation in Großbritannien heute nicht daran, die KAPD als ihre Ahnen zu beanspruchen!).
Schließlich bildeten die Forderungen des Kronstädter Sowjets entgegen der Auffassung Volines keine kohärente, alternative Perspektive, da sie hauptsächlich in einem unmittelbaren und lokalen Kontext eingebunden waren und sich nicht mit den weiteren Auswirkungen für die proletarische Bastion und mit der Weltlage befassten. Insbesondere gaben sie keine Antwort darauf, wie die Rolle der Avantgardepartei aussehen sollte.921#_edn1">1
Erst später, viel später, versuchten Revolutionäre, all die Lehren aus der Niederlage der Russischen Revolution und der revolutionären Welle, die dadurch ausgelöst wurde, zu ziehen, und konnten so auf die wirklichen Lektionen dieser tragischen Episode hinweisen:
„Es mag sein, dass unter bestimmten Umständen das Proletariat – und wir wollen ihm sogar zugestehen, dass es unbewusstes Opfer der feindlichen Manöver ist – in den Kampf gegen den proletarischen Staat tritt. Was ist in einer solchen Situation zu tun? Wir müssen von dem Prinzip ausgehen, dass der Sozialismus dem Proletariat nicht mit Zwang und Gewalt aufoktroyiert werden kann. Es wäre besser gewesen, Kronstadt zu verlieren, als es vom geographischen Standpunkt aus festzuhalten, da dieser Sieg substantiell nur ein Resultat haben konnte: die Änderung der eigentlichen Basis, der Substanz der vom Proletariat ausgeübten Tat.“ (Octobre Nr. 2, März 1938, Organ des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken)
Die Linkskommunisten haben den Finger auf das wesentliche Problem gelegt: Die bolschewistische Partei hat, indem sie staatliche Gewalt gegen die Arbeiterklasse anwendete, sich selbst an die Spitze der Konterrevolution gesetzt. Der Sieg über Kronstadt beschleunigte die Tendenz der bolschewistischen Partei, zu einem Instrument des russischen Staates gegen die Arbeiterklasse zu werden. Aus dieser Einsicht heraus waren die Linkskommunisten in der Lage, andere, kühne Schlussfolgerungen zu ziehen. Die kommunistische Partei muss, um die Vorhut des Proletariats zu bleiben, ihre Autonomie gegenüber dem postrevolutionären Staat sicherstellen, der die unvermeidliche Tendenz hat, den Status quo zu erhalten und das Fortschreiten des revolutionären Prozesses zu verhindern.
Die bordigistische Sichtweise
Jedoch ist diese Schlussfolgerung weit davon entfernt, von den heutigen Linkskommunisten allgemein anerkannt zu werden. In der Tat sind einige von ihnen, besonders die bordigistische Strömung, in völligem Gegensatz zu der Position der italienischen Fraktion von 1938, zu den Rechtfertigungen Lenins und Trotzkis für die Unterdrückung Kronstadts zurückgekehrt: „Es wäre sinnlos, über die schrecklichen Umstände, welche die Bolschewiki zwangen, Kronstadt niederzuschlagen, mit jemandem zu diskutieren, der aus Prinzip dagegen ist, dass eine proletarische Macht in ihrer Geburtsstunde oder auf dem Weg zur ihrer Konsolidierung auf Arbeiter schießen darf. Die Prüfung des schrecklichen Problems, mit welchem der proletarische Staat konfrontiert ist, beinhaltet eine Kritik an der Vision der Revolution durch eine rosarote Brille und lässt uns verstehen, weshalb die Niederschlagung dieser Rebellion mit den Worten Trotzkis ausgedrückt „eine tragische Notwendigkeit“ war, eine Notwendigkeit und eine Pflicht zugleich.“ („Kronstadt: eine tragische Notwendigkeit“, Programme Communiste Nr. 88, Organ der Internationalistischen Kommunistischen Partei, auf Französisch, übersetzt durch uns)
Die bordigistische Strömung mag unnachgiebig den Internationalismus der bolschewistischen Partei vertreten, doch indem sie diesen Teil der Tradition, zu der sie, wie sie selbst behauptet, gehört, übergeht, vertritt sie genauso vehement die Fehler der Bolschewiki und zeigt sich unfähig, aus all den Gründen für die Degeneration von Partei und Revolution zu lernen.921#_edn2">2
Ihr zufolge ist das Verhältnis der Partei zur Klasse und zum postrevolutionären Staat im revolutionären Prozess keine Frage des Prinzips, sondern der Zweckdienlichkeit: Wie übt die revolutionäre Avantgarde in jeder Lage am besten ihre Funktion aus.
„Dieser gigantische Kampf kann auch innerhalb des Proletariates selbst schreckliche Spannungen hervorrufen. Es ist zwar klar, dass die Partei die Revolution und die Diktatur nicht gegen oder ohne die Massen machen kann, der revolutionäre Wille der Klasse drückt sich aber nicht durch konsultative Abstimmungen oder „Meinungsumfragen“ aus, in denen eine „numerische Mehrheit“, oder noch absurder, eine Einstimmigkeit zu suchen wäre. Er drückt sich durch ein Anwachsen und eine immer klarere Ausrichtung der Kämpfe aus, in denen die entschlossensten Teile die unentschlossenen und zweifelnden mitreißen und falls nötig den Widerstand beiseite fegen. Während der Umtriebe des Bürgerkrieges und der Diktatur können sich die Verhältnisse und Beziehungen unter den verschiedenen Schichten ändern. Und weit entfernt von irgendeinem Recht auf „Rätedemokratie“ mit gleichem Gewicht und gleicher Wichtigkeit für alle Arbeiterschichten, Halbproletarier oder Kleinbürger, erklärt Trotzki in Terrorismus und Kommunismus, dass selbst ihr Recht an den Arbeiterräten teilzunehmen, das heisst an den Organen des proletarischen Staates, von ihrer Haltung in den Kämpfen abhängt.
Keine „verfassungsmäßige Regel“, kein „demokratisches Prinzip“ kann die Beziehungen innerhalb des Proletariates harmonisieren. Kein Rezept kann die Widersprüche zwischen den lokalen Bedürfnissen und den Erfordernissen der internationalen Revolution lösen, zwischen den unmittelbaren Bedürfnissen und den Erfordernissen des historischen Kampfes der Klasse, Widersprüche, die ihren Ausdruck im Widerstand verschiedener Teile des Proletariates finden. Kein Formalismus erlaubt es, Regeln aufzustellen über das Verhältnis zwischen der Partei, der fortgeschrittensten Fraktion der Arbeiterklasse und Organ ihres revolutionären Kampfes, und den Massen, die in unterschiedlichem Masse unter dem Druck der lokalen und unmittelbaren Bedingungen stehen. Selbst die beste Partei, die fähig ist ‚den Geist der Massen zu überwachen und zu beeinflussen‘ wie Lenin sagte, muss manchmal das Unmögliche von den Massen verlangen. Genauer gesagt, sie findet die ‚Grenze‘ des Möglichen nur im Versuch noch weiter zu gehen.“ (ebenda, übersetzt von uns)
1921 wählte die bolschewistische Partei den falschen Weg ohne jegliche vorherige Erfahrung oder Parameter, an denen sie sich hätte orientieren können. Heute machen die Bordigisten absurderweise aus den Fehlern der Bolschewiki Tugenden und erklären: „Es gibt keine Prinzipien.“ Die Bordigisten zaubern das Problem der Ausübung proletarischer Macht dadurch weg, dass sie formale und abstrakte Methoden zur Erlangung einer gemeinsamen Position der gesamten Klasse verspotten. Auch wenn es sicherlich zutrifft, dass es nie ein perfektes Mittel geben kann, um in einer äußerst schwankenden Situation einen Konsens zu erreichen, auch wenn die Erfahrungen aus Deutschland 1918 und anderswo zeigen, dass die Arbeiterräte gegenüber den Vereinnahmungsversuchen der Bourgeoisie verwundbar sind, haben sie (oder die Sowjets) sich dennoch als das geeignetste Mittel zur Widerspiegelung und Ausführung des sich entfaltenden revolutionären Willens des Proletariats in seiner Gesamtheit erwiesen. Obwohl die Bordigisten so generös sind zuzugeben, dass die Partei ohne die Massen keine Revolution machen könne, haben die Massen anschließend keine Möglichkeit, ihren revolutionären Willen als gesamte Klasse auszudrücken, außer durch die Partei und mit der Genehmigung der Partei. Und die Partei kann das Proletariat notfalls mit dem Maschinengewehr korrigieren, wie in Kronstadt. Entsprechend dieser Logik hat die proletarische Revolution zwei sich widersprechende Parolen: vor der Revolution „Alle Macht den Sowjets“, nach der Revolution „Alle Macht der Partei“.
Anders als Octobre haben die Bordigisten vergessen, dass im Gegensatz zur bürgerlichen Revolution die Aufgaben einer proletarischen Revolution nicht an eine Minderheit delegiert werden können, sondern von der selbstbewussten Mehrheit ausgeübt werden müssen. Die Emanzipation der Arbeiter ist die Aufgabe der Arbeiterklasse selbst.
Die Bordigisten lehnen sowohl die bürgerliche Demokratie wie auch die Arbeiterdemokratie ab, als sei beides derselbe Schwindel. Doch die Sowjets bzw. Arbeiterräte – das Mittel, durch das sich das Proletariat für den Sturz des Kapitalismus selbst mobilisiert – müssen die Organe der proletarischen Diktatur sein, die die Spannungen und Differenzen innerhalb des Proletariats reflektieren und regulieren sowie seine bewaffnete Macht über den Übergangsstaat beherbergen. Die Partei, die unersetzliche Avantgarde, kann, so klar und so weit gegenüber dem Rest des Proletariats vorangeschritten sie in einer bestimmten Zeit auch sein mag, dennoch nicht dieses an der Macht ersetzen.
Doch nachdem sie das Recht der Partei – praktisch, nicht „prinzipiell“ – demonstriert haben, Arbeiter niederzuschießen, fahren die Bordigisten fort und streiten, als schreckten sie selbst vor dem Schrecken dieser Schlussfolgerung zurück, ab, dass der Aufstand von Kronstadt überhaupt einen proletarischen Charakter gehabt habe. Einer von Lenins Definitionen jener Zeit folgend, sei Kronstadt eine „kleinbürgerliche Konterrevolution“ gewesen, die den reaktionären Weißgardisten Tür und Tor geöffnet habe.
Es ist sicherlich richtig, dass alle Arten konfuser und gar reaktionärer Ideen von den Rebellen Kronstadts zum Ausdruck gebracht wurden, und einige von ihnen spiegelten sich in ihrer Plattform wider. Es trifft ebenfalls zu, dass die organisierten Kräfte der Konterrevolution versucht hatten, die Rebellion für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Doch die Arbeiter von Kronstadt betrachteten sich selbst weiterhin in Kontinuität mit der Revolution von 1917 und als integraler Bestandteil der proletarischen Bewegung auf Weltebene:
„Lasst die Arbeiter der gesamten Welt wissen, dass wir, die Verteidiger der Sowjetmacht, die Errungenschaften der sozialen Revolution schützen. Wir werden gewinnen oder auf den Ruinen von Kronstadt zugrunde gehen, indem wir für die eigentliche Sache der proletarischen Massen kämpfen.“ (aus der Kronstädter Prawda)
Welche Konfusionen von den Kronstädter Rebellen auch immer ausgedrückt wurden, es ist absolut unstrittig, dass ihre Forderungen auch die Interessen des Proletariats widerspiegelten, das sich fürchterlichen Lebensbedingungen, einer wachsenden Unterdrückung durch die Staatsbürokratie und dem Verlust seiner politischen Macht in den verkümmerten Sowjets gegenübersah. Der Versuch der Bolschewiki, sie als kleinbürgerlich und potenzielle Agenten der Konterrevolution zu brandmarken, war natürlich ein Vorwand, um eine Situation äußerster Gefahr und Komplexität innerhalb der Arbeiterklasse mit Gewalt zu lösen.
Mit dem Vorteil der historischen, nachträglichen Einsicht und des theoretischen Werkes der Kommunistischen Linken gewappnet, sind wir in der Lage, den fundamentalen Irrtum in der Argumentation der Bolschewiki zu erkennen: Sie schlugen den Aufstand von Kronstadt nieder, und trotzdem wurden die Kommunisten von einer antiproletarischen Diktatur massakriert – vom Stalinismus, der absoluten Macht der kapitalistischen Bürokratie. Tatsächlich haben die Bolschewiki mit der Niederschlagung der Bemühungen der Arbeiter von Kronstadt, die Sowjets zu regenerieren, mit ihrer Identifizierung mit dem Staat den Weg geebnet für den Stalinismus, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie halfen mit bei der Beschleunigung des konterrevolutionären Prozesses, der weitaus fürchterlichere und tragischere Konsequenzen für die Arbeiterklasse haben sollte als die Restauration durch die Weißen. In Russland gewann die Konterrevolution, indem sie sich selbst als kommunistisch darstellte. Der Gedanke, dass das stalinistische Russland die lebende Verkörperung des Sozialismus sei und in direkter Kontinuität mit der Oktoberrevolution stünde, erzeugte schlimme Verwirrungen und uferlose Demoralisierung in den Reihen der Arbeiterklasse überall auf der Welt. Wir leben heute, wo die Bourgeoisie seit 1989 mit der Gleichsetzung des Todes des Stalinismus mit dem Tod des Kommunismus fortfährt, noch immer mit den Konsequenzen dieser Verzerrung der Realität.
Aber die Bordigisten identifizieren sich trotz dieser Erfahrung immer noch mit dem tragischen Fehler von 1921. Für sie war dies weniger eine „tragische“ Notwendigkeit, sondern eine kommunistische Pflicht, die jederzeit wiederholt werden muss!
Wie die Anarchisten sehen die Bordigisten keinen Widerspruch zwischen der bolschewistischen Partei von 1917, die den bewaffneten Willen des in den Sowjets organisierten, revolutionären Proletariats nicht nur lenkte, sondern sich ihm auch beugte und von ihm abhängig war, und der bolschewistischen Partei von 1921, die die Sowjets zu einem Schatten ihrer früheren Macht degradierte und die staatliche Gewalt gegen die Arbeiterklasse richtete. Doch während die Anarchisten der Bourgeoisie bei ihrer gegenwärtigen Kampagne helfen, indem sie die Bolschewiki als machiavellistische Tyrannen porträtieren, feiern die Bordigisten diesen arglistigen Ruf als den eigentlichen Gipfel revolutionärer Kompromisslosigkeit.
Doch eine Kommunistische Linke, die den Namen auch verdient, muss, auch wenn sie sich mit dem bolschewistischen Erbe identifiziert, in der Lage sein, seine Fehler zu kritisieren. Die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes war einer der schädlichsten und schlimmsten von ihnen.
Como, 8. Januar 2001
1 siehe Internationale Revue, Nr. 3, engl./franz./span. Ausgabe, S. 51, zur Plattform der Kronstädter Revolte
2 Das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP), ein anderer Zweig der Linkskommunisten, hat eine zweideutige Position zu Kronstadt. In einem Artikel, der in Revolutionary Perspectives Nr. 23 (1986) veröffentlicht wurde, wird der proletarische Charakter der Oktoberrevolution und der bolschewistischen Partei bekräftigt und die anarchistische Idealisierung des Kronstädter Aufstandes abgelehnt, indem unterstrichen wird, dass der Aufstand eindeutig die ungünstigen Bedingungen für die proletarische Revolution widergespiegelt habe und dass er viele konfuse und reaktionäre Elemente enthalten habe. Gleichzeitig kritisiert der Artikel den bordigistischen Gedanken, dass der Angriff auf Kronstadt eine Notwendigkeit gewesen sei, um die Diktatur der Partei zu wahren. Er bestätigt, dass eine der fundamentalen Lehren von Kronstadt darin besteht, dass die Diktatur des Proletariats von der Klasse selbst ausgeübt werden muss, durch ihre Arbeiterräte, und nicht durch die Partei. Er zeigt ebenfalls auf, dass die Irrtümer der Bolschewiki bezüglich des Verhältnisses zwischen Partei und Klasse im allgemeinen Rahmen der Isolation der proletarischen Bastion die innere Degeneration sowohl der Partei als auch des Sowjetstaates beschleunigten. Nichtsdestotrotz charakterisiert der Artikel die Revolte nicht als proletarisch und antwortet nicht auf die fundamentale Frage: Ist es möglich, dass eine proletarische Diktatur gegen die Unzufriedenen unter den Arbeitern Gewalt anwendet? Die Genossen des IBRP sagen gar, dass als Folge der Manipulationen der Konterrevolution – selbst wenn sie damit ein Kapitel der langsamen Agonie in der Arbeiterbewegung ansprechen – die Unterdrückung der Revolte mehr als gerechtfertigt gewesen sei.