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INTERNATIONALISME 1946
1) Der Staat erscheint in der Geschichte als der Ausdruck unversöhnlicher Interessen, die die menschliche Gesellschaft entzweit; er ist das Produkt und Resultat unüberbrückbarer Wirtschaftsverhältnisse. Obgleich der Staat durchaus eine aktive Rolle in der Geschichte gespielt hat, wird er selbst direkt durch den Prozeß der ökonomischen Entwicklung bestimmt.
Er scheint über den Klassen zu stehen, aber in Wahrheit ist er der juristische Ausdruck des vorherrschenden Wirtschaftssystems; er ist der Überbau, das politische Gewand der Wirtschaftsordnung einer gegebenen Klasse in der Geschichte.
Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Menschen, die Bildung von Klassen und der Platz, den sie in der Gesellschaft einnehmen, werden bestimmt von der Entwicklung der Produktivkräfte in einem gegebenen Moment. Der einzige Daseinsgrund für den Staat besteht darin, eine bereits existierende wirtschaftliche Lage der Dinge zu festzuschreiben, zu verankern, ihr eine Gesetzeskraft zu verleihen, die zu akzeptieren die Pflicht aller Mitglieder der Gesellschaft ist. So trachtet der Staat danach, ein Gleichgewicht, eine Stabilität der Klassenbeziehungen aufrechtzuerhalten, Beziehungen, die dem Wirtschaftsprozeß selbst entspringen. Gleichzeitig sucht der Staat jeden Versuch der unterdrückten Klassen zu verhindern, die Gesellschaft infrage zu stellen, indem er für Verwirrung sorgt. So erfüllt der Staat eine wichtige Funktion in der Gesellschaft, nämlich die Wahrung von Sicherheit und Ordnung, die für die Aufrechterhaltung der Produktion unverzichtbar sind. Aber er kann dies nur aufgrund seines konservativen Charakters tun. Im Verlauf der Geschichte erscheint der Staat als ein KONSERVATIVER und REAKTIONŽRER Faktor ersten Ranges, eine Fessel, auf die die Entwicklung und Entfaltung der Produktivkräfte ständig stieß.
2) Um seine zweifache Rolle als Werkzeug der Sicherheit und als Mittel der Reaktion zu erfüllen, stützt sich der Staat auf eine materielle Kraft, auf die Gewalt. Seine Autorität beruht auf seinen Zwangsmitteln. Er besitzt das ausschließliche Monopol auf alle existierenden Gewalten: Polizei, Armee und Gefängnisse.
Im Kampf zwischen den Klassen neigt der Staat, auch wenn er Repräsentant der herrschenden Klasse ist, zur Entfaltung einer gewissen Unabhängigkeit. Weil die Bourgeoisie nationale Gebilde, riesige, konzentrierte ökonomische und politische Einheiten entwickelt; weil der Antagonismus zwischen den Klassen ein immer höheres Niveau erreicht; weil sich die Rivalität zwischen den großen kapitalistischen Staaten verschärft - ist der Staat gezwungen, seine Zwangsmittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung auf den höchsten Stand zu bringen. Nach innen zwingt er das Proletariat und andere arbeitende Klassen dazu, sich mit der kapitalistischen Ausbeutung abzufinden, während er formell und juristisch die Freiheit des Individuums anerkennt; nach außen garantiert er die Grenzen des Bereiches der ökonomischen Ausbeutung vor der Gefräßigkeit anderer kapitalistischer Gruppen und erweitert sie auf Kosten anderer Staaten.
So steht in der dekadenten Epoche des Kapitalismus, wo die horizontale und vertikale Teilung der Gesellschaft und die dadurch hervorgerufenen Kämpfe einen Höhepunkt in der menschlichen Geschichte erreicht haben, auch der Staat im Zenit seiner Entwicklung als Organismus des Zwangs und der Gewalt.
Der Staat, dessen Ursprung in der historischen Notwendigkeit von Gewalt liegt (der Gebrauch von Zwangsmitteln ist die Voraussetzung für sein Wachstum), neigt dazu, eigenmächtig Gewalt als ein Mittel zum Schutz seiner eigenen Existenz anzuwenden. Zunächst ein bloßes Mittel, wird die Gewalt bald zum Selbstzweck, ausgeübt und betrieben, angefacht durch den Staat, der so durch sein eigentliches Wesen jede Gesellschaftsform negiert, die über die Gewalt als ein Regulativ der menschlichen Beziehungen hinausgeht.
3) In der Komplexität der Gegensätze, die mit der Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie wachsen und gedeihen, ist der Staat ständig dazu gezwungen, sich an jedem Lebensbereich zu beteiligen: wirtschaftlich, sozial, kulturell, politisch; im privaten Leben eines jeden Individuums und in dessen Beziehungen zur Gesellschaft auf lokaler, nationaler und weltweiter Ebene.
Um mit seinen erheblichen sozialen Zwängen fertig zu werden, nimmt der Staat die Dienstleistungen einer stetig wachsenden Masse von Menschen in Anspruch, indem er sie sämtlicher produktiver Aktivitäten enthebt und eine abgesonderte soziale Schicht mit ihren eigenen Interessen bildet, deren Besonderheit und Verantwortung die Aufrechterhaltung der Regierungs- und Staatsmaschinerie ist.
Ein wichtiger Teil der Gesellschaft (10% oder gar mehr) bildet so eine unabhängige soziale Schicht (Politiker, Bürokraten, Justiz, Polizei und Armee) mit ihren eigenen ökonomischen Interessen. Parasitär von der Gesellschaft zehrend, gilt ihre Aufmerksamkeit ausschließlich dem Staatsapparat, wo sie ihre Pfründe hat.
Diese soziale Schicht, die als Diener der Gesellschaft in den Händen der herrschenden Klasse ihren Ausgangspunkt nahm, neigt dazu, sich aufgrund ihrer Größe und vor allem wegen ihrer gesellschaftlichen Position, nämlich an der Spitze der Staatsmaschinerie, immer mehr von dieser Rolle zu befreien, eine Eigenständigkeit anzustreben, und als Herrscher der Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken, und wobei sie in enger Zusammenarbeit mit der herrschenden Klasse wirkt. Sie hat das ausschließliche Monopol auf die öffentlichen Finanzen, das Recht, Gesetze zu diktieren und zu interpretieren sowie das materielle Gewaltpotential, um diese Gesetze in ihrem eigenen Sinn anzuwenden.
Somit sehen wir die Entstehung einer neuen, privilegierten sozialen Schicht, die ihre materielle Existenz der Existenz des Staates verdankt. Eine parasitäre und im wesentlichen reaktionäre Schicht, die sich um die Verewigung des Staates kümmert, relativ unabhängig, aber immer assoziiert mit der Klasse, deren Wirtschaftssystem auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen basiert und deren Grundprinzip die Verewigung der menschlichen Ausbeutung und der Schutz ihrer ökonomischen und sozialen Privilegien ist.
4) Die Entwicklung der Technologie und der Arbeitskräfte kann nicht mehr in das bürgerliche Prinzip des privaten Eigentums von Produktionsmitteln eingesperrt werden. Selbst die kapitalistische Produktionsweise ist gezwungen, das allerheiligste Prinzip des Privateigentums zu verletzen und Zuflucht zu suchen in der kapitalistischen Verstaatlichung bestimmter Wirtschaftsbranchen wie die Eisenbahnen, die Post und, bis zu einem gewissen Umfang, Luftfahrt, Handelsmarine, Stahlbereich und Bergwerke. Staatliche Interventionen machen sich zunehmend in der gesamten Wirtschaft bemerkbar, und dies geschieht offensichtlich, um das kapitalistische System als Ganzes zu beschützen. Ferner kann der Staat in dem Klassenkampf zwischen den Konfliktparteien, zwischen den Klassen und Wirtschaftsgruppen nur seine Rolle als repräsentative, vermittelnde Kraft spielen, wenn er sich selbst eine materiell und ökonomisch unabhängige, solide Basis verschafft.
In diesem historischen Werdegang der kapitalistischen Gesellschaft nimmt der Staat einen neuen Charakter, eine neue Rolle ein - jene des Staates als Boss. Während er seine politischen Funktionen pflegt und betont, hat sich der kapitalistische Staat auf dem wirtschaftlichen Gebiet in Richtung Staatskapitalismus entwickelt. Entweder der Staat zieht einen Teil des Mehrwerts ein, der in den Bereichen erzeugt wird, wo das Privateigentum von Produktionsmitteln noch existiert, genau wie bei jedem anderen Kapital (Bank und Finanzwesen). Oder er beutet als einziger gemeinsamer Arbeitgeber den staatseigenen Sektor aus, um Mehrwert zu schaffen. Dieser Mehrwert wird dann unter den Staatsfunktionären, entsprechend der Rangfolge und Privilegien, die sie sich verschafft haben, verteilt (ausgenommen den Teil, der durch die Re-Investition in die Produktion kapitalisiert wird).
Die ökonomische Tendenz zum Staatskapitalismus bei gleichzeitiger Unfähigkeit, eine vollständige Sozialisierung und Kollektivierung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu erreichen, ist eine sehr reelle Tendenz, die bis zu einem gewissen Umfang den Staat davon befreit, eine strikt instrumentalisierende Rolle zu spielen, und ihm einen neuen ökonomischen Charakter als kollektiver, anonymer Arbeitgeber verleiht, der den Mehrwert auf kollektive Weise herausholt.
Obwohl das Privateigentum an Produktionsmitteln die grundlegende Basis des Wirtschaftssystems des Kapitalismus war und bis heute geblieben ist, kann es in der Endphase des Kapitalismus tiefgreifende Einschränkungen geben, ohne daß die Grundprinzipien der kapitalistischen Ökonomie bedroht werden. Weit davon entfernt, ein Ende des Systems zu bedeuten, befindet sich die weitverbreitete Verstaatlichung der Produktionsmittel in perfekter Übereinstimmung mit dem System und kann sogar die Voraussetzung für das Überleben des Systems sein, unter der Bedingung, daß das Grundprinzip des Kapitalismus weiterexistieren kann: nämlich die Gewinnung einer immer größeren Masse an Mehrwert aus der Arbeiterklasse zugunsten einer mächtigen und privilegierten Minderheit. Der grundlegende Gegensatz zwischen der kapitalistischen und sozialistischen Wirtschaft beruht daher nicht auf dem privaten Besitz an Produktionsmitteln. Während der Sozialismus unvereinbar ist mit dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln, ist die Abwesenheit von Privateigentum (obgleich eine unerläßliche Vorbedingung für die Schaffung einer sozialistischen Wirtschaft) in keiner Weise an sich schon identisch mit dem Sozialismus, seitdem die Realität gezeigt hat, wie sich der Kapitalismus selbst durch Hinwendung zum Staatskapitalismus an die Verstaatlichung der Produktionsmittel anpassen kann.
Der grundlegende Gegensatz zwischen kapitalistischer Ökonomie und Sozialismus besteht:
a) in der treibenden Kraft und in dem Zweck der Produktion. Im Kapitalismus ist dies das Streben nach einem immer größeren Mehrtwertertrag; das Ziel des Sozialismus auf der anderen Seite ist die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft und ihrer Mitglieder.
b) in der Tatsache, daß im Kapitalismus ein immer kleinerer Teil der geschaffenen Werte und Produkte der Neuverteilung dem Verbrauch überlassen wird, während der größere Teil re-investiert wird, um die Produktion auszuweiten. Im Sozialismus wird ein wachsendes Maß an geschaffenen Werten direkt vom Produzenten konsumiert. Jener Teil der produzierten Werte, der direkt konsumierbar ist, muß danach streben, im Verhältnis zu dem Teil, der als Beitrag des Reproduktionsprozesses in die Produktion investiert wird, zu wachsen.
So dient die wachsende Neigung des Staates zu ökonomischer und politischer Unabhängigkeit - weit entfernt davon, irgendeine Schwächung der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen - allein dazu, die Wirtschaftsmacht des Kapitalismus auf den Staat zu übertragen, indem letzterer zum wahren Sitz der Macht im Kapitalismus wird. Als Reaktion auf das Proletariat und seine historische Mission der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft nimmt der kapitalistische Staat die Erscheinung eines Goliaths an. Mit seiner tatsächlichen Natur repräsentiert der Staat die ganze vergangene Geschichte der Menschheit, all der ausbeutenden Klassen und reaktionären Kräfte in der Geschichte. Sein eigentlicher Charakter, der, wie wir schon gesehen haben, konservativ, gewalttätig und bürokratisch ist, sowie die Privilegien und die wirtschaftliche Ausbeutung verteidigt, ist die Verkörperung des Unterdrückungsprinzips und steht in einem unversöhnlichen Gegensatz zum Prinzip der Befreiung, das vom Proletariat und vom Sozialismus verkörpert wird.
5) Bis jetzt sind all die neuen Klassen mit ihrer Vorherrschaft und ihren Prinzipien nur an die Stelle anderer Klassen getreten; die ökonomische Entwicklung der neuen Klassen verlief langsam und über eine lange Periode vor der Etablierung ihrer politischen Hegemonie. Weil ihre wirtschaftlichen Interessen (die sich mit der Entwicklung der Produktivkräfte decken) die Interessen einer Minderheit, einer einzelnen Klasse waren, entwickelte sich ihre Macht innerhalb der alten Gesellschaft und zuallererst auf wirtschaftlicher Ebene. Erst nachdem ein bestimmter Grad der Wirtschaftsentwicklung erreicht worden war, nachdem die alte herrschende Klasse ökonomisch verdrängt oder zum Teil absorbiert war, schritt die politische Macht, d.h. der Staat und das Justizwesen, zur Festschreibung, Verankerung des neuen Stands der Dinge. Die Bourgeoisie entwickelte ihre wirtschaftliche Vorherrschaft über eine lange Periode durch die Stärkung der Macht des kaufmännischen Kapitals. Erst als die Bourgeoisie die ökonomische Vorherrschaft erlangt hatte, führte sie ihre politische Revolution durch. Die bürgerliche Revolution mußte den Widerstand des Feudalismus und seines ideologischen Überbaus brechen, weil feudale Gesetze zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte wurden; aber sie zerstörte nicht den Staat. Da das dem Staat zugrundeliegende Prinzip die Verteidigung der Ausbeutung des Menschen ist, mußte die Bourgeoisie nur Besitz von der Staatsmaschinerie ergreifen und sie in ihrem eigenen Klasseninteresse nutzen. Der revolutionäre Prozeß in früheren Gesellschaften sah daher wie folgt aus:
a) der wirtschaftliche Aufstieg und die Erstarkung der neuen Klasse innerhalb der alten Gesellschaft;
b) ihre ökonomische Vorherrschaft, eine friedliche wirtschaftliche Revolution;
c) eine gewalttätige politische Revolution, die den ökonomischen Stand der Dinge verankert;
d) eine Aufrechterhaltung des Staatsapparates, um ihn im Interesse der neuen Klasse zu nutzen;
e) ein allmähliches Aufsaugen der alten herrschenden Klassen, die von oder innerhalb der neuen herrschenden Klassen überleben.
6) Im Gegensatz zu den anderen Klassen in der Geschichte besitzt das Proletariat jedoch nicht Reichtum, Arbeitswerkzeug oder irgendein materielles Eigentum. Es kann kein Wirtschaftssystem innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aufbauen. Seine Stellung als revolutionäre Klasse beruht auf der objektiven Evolution der Gesellschaft, die die Existenz von Privateigentum mit der Entwicklung der Produktivkräfte unvereinbar und die unaufhörliche Produktion von Mehrwert zu einer Unmöglichkeit macht. Die kapitalistische Gesellschaft steht einem ungenügenden Markt zur Realisierung des von ihr geschaffenen Mehrwerts gegenüber. Die objektive Notwendigkeit einer sozialistischen Gesellschaft, insofern als der Sozialismus die dialektische Lösung der inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems ist, findet im Proletariat die einzige Klasse, deren Interessen mit den Bedürfnissen der geschichtlichen Entwicklung zusammenfallen. Diese letzte Klasse in der Geschichte, die nichts besitzt, die keine Privilegien hat, welche sich zu verteidigen lohnten, entspricht der historischen Notwendigkeit der Abschaffung aller Privilegien. Das Proletariat ist die einzige Klasse, die die revolutionäre Aufgabe der Abschaffung aller Privilegien, allen Privateigentums, der Befreiung der Produktivkräfte von ihren kapitalistischen Fesseln und ihrer Entwicklung im Interesse der Menschheit ausführen kann. Das Proletariat betreibt keine Wirtschaftspolitik innerhalb des kapitalistischen Systems, und es kann dies auch nicht tun.
Das Proletariat hat keine besondere Wirtschaftsform, die es vor oder nach der Revolution errichten könnte. Im Gegensatz zu anderen Klassen und zum ersten Mal in der Geschichte beginnt die Revolution des Proletariats als eine politische Revolution, die vorangeht und die Bedingungen für einen sozialökonomischen Übergang schafft. Die ökonomische Befreiung von den Fesseln aller Klasseninteressen bedeutet das Verschwinden aller Klassen. Das Proletariat befreit sich selbst, indem es die gesamte Menschheit befreit, sich selbst in letzterer auflöst.
Der Staat, die Verkörperung der Klassenherrschaft und der wirtschaftlichen Unterdrückung, kann nicht vom Proletariat im klassischen Sinn erobert werden. Im Gegenteil: die ersten Schritte des Proletariats zur Befreiung sind die revolutionäre Zerstörung des Staats. Das Proletariat, das weder wirtschaftliche Macht noch wirtschaftliches Eigentum besitzt, bezieht seine Stärke aus dem Bewußtsein, das es aus den objektiven historischen Gesetzen des ökonomischen Prozesses gewinnt. Seine Stärke liegt ausschließlich in seinem Bewußtsein und seiner Fähigkeit, sich zu organisieren. Die Klassenpartei, die das Bewußtsein der Klasse kristallisiert, stellt eine unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung der historischen Mission des Proletariats dar, genau wie dessen Einheitsorgane des Kampfes seine praktische, materielle Aktionsfähigkeit darstellen.
Weil andere Klassen in der Geschichte eine Wirtschaftsmacht in der Gesellschaft besaßen, konnten sie mehr oder weniger ohne Partei auskommen; sie waren sich selbst kaum darüber bewußt, wohin ihre Handlungen führten, und sie identifzierten sich selbst mit dem Staat, der Verkörperung von Privilegien und Unterdrückung. Das Proletariat dagegen stößt von dem Moment an, in dem es wirklich als Klasse aktiv wird, gegen den Staat - es ist der historische Gegenpol zum Staat.
Die Eroberung des Staates durch eine ausbeutende Klasse in einem gegebenen Land stellte das Ende des historischen Prozesses dar und war die letzte revolutionäre Handlung dieser Klasse. Die Zerstörung des Staates durch das Proletariat ist schlicht die erste revolutionäre Handlung der Klasse, die den Weg für das Proletariat und seine Partei zu einem revolutionären Prozeß eröffnet, welcher zunächst zur Weltrevolution und dann im wirtschalichen Bereich zur Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft führt.
7) Es gibt eine große historische Kluft zwischen einerseits dem durch die Produktivkräfte erlangten Niveau, das mit dem kapitalistischen System in Konflikt geraten ist und den Rahmen jenes Systems zu überschreiten droht, sowie andererseits dem Entwicklungsgrad, der für das Erscheinen der sozialistischen Gesellschaft, für die völlige Befriedigung von jedermann's Bedürfnissen in der Gesellschaft notwendig ist. Diese Kluft kann nicht durch eine simple programmatische Erklärung weggewischt werden, wie die Anarchisten glaubten, sondern muß auf ökonomischem Terrain durch eine Wirtschaftspolitik des Proletariats überbrückt werden. Darin liegt die theoretische Begründung der Unvermeidbarkeit einer historischen Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus - eine Übergangsperiode, in der sich die politische Macht, aber nicht die Wirtschaftsmacht in den Händen der revolutionären Klasse befindet. Dies ist die Diktatur des Proletariats.
Die Entwicklung der ökonomischen Bedingungen für den Sozialismus ist die politische Aufgabe des Proletariats und seiner Partei und kann nicht auf nationaler Ebene ausgeübt werden, sondern nur auf weltweiter Ebene. Der Kapitalismus ist ein Weltsystem. Die Weltherrschaft des Kapitals wirkt auf die ökonomische Entwicklung der verschiedenen Bereiche der Weltwirtschaft und der verschiedenen Industriebranchen ein, deren Entwicklung nur innerhalb der Grenzen stattfinden kann, die ihr von den Kapitalinteressen aufgezwungen werden.
Mit anderen Worten, die Entwicklung der verschiedenen Bereiche und Branchen der Weltwirtschaft wird von schwerwiegenden Fesseln behindert. Der Sozialismus dagegen basiert auf einer sehr hochgradigen Entwicklung sämtlicher Bereiche der Weltwirtschaft. Die Befreiung der Produktivkräfte von ihren kapitalistischen Fesseln durch die proletarische Revolution ist daher die erste Vorbedingung für die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft zum Sozialismus.
Die Wirtschaftspolitik des Proletariats entwickelt sich auf der Basis der Generalisierung der Revolution auf Weltebene; ihr Inhalt beruht nicht auf einer einseitigen Bejahung der Entwicklung der Produktion, sondern im wesentlichen auf der Herstellung eines harmonischen Rhythmus zwischen der Produktionsentwicklung und dem proportionalen Anstieg des Lebensstandards der Produzenten.
Die Übergangsperiode drückt eine ökonomische Fortsetzung der vor-sozialistischen Epoche in dem Sinne aus, daß sie noch nicht alle gesellschaftlichen Bedürfnisse befriedigen kann und die Notwendigkeit einer Fortsetzung der Akkumulation beinhaltet. Jedoch hat jede Politik, die ihrerseits sich auf ein Maximum an Akkumulation zum Zweck der Produktionsausweitung stützt, keinen proletarischen Charakter, und ist die schlichte Fortsetzung der kapitalistischen Wirtschaft. Die Wirtschaftspolitik des Proletariats basiert daher auf einer notwendigen Akkumulation, die mit der Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter, mit einem relativen und fortschreitenden Wachstum des variablen Kapitals vereinbar und dadurch bedingt ist.
Nach seinem Sieg über die Bourgeoisie wird das Proletariat einerseits zur politisch herrschenden Klasse, die mit ihrer Partei ihre Klassendiktatur durch die Übergangsperiode hindurch sicherstellt, um die Gesellschaft zum Sozialismus zu führen; andererseits bleibt das Proletariat eine Klasse in der Produktion, die besondere, unmittelbare Wirtschaftsinteressen zu verteidigen hat und daher damit fortfahren muß, diese Interessen mit ihren eigenen Wirtschaftsorganisationen - den Gewerkschaften - und ihren eigenen Kampfmethoden - Streiks - während der Übergangsperiode zu behaupten.
8) Die revolutionäre Zerstörung des kapitalistischen Staates, das Instrument der Klassenherrschaft, bedeutet nicht, daß die ökonomische Macht des Klassenfeindes zerstört oder verschwunden ist. Die Enteignung und Sozialisierung der Schlüsselbereiche der Produktion sind erste, unerläßliche Maßnahmen der Wirtschaftspolitik des Proletariats. Die Existenz rückständiger Wirtschaftsbereiche, besonders in der Landwirtschaft, erlaubt keinen sofortigen Übergang zur sozialistischen Ökonomie oder eine totale Abschaffung des Privateigentums. Der Sozialismus kann nicht durch bloße Dekrete aufgebaut werden; er ist die Frucht eines langen ökonomischen Prozesses, in dem die Methoden des Sozialismus die Methoden des Kapitalismus auf wirtschaftlichem Gebiet bekämpfen und besiegen müssen.
Die Existenz dieser rückständigen Wirtschaftsbereiche, das unvermeidliche Überleben von Privateigentum stellen eine wirkliche Gefahr dar: der Bodensatz des ökonomischen Konservatismus, der Konsolidierung und Regeneration jener sozialen Kräfte, die der Bewegung zum Sozialismus im Weg stehen.
Die Übergangsperiode ist eine Periode unerbittlichen Kampfes zwischen Kapitalismus und Sozialismus; in diesem Kampf wird das Proletariat den Vorteil besitzen, die politische Macht gewonnen zu haben. Jedoch ist dies keine automatische Garantie seines endgültigen Sieges.
Das Ergebnis des Kampfes, die Garantie des endgültigen Sieges des Proletariats beruht ausschließlich auf der Stärke des Bewußtseins in der Klasse und seiner Fähigkeit, dieses Bewußtsein in praktische Politik umzusetzen.
Jeder politische Fehler, jeder taktische Irrtum wird die Stellung des Klassenfeindes stärken. Die Ausschaltung der politischen Institutionen des Klassenfeindes, seiner Organisationen und Presse ist eine unentbehrliche Maßnahme, um seinen Widerstand zu brechen. Aber dies ist nicht genug. Das Proletariat muß vor allem die Unabhängigkeit seiner eigenen Klassenorganisationen wahren und sich davor hüten, daß sie entstellt werden, indem sie Aufgaben und Funktionen übernehmen, die nicht ihrem wirklichen Wesen entsprechen. Die Partei, die das Bewußtsein über die historische Aufgabe der Klasse und ihr endgültiges Ziel repräsentiert, übt die Diktatur im Namen des Proletariats aus; die Gewerkschaften, die Einheitsorgane der Klasse, die ihre wirtschaftliche Stellung ausdrücken und die die unmittelbaren Klasseninteressen zu verteidigen haben, dürfen sich nicht mit dem Staat identifizieren oder in ihm integrieren.
9) Mit seiner Wiederherstellung nach der Revolution drückt der Staat die Unreife der Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft aus. Der politische Überbau des ökonomischen Fundaments ist noch nicht sozialistisch. Aufgrund seines Wesens verhält er sich ablehnend und feindlich gegenüber dem Sozialismus. So wie die Übergangsperiode eine historisch unvermeidliche Etappe ist, die das Proletariat zu durchschreiten hat, so ist der Staat für das Proletariat ein unvermeidbares Gewaltmittel, das es gegen die enteigneten Klassen benutzen muß, mit dem es sich jedoch nicht identifizieren darf. ...im besten Fall (ist der Staat) ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird (Engels, Einleitung zu Marx' "Bürgerkrieg in Frankreich", MEW 22, S. 199).
Enteignung und Verstaatlichung, die Probleme der Wirtschaftsverwaltung, die geschichtliche Unbedarftheit der arbeitenden Klassen und des Proletariats bei der Wirtschaftsführung, die Notwendigkeit, auf technische Spezialisten zurückzugreifen, auf Menschen, die aus den Reihen der ausbeutenden Klassen und ihrer Bediensteten kommen, der katastrophale Zustand der Wirtschaft nach einem Bürgerkrieg - all dies sind historische Faktoren, die zur Stärkung der Staatsmaschinerie und ihrer grundsätzlichen Eigenschaften des Konservatismus und des Zwangs führen werden. Die historische Notwendigkeit für das Proletariat, vom Staat Gebrauch zu machen, darf nicht zu dem fatalen theoretischen und politischen Irrtum verleiten, dieses Instrument mit dem Sozialismus zu identifizieren. Der Staat ist wie das Gefängnis weder das Symbol für den Sozialismus, noch das des Proletariats, dessen Aufgabe der Aufbau desselben ist.
Der mit der Diktatur des Proletariats geäußerte Wille der revolutionären Klasse, den Widerstand des Gegners zu zermalmen und das Streben nach einer sozialistischen Gesellschaft sicherzustellen, drückt auch ihren grundlegenden Gegensatz zu den Ideen und Institution des Staates aus. Insbesondere die russische Erfahrung hat die theoretische Falschheit der Idee eines "Arbeiterstaates", der Idee vom proletarischen Wesen des Staates, den Irrtum der Identifikation der proletarischen Diktatur mit diesem vom Proletariat benutzten Zwangsmittel, dem Staat, verdeutlicht.
10) Wenn das Proletariat durch den Sieg der Revolution über die Bourgeoisie zum gesellschaftlichen Herrscher wird, wird es sich einer sozialen Situation gegenüberfinden, die noch nicht reif für den Sozialismus ist, die aber diese Reife erst unter der Führung des Proletariats erlangen kann. In jedem Bereich - ökonomisch, politisch, kulturell, sozial - wird das Proletariat Überreste von Nationen und aller Arten rückständiger Überbauten, Institutionen und Ideologien erben, die es nicht durch einen simplen Willensakt abschaffen kann. Es wird ihnen Rechnung tragen, gegen sie kämpfen, ihre schädlichsten Auswirkungen abschwächen müssen. Gewalt ist dabei nicht das wichtigste Mittel. Sie kann nur strikt in dem Maße wie die vom Klassenfeind gebrauchte Gewalt angewandt werden, um letzteren zu zerschmettern. Gewalt muß absolut und kategorisch in den Beziehungen des Proletariats zu anderen arbeitenden Klassen und innerhalb des Proletariats selbst abgelehnt werden. Allgemein gesagt, sind die Methoden, die benutzt werden, um zum Sozialismus zu gelangen, eng verbunden mit dem angestrebten Ziel, sprich: dem Sozialismus selbst.
Zu Beginn der Übergangsperiode wird das Proletariat gezwungen sein, von Mitteln Gebrauch zu machen, die ihm die ganze vergangene Geschichte der Menschheit hinterläßt; eine Geschichte der Gewalt und Klassenherrschaft. Der Staat ist solch ein Instrument; er ist das eigentliche Symbol für Gewalt, Raub und Unterdrückung. Das Proletariat erbt dieses Instrument und kann es nur unter der Bedingung nutzen, daß:
1) es das antisozialistische Wesen des Staates anerkennt sowie kundgibt und zu keiner Zeit sich selbst mit ihm identifiziert; es muß sich konstant mit seinen Klassenorganen, der Partei und den Gewerkschaften, dem Staat entgegengestellen, um Gewähr dafür zu bieten, daß der Staat unter unaufhörlicher Kontrolle der gesamten Klasse steht;... und dessen schlimmste Seiten es ebensowenig wie die Kommune umhin können wird, sofort möglichst zu beschneiden" (Engels, Einleitung zu Marx' "Bürgerkrieg in Frankreich" MEW 22, S. 199).
Die russische Erfahrung hat die Warnungen von Marx und Engels bestätigt, die sich mit den Gefahren des Staates und mit der Notwendigkeit, Maßnahmen gegen diese Gefahren zu ergreifen, befaßten.
Diese Maßnahmen beinhalteten: das Wählen von Repräsentanten, die jederzeit abwählbar sind durch die arbeitenden Massen; die Zerstörung aller, vom Volk abgesonderten, bewaffneten Kräfte und ihre Ersetzung durch eine allgemeine Bewaffnung des Proletariats und aller arbeitenden Klassen; die größtmögliche Demokratie für die Arbeiterklasse und ihre Organisationen; wachsame und ständige Kontrolle der gesamten Klassen über das Funktionieren des Staates; Festlegung eines Höchstlohnes für Staatsbeamte, die nicht mehr als Facharbeiter bekommen sollen. Solche Maßnahmen sollten mehr als bloße Formeln sein; sie müssen peinlich genau ausgeführt werden und soweit wie möglich durch flankierende soziale und politische Maßnahmen gestärkt werden.
Die Geschichte und besonders die russische Erfahrung haben gezeigt, daß es nicht so etwas wie einen proletarischen Staat gibt, sondern nur einen Staat in den Händen des Proletariats, ein Staat, der anti-sozialistisch bleibt. Wenn die politische Wachsamkeit des Proletariats nachläßt, wird der Staat Bollwerk, Sammelpunkt und Ausdruck der enteigneten Klassen eines wiedergeborenen Kapitalismus werden.
DIE GEWERKSCHAFTEN NACH DER REVOLUTION
11) Die Gewerkschaften, Einheitsorgane zur Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen des Proletariats, haben ihren Ursprung im Produktionsmechanismus. Sie entstanden aus der Notwendigkeit für das Proletariat, gegen wirtschaftliche Ausbeutung, gegen das Herauspressen eines ständig wachsenden Mehrwerts, d.h. ein Anstieg unbezahlter Arbeit, zu kämpfen. Durch die zunehmende Produktivität vermindert die entwickelte Technologie die notwendige Arbeitszeit für die Reproduktion der Arbeitskraft. Im Kapitalismus neigt größere Produktivität nicht zur Reduzierung der Arbeitszeit oder zur proportinalen Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter. Im Gegenteil, das Streben der Kapitalisten nach größerer Produktivität dient schlicht und einfach der Produktionssteigerung von Mehrwert.
Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, konstanten und variablen Kapital, Kapitalismus und Proletariat konzentriert sich um das ökonomische Problem; die Rolle der beiden Kräfte in der Produktion basiert auf einem grundsätzlichen Gegensatz, der einen ständigen Klassenkampf erzeugt. In diesem Kampf gegen den Kapitalismus organisiert sich das Proletariat zur Verteidigung seiner unmittelbaren Interessen mittels eines Zusammenschlusses all jener, die ausgebeutet werden: die Gewerkschaften.
So sehr die Gewerkschaften auch unter dem Einfluß bürgerlicher Agenten, d.h. der reformistischen Bürokratie geraten sind, deren Politik die Rolle der Gewerkschaften sabotiert und in Sackgassen lenkt, sie bleiben Organe der Klasse, solange sie ihre Unabhängigkeit vom kapitalistischen Staat aufrechterhalten.
12) Die proletarische Revolution wird sich nicht sofort der Klassen und der Produktionsverhältnisse zwischen den verschiedenen Klassen entledigen können. Die siegreiche Revolution ist einfach "die Organisation des Proletariats als herrschende Klasse", die durch ihre Partei einen historischen Kurs, eine wirtschaftliche Tendenz eröffnet, die mit der Existenz von Klassen und Ausbeutung beginnt und als klassenlose Gesellschaft endet.
Diese Übergangsperiode zwischen Kapitalismus und Sozialismus unter der Diktatur des Proletariats drückt sich auf wirtschaftlicher Ebene in einer energischen Politik aus, die darauf abzielt, die Klassenausbeutung zu verringern, den Anteil des Proletariats am nationalen Einkommen konstant zu steigern, das Verhältnis zwischen variablem und konstantem Kapital zugunsten des ersteren zu verändern. Diese Politik kann nicht auf programmatischen Deklarationen der Partei ruhen; noch weniger ist sie das Vorrecht des Staates, dem Verwaltungs- und Zwangsorgan. Erst durch den Druck, den die Klasse auf die Gesellschaft ausübt, erst durch ihren Widerstand und Kampf gegen alle anderen Klassen kann diese Politik eine Gewähr und einen wirklichen Ausdruck in der Arbeiterklasse selbst finden.
Gewerkschaftliche Organisationen im Kapitalismus repräsentieren eine Tendenz zur Umgruppierung der Klasse gegen die Ausbeutung, die fortwährend durch den Einfluß und die Repression der herrschenden Bourgeoisie zurückgehalten und blockiert wird. Erst nach der Revolution werden die gewerkschaftlichen Organisationen wirklich Einheitsorgane der Klasse werden, die alle Arbeiter ohne Ausnahme um sich versammeln. Erst dann werden die Gewerkschaften tatsächlich in der Lage sein, die Verteidigung der unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen des Proletariats zu übernehmen.
13) Die Rolle der gewerkschaftlichen Organisationen nach der Revolution stützt sich nicht einfach auf die Tatsache, daß sie die einzigen Organisationen sind, die die Verteidigung der unmittelbaren Interessen des Proletariats übernehmen können, selbst wenn dies an sich Rechtfertigung genug ist für die völlige Freiheit und Unabhängigkeit der Gewerkschaften und für die Ablehnung jeder Unterordnung oder Integration der Gewerkschaften unter bzw. in den Staat. Aber darüberhinaus sind die Gewerkschaftsorganisationen ein äußerst sensibles, lebendiges Barometer, das schnell anzeigt, ob der Haupttrend zum Sozialismus (durch die proportionale Steigerung des variablen Kapitals) oder zum Kapitalismus (durch ein weit größeres, proportionales Wachstum des konstanten Kapitals) neigt. Wenn es in der Wirtschaftsverwaltung eine Neigung zur kapitalistischen Politik gibt (als ein Resultat des wirtschaftlichen Drucks, der aus unreifen Bedingungen und von überlebenden, nicht-proletarischen Klassen herrührt), wird das Proletariat mit den Mitteln seiner Gewerkschaftsorganisationen und seines spezifischen Kampfes entgegenzuhandeln und zu intervenieren haben, wodurch es ein soziales Gegengewicht schafft, das die Wirtschaftspolitik auf den sozialistischen Weg zurückdrängen wird.
Die Gewerkschaften in der Rolle von Wirtschaftsverwaltern würden nicht das wesentliche Problem beseitigen, das in dieser wirtschaftlichen Lage entsteht. Sie würden nicht die Schwierigkeiten lösen, die durch den wirklichen Mangel an Reife in der Wirtschaft erzeugt werden. Aber solch eine Rolle würde dem Proletariat und seinen Organisationen ihre Freiheit nehmen. Es würde die Fähigkeit des Proletariats zerstören, den nötigen Druck zum Zweck der Verteidigung seiner unmittelbaren Interessen und der Garantierung einer sozialistischen Wirtschaftspolitik auszuüben.
14) Im Kapitalismus schaffen die Gewerkschaften nur eine sehr unvollständige Widerspiegelung des Standes des Klassenbewußtseins. Dieses Bewußtsein kann erst nach der Revolution vom Proletariat völlig entwickelt werden, wenn es frei ist von all den Ketten, die ihm die Bourgeoisie und ihre Agenten, die reformistischen Führer, aufgebürdet haben.
Nach der Revolution werden die Gewerkschaften den Stand des Bewußtseins weitaus klarer reflektieren, den die gesamte Klasse erreicht hat, und sie werden für das Umfeld zur politischen Erziehung der Massen sogen. Die Kommunisten gehen dabei von dem Gedanken aus, daß die Verteidigung der Revolution und der Aufbau des Sozialismus nicht durch den Willen einer kleinen Elite erreicht werden kann; beides bezieht seine Stärke allein aus der politischen Reife der proletarischen Massen. Gewalt, die gegen die proletarischen Massen ausgeübt wird, kann keinesfalls für eine Gewährleistung des Fortschreitens zum Sozialismus sorgen, auch wenn sie dies beabsichtigte.
Sozialismus kann nicht Gewaltanwendung gegen das Proletariat sein, der sozusagen gegen seinen Willen geschaffen würde. Sozialismus kann nur auf dem Bewußtsein und dem Willen der arbeitenden Klasse fußen. Kommunisten lehnen alle Methoden der Gewalt innerhalb des Proletariats ab, weil solche Methoden sich einer Bewegung zum Sozialismus in den Weg stellen, weil sie die Klasse daran hindern, zu einem Verständnis ihrer historischen Aufgabe zu gelangen. Kommunisten werden innerhalb der Gewerkschaften für völlige Freiheit des Wortes und der proletarischen Kritik kämpfen. Sie werden im gewerkschaftlich organisierten Proletariat für ihre politischen Positionen kämpfen, gegen alle Neigungen, die die Hartnäckigkeit der (klein)bürgerlichen Einflüsse innerhalb des Proletariats und innerhalb bestimmter, rückständiger Schichten der Klasse widerspiegeln. Freiheit der Bildung von Fraktionen und Tendenzen innerhalb der Gewerkschaften, Rede- und Pressefreiheit für alle Strömungen innerhalb der Gewerkschaften: Dies sind die Bedingungen, die die Klassenpartei in die Lage versetzen wird, den Bewußtseinsstand der Massen anzuerkennen und zu ermessen, die Bewegung zum Sozialismus durch die politische Erziehung der Massen zu gewährleisten, ihre eigene Politik in die Tat umzusetzen, und falls notwendig, zu korrigieren.
Das Verhältnis zwischen Partei und Klasse ist ganz einfach das Verhältnis zwischen Partei und Gewerkschaften.
15) Jede Absicht, die Rolle der Gewerkschaften nach der Revolution zu reduzieren; jede Vorspiegelung eines "Arbeiterstaates" als gleichbedeutend mit dem Ende der Freiheit, sich an Gewerkschaftsaktivitäten oder Streiks zu beteiligen; jede Befürwortung des Zusammenschmelzens der Gewerkschaften mit dem Staat mittels der Theorie von der Übertragung gewerkschaftlicher Funktionen an die Wirtschaftsverwaltung, die sich revolutionär ziemt, tatsächlich aber zu einer Einverleibung der Gewerkschaften in die Staatsmaschinerie führt; jede Position, die, wie revolutionär ihre Absichten auch immer sein mögen, zur Gewalt innerhalb des Proletariats und seinen Organisationen aufruft; jeder Versuch, sich einer weitestgehenden Arbeiterdemokratie und dem freien Spiel der politischen Kräfte sowie der innergewerkschaftlichen Fraktionen entgegenzustellen - jede solche Politik wirkt gegen die Arbeiterklasse. Sie verfälscht das Verhältnis zwischen Partei und Klasse und schwächt die Stellung des Proletariats während der Übergangsperiode. Die Pflicht der Kommunisten wird es sein, all diese Tendenzen energisch zu entlarven und zu bekämpfen sowie für die volle Entwicklung und Unabhängigkeit der gewerkschaftlichen Bewegung zu arbeiten, die eine unerläßliche Bedingung für den Sieg des Sozialismus ist.
DIE VERWALTUNG DER WIRTSCHAFT
16) Die Verwaltung der Wirtschaft nach dem Bürgerkrieg ist das schwierigste und verwickelste Problem, das dem Proletariat und seiner Partei gegenüberstehen wird. Es wäre töricht zu versuchen, von vornherein Lösungen für all die praktischen Gesichtspunkte dieses Problems zu entwickeln. Es hieße, den Marxismus in ein System rigider Gesetze umzuwandeln, das zu jeder Zeit gültig und anwendbar ist, ohne Rücksicht auf die vielfältigen konkreten und zufälligen Umstände, die in den verschiedenen Ländern und Wirtschaftsbereichen auftreten würden.
Erst durch das praktische Studium werden wir imstande sein, zu jeder sich ergebenden Situation die notwendige Lösung zu finden. Marx und Engels zufolge können wir heute lediglich einen groben Umriß, die allgemeinen Prinzipien der Wirtschaftsverwaltung während der Übergangsperiode anbieten, wobei wir uns hauptsächlich auf die Erfahrungen der russischen Revolution stützen.
17) Die Errichtung des Sozialismus erfordert eine sehr fortgeschrittene Entwicklung der Technologie und der Produktivkräfte. Nach dem Triumph der Revolution wird das Proletariat keine völlig entwickelte Technologie zu seiner Verfügung haben. Nicht weil die Revolution etwa zu früh stattfinden würde; im Gegenteil: die Entwicklung der Produktivkräfte hat im Kapitalismus ihre Grenzen erreicht. Diese Tatsache bestätigt die Annahme, daß die objektiven Bedingungen für die Revolution präsent sind. Der Kapitalismus ist zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte geworden und muß zerstört werden. Es bleibt dem Proletariat überlassen, eine Politik zu betreiben, die eine volle Entwicklung der Produktivkräfte erlaubt, so daß der Sozialismus wirtschaftliche Wirklichkeit wird.
Die Entwicklung der Technologie und der Produktivkräfte ist die Grundlage für die Wirtschaftspolitik des Proletariats. Dies erfordert die Akkumulation eines Teils der produzierten Werte, um die expandierende Reproduktion zu verbessern, intensivieren und abzusichern. Aber der Sozialismus ist nicht schlicht das Resultat des Tempos, in dem sich die Produktivkräfte entwickeln; der Rhythmus in der zum Sozialismus strebenden Bewegung ist den konkreten Möglichkeiten, die in der realen wirtschaftlichen und politischen Situation gegeben sind, untergeordnet und wird von ihnen beschränkt.
18) Die Verwaltung der Wirtschaft kann zu keiner Zeit von der Entwicklung des politischen Kampfes der Klasse getrennt werden, und zwar auf internationaler Ebene. Eine Revolution, die in einem Land siegreich ist, kann nicht einfach danach trachten, ihre eigene Wirtschaft zu entwickeln, unabhängig vom Kampf des Proletariats in anderen Ländern. Die russische Revolution hat uns den historischen Beweis geliefert; der Versuch, die Wirtschaft in Rußland außerhalb der aufstrebenden revolutionären Bewegung in anderen Ländern zu entwickeln, führte Rußland in eine Politik des Kompromisses mit dem Weltkapitalismus, eine Politik der außenpolitischen Pakte, der wirtschaftlichen Übereinkunft und der innenpolitischen Konzessionen. Es erwies sich, daß diese Kompromisse in so vielen Belangen einen Kapitalismus stützten, der in offener Krise steckte und ihn vor dem Zusammenbruch bewahrten. Aber gleichzeitig hatten diese Kompromisse eine äußerst verwirrende Wirkung auf ein Proletariat, das sich in der Agonie des revolutionären Kampfes befand (der Geheimvertrag von Rapallo 1920 zwischen dem sowjetischen Staat und dem deutschen Militarismus zum Beispiel).
Die Wirtschaftsabkommen, die allein darauf abzielten, eine partielle Stärkung des Revolutionslandes zu erlangen, führten tatsächlich zur politischen und wirtschaftlichen Verstärkung des Kapitalismus, zum Umkippen des Gleichgewichts der Klassenkräfte zugunsten des Kapitalismus. So verstärkte das Land der siegreichen Revolution seine Isolation und verlor seinen einzigen Verbündeten, die einzige Garantie für seine Weiterentwicklung: die internationale Revolution. Es endete als eine politische und ökonomische Kraft, die durch den wachsenden Druck ihres historischen Feindes von ihrem Kurs abgebracht und vom kapitalistischen System wieder aufgesaugt wurde.
Die Wirtschaftspolitik des Proletariats in einem Land kann nicht zum Ziel haben, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten jenes Landes zu lösen oder die Unterentwicklung innerhalb des engen Rahmens des einen Landes zu überwinden. Die Zukunft jener Ökonomie ist untrennbar mit der Entwicklung der internationlen Revolution verbunden und ihr direkt untergeordnet. Jede Binnenwirtschaftspolitik muß von provisorischem Charakter sein und im wesentlichen darauf abzielen, der internationalen Revolution zu helfen.
19) Die russische Erfahrung hat auch gezeigt, daß der Versuch, den Pulsschlag der Produktion über ein proportionales Wachstum des Verbrauchs hinaus zu beschleunigen, zu einer Produktion von Gütern führt, die zur Zerstörung bestimmt sind. Dies steht im Einklang mit der allgemeinen Tendenz des Weltkapitalismus in seiner dekadenten Phase, der die Fortsetzung der Produktion nur durch die Errichtung einer Kriegswirtschaft sichern kann.
Entgegen dieser Politik der weitestgehenden Beschleunigung der industriellen Entwicklung, des Opferns der unmittelbaren Interessen des Proletariats für den Aufbau einer Kriegswirtschaft wird eine wahrhaft proletarische Wirtschaftspolitik auf einer Wachstumsrate fußen, die im richtigen Verhältnis zu den Konsumbedürfnissen der Produzenten steht. Sie wird daher auf die Produktion von Konsumgütern abzielen, die für die Befriedigung der Arbeiterbedürfnisse unmittelbar notwendig sind.
Die Akkumulation wird nicht auf dem Kriterium basieren, die Industrie so schnell wie möglich zu entwickeln, sondern wird auf eine Rate festgelegt sein, die mit der ständigen Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse vereinbar ist. Die Grundprinzipien einer solchen Wirtschaftspolitik werden die Produktion für die Grundbedürfnisse und die allmähliche Harmonisierung der vielfältigen Wirtschaftsbereiche, besonders zwischen Stadt und Land, Industrie und Landwirtschaft sein.
20) Solange die Produktivkräfte nicht einen Entwicklungsstand erreicht haben, auf dem die kleinkrämerische Produktion in jeder einzelnen Wirtschaftsbranche beseitigt werden kann, werden die Zwischenschichten, die Handwerker und Kleinbauern, sicher nicht vollständig und sofort verschwinden.
Nach der Revolution wird das Proletariat lediglich dazu imstande sein, die entwickelten und konzentrierten Industriebereiche, die Schlüsselindustrien, Transport, Bankwesen und großes Landeigentum, zu kollektivieren. Es wird das Großbürgertum enteignen. Das kleine Privateigentum jedoch wird fortfahren zu existieren und erst durch einen langen ökonomischen Prozeß abgeschafft werden. Neben dem sozialistischen Wirtschaftsbereich wird es auch einen privaten Bereich kleiner Produzenten geben. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen diesen Bereichen werden wahrscheinlich mannigfaltige Formen einnehmen, von sozialistisch-kooperativen Beziehungen bis hin zum freien Austausch von Waren zwischen dem Staat und den Kleinbesitzern und auch unter den einzelnen, isolierten Produzenten selbst. Die Probleme der Produktion, des Austausches, der Preise, des Marktes und des Geldes werden ebenfalls mannigfaltige Formen annehmen. Die Wirtschaftspolitik des Proletariats wird diese Situation in Betracht ziehen müssen, wobei es bürokratische Gewalt als Mittel der Regulierung des Wirtschaftslebens ablehnt, und sich allein auf die realen Möglichkeiten der Technologieentwicklung stützt, um die private Produktion zu absorbieren. Es wird danach streben, das Privateigentum und die isolierten Hersteller durch Einverleibung in die große Familie des Proletariats auszumerzen.
21) Die Verwaltung des sozialen und Wirtschaftslebens ist eng verknüpft mit der Gesamtheit der nationalen und internationalen Produktion. Sie verlangt, daß erhebliche Kräfte in Bewegung gesetzt werden und systematisch geplant wird. Allein eine zentralisierte Verwaltung kann dies sicherstellen. Es sei denn, man möchte jedes Mitglied und jede Gruppe der Gesellschaft in viele kleine Eigentümer umwandeln, alle mit ihren eigenen, widerstreitenden Interessen. Was bedeuten würde, zu der Epoche der einfachen Warenproduktion zurückzukehren, die vor langem durch die historische Entwicklung der Industrie ausgelöscht wurde. Eine sozialistische Gesellschaft wird ihre eigenen sozialen und wirtschaftlichen Verwaltungsorgane hervorbringen. In der Übergangsperiode kann die Funktion der Wirtschaftsverwaltung allein von der politischen Macht übernommen werden, die aus der Revolution hervorgegangen ist, und die unter der Kontrolle der gesamten arbeitenden Bevölkerung die Wirtschaft verwalten und leiten wird.
Die breiteste, wirksamste und direkteste Teilnahme all der Arbeiter auf jeder Ebene der neuen Macht ist der einzige Weg sicherzustellen, daß die Wirtschaft sich unter der Leitung der Arbeiter selbst befindet. Die Pariser Kommune gab uns das erste Beispiel dieser neuen Staatsform, während die russische Revolution diesen ersten Versuch erneut bekräftigte und ihm seine endgültie Form in den Repräsentationsorganen aller Arbeiter auf ihrem Arbeitsplatz und in ihren Lokalitäten gab: die Arbeiterräte oder Sowjets.
22) Jeder, der arbeitet, wird an den Wahlen zu den Leitungs- und Verwaltungsorganen, zu den Arbeiterräten teilnehmen. Nur jene, die die nicht arbeiten oder von der Arbeitskraft anderer leben, werden davon ausgeschlossen. Die Interessen all der arbeitenden Massen, einschließlich jener der nicht-proletarischen Schichten, werden in den Räten zum Ausdruck kommen. Wegen seines Bewußtseins, seiner politischen Stärke, des Platzes, den es im industriellen Herzen der Wirtschaft einnimmt, wegen seiner Konzentration in den Städten und Fabriken, wo es sich einen Sinn für Organisation und Disziplin erworben hat, wird das Proletariat die entscheidende Rolle im gesamten Leben und in den Aktivitäten der Räte spielen und Führungskraft und Orientierungssinn gegenüber den anderen Schichten der arbeitenden Bevölkerung darbieten.
Die Proletarier werden in den Räten zunächst die Kunst erlernen müssen, selbst die Gesellschaft zu leiten. Die Partei wird dabei den Räten nicht ihre Wirtschaftspolitik durch Dekrete oder durch die Inanspruchnahme heiliger Gesetze aufzwingen. Sie wird ihre Konzeptionen und ihre Politik durchsetzen müssen, indem sie sie vorschlägt, verteidigt und der Begutachtung der in den Räten oder Sowjets organisierten Massen unterzieht, indem sie auf die Arbeiterräte und auf die Arbeiterabgeordneten in den zentralen Räten baut, um ihre Klassenpolitik zu einem erfolgreichen Abschluß zu bringen.
23) So wie das Verhältnis zwischen Partei und Klasse durch die Gewerkschaften ausgedrückt wird, so wird das Verhältnis, das das Proletariat und seine Partei mit den anderen arbeitenden Klassen hat, durch die Räte ausgedrückt. So wie Gewalt innerhalb der Klasse nur ihr Verhältnis zur Partei verfälschen kann, so muß auch Gewalt im Verhältnis des Proletariats zu anderen arbeitenden Klassen und Schichten abgelehnt werden. Diese Beziehungen müssen sich auf die völlige Freiheit des Wortes und der Kritik innerhalb der Arbeiterräte und unter den Bauerndelegierten stützen.
In einem allgemeinen Sinn wird Gewalt als Handlungsmethode in den Händen des Proletariats unerläßlich sein, um die Herrschaft des Kapitalismus und des Staates zu zerstören und um den Sieg des Proletariats gegen den Widerstand und die Gewalt der konterrevolutionären Klassen während des Bürgerkriegs zu garantieren. Aber abgesehen davon spielt Gewalt keine Rolle bei der konstruktiven Aufgabe, den Sozialismus aufzubauen. Im Gegenteil, sie enthält das Risiko, die Aktivität des Proletariats abzulenken oder sein Verhältnis zu den anderen arbeitenden Schichten zu verfälschen sowie seine Eigenschaft zu verzerren, Klassenlösungen für die Probleme zu finden, mit denen es konfrontiert wird; Lösungen, die nur auf der Entwicklung der politischen Reife der Massen fußen können.
Gauche Communiste de France (Kommunistische Linke Frankreichs), M.C. April 1946, aus INTERNATIONALISME