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Internationale Revue Nr. 12

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Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks - Destabilisierung und Chaos

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Der Zusammenbruch des Ostblocks, dessen Zeuge wir gerade sind, stellt neben dem historischen Wiedererstarken der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre das wichtigste historische Ereignis seit dem letzten Weltkrieg dar. In der Tat ist durch die Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres die Konstellation der Welt, so wie sie jahrzehntelang bestanden hatte, zu Ende gegangen. Die „Thesen über die ökonomische und politische Krise der UdSSR und der osteuropäischen Länder", die im September 1989 verfaßt wurden (https://de.internationalism.org/thesenosteuropa [1]), liefern den Rahmen, um die Ursachen und die Implikationen der Ereignisse zu begreifen. Diese Analyse wurde im wesentlichen durch die Ereignisse der letzten Monate vollauf bestätigt. Daher ist es nicht notwendig, hier ausführlich darauf einzugehen, außer um die wichtigsten Ereignisse seit der Veröffentlichung der letzten Ausgabe unserer Revue zu berücksichtigen. Hingegen ist es für die Revolutionäre wichtig, die Folgen dieser neuen historischen Lage zu untersuchen. Dies wollen wir in folgendem Artikel tun.
Monatelang schien der Wunsch der Herrschenden in Anbetracht der Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern nach einer "friedlichen Demokratisierung" in Erfüllung zu gehen. Ende Dezember 1989 jedoch wurde die Perspektive mörderischer Zusammenstöße, die in den "Thesen" angekündigt worden waren, auf tragische Weise bestätigt. Die Blutbäder, die in Rumänien und Aserbaidschan stattgefunden haben, werden wahrscheinlich keine Ausnahme bleiben. Die "Demokratisierung" Rumäniens bildet das Ende einer Periode im Zusammenbruch des Stalinismus : das Verschwinden der "Volksdemokratien"(1). Gleichzeitig leitete sie eine neue Phase ein: die Phase der blutigen Wirren in diesem Teil der Welt, ganz besonders in dem (neben Albanien) einzigen europäischen Land, wo die stalinistische Partei noch ihre Macht erhalten hat: die UdSSR selbst. Allerdings bestätigen die Ereignisse der letzten Wochen den totalen Kontrollverlust durch die Behörden, selbst wenn Gorbatschow zur Zeit in der Lage zu sein scheint, seine Stellung an der Parteispitze aufrechtzuerhalten. Die russischen Panzer in Baku sind keinesfalls eine Demonstration der Stärke der UdSSR; sie sind im Gegenteil das Eingeständnis einer ungeheuren Schwäche. Gorbatschow hatte versprochen, daß der Staat nunmehr keine Truppen mehr gegen die Bevölkerung einsetzen werde. Das Blutbad im Kaukasus bedeutete das vollständige Scheitern seiner Politik der "Perestroika"‚ der Umstrukturierung. Denn was sich in dieser Region ereignete, war lediglich das Vorspiel zu weitaus größeren Erschütterungen, die die UdSSR durchschütteln und schließlich vernichtend schlagen sollten.


Die UdSSR versinkt im Chaos

Innerhalb weniger Monate hat dieses Land den imperialistischen Block verloren, den es bis letzten Sommer beherrscht hatte. Von nun an existiert kein "Ostblock" mehr; er ist auseinandergefallen, während die stalinistischen Regimes, die die "Volksdemokratien" regierten, wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen. Doch es konnte nicht bei einem solchen Zusammenbruch bleiben: in dem Maße, wie die Hauptursache des Zerfalls dieses Blocks in dem vollständigen ökonomischen und politischen Bankrott seiner Hauptmacht aufgrund der unerbittlichen kapitalistischen Weltkrise liegt, ist es auch unvermeidbar, daß dieser Zusammenbruch in eben dieser herrschenden Vormacht am brutalsten zum Ausdruck kommt. Die Explosion des Nationalismus im Kaukasus, die bewaffneten Zusammenstöße zwischen Aseris und Armeniern, die Pogrome in Baku, all diese Erschütterungen, die zur massiven und blutigen Intervention der "Roten Armee" geführt haben, sind nur ein weiterer Schritt in den Zusammenbruch und Zerfall des Landes, das vor einem Jahr noch die zweitgrößte Supermacht der Erde war. Die offene Loslösung Aserbaidschans (wo selbst der lokale Oberste Sowjet sich gegen Moskau gewandt hat), aber auch Armeniens, wo bewaffnete Kräfte die Straßen beherrschen, die nichts mit den offiziellen Behörden zu tun haben wollen, ist lediglich ein Vorbote der Sezession der gesamten Regionen, die Rußland umgeben. Durch den Einsatz bewaffneter Kräfte hat der Kreml versucht, diesen Prozeß zu stoppen, der mit der "behutsamen" Sezession Litauens und den nationalistischen Manifestationen in der Ukraine Anfang Januar bereits die nächsten Etappen ankündigt. Aber solch eine Repression kann all das bestenfalls etwas hinausschieben. In Baku - ganz zu schweigen von den anderen Städten und auf dem Lande - haben die zentralen Behörden die Lage überhaupt nicht unter Kontrolle. Das nunmehr zu beobachtende Schweigen der Medien bedeutet keinesfalls, daß die Dinge "wieder ihren normalen Gang gehen". In der UdSSR wie im Westen ist "Glasnost" äußerst wählerisch bei dem, was sie der Öffentlichkeit preisgibt. Es geht darum, andere Nationalitätengruppen nicht zu ermutigen, dem Beispiel der Armenier und Aseris zu folgen. Und selbst wenn es den Panzern für den Augenblick gelungen ist, den nationalistischen Demonstrationen und Auswüchsen vorübergehend Einhalt zu gebieten, ist für Moskau überhaupt nichts gelöst. Bislang ließ sich nur ein Teil der Bevölkerung gegen die Bevormundung durch Rußland mobilisieren, aber die einrückenden Panzer und die Massaker haben sämtliche Aseris gegen die "Besatzer" zusammengeschweißt. Die Armenier sind nicht die einzigen, die um ihr Leben fürchten müssen: die russische Bevölkerung Aserbaidschans riskiert, den Preis für diese militärische Operation bezahlen. Darüberhinaus ist die Moskauer Zentralmacht nicht in der Lage, überall die gleiche Methode zur "Aufrechterhaltung der Ordnung" anzuwenden. Einerseits repräsentierenen die Aseris nur ein Zwanzigstel der gesamten nicht-russischen Bevölkerung in der UdSSR. Man fragt sich, mit welchen Mitteln der Kreml die 40 Millionen Ukrainer in die Knie zwingen will. Andererseits können die Behörden nicht einmal mit dem Gehorsam der "Roten" Armee rechnen. In dieser sind die Soldaten, die den verschiedenen Minderheiten angehören, welche ihre Unabhängigkeit fordern, immer weniger dazu bereit, sich töten zu lassen, um die russische Bevormundung über ihre Minderheiten zu garantieren. Überdies sträuben sich die Russen selbst mehr und mehr dagegen, diese Art von Arbeit auszuführen. Dies wurde durch die Demonstrationen wie die vom 19. Januar in Krasnodar im Süden Rußlands deutlich, deren Forderungen deutlich zeigten, daß die Bevölkerung nicht bereit ist, ein neues Afghanistan zu akzeptieren - Demonstrationen, welche die Behörden dazu zwangen, die einige Tage zuvor eingezogenen Reservisten wieder zu entlassen.
Das gleiche Phänomen, das vor einigen Monaten zum Auseinanderbrechen des alten russischen Blocks führte, setzt sich heute mit der Explosion seines Blockführers selbst fort. Wie die stalinistischen Regimes hielt sich der ganze Ostblock nur durch den Terror an der Macht, durch die bereits mehrfach ausgeführte Drohung eines militärischen Einsatzes, durch eine brutale militärische Repression. Sobald aber die UdSSR aufgrund ihres wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der sich daraus ergebenden Lähmung ihres politischen und militärischen Apparates nicht mehr die Mittel für solch eine Repression zur Verfügung hatte, hat sich ihr Reich sofort aufgelöst. Doch diese Auflösung zieht die Auflösung der UdSSR selbst nach sich, da dieses Land auch aus einem Mosaik von verschiedenen Nationalitäten unter russischer Kontrolle zusammengesetzt ist. Der Nationalismus dieser Minderheiten, dessen offene Manifestationen nur durch die erbarmungslose stalinistische Repression verhindert worden war, dessen erzwungenes Schweigen und Unterdrückung ihn jedoch nur noch stärker machten, wurde mit der Gorbatschowschen "Perestroika" entfesselt, die von der Androhung von Gewalt Abstand nahm. Heute steht diese Repression wieder auf der Tagesordnung, aber nunmehr es ist zu spät, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wie die wirtschaftliche Situation entzieht sich auch die politische Lage vollständig der Kontrolle Gorbatschows und seiner Partei. Das einzige, was seine "Perestroika" möglich gemacht hat, sind noch weniger Waren in den Regalen der Geschäfte, noch mehr Elend und darüber hinaus die Entfesselung der schlimmsten chauvinistischen und fremdenfeindlichen Ressentiments, von Pogromen und Massakern aller Art.
Und das ist nur der Anfang. Das Chaos, das gegenwärtig in der UdSSR herrscht, kann sich nur verschlimmern, denn das Regime, das dieses Land noch beherrscht, bietet ähnlich wie der Zustand der Wirtschaft keine Perspektive. Die "Perestroika", d.h. der Versuch, einen gelähmten Wirtschafts- und Politapparat schrittweise an die Weltwirtschaftskrise anzupassen, erweist sich mit jedem weiteren Tag als Bankrotterklärung. Auch die Rückkehr zu vergangenen Verhältnissen, die Wiederherstellung der vollständigen Zentralisierung des Wirtschaftsapparates und des stalinistischen oder Breschnewschen Terrors, den einige "konservative" Parteikreise anstreben mögen, würden nichts lösen. Diese Methoden sind längst gescheitert, und die "Perestroika" begann mit dem Eingeständnis dieses Scheiterns. Seitdem hat sich die Lage überall verschlechtert. Der immer noch starke Widerstand eines bürokratischen Apparates, der seine Machtbasis und Privilegien immer mehr dahinschwinden sieht, kann nur zu neuen Massakern führen, ohne daß dadurch allerdings das Chaos überwunden wird. Die Wiederherstellung der klassischen Formen kapitalistischer Herrschaft - Selbstverwaltung der Betriebe, Einführung von marktabhängigen Profitabilitätskriterien - stellt zwar die einzige "Perspekltive" dar, wird aber kurzfristig das Chaos in der Wirtschaft nur verstärken. Man kann gegenwärtig in Polen die Folgen solch einer Politik betrachten: 900 Prozent Inflation, unaufhaltsamer Anstieg der Arbeitslosigkeit und immer mehr brachliegende Unternehmen (im 4. Quartal 1989 fiel die Produktion von Lebensmitteln, die von der Industrie verarbeitet wurden, um 41 Prozent, von Textilien um 28 Prozent). In solch einem Kontext des Wirtschaftschaos gibt es für eine "schrittweise Demokratisierung" und eine politische Stabilität keinen Platz.
Gleichgültig, zu welcher Politik sich die leitenden Instanzen in der Kommunistischen Partei der UdSSR durchringen und wer auch immer letztendlich der Nachfolger Gorbatschows sein mag - das Resultat wird kaum anders lauten. Alle Zeichen in diesem Land stehen auf wachsende Erschütterungen, von denen jene der letzten Wochen nur ein Vorgeschmack sind: Hungersnöte, Massaker, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Fraktionen der "Nomenklatura" und zwischen vom Nationalismus berauschten Bevölkerungsteilen. Auf dem Leichnam der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917, dem Opfer  der internationalen Isolation, hatte der Stalinismus mit einer beispiellosenen Barbarei  seine Herrschaft errichtet. Heute befindet sich dieses todgeweihte System inmitten von Barbarei, Chaos, Blut und Dreck.
Die Lage in der UdSSR und den meisten osteuropäischen Ländern wird sich immer mehr den Verhältnissen in der sog. Dritten Welt angleichen. Die totale Barbarei, die diese Länder seit Jahrzehnten zu einer wahren Hölle hat werden lassen, der vollständige Zerfall des gesamten gesellschaftlichen Lebens, das Gesetz der bewaffneten Banden wie im Libanon z.B. werden immer weniger auf Regionen fernab vom Zentrum des Kapitalismus beschränkt sein. Von nun an ist der gesamte Weltteil, der bis dahin von der zweiten imperialistischen Weltmacht beherrscht wurde, von der "Libanonisierung" bedroht. Und all dies in Europa selbst, einige Hunderte Kilometer von den ältesten und größten Industriezentren der Welt entfernt.
Deshalb stellt der Zusammenbruch des imperialistischen Ostblocks nicht nur eine Umwälzung für die Länder dieses Teils der Erde und der  imperialistischen Konstellationen dar, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren; sie birgt auch eine allgemeine Instabilität in sich, die alle Länder der Welt erfassen wird, auch die bislang stabilsten. In diesem Sinne ist es wichtig, daß die Revolutionäre in der Lage sind, das Ausmaß dieser Umwälzungen auszuloten und insbesondere den Rahmen ihrer Analyse zu aktualisieren, der bis zum letzten Sommer gültig war, als der letzte Internationale Kongreß der IKS stattgefunden hatte (siehe dazu INTERNATIONALE REVUE Nr. 11), der aber durch die Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres überholt ist. Was wir nun vorschlagen, ist, die drei "klassischen" Aspekte in der Analyse der internationalen Lage zu aufzuarbeiten:
- die Krise des Kapitalismus,
- die imperialistischen Konflikte,
- den Klassenkampf.

 

Die Krise des Kapitalismus

In diesem Punkt bleiben die Analysen des letzten Kongresses der IKS am aktuellsten. In der Tat hat die Entwicklung der Lage der Weltwirtschaft im Verlauf der letzten sechs Monate die Analyse des Kongresses über die Zuspitzung der Krise des Kapitalismus vollauf bestätigt. Die Illusionen, die die bürgerlichen "Experten" über das "Wachstum" und die "Überwindung der Krise" zu schüren versucht hatten - Illusionen, die sich auf die Zahlen von 1988 und Anfang 1989 aus den Hauptindustriezentren stützten - sind schon jetzt zunichte gemacht.
Was die Länder des ehemaligen Ostblocks angeht, so erlaubt "Glasnost" es ihnen, sich ein realistischeres Bild von ihrer wirklichen Lage zu verschaffen und damit das wahre Ausmaß des wirtschaftlichen Desasters zu erkennen. Die alten offiziellen Zahlen, die schon eine gewaltige Katastrophe abbildeten, reichten noch nicht vollständig an die Wahrheit heran. Die Wirtschaft dieser Länder ist ein riesiges Trümmerfeld. Die Landwirtschaft (in der viel mehr Menschen als im Westen beschäftigt sind) ist in den meisten Ländern absolut nicht fähig, die Bevölkerung zu ernähren. Die Industrie ist nicht nur in einem total anachronistischen und veralteten Zustand, sondern auch aufgrund der desolaten Lage des Transportwesens und der mangelnden Versorgung mit Ersatzteilen, verschlissener Maschinen usw. und vor allem aufgrund des mangelnden Einsatzes aller Beteiligten, von den Maschinenbedienungen bis zu den Fabrikdirektoren, außerstande zu funktionieren und völlig ins Stocken geraten. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Wirtschaft, die Chruschtschows Worten Anfang der 60er Jahre zufolge die westlichen Länder einholen und überholen und die „Überlegenheit des 'Sozialismus' über den Kapitalismus beweisen" sollte, den Krieg gerade hinter sich zu haben. Und die Lage ist noch längst nicht dabei, sich zu bessern. Auch wenn das völlige Scheitern der stalinistischen Ökonomie, das in jüngster Zeit  offenkundig geworden ist, hinter dem Zusammenbuch des Ostblocks steht, hat dieser Kollaps noch nicht seine Talsohle erreicht, nichts weniger als das. Zumal sich die die Weltwirtschaftskrise jetzt nicht nur zuspitzt, sondern auch noch durch die Auswirkungen der Katastrophe in den osteuropäischen Ländern wiederum verschärft werden wird.
Tatsächlich ist es wichtig, den völligen Unfug aufzuzeigen (der von einigen Sektoren der Bourgeoisie, aber auch von bestimmten revolutionären Gruppen verbreitet wird), demzufolge die Öffnung der Wirtschaft der Länder Osteuropas gegenüber dem Weltmarkt eine "Sauerstofflasche" für die gesamte, kapitalistische Weltwirtschaft bilden könnte. Die Wirklichkeit sieht völlig anders aus.
Damit die Länder Osteuropas zu einer Verbesserung der Weltwirtschaft beitragen könnten, müßten sie in erster Linie einen wirklichen Markt bilden. Dabei fehlt es nicht an Bedürfnissen, genauso wenig wie in den unterentwickelten Ländern. Die Frage ist: womit können sie all das kaufen, was ihnen fehlt? Und da kann man die ganze Absurdität einer solchen Analyse ermessen. Diese Länder HABEN NICHTS, um ihre Anschaffungen zu bezahlen. Sie verfügen über absolut keine Finanzquellen: seit langem schon haben sie sich dem Los der am meist verschuldeten Länder angeschlossen (so betrugen die Außenhandelsschulden der ehemaligen "Volksdemokratien" 1989 ungefähr 100 Milliarden Dollar (2), d.h. eine Summe, die ungefähr der Verschuldung Brasiliens gleicht, dessen BSP und Bevölkerung vergleichbar sind). Um kaufen zu können, müssen sie verkaufen. Aber was können sie auf dem Weltmarkt verkaufen, wenn gerade der Hauptgrund des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes (innerhalb des Rahmens der Weltwirtschaftskrise) in der unzureichenden Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder auf dem Weltmarkt liegt?
Auf diesen Einwand antworten bestimmte Bereiche der Bourgeoisie, daß es eines neuen "Marshall-Plan" bedürfe, der es ermöglichen würde, das Wirtschaftspotential dieser Länder wieder zum Leben zu erwecken. Obgleich die Wirtschaft der osteuropäischen Länder Gemeinsamkeiten mit der Wirtschaft in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufweist, ist heute ein neuer "Marshall-Plan" vollkommen unmöglich. Dieser Plan (dessen Hauptbestimmung übrigens nicht per se der Wiederaufbau Europas war, sondern Letzteres vor der Gefahr bewahren sollte, von der UdSSR kontrolliert zu werden) konnte insofern ein Erfolg sein, als daß die gesamte Welt (mit Ausnahme der Vereinigten Staaten) wiederaufgebaut werden mußte. In dieser Epoche stellte sich nicht das Problem der allgemeinen Warenüberproduktion; und exakt das Ende dieses Wiederaufbaus West-Europas und Japans läutete die offene Krise ein, wie wir sie seit Mitte der 60er Jahre kennen. Daher stehen heute große Kapitalinvestitionen in den osteuropäischen Ländern zur Entwicklung ihres Wirtschaftspotentials, insbesondere des industriellen, nicht auf der Tagesordnung. Selbst wenn man davon ausginge, daß man ein solches Potential an Produktivkräften sanieren kann, würden die erzeugten Produkte den bereits gesättigten Weltmarkt nur weiter verstopfen. Mit den Ländern, die heute aus dem Stalinismus ausscheiden, verhält es sich wie mit den unterentwickelten Ländern: die ganze Politik der massiven Finanzspritzen im Verlauf der 70er und 80er Jahre haben erst zu der heute allseits bekannten katastrophalen Lage geführt (Schulden von 1.400 Mrd. Dollar und Volkswirtschaften, die noch verwüsteter sind als zuvor). Den osteuropäischen Ländern (deren Volkswirtschaften übrigens in vielerlei Hinsicht  jenen der unterentwickelten Länder ähneln) wird es nicht viel anders ergehen. Im übrigen täuschen sich die Finanziers der westlichen Großmächte nicht: sie drängeln sich nicht darum, Kapital in diese Länder zu stecken, wie in das gerade "entstalinisierte" Polen, das lauthals große Summen fordert (dieses Land benötigte in den nächsten drei Jahren mindestens zehn Milliarden Dollar), einschließlich ihres Vorzeige-"Arbeiters" und Nobelpreisträgers Lech Walesa. Und weil die verantwortlichen Finanziers alles andere als Menschenfreunde sind, wird es weder Kredite noch große Absätze der entwickeltsten Länder in den Ländern geben, die gerade die "Tugenden" des Liberalismus und der "Demokratie" entdeckt haben. Das einzige, was sie erwarten können, sind Kreditvergaben oder Nothilfen, um einen offenen finanziellen Bankrott und Hungersnöte zu vermeiden, die die Erschütterungen dieser Länder noch weiter verstärken würden. Und all das wird keineswegs eine "Sauerstoffzufuhr" für die Weltwirtschaft bilden.
Unter den Ländern des früheren Ostblocks ist die DDR sicherlich ein besonderer Fall. Dieses Land wird nämlich als solches nicht weiterbestehen. Ihre perspektivische Einverleibung durch die BRD ist, wenn auch widerwillig, nicht nur von den Großmächten akzeptiert worden, sondern selbst von ihrer eigenen Regierung. Dagegen wirft die wirtschaftliche Integration - die erste Etappe dieser "Wiedervereinigung", die als einziges Mittel übrig bleibt, um dem Massenexodus der Bevölkerung aus der DDR in die BRD ein Ende zu machen - große Probleme auf, sowohl für Westdeutschland als auch für die westlichen Partner. Die "Rettung" der DDR-Wirtschaft stellt aus finanzieller Sicht eine gewaltige Belastung dar. Wenn die Investitionen, die in diesem Teil Deutschlands sicherlich durchgeführt werden, einerseits einen vorübergehenden "Absatzmarkt" für einige Industriesektoren Westdeutschlands und anderer europäischer Länder darstellen können, so werden sie andererseits die allgemeine Verschuldung der kapitalistischen Wirtschaft verschärfen, während gleichzeitig die Übersättigung des Weltmerktes zunimmt. Deshalb hat die Ankündigung einer Währungsunion zwischen Westdeutschland und der DDR, die mehr von politischen als von ökonomischen Gesichtspunkten motiviert war (das Zögern des Bundesbankpräsidenten ist ein Beispiel dafür), keinen großen Enthusiasmus unter den westlichen Ländern hervorgerufen, ganz im Gegenteil. Für Westdeutschland ist die DDR auf Wirtschaftsebene ein vergiftetes Geschenk. Als Mitgift bringt die DDR nur eine heruntergekommene Industrie, eine abgetakelte Wirtschaft, einen Berg an Schulden und Wagenladungen voller Ost-Mark mit, die kaum soviel Wert sind wie das Papier, auf dem sie gedruckt wurden, die die BRD jedoch zu einem Höchstpreis wird aufkaufen muß, sobald die D-Mark zur gemeinsamen Währung der beiden Deutschlands wird. Die westdeutsche "Notenpresse" hat geschäftige Tage vor sich, die Inflation ebenfalls.
In der Tat kann die kapitalistische Ökonomie vom Zusammenbruch des Ostblocks keine Abschwächung ihrer Krise erwarten, sondern wachsende Probleme. Einerseits wird sich, wie wir gesehen haben, die Finanzkrise (der Berg an faulen Krediten) noch zuspitzen, andererseits bergen der bröckelnde Zusammenhalt des westlichen Blocks und sein letztliches Verschwinden (siehe unten) die Perspektive wachsender Kalamitäten der Weltwirtschaft in sich. Wie wir schon seit langem gezeigt haben, war einer der Hauptgründe für die Fähigkeit des Kapitalismus, das Tempo seines Zusammenbruchs zu verlangsamen, eine staatskapitalistische Politik auf der Ebene des gesamten westlichen Blocks (d.h. der dominanten Sphäre in der kapitalistischen Welt). Solch eine Politik setzt eine große Disziplin seitens der verschiedenen Länder voraus, aus denen sich der Block zusammensetzt. Diese Disziplin wurde hauptsächlich dank der Macht der Vereinigten Staaten über ihre Alliierten erreicht. Der militärische "Schutzschirm" der USA gegenüber der "sowjetischen Bedrohung" (sowie natürlich die vorherrschende Stellung ihrerselbst und ihrer Währung im internationalen Finanzsystem) wurde nur gewährt, wenn im Gegenzug die US-Ziele im Wirtschaftsbereich gewahrt wurden. Heute, mit dem Verschwinden der UdSSR als eine militärische Bedrohung für die Staaten des westlichen Blocks (insbesondere jene Westeuropas und Japans), haben die USA viel von ihrer Fähigkeit eingebüßt, Druck auf ihre "Alliierten" auszuüben; dies umso mehr, als die US-Ökonomie mit ihren enormen Defiziten und ihrem fortgesetzten Rückgang in der Wettbewerbsfähigkeit rapide an Boden gegenüber ihren Hauptkonkurrenten verliert. Dies wird die Tendenzen in den am besten funktionierenden Ökonomien, mit Deutschland und Japan an der Spitze, verstärken, sich von der Bevormundung durch die USA freizumachen, um ihr eigenes Spiel auf der weltwirtschaftlichen Bühne zu spielen; dies wiederum wird zu einer Zuspitzung von Handelskriegen und zu einer wachsenden allgemeinen Instabilität der kapitalistischen Ökonomie führen.
Schließlich muß man klar zum Ausdruck bringen, daß der Zusammenbruch des Ostblocks und die ökonomischen und politischen Erschütterungen seiner ehemaligen Mitglieder nicht die leiseste Verbesserung der Wirtschaftslage der kapitalistischen Gesellschaft ankündigen. Der ökonomische Bankrott der stalinistischen Regimes als Folge der allgemeinen Krise der Weltwirtschaft kündigt nur den Zusammenbruch auch der ökonomisch stärksten Sektoren  an.


Imperialistische Antagonismen

Die geopolitische Konstellation, die seit dem 2. Weltkrieg bestanden hatte, ist durch die Ereignisse in der zweiten Hälfte des letzten Jahres vollkommen infragegestellt worden. Heute gibt es keine zwei imperialistischen Blöcke mehr, die die Welt unter sich aufteilen.
Es liegt auf der Hand - selbst für die Teile der Bourgeoisie, die seit Jahren alarmiert sind wegen der Gefahr des "Reichs des Bösen" und seiner "beeindruckenden militärischen Stärke" -, daß der Ostblock nicht mehr existiert. Dies ist von einer ganzen Reihe von aktuellen Ereignissen bestätigt worden:
- die Unterstützung Gorbatschows durch die wichtigsten westlichen Führer (insbesondere Bush, Thatcher, Mitterand), häufig mit Lobeshymnen einhergehend ;
- die Resultate der verschiedenen Gipfeltreffen in jüngster Zeit ( Bush-Gorbatschow, Mitterand-Gorbatschow, Kohl-Gorbatschow usw.), die das Verschwinden der Antagonismen augenscheinlich machten, die vier Jahrzehnte lang Ost und West voneinander getrennt hatten;
- die Ankündigung der UdSSR, alle ihre im Ausland stationierten Truppen abzuziehen;
- die Kürzung der Rüstungsausgaben der USA, die jetzt ins Auge gefaßt wird;
- die gemeinsame Entscheidung, die Zahl der sowjetischen und amerikanischen Truppen in Mitteleuropa (hauptsächlich in den beiden Teilen Deutschlands) auf 195.000 Mann zu reduzieren , was faktisch einem Rückzug von 405.000 Soldaten der UdSSR und 90.000 auf Seiten der USA entspricht;
- die Haltung der wichtigsten westlichen Führer während der Ereignisse in Rumänien, die die UdSSR zu militärischem Eingreifen aufforderten, um die "demokratischen" Kräfte gegen den Widerstand der letzten Ceausescu-Getreuen zu unterstützen,
- die Unterstützung der Intervention russischer Panzer in Baku im Januar 1990 durch den Westen.
Zehn Jahre nach dem allgemeinen Aufschrei in den westlichen Ländern, als dieselben Panzer in Kabul einrückten, ist dieses unterschiedliche Verhalten geradezu bezeichnend für den völligen Umsturz der imperialistischen Ordnung des Planeten. Dies ist auch von der Ottawa-Konferenz  Anfang Februar (die von Kanada und der Tschechoslowakei gemeinsam geleitet wurde) zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt bestätigt worden, in deren Verlauf die UdSSR praktisch alle Forderungen des Westens akzeptiert hat.
Bedeutet dieses Verschwinden des Ostblocks nunmehr, daß die Welt von einem einzigen imperialistischen Block beherrscht wird, daß sie keinen imperialistischen Konfrontationen mehr unterworfen ist? Solch eine Hypothese wäre völlig fremd für den Marxismus.
So wurde auch die These des "Super-Imperialismus", die von Kautsky vor dem 1. Weltkrieg entwickelt wurde, von den Revolutionären (insbesondere Lenin) bekämpft als auch von den Tatsachen selbst widerlegt. Sie blieb genauso verlogen, als sie von den Stalinisten und Trotzkisten adaptiert wurde, um zu behaupten, daß der von der UdSSR beherrschte Block nicht imperialistisch sei. Auch der Untergang dieses Blocks ist keine Bestätigung dieser Art von Analyse: dieser Untergang trägt letztendlich den Niedergang den westlichen Blocks in sich. Darüberhinaus sind nicht nur die großen Supermächte an der Spitze der Blöcke imperialistisch, wie es die CWO behauptet. Im Zeitalter der Dekadenz des Kapitalismus sind ALLE Staaten imperialistisch und treffen ihre Vorkehrungen, um sich dieser Realität anzupassen: Kriegswirtschaft, Aufrüstung usw. Daher werden die zunehmenden Erschütterungen der Weltwirtschaft die Zwietracht zwischen den verschiedenen Staaten schüren, einschließlich und zunehmend auf der militärischen Ebene. Der Unterschied zur jetzt zu Ende gegangenen Epoche besteht darin, daß diese Konflikte und Antagonismen, die zuvor von den beiden großen imperialistischen Blöcken im Griff gehalten und ausgenutzt wurden, jetzt in den Vordergrund rücken werden. Das Verschwinden des russischen imperialistischen Gendarmen und damit auch der Gendarmenrolle des amerikanischen Imperialismus gegenüber seinen wichtigsten "Partnern" von einst öffnet Tür und Tor für eine ganzen Reihe von lokalen Rivalitäten. Diese Rivalitäten und Zusammenstöße können gegenwärtig nicht in einen Weltkrieg ausarten (selbst wenn das Proletariat nicht in der Lage wäre, sich dagegen zur Wehr zu setzen). Hingegen werden diese Konflikte aufgrund des Wegfalls der vom Block auferzwungenen Disziplin viel häufiger und gewalttätiger werden, insbesondere natürlich in den Regionen, wo das Proletariat am schwächsten ist.
Bislang hat im Zeitalter der Dekadenz solch eine Situation der "Verzettelung" der imperialistischen Antagonismen in Abwesenheit von Blöcken (oder von Schlüsselregionen), die die Welt unter sich aufgeteilt haben, nie lange angedauert. Das Verschwinden der imperialistischen Konstellation, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war, trug die Tendenz zur Bildung zweier neuer Blöcke in sich. Heute steht dies jedoch noch nicht auf der Tagesordnung, weil:
- bestimmte Strukturen, die aus der vergangenen Konstellation hervorgegangen waren, noch fortbestehen (z.B. die formale Existenz der großen Militärbündnisse NATO und Warschauer Pakt mit den entsprechenden Rüstungsarsenalen),
- es noch keine Großmacht gibt, die sofort den Platz einnehmen könnte, den die UdSSR endgültig verloren hat, d.h. die eines Blockführers, der einem von den USA beherrschten Block die Stirn bieten könnte.
Um solch eine Rolle einzunehmen, wäre ein Land wie Deutschland insbesondere nach seiner Wiedervereinigung und aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner geographischen Lage der erste Anwärter. Deshalb gibt es schon jetzt ein gemeinsames Interesse zwischen den westlichen Ländern und der UdSSR, um den Wiedervereinigungsprozeß zu verlangsamen (oder zumindest zu versuchen, ihn zu kontrollieren). Auch wenn man eine beträchtliche Schwächung des Zusammenhalts des westlichen Blocks konstatieren muß, eine Schwächung, die nur zunehmen kann, sollte man sich davor hüten, vorschnell von der Bildung eines neuen, von Deutschland angeführten Blocks zu reden. Auf militärischer Ebene ist dieses Land weit davon entfernt, solch eine Rolle zu übernehmen. Aufgrund seiner Situation als "Verlierer" des Zweiten Weltkrieges ist die Stärke seiner Armee längst nicht auf dem Stand seiner wirtschaftlichen Stärke. Insbesondere ist die BRD bis heute nicht befugt, sich mit Atomwaffen auszustatten oder über die großen Atomwaffenarsenale zu verfügen, die sich auf ihrem Gebiet befinden und vollständig von der NATO kontrolliert werden. Darüberhinaus, und langfristig der wichtigste Aspekt, wird die Tendenz zur Aufteilung der Welt zwischen zwei neuen Blöcken durch das sich immer mehr zuspitzende und ausdehnende Phänomen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft konterkariert oder gar irreparabel geschädigt, wie wir bereits hervorgehoben haben (siehe dazu INTERNATIONALE REVUE Nr. 11).
Dieses Phänomen, das sich während der 80er Jahre immer mehr ausgedehnt hat, hat seine Wurzeln in der Unfähigkeit der beiden Hauptklassen der Gesellschaft, ihre eigene historische Antwort auf die ausweglose Krise durchzusetzen, in die die kapitalistische Produktionsweise hineingetrieben wird. Zwar hat die Arbeiterklasse mit ihrer Weigerung, sich im Gegensatz zu den 30er Jahren hinter den bürgerlichen Fahnen mobilisieren zu lassen, bislang den Kapitalismus an dem Ausbruch eines dritten Weltkrieges gehindert, jedoch hat sie noch nicht die Kraft gefunden, ihre eigene Perspektive, die kommunistische Revolution, deutlich zu machen. Auch in einer solchen Lage, in der die Gesellschaft vorübergehend "blockiert" ist, in der jede Perspektive fehlt, während die kapitalistische Krise sich immer weiter zuspitzt, hält die Geschichte nicht inne. Ihr "Kurs" spiegelt sich in der zunehmenden Verfaulung des gesamten gesellschaftlichen Lebens wider, deren verschiedenen Erscheinungsweisen wir schon in dieser Revue analysiert haben: von der Drogenplage über die Umweltzerstörung, die Zunahme der sog. "Naturkatastrophen" oder der "Unfälle", das Aufblühen der Kriminalität, des Nihilismus und der Verzweiflung der Jugend ("No future") bis hin zur allgemeinen Korruption der Politiker. Einer der Ausdrücke dieses Zerfalls ist die wachsende Unfähigkeit der bürgerlichen Klasse, nicht nur die Wirtschaftslage zu kontrollieren, sondern auch die politische Lage. Diese Phänomen ist natürlich besonders weit verbreitet in den Ländern der Peripherie des Kapitalismus, die, weil sie zu spät ihre industrielle Entwicklung begonnen haben, als erste und am stärksten von der Krise des Systems betroffen sind. Heute bildet das ökonomische und politische Chaos, das sich in den osteuropäischen Ländern ausbreitet, der vollständige Verlust der Kontrolle der Lage durch die örtliche Bourgeoisie ein neues Merkmal dieses allgemeinen Phänomens. Und die stärkste Bourgeoisie, d.h. jene aus den entwickeltsten Ländern Europas und Nord-Amerikas, ist sich durchaus bewußt, daß auch sie vor dieser Art von Erschütterungen nicht gefeit ist. Deshalb unterstützt sie voll und ganz Gorbatschows Versuch, "die Ordnung in seinem Reich wiederherzustellen", selbst wenn das auf blutige Weise geschieht wie in Baku. Sie hat zuviel Angst, daß das Chaos, das sich gerade im Osten ausbreitet, auch im Westen Wurzeln faßt, so wie die radioaktiven Wolken Tschernobyls auch die Grenzen überquerten.
In dieser Hinsicht ist die Entwicklung der Lage in Deutschland aufschlußreich. Die unglaubliche Schnelligkeit, mit der sich dort die Ereignisse seit dem letzten Herbst abgespielt haben, beweisen keinesfalls, daß die Bourgeoisie von einem "Demokratisierungsrausch" erfaßt ist. In Wirklichkeit entzieht sich die Lage in der DDR jeglicher gezielten Politik der lokalen Bourgeoisie, aber auch immer mehr der westdeutschen wie auch der gesamten Weltbourgeoisie. Die Wiedervereinigung der beiden Deutschlands, die bis vor einigen Wochen keine der "Siegermächte" von 1945 wollte (noch vor drei Monaten faßte Gorbatschow die Wiedervereinigung "in einem Jahrhundert" ins Auge) aus Furcht, daß die Bildung eines hegemonialen "Großdeutschlands" in Europa seinen imperialistischen Appetit anregt, ist immer zwingender als einziges Mittel geboten, um das Chaos in der DDR zu bekämpfen, das seine Nachbarn anzustecken droht. Selbst die westdeutsche Bourgeoisie findet, daß die Dinge "zu schnell" gehen. Unter den jetzigen Bedingungen kann diese Wiedervereinigung, für die sie jahrzehntelang plädiert hatte, ihr nur Schwierigkeiten bringen. Doch je länger sie hinausgezögert wird, desto größer werden die Schwierigkeiten. Daß die westdeutsche Bourgeoisie, eine der solidesten der Welt, heute den Ereignissen hinterherläuft, sagt viel über den Zustand der ganzen bürgerlichen Klasse aus.
Vor einem solchen Hintergrund, dem Kontrollverlust der Weltbourgeoisie über die Lage, läßt sich nicht beurteilen, ob die dominanten Teile unter ihr heute in der Lage sind, die notwendige Organisierung und Disziplinierung für die Neubildung von militärischen Blöcken umzusetzen. Eine Bourgeoisie, die nicht mehr die Politik ihres eigenen Landes bestimmt, ist ziemlich schlecht gerüstet, um sich gegenüber anderen Bourgeoisien durchzusetzen (wie man am Zusammenbruch des Ostblocks sehen konnte, dessen Hauptursache die wirtschaftliche und politische Implosion seiner Führungsmacht war).
Daher ist es von großer Bedeutung, klarzustellen, daß, wenn die Lösung des Proletariats - die kommunistische Revolution - die einzige ist, die der Zerstörung der Menschheit (die die einzige "Lösung" ist, die die Bourgeoisie auf ihre Krise geben kann) trotzen kann, diese Zerstörung nicht zwangsläufig aus einem dritten Weltkrieg resultieren muß. Sie könnte gleichermaßen aus dem bis zum Äußersten getriebenen Zerfall resultieren (Umweltkatastrophen, Epidemien, Hungersnöte, die Entfesselung lokaler Kriege usw.).
Die historische Alternative "Sozialismus oder Barbarei", wie sie von den Marxisten herausgestellt worden war, wurde, nachdem sie im Verlauf des größten Teils dieses Jahrhunderts  die Gestalt des "Sozialismus oder imperialistischer Weltkrieg" angernommen hatte, im Verlaufe der letzten Jahrzehnte aufgrund der Entwicklung der Atomwaffen in der furchterregenden Form des "Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit" präzisiert. Heute,  nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, bleibt diese Perspektive vollkommen gültig. Jedoch muß man aufzeigen, daß solch eine Zerstörung aus großen imperialistischen Kriegen ODER auch aus dem Zerfall der Gesellschaft hervorgehen kann.


Der Rückgang im Bewußtsein der Arbeiterklasse

Die „Thèses sur la crise économique et politique dans les pays de l'Est" (REVUE INTERNATIONALE, Nr. 60) stellen klar, daß der Zusammenbruch des Ostblocks und der Todeskampf des Stalinismus sich in einem Rückgang des Bewußtseins der Arbeiterklasse niederschlagen werden. Die Ursachen dieses Rückgangs werden in dem Artikel „Des difficultés accrues pour le prolétariat" untersucht. Man kann sie folgendermaßen zusammenfassen:
- in gleicher Weise wie das Auftauchen einer "unabhängigen" Gewerkschaft 1980 in Polen verleiht heute der Zusammenbruch des Ostblocks und die Agonie des Stalinismus  den demokratischen Illusionen nicht nur im Proletariat in den Ländern des Ostens, sondern gleichermaßen im Proletariat der westlichen Länder großen Auftrieb, allerdings in einem viel größeren Ausmaß in Anbetracht des Ausmaßes der gegenwärtigen Ereignisse;
- "die Tatsache, daß dieses historisch beispiellose Ereignis ohne Zutun der Arbeiterklasse stattgefunden hat, kann nur ein Gefühl der Machtlosigkeit innerhalb der Arbeiterklasse erzeugen" (ebenda);
- "in dem Maße, wie der Zusammenbruch des Ostblocks einer Periode des 'Kalten Kriegs' mit dem westlichen Block folgte, in dem Maße, wie Letzterer als der kampflose 'Sieger’ dieses ‚Krieges’ erscheint, wird dies in den westlichen Ländern und auch unter den Arbeitern ein Gefühl der Euphorie und des Vertrauens gegenüber ihren Regierungen erzeugen, (relativ gesehen) ähnlich dem, das die Arbeiter in den 'Siegerländern' nach den beiden Weltkriegen belastet hatte" (ebenda);
- die Auflösung des Ostblocks wird das Gewicht des Nationalismus in den Randrepubliken der Sowjetunion und den alten "Volksdemokratien", aber auch in einigen westlichen Ländern und insbesondere in einem solch wichtigen Land wie Deutschland aufgrund der Wiedervereinigung der beiden Teile dieses Landes steigern;
- "diese nationalistischen Mystifikationen werden auch die Arbeiter des Westens (...) durch den Mißkredit und die Entstellung beeinflussen, die in ihrem Bewußtsein die Idee des proletarischen Internationalismus erlitten hat (...) ein Begriff, der durch den Stalinismus und im gleichen Atemzug von allen bürgerlichen Kräften verfälscht wurde, die ihn mit der imperialistischen Vorherrschaft der UdSSR über ihren Block gleichgesetzt haben"(ebd.);
- "im Grunde (...) ist es die eigentliche Perspektive der kommunistischen Weltrevolution, die vom Zusammenbruch des Stalinismus in Mitleidenschaft gezogen wird (...); die Gleichsetzung von Kommunismus und Stalinismus erlaubte es der Bourgeoisie in den 1930er Jahren, die Arbeiterklasse für Letzteren einzuspannen, um ihre Niederlage endgültig zu besiegeln (...); in dem Moment, wo der Stalinismus in den Augen aller Arbeiter vollständig in Verruf geraten ist, dient die gleiche Lüge dazu, um sie von der Perspektive des Kommunismus abzubringen" (ebd.).
Man kann diese Elemente vervollständigen, indem man untersucht, was von den Überresten der stalinistischen Parteien der westlichen Länder übriggeblieben ist.
Der Zusammenbruch des Ostblocks impliziert letztendlich das Verschwinden der stalinistischen Parteien nicht nur in den Ländern, in denen sie den Staat lenkten, sondern auch dort, wo sie eine wichtige Funktion bei der Kontrolle der Arbeiterklasse ausübten. Entweder verwandeln sich diese Parteien von Grund auf - wie dies zur Zeit mit der italienischen KP geschieht -, indem sie vollständig ihre Besonderheiten aufgeben (ihren Namen eingeschlossen), oder sie werden auf den Zustand kleiner Sekten zurechtgestutzt (wie dies in den USA und in den meisten nordeuropäischen Ländern bereits der Fall ist). Nur noch die Ethnologen oder die Archäologen werden sich für sie interessieren, aber eine ernsthafte Rolle als Kontroll- und Sabotageorgane gegen die Arbeiterkämpfe werden sie nicht mehr spielen. Die Stellung, die sie in diesem Bereich bislang innehatten, wird von der Sozialdemokratie oder ihren linken Flügeln eingenommen werden. Deshalb wird die Arbeiterklasse im Verlauf ihrer Kämpfe immer weniger Gelegenheiten haben, mit den Stalinisten zusammenzustoßen, was den Einfluß der Lüge, die den Stalinismus mit dem Kommunismus gleichsetzt, nur begünstigen wird.


Die Perspektiven des Klassenkampfes

So schaffen der Zusammenbruch des Ostens und das Ableben des Stalinismus neue Bedingungen für die Bewußtwerdung des Proletariats. Heißt dies, daß diese Ereignisse auch zu einer deutlichen Abnahme der Klassenkämpfe führen werden? In diesem Punkt ist es notwendig in Erinnerung zu rufen, daß die "Thesen" von einem "Rückgang des Bewußtseins" sprechen und nicht von einem Rückgang der Kampfbereitschaft des Proletariats. Sie unterstreichen gar, daß "die pausenlosen und immer brutaleren Schläge, die der Kapitalismus den Arbeitern versetzt, sie dazu zwingt, den Kampf aufzunehmen"; es sei falsch, davon auszugehen, daß der Rückgang im Bewußtsein mit einem Rückgang der Kampfbereitschaft einhergeht. Wir haben schon des öfteren auf die Nicht-Identität zwischen Bewußtsein und Kampfbereitschaft hingewiesen. Es besteht also kein Grund, auf die allgemeine Frage als solche zurückkommen. In dem präzisen Fall der gegenwärtigen Lage muß man unterstreichen, daß der gegenwärtige Rückgang im Klassenbewußtsein nicht aus einer direkten Niederlage der Arbeiterklasse nach einem Kampf herrührt. Er ist vielmehr das Produkt von Ereignissen, die außerhalb ihrerselbst und  ihrer Kämpfe stattfinden und Verwirrung in ihren Reihen stiften. Deshalb ist es nicht die Demoralisierung, die momentan auf ihr lastet. Auch wenn ihr Bewußtsein in Mitleidenschaft gezogen ist, so ist ihre Kampfbereitschaft umgekehrt nicht grundlegend angegriffen. Und dieses Potential kann mit den immer brutaleren Angriffen, die entfesselt werden, jederzeit in Erscheinung treten. Man sollte also nicht überrascht sein über die absehbaren Ausbrüche dieser Kampfbereitschaft. Sie können weder als eine Infragestellung unserer Analyse des Rückgangs des Bewußtseins begriffen werden noch "vergessen" machen, daß es die  Verantwortung der Revolutionäre ist, in der Klasse zu intervenieren.
Zweitens wäre es falsch, eine Kontinuität in der Entwicklung der Kämpfe und des Bewußtseins des Proletariats zwischen der dem Zusammenbruch des Ostblocks vorangehenden Periode und der gegenwärtigen Periode herzustellen. In der vergangenen Periode hat die IKS die im proletarischen politischen Milieu vorherrschende Tendenz kritisiert, die Bedeutung der Kämpfe der Klasse und die von ihr vollzogenen Fortschritte in ihrer Bewußtwerdung zu unterschätzen. Auf den aktuellen Rückgang in der Bewußtwerdung hinzuweisen bedeutet keineswegs eine Infragestellung unserer Analysen der vergangenen Periode, insbesondere jener, die vom 8. Kongreß der IKS verabschiedet wurden (siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 11).
Es trifft zu, daß das Jahr 1988 und die erste Hälfte des Jahres 1989 von einer Reihe von Schwierigkeiten bei der Entwicklung des Kampfes und des Klassenbewußtseins, insbesondere durch eine Rückkehr der Gewerkschaften in die vorderen Ränge gekennzeichnet waren. Dies war schon vor dem 8. Kongreß der IKS (im Sommer 1989) insbesondere in dem Editorial der INTERNATIONALEN REVUE, Nr. 58 (engl., franz., span. Ausgabe) festgestellt worden, das bemerkte, daß „es dieser Strategie (der Bourgeoisie) im Augenblick gelungen ist, die Arbeiterklasse zu desorientieren und ihr den Weg zur Vereinigung ihrer Kämpfe zu verbauen". An die Gegebenheiten der internationalen Lage anknüpfend, wies unsere Analyse auf die Grenzen dieser momentanen Schwierigkeiten hin. Tatsächlich lagen die Schwierigkeiten der Arbeiter 1988 und Anfang 1989 (obgleich sie größer waren) auf der gleichen Ebene wie die Schwierigkeiten, auf die die Arbeiter 1985 gestoßen waren (und auf die wir im 6. Kongreß der IKS eingegangen waren: siehe dazu die "Resolution über die internationale Lage", in INTERNATIONALE REVUE Nr. 44, engl., franz., span. Ausgabe). Sie schlossen keineswegs die Möglichkeit „des Auftauchens von neuen, massiven Kämpfen, einer immer größeren Entschlossenheit und einem höheren Bewußtsein des proletarischen Kampfes" (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 58) aus, ähnlich wie der Rückgang von 1985 im darauffolgenden Jahr zu solch wichtigen und bedeutsamen Bewegungen führte wie im Frühjahr die massiven Streiks in Belgien oder der Eisenbahnerstreik in Frankreich. Dagegen befinden sich die Schwierigkeiten, auf die die Arbeiter heute stoßen, auf einer ganz anderen Ebene. Der Zusammenbruch des Ostblocks und des Stalinismus ist ein historisch einmaliges Ereignis, dessen Auswirkungen auf alle Aspekte der Weltlage selbst von großer Bedeutung sind. So kann dieses Ereignis in Hinblick auf seine Folgen für die Klasse nicht auf die gleiche Ebene gestellt werden wie dieses oder jenes Manöver der Bourgeoisie, wie man sie aus den letzten 20 Jahren kennt, einschließlich der Taktik, die Linke Ende der 70er Jahre in die Opposition zu schicken.
Heute ist dagegen eine ganz andere Epoche angebrochen, die sich von jener unterscheidet, die wir in den vergangenen zwanzig Jahren erlebt haben. Seit 1968 hat sich die allgemeine Klassenbewegung trotz einiger Momente der Verlangsamungen oder kurzer Rückzüge immer weiter in Richtung bewußterer Kämpfe entwickelt, hat sie sich insbesondere zunehmend vom Einfluß der Gewerkschaften befreit. Dagegen begünstigen die Umstände, unter denen der Ostblock zusammengebrochen ist, und die Tatsache, daß der Stalinismus nicht durch den Kampf der Klasse niedergestreckt wurde, sondern durch eine innere ökonomische und politische Implosion, die Entwicklung eines ideologischen Schleiers (unabhängig von den Medienkampagnen, die heute entfacht werden), einer Verwirrung in der Klasse, die beispiellos ist im Vergleich zu alldem, mit dem sie bisher konfrontiert war, einschließlich der Niederlage in Polen 1981.  Im Grunde muß man davon ausgehen, daß, selbst wenn der Zusammenbruch des Ostblocks zu einer Zeit stattgefunden hätte, in der sich die Kämpfe des Proletariats in vollem Aufschwung befanden (z.B. Ende 1983/Anfang 1984 oder 1986), dies überhaupt nichts an dem Ausmaß des Rückgangs geändert hätte, den dieses Ereignis in der Klasse bewirkt hat (selbst wenn dieser Rückgang eventuell erst mit Verzögerung seine volle Wirkung entfaltet hätte).
Besonders aus diesem Grund muß die Analyse, die von der IKS über die "Linke in der Opposition" erarbeitet hatte,  heute aktualisiert werden. Diese Taktik war seit dem Ende der 1970er Jahre und die 1980er Jahre hindurch für die Bourgeoisie angesichts der allgemeinen Dynamik der Klasse in Richtung immer entschlossenerer und bewußterer Kämpfe, ihrer wachsenden Ablehnung demokratischer Mystifikationen parlamentarischer und gewerkschaftlicher Art notwendig gewesen. Die in einigen Ländern (z.B. in Frankreich) aufgetretenen Schwierigkeiten, diese Karte auszuspielen, ändern nichts an der Tatsache, daß sie die zentrale Achse in der Strategie der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse bildete. Die rechten Regierungen in solch wichtigen Ländern wie den USA, Westdeutschland und  Großbritannien verdeutlichen dies. Dagegen zwingt der gegenwärtige Rückzug der Klasse die Bourgeoisie vorübergehend nicht mehr dazu, diese Strategie zu priorisieren. Das heißt nicht, daß in diesen Ländern die Linke zwangsläufig in die Regierung zurückkehrt. Wir haben mehrfach (siehe dazu INTERNATIONALE REVUE, Nr. 18, engl., franz., span. Ausgabe) aufgezeigt, daß solch eine Vorgehensweise nur in revolutionären Phasen oder im imperialistischen Krieg zwingend notwendig ist. Man darf hingegen nicht überrascht sein, wenn solch ein Ereignis eintritt, und vermuten, daß es sich um einen „Unfall" oder den Ausdruck einer „besonderen Schwäche" der herrschenden Klasse des jeweiligen Landes handelte. Der allgemeine Zerfall der Gesellschaft drückt sich für die herrschende Klasse in vermehrten Schwierigkeiten aus, ihr politisches Spiel zu kontrollieren, aber wir sind noch nicht an dem Punkt, wo die stärksten Bourgeoisien der Welt das gesellschaftliche Feld angesichts der Bedrohung durch das Proletariat vernachlässigen würden.
So präsentiert sich die Weltlage auf der Ebene des Klassenkampfes mit spürbar unterschiedlichen Merkmalen im Vergleich zur Zeit vor dem Zusammenbruch des Ostblocks. Jedoch läßt sich aus der Bedeutung des gegenwärtigen Rückgangs des Bewußtseins in der Klasse keine Infragestellung des historischen Kurses ableiten, wie er von der IKS seit mehr als zwanzig Jahren vertreten wird (obgleich man diesen Begriff wie oben gesehen präzisieren muß).
Erstens ist gegenwärtig ein Kurs zum Weltkrieg aufgrund des Nicht-Vorhandenseins von zwei imperialistischen Blöcken ausgeschlossen.
Zweitens ist es wichtig, auf die Grenzen des gegenwärtigen Rückzugs der Klasse hinweisen. Insbesondere wenn man den Charakter der demokratischen Mystifikationen, die sich heute im Proletariat verfestigen, mit den Mystifikationen vergleicht, die zur Zeit der "Befreiung" nach 1945 verbreitet waren, so muß man feststellen, daß sie auch durch die unterschiedlichen Situationen geprägt sind. Einerseits waren die Hauptindustrieländer und damit das Herz des Weltproletariats direkt im Zweiten Weltkrieg verwickelt. Daher lastete die demokratische Euphorie schwer auf das Proletariat. Jedoch handelt es sich bei den Sektoren des Proletariats, die heute im Fadenkreuz dieser Mystifikationen stehen, nämlich die Arbeiterklasse Osteuropas, um verhältnismäßig periphere Bereiche der Klasse. Das Proletariat im Westen ist wegen des "Ostwindes", der derzeit bläst, mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert, und nicht weil es selbst im "Auge des Zyklons" steht. Andererseits hatten die demokratischen Verschleierungen nach dem Krieg einen mächtigen Auftrieb erhalten durch den "Wohlstand", der mit dem Wiederaufbau einherging. Zwei Jahrzehnte lang  konnte sich der Glaube an die "Demokratie" als "die beste aller Welten" auf eine reale Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen Ländern und auf das Gefühl stützen, der Kapitalismus habe seine Widersprüche überwunden (ein Gefühl, das gar einige revolutionäre Gruppen penetriert hat). Die Lage heute dagegen ist eine ganz andere; eine Lage, in der das bürgerliche Geschwätz über die „Überlegenheit" des „demokratischen" Kapitalismus auf die eigenwillige Tatsache einer unüberwindbaren und immer tieferen Krise prallt.
Abgesehen davon darf man sich auch nicht durch Illusionen in Sicherheit wiegen und einschläfern lassen. Auch wenn der Weltkrieg gegenwärtig und vielleicht endgültig keine Bedrohung für das Überleben der Menschheit darstellt, kann diese Bedrohung, wie man gesehen hat,  aus dem Zerfall der Gesellschaft hervorgehen. Und dies umso mehr, als die Entfesselung des Weltkriegs das Bekenntnis des Proletariats zu den Idealen der Bourgeoisie erfordert - ein Phänomen, das gegenwärtig in keiner Weise für seine ausschlaggebenden Bataillone auf der Tagesordnung steht -, wohingegen der Zerfall solch ein Bekenntnis überhaupt nicht erforderlich macht, um die Menschheit zu zerstören. Allerdings stellt der Zerfall der Gesellschaft, streng genommen, keine "Antwort" der Bourgeoisie auf die offenen Weltwirtschaftskrise dar. In Wahrheit kann sich dieses Phänomen ausbreiten, eben weil die herrschende Klasse aufgrund der Nicht-Rekrutierung des Proletariats nicht in der Lage ist, IHRE spezifische Antwort auf diese Krise zu geben, den Weltkrieg und die Mobilisierung für ihn. Indem die Arbeiterklasse ihre Kämpfe weiterentwickelt (wie sie es seit Ende der 60er Jahre getan hat), indem sie sich nicht hinter den bürgerlichen Fahnen mobilisieren läßt, kann sie die Bourgeoisie daran hindern, den Weltkrieg zu entfesseln. Doch allein die Zerstörung des Kapitalismus macht es möglich, dem Zerfall dieser Gesellschaft ein Ende zu setzen. Genauso wenig, wie sie den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus aufhalten können, können die Kämpfe des Proletariats den Zerfall dieses Systems bremsen.
Wenn man in diesem Sinne bislang davon ausgehen konnte, daß „die Zeit für das Proletariat arbeitet", daß die langsame Entwicklung der Klassenkämpfe es der Klasse und auch den revolutionären Organisationen ermöglichten, sich Erfahrungen wieder anzueignen, die die Konterrevolution unter sich begraben hatte, so ist diese Auffassung nunmehr hinfällig. Es geht für die Revolutionäre nicht darum, ungeduldig zu werden und "die Geschichte zum Handeln zu zwingen", sondern darum, sich des wachsenden Ernstes der Lage bewußt zu werden, wenn sie ihrer großen Verantwortung gerecht werden wollen.
Deshalb müssen sie, wenn ihre Interventionen unterstreichen sollen, daß die historische Situation immer noch auf Seiten des Proletariats ist und daß die Klasse durchaus in der Lage ist, durch ihren Kampf die Hindernisse zu überwinden, die die Bourgeoisie ihr in den Weg legt, gleichermaßen darauf hinweisen, was heute auf dem Spiel steht, um damit ihrer eigenen Verantwortung gerecht zu werden.
Für die Arbeiterklasse besteht die gegenwärtige Perspektive also in der Fortsetzung ihrer Kämpfe in Reaktion auf die wachsenden ökonomischen Angriffe. Diese Kämpfe werden eine ganze Zeitlang in einem schwierigen politischen und ideologischen Umfeld stattfinden. Dies trifft natürlich besonders auf die Arbeiter in den Ländern zu, in denen sich heute die „Demokratie" etabliert. In diesen Ländern findet sich die Arbeiterklasse in einer Lage der äußersten Schwäche wieder, wie die Ereignisse dort Tag für Tag erneut beweisen (die Unfähigkeit, auch nur die geringste unabhängige Klassenforderung in den verschiedenen „Volksbewegungen" aufzustellen, Einbindung in nationalistische Konflikte insbesondere in der UdSSR, Teilnahme an typisch fremdenfeindlichen Streiks gegen diese oder jene ethnische Minderheit wie neulich in Bulgarien). Diese Ereignisse liefern Beispiele dafür, wie eine Arbeiterklasse sich verhält, die bereit ist, sich in einem imperialistischen Krieg verheizen zu lassen.
Die Lage der Arbeiter im Westen sieht dagegen ganz anders aus. Dieses Proletariat ist weit entfernt davon, mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert zu sein. Der Rückgang seines Bewußtseins wird sich insbesondere im Comeback der Gewerkschaften ausdrücken, deren Arbeit durch das Umsichgreifen demokratischer Mystifikationen und reformistischer Illusionen erleichtert wird: „Die Unternehmer können zahlen", "Aufteilung der Gewinne", "Gewinnbeteiligung am Wachstum" usw. - Mystifikationen, die die Identifizierung der Arbeiterinteressen mit den Interessen des nationalen Kapitals erleichtern.
Überdies werden die anhaltenden und sich verschärfenden Fäulniserscheinungen der Gesellschaft mehr noch als in den 80er Jahren ihre schädlichen Wirkungen auf das Klassenbewußtsein haben. Aufgrund der allgemeinen Stimmung der Hoffnungslosigkeit in der ganzen Gesellschaft, aufgrund des Zerfalls selbst der bürgerlichen Ideologie, deren faulige Ausdünstungen die Atmosphäre weiter verpesten werden, in der die Arbeiter leben, wird dieses Phänomen bis zur vor-revolutionären Periode eine zusätzliche Schwierigkeit für das Proletariat auf dem Weg zu seiner Bewußtwerdung sein.
Für das Proletariat gibt es keinen anderen Weg, als die klassenübergreifende Mobilisierung für den Kampf gegen einige spezifische Aspekte der im Sterben liegenden kapitalistischen Gesellschaft (die Ökologie zum Beispiel) zurückzuweisen. Das einzige Terrain, auf dem es sich im Moment als unabhängige Klasse mobilisieren kann (eine noch entscheidendere Frage angesichts der Flut von demokratischen Mystifikationen, die nur von „Bürgern" und vom "Volk" sprechen) ist jenes, auf dem seine spezifischen Interessen nicht mit den anderen Gesellschaftsschichten durcheinandergebracht werden und das alle anderen gesellschaftlichen Aspekte bestimmt: das ökonomische Terrain. Und genau in diesem Sinn stellt die Krise, wie wir es schon seit langem behauptet haben, den „besten Verbündeten des Proletariats" dar. Die Verschärfung der Krise wird das Proletariat zwingen, sich auf seinem Terrain zu sammeln, seine Kämpfe weiterzuentwickeln, die die Voraussetzung für die Überwindung der gegenwärtigen Hemmnisse seiner Bewußtseinsentwicklung sind, die ihm die Augen über die Lügen der "Überlegenheit" des Kapitalismus öffnen, die es dazu zwingen werden, seine Illusionen über die Möglichkeit für den Kapitalismus, die Krise zu überwinden, und damit über die Gewerkschaften und die linken Parteien zu verlieren, die die Arbeiter an die „nationalen Interessen" binden wollen, indem sie von „Gewinnbeteiligung" und anderem Quatsch reden.
Heute, wo die Arbeiterklasse sich der Nebelkerzen erwehren muss, mit denen die Bourgeoisie die Arbeiter momentan erfolgreich blendet, bleiben die Aussagen von Marx weiterhin gültig:
"Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird." (K. Marx/F. Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Band 2, S. 38, Hervorhebungen im Original)
Die Revolutionäre müssen mit allen Kräften an der Bewußtwerdung der Arbeiterklasse über dieses Ziel mitwirken, das ihr die Geschichte zugewiesen hat, damit sie die historische Notwendigkeit der Revolution verwirklicht, die noch nie so dringend war wie jetzt.

IKS, 10.2.1990

 

Fußnoten:

(*) Dieser Text stützt sich auf einen Bericht für ein internationales Treffen der IKS im Januar 1990.
(1) Der sehr schwache Widerstand nahezu aller ehemaligen Führer der "Volksdemokratien", der erst den "sanften Übergang" in diesen Ländern ermöglichte, sagt keinesfalls aus, daß diese Führer ähnlich wie der Apparat der stalinistischen Parteien freiwillig ihre Macht und ihre Privilegien geopfert haben. Tatsächlich spiegelt dieses Phänomen neben dem wirtschaftlichen Bankrott dieser Regimes auch ihre große politische Zerbrechlichkeit wider, deren Ausmaß weit größer ist als erwartet.
(2) Unter diesen Ländern stehen Polen und Ungarn an der Spitze mit jeweils 40,6 und 20,1 Milliarden Dollar Schulden, d.h. jeweils 63,4 und 64,6 Prozent ihres jährlichen Bruttosozialprodukts. Im Vergleich dazu erscheint Brasilien mit einem Schuldenanteil von "nur" 39,2 Prozent am BSP nachgerade als ein "Musterschüler".
 
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir12/1990_chaos [2]

Thesen zur ökonomischen und politischen Krise in der UdSSR und den osteuropäischen Ländern

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Die jüngsten Ereignisse in den Ländern unter stalinistischem Regime, die Konfrontationen in der Parteispitze und die Repression in China, die nationalistischen Ausbrüche und die Arbeiterkämpfe in der UdSSR, die Bildung einer Regierung in Polen, die von der Solidarnosc angeführt wird - all dies ist von beträchtlicher Bedeutung. Was sie enthüllen, ist die historische Krise, der Eintritt des Stalinismus in eine Zeit heftiger politischer Wirren. In diesem Sinne haben wir die Verantwortung, unsere Analyse über das Wesen dieser Regimes und ihrer Entwicklungsperspektiven zu bekräftigen, zu präzisieren und zu aktualisieren.


1. Die jüngsten Erschütterungen in den Ländern unter stalinistischem Regime können nicht außerhalb des allgemeinen Rahmens der Analyse verstanden werden, der für alle Länder der Welt gültig ist, nämlich die Dekadenz der kapitalistischen Produktionsweise und die unaufhaltsame Verschärfung der Krise. Jedoch muß jede ernsthafte Analyse der gegenwärtigen Lage dieser Länder die Besonderheiten ihrer Regimes berücksichtigen. Solch eine Untersuchung der Besonderheiten der osteuropäischen Länder wurde von der IKS schon mehrfach realisiert, namentlich anläßlich der Arbeiterkämpfe in Polen im Sommer 1980 und der Gründung der "unabhängigen" Gewerkschaft Solidarnosc.
So wurde der allgemeine Rahmen dieser Analyse im Dezember 1980 mit diesen Worten umrissen:
„Wie für alle Ostblockländer zeichnet sich die Lage in Polen aus:
a) durch die extreme Zuspitzung der Krise, die heute Millionen von Proletarier in ein fast schon an einer Hungersnot grenzendes Elend stürzt;
b) durch die extreme Unbeweglichkeit der gesellschaftlichen Strukturen, die praktisch keinen Raum für das Auftauchen von Oppositionskräften innerhalb der Bourgeoisie läßt, welche in der Lage sind, die Rolle eines Puffers zu spielen: in Rußland und auch in seinen Satelliten birgt jede Protestbewegung das Risiko in sich, die enorme Unzufriedenheit zu kristallisieren, die in einem Proletariat und in einer Bevölkerung herrscht, die seit Jahrzehnten der schlimmsten Konterrevolution ausgesetzt waren, welche in ihrem Umfang der gewaltigen Klassenbewegung entsprach, die sie niederzuschlagen hatte: die Revolution von 1917;
c) durch die große Bedeutung des Polizeiterrors als praktisch einziges Mittel zur Aufrechterhaltung der Ordnung."
(INTERNATIONALE REVUE, Nr. 24, eng., franz., span. Ausgabe)
Im Oktober 1981, zwei Monate vor der Ausrufung des "Kriegsrechts", als die Regierungskampagne gegen Solidarnosc verschärft wurde, kamen wir auf diese Frage zurück:
„...die Zusammenstöße zwischen Solidarnosc und der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) sind genauso wenig wie der Gegensatz zwischen Rechts und Links in den westlichen Ländern einzig und allein Theaterdonner. Im Westen ermöglicht jedoch der institutionelle Rahmen im allgemeinen, mit diesen Widerständen umzugehen, sodaß  sie nicht die Stabilität des Regimes gefährden und die Machtkämpfe in Schach gehalten sowie auf die geeignetste Weise gelöst werden, um dem proletarischen Gegner  entgegenzutreten. Wenn es nun in Polen der herrschenden Klasse mit vielen Improvisationen, aber dennoch vorübergehend mit Erfolg gelungen ist, Mechanismen dieser Art zu installieren, heißt das noch lange nicht, daß es sich um eine endgültige Formel handelt, die auch auf andere ’Bruderländer’ übertragbar wäre. Die gleichen Beleidigungen, die dazu dienen, einem gegnerischen Partner Glaubwürdigkeit zu verleihen, wenn dieser für die Aufrechterhaltung der Ordnung unersetzbar ist, können mit seiner Vernichtung einhergehen, sobald er nicht mehr nützlich ist (...) Indem sie zu einer Arbeitsteilung gezwungen wird, für die die osteuropäischen Bourgeoisien strukturell nicht geschaffen sind, haben die Arbeiterkämpfe in Polen einen lebenden Widerspruch hervorgerufen. Es ist noch zu früh, um zu sehen, wie er gelöst werden wird. Angesichts solch einer historisch neuartigen Lage (...) besteht die Aufgabe der Revolutionäre darin, demutsvoll mit den sich entfaltenden Ereignissen umzugehen.“ (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 27, engl., franz., span. Ausgabe)
Schließlich hatte sich die IKS nach der Ausrufung des Kriegsrechts in Polen und der Illegalisierung Solidarnoscs im Juni 1983 veranlasst gesehen, dieses analytische Gerüst weiterzuentwickeln (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 34, engl., franz., span. Ausgabe). Sicherlich muß das Gerüst noch vervollständigt werden, doch allein mit diesem Ansatz können wir verstehen, was in diesem Teil der Welt vor sich geht.

2. „Das offensichtlichste, bekannteste Merkmal der osteuropäischen Länder, auf dem übrigens der Mythos ihres ‚sozialistischen Charakters’ beruht, ist der extrem hohe Grad der Verstaatlichung ihrer Wirtschaft (...) Der Staatskapitalismus ist kein auf diese Länder beschränktes Phänomen. Er ist ein Phänomen, das den Überlebensbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise in der Dekadenzperiode entspricht. Im Angesicht der Gefahren des Auseinanderbrechens einer Ökonomie und eines gesellschaftlichen Körpers, die wachsenden Widersprüchen ausgesetzt sind, im Angesicht einer Zuspitzung der imperialistischen und Handelsrivalitäten, die die allgemeine Sättigung der Märkte auslöst, kann nur eine ständige Verstärkung der Rolle des Staats in der Gesellschaft ein Mindestmaß an Zusammenhalt gewährleisten sowie die zunehmende Militarisierung sicherstellen. Zwar ist die Tendenz zum Staatskapitalismus also eine weltweite geschichtliche Gegebenheit, jedoch zieht sie nicht alle Länder gleichermaßen in Mitleidenschaft.“ (INTERNATIONALE REVUE, Nr. 34, engl., franz., span. Ausgabe)

3. In den fortgeschrittenen Ländern, wo es eine alte Industrie- und Finanzbourgeoisie gibt, äußert sich diese Tendenz im Allgemeinen in einer fortschreitenden Verflechtung zwischen "privaten" und verstaatlichten Sektoren. In solch einem System ist die "klassische" Bourgeoisie nicht ihres Kapitals verlustig gegangen; sie besitzt weiterhin ihre wesentlichen Privilegien. Der Einfluß des Staates tritt in diesem Fall nicht so sehr durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel in Erscheinung, sondern durch den Einsatz einer ganzen Palette von haushaltspolitischen, finanziellen, geld- und ordnungspolitischen Instrumenten, die es ihm jederzeit erlauben, die entscheidenden Weichenstellungen auf wirtschaftlicher Ebene vorzunehmen, ohne dadurch die Marktmechanismen außer Kraft zu setzen.
Die Tendenz zum Staatskapitalismus "nimmt die extremste Form dort an, wo der Kapitalismus die größten Widersprüche erlebt, wo die klassische Bourgeoisie am schwächsten ist. In diesem Sinne ist die direkte Übernahme der Hauptproduktionsmittel durch den Staat, die den Ostblock (und zum Großteil auch die  'Dritte Welt') charakterisiert, in erster Linie eine Manifestation der Rückständigkeit und Zerbrechlichkeit ihrer Wirtschaft“ (ebenda).

4. “Es gibt eine enge Verbindung zwischen den Formen der ökonomischen Vorherrschaft der Bourgeoisie und den Formen ihrer politischen Vorherrschaft“ (ebenda):
- für ein entwickeltes Nationalkapital, das von verschiedenen Teilen der Bourgeoisie "privat"  vereinnahmt wird, ist die parlamentarische Demokratie der angemessenste politische Apparat;
- „der fast vollständigen Verstaatlichung der Produktionsmittel entspricht die totalitäre Macht einer Einheitspartei“ (1).
Jedoch ist das "Einheitsparteiensystem (...) nicht auf die osteuropäischen Länder oder auf die 'Dritte Welt' beschränkt. Es hat jahrzehntelang in westeuropäischen Ländern wie Italien, Spanien, Portugal geherrscht. Das bedeutsamste Beispiel ist freilich das Naziregime, das zwischen 1933 und 1945 das höchstentwickelte und mächtigste Land Europas lenkte. Tatsächlich umfaßt die historische Tendenz zum Staatskapitalismus nicht nur die ökonomische Seite. Sie äußert sich ebenfalls in einer wachsenden Konzentration der politischen Macht in den Händen einer Exekutive auf Kosten der klassischen Formen der bürgerlichen Demokratie, des Parlaments und des Wechselspiels zwischen den Parteien. Während in den entwickelten Ländern des 19. Jahrhunderts die politischen Parteien die Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft in oder neben dem Staat waren, wandeln sie sich mit der Dekadenz des Kapitalismus in Repräsentanten des Staats in der bürgerlichen Gesellschaft um (das offensichtlichste Beispiel sind die alten Arbeiterparteien, die heute zur Aufgabe haben, die Arbeiterklasse hinter dem Staat zu scharen). Die totalitären Tendenzen des Staats äußern sich auch in den Ländern, in denen die formellen Mechanismen der Demokratie noch bestehen, in einer Tendenz zur Einheitspartei, die in den stärksten Erschütterungen der bürgerlichen Gesellschaft am konkretesten werden: ‚nationale Einheit’ während der imperialistischen Kriege, Zusammenschluß aller bürgerlichen Kräfte hinter den Linksparteien in den revolutionären Perioden...“

5. "Die Tendenz zur Einheitspartei erreicht in den höchstentwickelten Ländern selten ihren vollständigen Abschluß. Die USA, Großbritannien, die Niederlanden, Skandinavien haben nie solch eine Vollendung erlebt. Als dies in Frankreich unter dem Regime in Vichy der Fall war, lag dies im Kern an der Besetzung des Landes durch die deutsche Armee. Das einzige Beispiel in der Geschichte, in der diese Tendenz in einem hochentwickelten Land vollständig zum Tagen kam, ist Deutschland (aus Gründen, die die Kommunistische Linke seit langem untersucht hat) (...) Wenn in den anderen fortgeschrittenen Ländern die politischen Strukturen und traditionellen Parteien aufrechterhalten blieben, so deshalb, weil sie sich als ausreichend solide erwiesen haben wegen ihrer tiefen Verwurzelung, ihrer Erfahrungen, ihrer Verbindung mit der ökonomischen Sphäre, der Kraft der Mystifikationen, die sie in sich tragen, um die Stabilität und den Zusammenhalt des Nationalkapitals angsichts der Schwierigkeiten sicherzustellen, denen sie sich gegenübersehen (Krisen, Kriege, soziale Kämpfe)." (ebenda) Insbesondere machte der Zustand der Wirtschaft dieser Länder, die von der klassischen Bourgeoisie aufrechterhaltene Stärke die Ergreifung "radikaler" Maßnahmen zur Verstaatlichung des Kapitals weder erforderlich noch möglich, weil allein die sog. "totalitären" Strukturen und Parteien in der Lage sind, sie durchzuführen.

6. „Aber was in den höchstentwickelten Ländern nur die Ausnahme ist, ist in den rückständigen Ländern die Regel, wo es keine der Bedingungen gibt, die wir aufgezählt haben, und die am härtesten unter den Erschütterungen der kapitalistischen Dekadenz leiden.“ (ebenda)
So war in den alten Kolonien, die im Laufe des 20. Jahrhunderts die "Unabhängigkeit" erlangt hatten (insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg), die Bildung eines nationalen Kapitals zumeist durch und rund um den Staat verwirklicht worden, im Allgemeinen infolge der Abwesenheit einer einheimischen Bourgeoisie unter der Federführung einer in den europäischen Universitäten ausgebildeten Intelligentsia. Unter bestimmten Umständen gab es sogar eine enge Zusammenarbeit und ein Nebeneinander dieser neuen Staatsbourgeoisie mit den alten Resten der vorkapitalistischen Ausbeuterklassen.
„Unter den rückständigen Ländern nehmen die Länder Osteuropas einen besonderen Platz ein. Zu den direkt ökonomischen Faktoren, die das Gewicht des Staatskapitalismus erklären, kommen noch historische und geopolitische Faktoren hinzu: die Umstände der Bildung der UdSSR und ihres Reiches.“ (ebenda)

7. "Der kapitalistische Staat in der UdSSR entstand auf den Trümmern der proletarischen Revolution. Die schwache Bourgeoisie der zaristischen Epoche wurde durch die Revolution von 1917 (...) und durch die Niederlage der Weißen Armeen vollständig eliminiert. Deshalb übernahmen weder sie noch die traditionellen Parteien in Rußland selbst die Zügel in der unausweichlichen Konterrevolution, die aus der Niederlage der Weltrevolution resultierte. Diese Aufgabe wurde dem Staat übertragen, der nach der Revolution entstanden war und schnell die bolschewistische Partei absorbiert hatte (...) Daher hat sich die bürgerliche Klasse weder auf der Grundlage der alten Bourgeoisie (von einigen Ausnahmen und Individuen abgesehen) noch auf der Basis des Privateigentums an Produktionsmitteln rekonstituiert, sondern auf der Grundlage der Bürokratie des Einparteienstaats und des Staatseigentums an Produktionsmitteln. In der UdSSR hat also das Zusammenkommen verschiedener Faktoren - die Rückständigkeit des Landes, die panische Flucht der klassischen Bourgeoisie, die physische Niederschlagung der Arbeiterklasse (die Konterrevolution und der Terror, dem sie ausgesetzt war, spiegelten das Ausmaß ihres revolutionären Vormarsches wider) - zur universellen Tendenz des Staatskapitalismus in seiner extremsten Formen geführt: die nahezu vollständige Verstaatlichung der Wirtschaft, die totalitäre Diktatur der Einheitspartei. Weil er weder den verschiedenen Teilen der herrschenden Klasse disziplinieren noch auf deren Wirtschaftsinteressen Rücksicht nehmen mußte, ist er vollständig mit dem Staat verschmolzen. Der Staat konnte somit endgültig auf die klassischen politischen Formen der bürgerlichen Gesellschaft (Demokratie und Pluralismus) verzichten, selbst auf ihre Fiktion.“ (ebenda)

8. Dieselbe Brutalität, diese extreme Zentralisierung, mit der das Regime der UdSSR seine Macht über die Gesellschaft ausübt, findet sich in der Art und Weise wieder, in der diese Macht ihre Herrschaft über alle anderen Ländern ihres Blocks ausübt und wahrt. Die UdSSR gründete ihr Imperium allein auf Waffengewalt, sei es im Zweiten Weltkrieg (Einverleibung der baltischen Ländern und Mitteleuropas) oder in den verschiedenen "Unabhängigkeits"-Kriegen in der Nachkriegsperiode (wie z.B. im Falle Chinas oder Nordvietnams), oder auch durch militärische Staatsstreiche (z.B. Ägypten 1952, Äthiopien 1974, Afghanistan 1978). Ebenso stellt der Einsatz der Streitkräfte (z.B. Ungarn 1956, CSSR 1968, Afghanistan 1979) oder die Drohung solch eines militärischen Einsatzes praktisch die einzige Form der Aufrechterhaltung des Zusammenhalts ihres Blocks dar.

9. Wie die Gestalt ihres nationalen Kapitals und ihres politischen Regimes rührt auch diese Form imperialistischer Herrschaft grundsätzlich aus der wirtschaftlichen Schwäche der UdSSR (deren Wirtschaft rückständiger ist als die der meisten ihrer Vasallen).
„Als höchst entwickeltes Land ihres Blocks, als erste Wirtschafts- und Finanzmacht der Welt üben die USA ihre Herrschaft über die Hauptländer ihres Einflußbereiches, die ebenfalls entwickelte Länder sind, aus, ohne gleich beim geringsten Anlaß das Militär zu rufen. Auch haben es diese Länder nicht nötig, auf das Mittel der permanenten Repression zurückzugreifen, um ihre Stabilität zu sichern (...) Die herrschenden Teile der größten Bourgeoisien des Westens haben sich dem amerikanischen Bündnis ‚freiwillig’ angeschlossen: sie ziehen aus ihm wirtschaftliche, finanzielle, politische und militärische Vorteile (der amerikanische Schutzschirm gegen den russischen Imperialismus)." (ebenda) Dagegen wirkt sich die Zugehörigkeit eines nationalen Kapitals zum Ostblock im Allgemeinen für seine Volkswirtschaft katastrophal aus (besonders in Anbetracht der direkten Ausplünderung dieser Volkswirtschaft durch die UdSSR). "In diesem Sinn gibt es unter den größten Ländern des US-Blocks keinen ‚spontanen Hang’ dazu, sich dem anderen Block anzuschließen, wie dies beim anderen Block festgestellt werden kann (der Seitenwechsel Jugoslawiens 1948, Chinas Ende der 60er Jahre, die Versuche Ungarns 1956 und der CSSR 1968)." (ebenda) Die permanenten Zentrifugalkräfte im russischen Block liefern somit die Erklärung für die Brutalität seiner imperialistischen Herrschaft. Sie liefern ebenso die Erklärung für die Form der politischen Regimes, die diese Länder beherrschen.

10. „Die Macht und die Stabilität der USA ermöglicht es ihnen, sich allen möglichen Herrschaftsformen innerhalb ihres Blocks anzupassen: vom ‚kommunistischen’ Regime Chinas bis zum ganz ‚anti-kommunistischen’ Pinochet, von der türkischen Militärdiktatur zum sehr ’demokratischen’ England, von der 200 Jahre alten französischen Republik bis zur feudalen saudi-arabischen Monarchie, von Francos zum sozialdemokratischen Spanien.“ (ebenda) Dagegen ist "die Tatsache, daß die USSR ihre Kontrolle über ihr Reich nur durch Waffengewalt aufrechterhalten kann, ausschlaggebend dafür, daß in ihren Satelliten Regimes herrschen, die wie sie selbst ihre Kontrolle über die Gesellschaft nur durch die gleiche Waffengewalt ausüben können (Polizei und militärische Organismen)“ (ebenda). Darüber hinaus kann die UdSSR (wenn überhaupt!) nur von den stalinistischen Parteien ein Mindestmaß an Gefolgschaft erwarten, weil die Erlangung und Aufrechterhaltung der Macht dieser Parteien im Allgemeinen von der direkten Unterstützung der Roten Armee abhängen. „Während der amerikanische Block mit einer ‚Demokratisierung’ eines faschistischen oder Militärregimes 'umgehen' kann, wann immer es angebracht erscheint (Japan, Deutschland, Italien nach dem 2. Weltkrieg, Portugal, Griechenland, Spanien in den 70er Jahren), kann sich die UdSSR keiner  ‚Demokratisierung’ innerhalb ihres Blocks anpassen.“ (ebenda) Ein politischer Regimewechsel in einem ‚Satellitenland’ birgt für sie die direkte Gefahr in sich, daß es ins gegnerische Lager überwechselt.

11. Die Verstärkung des Staatskapitalismus ist ein permanentes und universelles Phänomen in der kapitalistischen Dekadenz. Diese Tendenz äußert sich jedoch nicht, wie wir gesehen haben, zwangsläufig in Gestalt einer vollständigen Verstaatlichung der Wirtschaft, der direkten Aneignung des Produktionsapparates durch den Staat. Unter bestimmten historischen Bedingungen bildet die vollständige Verstaatlichung den einzig möglichen Weg für das nationale Kapital oder das bestangebrachte Mittel für seine Verteidigung und seine Entwicklung. Dies trifft hauptsächlich auf die rückständigen Volkswirtschaften zu, aber in bestimmten Fällen (Wiederaufbauphasen z.B.) gilt dies gleichfalls für die entwickelten Volkswirtschaften wie die Großbritanniens oder Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese besondere Form des Staatskapitalismus birgt jedoch viele Nachteile für die Volkswirtschaft in sich.
In den rückständigsten Ländern ermöglicht und verursacht das Durcheinander von politischem und ökonomischem Apparat die Entfaltung einer völlig parasitären Bürokratie, deren einzige Sorge darin besteht, in die eigene Tasche zu wirtschaften, die Volkswirtschaft mit dem Ziel systematisch zu plündern, ungeheure Vermögen anzuhäufen: die Fälle Battistas, Marcos, Duvaliers, Mobutus sind gut bekannt, aber sie sind nicht die einzigen. Plünderungen, Korruption und Erpressungen sind allgemeine Phänomene in den unterentwickelten Ländern und wirken sich auf alle Ebenen des Staates und der Wirtschaft aus. Solche Verhältnisse sind freilich ein zusätzliches Handikap für diese Volkswirtschaften, die sie noch tiefer in den Abgrund stoßen.
In den fortgeschrittenen Ländern tendiert die Präsenz eines starken verstaatlichten Sektors gleichfalls dazu, zu einem Handikap für die Volkswirtschaft zu werden, je mehr sich die Weltkrise zuspitzt. In der Tat schränken die Art und Weise der Verwaltung der Betriebe in diesem Sektor, ihre Strukturen der Arbeits- und Arbeitskraftorganisation oft die Anpassungsfähigkeit an der notwendigen Steigerung der Konkurrenzfähigkeit ein. Die "Staatsdiener", die Beschäftigten des "öffentlichen Dienstes", haben zumeist Beschäftigungsgarantien und können sich sicher sein, daß ihr Unternehmen (der Staat selbst) nicht in Konkurs geht und und seine Tore schließt; selbst wenn die Beamtenschicht keinerlei Korruption begeht, ist sie nicht zwangsläufig am besten dafür geeignet, um sich den unerbittlichen Gesetzen des Marktes anzupassen. In der großen Welle von "Privatisierungen", die heute die meisten fortgeschrittenen Industrieländern des Westens betrifft, steckt folglich nicht nur ein Mittel, um das Ausmaß der Klassenkonflikte einzugrenzen, indem der Arbeitergeber Staat durch eine Vielzahl von Arbeitgebern ersetzt wird, sondern sie sind auch ein Mittel zur Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsapparats.

12. In den Ländern mit einem stalinistischen Regime entwickelt sich das System der "Nomenklatura", in dem die ökonomischen Verantwortlichkeiten nahezu vollständig an die Stellung im Parteiapparat gebunden sind, in einem weitaus größeren Umfang zu einem Hindernis gegen eine Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit des Produktionsapparats. Während die "Mischwirtschaft" in den hochentwickelten westlichen Ländern die öffentlichen Unternehmen und gar die Verwaltungen zu einem Mindestmaß an Sorge für die Produktivität und Rentabilität zwingt, weist die Form des Staatskapitalismus in den Ostblockländern die Eigenschaft auf, die herrschende Klasse von jeglichem Verantwortungssinn zu befreien. Bei einer schlechten Geschäftsführung greifen die Gesetze des Marktes nicht mehr, und verwaltungsmäßige Kontrollen und Maßnahmen sind nicht mehr üblich, da der ganze Apparat, von oben bis unten, solch eine Unverantwortlichkeit an den Tag legt. Im Kern bedingt die Erhaltung der eigenen Privilegien die Unterwürfigkeit gegenüber der Hierarchie dieses Apparates oder gegenüber der einen oder anderen seiner Cliquen. Die Hauptsorge der meisten sowohl wirtschaftlichen wie politischen "Verantwortlichen" (meistens sind es eh die gleichen), besteht nicht darin, das Kapital gewinnbringend anzulegen, sondern ihre Stellung auszunutzen, um ohne die geringste Sorge um das Wohlergehen der Unternehmen oder der Volkswirtschaft in die eigene Tasche sowie in die ihrer Familien und Angehörigen zu wirtschaften. Eine solche Art von "Geschäftsführung" schließt freilich nicht eine unbarmherzige Ausbeutung der Arbeitskraft aus. Doch diese Unbarmherzigkeit bezieht sich im Allgemeinen nicht auf die Arbeitsnormen, die die Steigerung der Produktivität ermöglichen könnten. Sie äußert sich hauptsächlich auf der Ebene der elenden Lebensbedingungen der Arbeiter und der Brutalität, mit der man auf ihre Forderungen reagiert.
Letztlich kann man diese Art von Regime als das Reich der Arschkriecher charakterisieren, der kleinen inkompetenten und bösartigen Chefs, der zynischen, korrupten Beamten, der skrupellosen Mauschler und der Bullen. Diese Merkmale treten in der gesamten kapitalistischen Gesellschaft auf und werden sich mit dem zunehmenden Zerfall der Gesellschaft noch verstärken, aber wenn sie vollständig an die Stelle der technischen Kompetenz treten, der rationellen Ausbeutung der Arbeitskraft und anstelle des Bestrebens nach Wettbewerbsfähigkeit auf dem Markt, bedrohen sie die Leistungsfähigkeit einer Volkswirtschaft aufs Äußerste.
Unter diesen Umständen sind die Volkswirtschaften der ohnehin sehr rückständigen Länder besonders schlecht gerüstet, um der kapitalistischen Krise und der Zuspitzung der Konkurrenz zu trotzen.

13. Angesichts des totalen Scheiterns der Wirtschaft dieser Länder besteht der einzige Ausweg - nicht zur Wettbewerbsfähigkeit, sondern allein um den Kopf über Wasser zu halten -   in der Einführung von Mechanismen, die es ermöglichten, ihren Führern eine reale Verantwortlichkeit aufzuzwingen. Diese Mechanismen setzen eine "Liberalisierung" der Wirtschaft sowie die Schaffung eines wirklichen Binnenmarktes voraus, eine größere "Autonomie" der Unternehmen und die Entwicklung eines starken "privaten" Sektors. Dies ist übrigens das Programm der "Perestroika" wie auch das der Regierung Mazowieckis in Polen und Deng Xiaopings in China. Obgleich solch ein Programm immer unverzichtbarer wird, beinhaltet seine Umsetzung praktisch unüberwindbare Hindernisse.
Erstens setzt solch ein Programm die Einführung einer Politik der "ehrlichen Preispolitik" auf dem Markt voraus; was wiederum heißt, daß die üblichen und auch die wichtigsten Konsumgüter - die heute subventioniert sind - schwindelerregend teuer werden: die in Polen im August 1989 durchgeführten Preiserhöhungen von 500 Prozent lassen erahnen, was auf die Bevölkerung, insbesondere auf die Arbeiterklasse wartet. Die  vergangenen, aber auch die aktuellen Erfahrungen in Polen beweisen, daß eine solche Politik gewalttätige soziale Explosionen auslösen kann, die die Durchsetzung solch einer Politik gefährden.
Zweitens setzt dieses Programm die Schließung "unrentabler" Firmen (von denen es unzählige gibt) oder große Einschnitte in die Belegschaften voraus. Die Arbeitslosigkeit (die bisher eine Randerscheinung ist) wird massiv zunehmen, was eine neue Bedrohung für die gesellschaftliche Stabilität insofern darstellt, als die Vollbeschäftigung eine der wenigen Garantien war, über die die Arbeiter noch verfügten, und ein Mittel zur Kontrolle einer Arbeiterklasse bildete, die empört über ihre Lebensbedingungen sind. Mehr noch als in den westlichen Ländern kann die Massenarbeitslosigkeit durchaus soziale Sprengkraft erlangen.
Drittens stößt die "Autonomie" der Unternehmen auf den erbitterten Widerstand der gesamten Wirtschaftsbürokratie, deren offizieller Daseinsgrund die Planung, Organisation und Kontrolle der Aktivitäten des Produktionsapparates ist. Die erhebliche Ineffizienz, die sie bislang bewiesen hat, könnte einer gefährlichen Effizienz in der Sabotierung von "Reformen" Platz machen.

14. Schließlich wird das Auftreten einer Schicht von westlich geprägten "Managern", die in der Lage wären, das investierte Kapital profitbringend zu verwerten, neben der Staatsbourgeosie (die im politischen Machtapparat verankert sind) eine inakzeptable Konkurrenz für Letztere darstellen. Der prinzipiell parasitäre Charakter ihrer Existenz wird unweigerlich bloßgestellt werden, was wiederum nicht nur ihre Macht, sondern auch all ihre wirtschaftlichen Privilegien bedrohen würde. Was die Partei angeht, deren Daseinsgrund die Umsetzung und Leitung des "real existierenden Sozialismus" ist (der polnischen Verfassung zufolge ist die Partei die "Führungskraft der Gesellschaft bei dem Aufbau des Sozialismus"), so wird ihr ganzes Programm, ihre Identität selbst in Frage gestellt.
Das offenkundige Scheitern der "Perestroika" Gorbatschows, wie übrigens all der anderen früheren Reformen, die in die gleiche Richtung gingen, wirft ein besonders deutliches Schlaglicht auf diese Schwierigkeiten. Tatsächlich kann eine wirksame Umsetzung solcher "Reformen" nur zu einem offenen Konflikt zwischen den beiden Sektoren der Bourgeoisie führen, der Staatsbourgeoisie und der "liberalen" Bourgeoisie (obgleich Letztere aus einem Teil des Staatsapparates hervorgeht). Der brutale Abschluß dieses Konflikts, wie man ihn neulich in China erleben konnte, gibt uns eine Vorstellung von den Formen, die er in anderen Ländern mit stalinistischem Regime annehmen kann.

15. So wie es eine enge Verbindung zwischen der Form des Wirtschaftsapparates und der Struktur des politischen Apparates gibt, so schlägt sich die Reform des einen auch zwangsläufig auf den anderen nieder. Die Notwendigkeit einer "Liberalisierung" der Wirtschaft findet ihren Ausdruck im Auftauchen politischer Kräfte innerhalb oder außerhalb der Partei, die als Sprecher dieser Notwendigkeit auftreten. Dieses Phänomen wird starke Tendenzen zur Spaltung innerhalb der Partei (wie man erst neulich in Ungarn sehen konnte) sowie die Bildung von "unabhängigen" Parteigruppierungen auslösen, die sich mehr oder weniger explizit auf die Wiederherstellung klassischer Formen des Kapitalismus berufen, wie dies bei Solidarnosc (2) der Fall ist.
Eine solche Tendenz des Auftauchens etlicher politischer Gruppierungen mit unterschiedlichen Wirtschaftsprogrammen birgt in sich den Druck zugunsten einer gesetzlichen Anerkennung des "Mehrparteiensystems" und des "Vereinsrecht", "freier Wahlen", der "Pressefreiheit", kurzum:  der klassischen Merkmale der bürgerlichen Demokratie. Darüber hinaus kann eine gewisse Freiheit der Kritik, der "Aufruf an die Öffentlichkeit" ein Hebel sein, um die "konservativen" Bürokraten, die sich an ihrer Macht festklammern, "vom Sockel zu stürzen". Daher sind die "Reformer" auf wirtschaftlicher Ebene es auch auf politischer Ebene. Aus diesem Grund gehören "Perestroika" und "Glasnost" zusammen. Ferner kann heute die "Demokratisierung" und das Erscheinen von politischen "Oppositions"-Kräften unter bestimmten Bedingungen, wie in Polen 1980 und 1988 sowie in der UdSSR, eine Ablenkung und ein Mittel zur Kanalisierung angesichts des Ausbruchs der der Unzufriedenheit der Bevölkerung, inbesonders der Arbeiterklasse sein. Dieses letztgenannte Element bildet freilich ein zusätzliches Druckmittel zugunsten "politischer Reformen.

16. Doch so wie die "Wirtschaftsreform" eine praktisch unmögliche Aufgabe ist, so hat auch die politische Reform wenig Aussichten auf Erfolg. So stellt die tatsächliche Einführung des "Parteienpluralismus" und "freier Wahlen", die die logische Konsequenz eines "Demokratisierungsprozesses" sind, eine wahrhaftige Bedrohung für die an der Macht befindliche Partei dar. Wie man erst kürzlich in Polen und in einem gewissen Grad auch in der UdSSR gesehen hat, können solche Wahlen nur den völligen Mangel an Glaubwürdigkeit aufdecken, den großen Haß der Bevölkerung gegenüber der Partei. Es liegt also in der Logik solcher Wahlen, daß die Partei von ihnen nichts anderes als den Verlust ihrer Macht erwarten kann. Nun ist dies aber etwas, was die Partei im Gegensatz zu den "demokratischen" Parteien des Westens nicht hinnehmen will, weil:
- sie, wenn sie die Macht durch die Wahlen verlieren würde, diese im Gegensatz zu den anderen Parteien nie mittels der Wahlen zurückgewinnen könnte,
- der Verlust ihrer politischen Macht konkret die Enteignung der herrschenden Klasse bedeutet, da ihr Apparat die herrschende Klasse ist.
Während in den Länder mit einer "liberalen" oder "gemischten" Wirtschaft, in denen sich eine klassische Bourgeoisie, die direkte Besitzerin der Produktionsmittel, hält, der Wechsel der an der Macht befindlichen Parteien nur einen geringen Einfluß auf ihre Privilegien und ihre Stellung hat (es sei denn, eine stalinistische Partei übernimmt die Macht), bedeutet solch ein Ereignis in einem Ostblockland für die meisten der großen und kleinen Bürokraten den Verlust ihrer Privilegien, die Arbeitslosigkeit und selbst Verfolgungen seitens der Sieger. Die deutsche Bourgeoisie konnte mit dem Kaiser auskommen, mit der SPD an der Macht, mit den Konservativen, den totalitären Nazis, der "demokratischen" Bundesrepublik, ohne daß der Großteil ihrer Privilegien angetastet wurde. Dagegen würde ein Regimewechsel in der UDSSR das Verschwinden der Bourgeoisie in ihrer gegenwärtigen Gestalt wie auch der Partei bedeuten. Und während eine politische Partei Selbstmord begehen und ihre Auflösung verkünden kann, kann eine herrschende und privilegierte Klasse sich nicht selbst umbringen.

17. Deshalb können die Widerstände, die sich innerhalb des Apparates der stalinistischen Parteien in den osteuropäischen Ländern gegen die politischen Reformen regen, nicht auf die Furcht vor dem Verlust ihrer Jobs und Privilegien reduziert werden, von der die inkompetentesten Bürokraten erfaßt sind. Es ist die Partei als ein Körper, als soziales Ganzes und als herrschende Klasse, die so ihren Widerstand zum Ausdruck bringt.
Im übrigen bleibt, was wir bereits vor neun Jahren schrieben - „... jede Protestbewegung läuft Gefahr, die große Unzufriedenheit zu kristallisieren, die innerhalb eines Proletariats und einer Bevölkerung existiert, welche seit Jahrzehnten der gewalttätigsten Konterrevolution ausgesetzt waren“  -, auch heute gültig. In der Tat: wenn eines der Ziele der "demokratischen Reformen" es ist, als Sicherheitsventil für die enorme Wut zu dienen, die in der Bevölkerung herrscht, so bergen sie auch die Gefahr in sich, daß diese Wut sich in unkontrollierten Ausbrüchen Bahn bricht. Wenn die Unmutsbekundungen nicht sofort blutig niedergeschlagen und mit massiven Verhaftungswellen beantwortet werden, drohen sie sich immer offener und gewalttätiger  zu äußern. Und wenn der Druck im Kessel zu groß geworden ist, droht der Dampf, wenn er nicht mehr durch das Ventil entweichen kann, den Deckel zu sprengen.
In einem gewissen Grade sind die Streiks in der UdSSR vom Sommer 1989 eine Veranschaulichung dieses Phänomens. In einem anderen Kontext als der "Perestroika" hätte sich die Explosion des Kampfgeistes der Arbeiter nicht auf diese Art und so lange ausbreiten können. Das gleiche trifft auf die gegenwärtige Explosion von nationalistischen Bewegungen in diesem Land zu, die die Gefahr einer Politik der Demokratisierung verdeutlicht, welche die territoriale Integrität der zweitgrößten imperialistischen Weltmacht infrage stellt.

18. Da der praktisch einzige Faktor des Zusammenhalts des russischen Blocks die Armee ist, trägt in der Tat jede Politik, die diesen Faktor zurückdrängt, die Gefahr des Auseinanderbrechens des Blocks in sich. Schon jetzt bietet uns der Ostblock ein Bild des Zerfalls. So sind die gegenseitigen Beleidigungen zwischen der DDR und Ungarn, zwischen den "Reformern" und den "Konservativen" keineswegs nur Schall und Rauch. Sie spiegeln die reellen Diskrepanzen wider, die sich gerade zwischen den verschiedenen nationalen Bourgeoisien auftun. In dieser Region sind die zentrifugalen Tendenzen so stark, daß sie außer Kontrolle geraten, sobald sie die Gelegenheit haben. Und diese Gelegenheit wird heute genährt von der Furcht in den von den "Konservativen" angeführten Parteien, daß die Bewegung, die in der UdSSR begann und in Polen sowie in Ungarn weiter wuchs, sie kontaminieren und destabilisieren könnte.
Ein ähnliches Phänomen kann man in den Randrepubliken der UdSSR beobachten. Diese Regionen sind gewissermaßen Kolonien des zaristischen Rußlands oder gar des stalinistischen Rußlands (z.B. die nach dem deutsch-sowjetischen Pakt von 1939 annektierten baltischen Republiken). Aber im Gegensatz zu den anderen Großmächten hat Rußland nie eine Entkolonialisierung vollzogen, hätte es doch für Rußland den endgültigen Verlust seiner Kontrolle über diese Regionen bedeutet, von denen einige von großer wirtschaftlicher Bedeutung für die UdSSR sind. Die nationalistischen Bewegungen, die sich dort, begünstigt durch die Lockerung  der zentralen Kontrolle durch die russische Partei, heute entwickeln, mit einem halben Jahrhundert Verspätung im Vergleich den Bewegungen, die die englischen und französischen Imperien betroffen hatten - diese nationalistischen Bewegungen gehen einher mit einer Dynamik der Loslösung von Rußland.
Letztlich werden wir, wenn die Zentralmacht in Moskau nicht reagiert, nicht nur die Explosion des russischen Blocks erleben, sondern auch die Explosion seiner Vormacht. In einer solchen Dynamik würde die russische Bourgeoisie, die heute noch die zweitgrößte Weltmacht stellt, nur noch eine zweitrangige Stellung einnehmen, weitaus schwächer als Deutschland beispielsweise.

19. So hat die "Perestroika" wahrlich die Büchse der Pandora geöffnet, indem sie zunehmend unkontrollierbaren Situationen schafft, wie jene zum Beispiel, die in Polen mit der Bildung einer von Solidarnosc angeführten Regierung gerade eingeleitet wird. Die "zentristische" Politik Gorbatschows (wie Jelzin sie bezeichnet) ist in Wirklichkeit eine Gratwanderung, die Aufrechterhaltung eines instabilen Gleichgewichts zwischen zwei Tendenzen, deren Zusammenstoß unvermeidbar ist: der Tendenz, die die "Liberalisierung" konsequent zu Ende führen will, weil halbherzige Maßnahmen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene nichts lösen, und der Tendenz, die dieser Bewegung entgegentritt aus Furcht, daß dies den Sturz der aktuellen Form der Bourgeoisie und gar der imperialistischen Macht Rußlands auslöst.
Da die herrschende Bourgeoisie gegenwärtig noch über die Kontrolle der Polizeikräfte und des Militärs verfügt (selbstverständlich auch in Polen), kann diese Konfrontation nur zu gewalttätigen Zusammenstößen führen, gar zu Blutbädern, wie jenes, das man in China erleben konnte. Und solche Zusammenstöße werden umso brutaler sein, weil sich in der UdSSR seit mehr als 50 Jahren und in den "Satelliten" seit mehr als 40 Jahren ein ungeheurer Haß in der Bevölkerung gegen die stalinistische Kamarilla angestaut hat, die zum Synonym für Terror, Massaker, Folter, Hungersnot und eine ungeheure zynische Arroganz geworden ist. Wenn die stalinistische Bürokratie in den Ländern, die sie bislang kontrolliert, die Macht verlieren sollte, würde sie zum Opfer wahrer Pogrome werden.

20. Aber unabhängig von der zukünftigen Entwicklung der Lage in den osteuropäischen Ländern bedeuten die gegenwärtigen Ereignisse die historische Krise, den endgültigen Zusammenbruch des Stalinismus, diesem monströsen Symbol der schlimmsten Konterrevolution, die das Proletariat je erlebt hat.
Diese Länder sind in einen Zeitraum beispielloser Instabilität, Erschütterungen und des Chaos eingetreten, deren Auswirkungen weit über ihre eigenen Grenzen hinaus wirken. Insbesondere wird der Zusammenbruch des russischen Blocks die Tür zu einer Destabilisierung des Systems der internationalen Beziehungen, der imperialistischen Konstellationen öffnen, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg nach dem Abkommen von Jalta hervorgegangen waren. Das heißt jedoch nicht, daß damit der historische Kurs zu Klassenkonfrontationen in irgendeine Weise infrage gestellt wird. In Wirklichkeit bildet der gegenwärtige Zusammenbruch des Ostblocks eine der Manifestationen des allgemeinen Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft, deren Ursprung gerade in dem Unvermögen der Bourgeoisie liegt, ihre eigenen Antwort auf die offene Weltwirtschaftskrise, den Weltkrieg, zu geben. In diesem Sinn  liegt mehr denn je der Schlüssel zu einer historischen Perspektive in den Händen des Proletariats.

21. Die gegenwärtigen Ereignisse in den Ostblockländern bestätigen erneut, daß diese Verantwortung des Weltproletariats hauptsächlich auf den Bataillonen der zentralen Länder und insbesondere Westeuropas lastet. Allerdings gibt es vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und politischen Erschütterungen, des Zusammenpralls zwischen Sektoren der Bourgeoisie, die auf die stalinistischen Regimes warten, die Gefahr, daß die Arbeiter dieser Länder sich von der einen oder anderen kapitalistischen Kraft einspannen und gar massakrieren lassen (wie dies 1936 in Spanien der Fall gewesen war), oder auch daß ihre Kämpfe auf ein solches Terrain umgelenkt werden. Trotz ihres massenhaften Charakters und ihres Kampfgeistes haben die Arbeiterkämpfe im Sommer 1989 in der UdSSR nicht den enormen politischen Rückstand wettgemacht, der auf dem Proletariat dieser Länder und des von ihr beherrschten Blocks lastet. Aufgrund der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Kapitals selbst, aber auch und vor allem wegen der Gründlichkeit und Brutalität der Konterrevolution, die in diesem Teil der Welt stattgefunden hat, sind die Arbeiter noch besonders empfänglich für die Mystifikationen sowie für die demokratischen, gewerkschaftlichen und nationalistischen Fallen. So bilden die nationalistischen Explosionen der letzten Monate in der UdSSR, aber auch die Illusionen, die die jüngsten Kämpfe offenbarten, sowie das schwache Niveau des politischen Bewußtseins der Arbeiter in Polen ungeachtet der Bedeutung der Kämpfe, die dort seit 20 Jahren stattgefunden haben, eine weitere Veranschaulichung der Analyse der IKS über diese Frage (die Ablehnung der Theorie des "schwächsten Glieds"). In diesem Sinn wird die Bloßstellung der demokratischen und gewerkschaftlichen Mystifikationen durch den Kampf der Arbeiter im Westen besonders wegen des Ausmaßes der Illusionen, die die Arbeiter der osteuropäischen Ländern über den Westen haben, ein fundamentales Element in der Fähigkeit Letzterer bilden, um die Fallen zu umgehen, die die Bourgeoisie nicht versäumt hat aufzustellen, und sich nicht vom eigenen Klassenterain ablenken zu lassen.

22. Die Ereignisse, die heute die "sozialistischen" Länder erschüttern, die faktische Auflösung des russischen Blocks, das offensichtliche und endgültige Scheitern des Stalinismus auf ökonomischer, politischer und ideologischer Ebene stellen neben dem internationalen Wiederauftauchen des Proletariats Ende der 60er Jahre das bedeutendste historische Ereignis seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Ein Ereignis von solcher Reichweite wird Auswirkungen auf das Bewußtsein der Arbeiter haben und hat bereits damit begonnen. Dies trifft umso mehr zu, als es sich um eine Ideologie und ein politisches System handelte, deren Repräsentanten seit mehr als einem halben Jahrhundert von allen Teilen der Bourgeoisie als "Sozialisten" und "Arbeiter" präsentiert wurden. Mit dem Stalinismus verschwindet auch das Symbol und die Speerspitze der schlimmsten Konterrevolution der Geschichte. Aber das heißt nicht, daß die Entwicklung des Bewußtseins des Weltproletariats dadurch erleichtert würde. Im Gegenteil, selbst in seinem Ableben erweist der Stalinismus der kapitalistischen Herrschaft noch einen letzten Dienst: auch in seinem Zerfall vergiftet sein Kadaver die Luft, die das Proletariat einatmet. Für die herrschenden Sektoren der Bourgeoisie bieten der Zusammenbruch der stalinistischen Ideologie und die "demokratischen","liberalen" und nationalistischen Bewegungen, die zur Zeit die osteuropäischen Länder erschüttern, eine Gelegenheit, um ihre irreführenden Kampagnen zu entfachen und noch zu intensivieren. Die systematische Gleichsetzung des Kommunismus mit dem Stalinismus, die tausendmal wiederholte und auch noch heute verbreitete Lüge, derzufolge die proletarische Revolution nur scheitern kann, wird nach dem Zusammenbruch des Stalinismus noch eine ganze Zeitlang ihre Spuren in den Rängen der Arbeiterklasse hinterlassen. Wir müssen daher mit einem zeitweiligen Rückgang im Bewußtsein  der Arbeiterklasse rechnen, dessen Manifestationen - besonders mit dem Comeback der Gewerkschaften - sich schon jetzt bemerkbar machen. Obgleich der Kapitalismus pausenlos und immer brutaler das Proletariat angreift und es damit zum Kampf zwingen wird, darf man in naher Zukunft nicht mit einer größeren Fähigkeit der Klasse rechnen, ihr Bewußtsein voranzutreiben. Insbesondere die reformistische Ideologie wird sehr stark auf den Kämpfen in der kommenden Periode lasten, wodurch die Aktionen der Gewerkschaften begünstigt werden.
In Anbetracht der historischen Bedeutung der Faktoren, die es determinieren, wird der gegenwärtige Rückzug des Proletariats - ungeachtet der Tatsache, daß er den historischen Kurs, die allgemeine Perspektive der Klassenkonfrontationen, nicht infragestellt - tiefgehender sein als der Rückzug, der 1981 mit der Niederlage in Polen einhergegangen war. Trotz allem kann man heute noch nicht seinen reellen Umfang und seine Dauer voraussehen. Insbesondere wird das Tempo des Zusammenbruchs des westlichen Kapitalismus - das gegenwärtig eine Beschleunigung mit der Perspektive einer neuen offenen Rezession erfährt - ein entscheidender Faktor in dem Moment sein, wenn das Proletariat seinen Marsch zu einem revolutionären Bewußtsein wiederaufnimmt. Indem es die Illusionen über die "Wiederbelebung" der Weltwirtschaft aus dem Weg räumt, indem es die Lügen bloßstellt, die den "liberalen" Kapitalismus als eine Lösung auf die Niederlage des sogenannten "Sozialismus" präsentieren, und indem es das historische Scheitern der gesamten kapitalistischen Produktionsweise, und nicht nur seines stalinistischen Alter ego, enthüllt,  wird die Zuspitzung der kapitalistischen Krise das Proletariat letztendlich, dazu drängen, sich erneut der Perspektive einer anderen Gesellschaft zuzuwenden und zunehmend seine Kämpfe dieser Perspektive zu verschreiben. Wie die IKS bereits nach der Niederlage in Polen 1981 geschrieben hatte, bleibt die kapitalistische Krise der Hauptverbündete der Arbeiterklasse.

IKS

5.Oktober 1989

(Erstveröffentlichung in Internationale Revue Nr. 12)
Quell-URL: https://de.internationalism.org/thesenosteuropa [1]

Geographisch: 

  • Russland, Kaukasus, Zentralasien [3]

Theorie und Praxis: 

  • Der Ostblock [4]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Stalinismus [5]

Geschichte der Arbeiterbewegung: 

  • 1980 - Massenstreik in Polen [6]

Historische Ereignisse: 

  • Zusammenbruch des Ostblocks [7]

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [9]

Kollaps des Stalinismus: Die Arbeiterklasse vor einer schwierigeren Lage

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Der Stalinismus war die Speerspitze der schlimmsten Konterrevolution, die die Arbeiterklasse während ihrer bisherigen Geschichte jemals hinnehmen mußte. Diese Konterrevolution machte insbesondere das größte Abschlachten aller Zeiten, den Zweiten Weltkrieg, und das Versinken der Gesellschaft in einer bis dahin nie in diesem Ausmaß gekannten Barbarei möglich. Nach dem wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch der sog. "sozialistischen" Länder, der faktischen Auflösung des von der UdSSR beherrschten imperialistischen Blocks liegt jetzt der Stalinismus selbst als politisch-ökonomische Organisationsform des Kapitals und als Ideologie im Sterben. Einer der größten Feinde der Arbeiterklasse verschwindet. Aber die Auflösung dieses Feindes macht das Leben der Arbeiterklasse und deren Aufgabe nicht leichter. Im Gegenteil: selbst während er im Sterben liegt, erweist der Stalinismus dem Kapitalismus noch einen letzten Dienst. Dies wollen wir anhand dieses Artikels aufzeigen.
In der ganzen Menschheitsgeschichte stellt der Stalinismus sicherlich die tragischste und verabscheuungswürdigste Erscheinung dar, die je existiert hat. Dies nicht nur, weil er die direkte Verantwortung für das Massaker an Dutzenden von Millionen von Menschen trägt, weil er jahrzehntelang einen erbarmungslosen Terror gegenüber nahezu einem Drittel der Menschheit ausgeübt hat, sondern auch und vor allem, weil er sich als der schlimmste Feind der kommunistischen Revolution erwiesen hat, d.h. der Voraussetzung für die Befreiung der menschlichen Art von den Ketten der Ausbeutung und der Unterdrückung im Namen genau dieser kommunistischen Revolution. Somit trägt er die Hauptschuld für die Zerstörung des Bewußtseins in der Weltarbeiterklasse während der schlimmsten Zeit der Konterrevolution in der Geschichte der Arbeiterklasse.


Die Rolle des Stalinismus in der Konterrevolution

Seit der Etablierung ihrer politischen Herrschaft über die Gesellschaft hat die Bourgeoisie im Proletariat stets ihren ärgsten Feind gesehen. Beispielsweise hat die kapitalistische Klasse im Verlauf der bürgerlichen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, deren 200. Jahrestag gerade mit viel Pomp begangen wurde, sogleich den subversiven Charakter der Ideen eines Babeufs erkannt. Daher hat sie ihn auf das Schafott geschickt, obgleich seine Bewegung damals noch keine wirkliche Bedrohung für den kapitalistischen Staat (1) bilden konnte. Die ganze Geschichte der bürgerlichen Vorherrschaft ist durch fortwährende Massker an Arbeitern gekennzeichnet, mit dem Ziel, diese Vorherrschaft zu beschützen: Massaker an den Lyoner Seidenarbeitern 1831, der schlesischen Weber 1844, den Pariser Arbeitern im Juni 1848, den Kommunarden 1871, den Aufständischen 1905 im gesamten russischen Reich. Die Bourgeoisie war stets in der Lage, Handlanger in ihren politischen Formationen für diese Art von Arbeit zu finden. Aber als die proletarische Revolution auf der Tagesordnung der Geschichte stand, begnügte sie sich nicht mehr damit, an ihre Truppen zu appellieren, um ihre Macht zu schützen. Sie hat auf verräterische Parteien zurückgegriffen, auf Organisationen, die die Arbeiterklasse zuvor selbst in die Welt gesetzt hatte und die es übernommen haben, den traditionellen bürgerlichen Parteien unter die Arme zu greifen oder gar selbst an die Spitze der bürgerlichen Macht zu treten. Die besondere Rolle dieser neuen Rekruten der Bourgeoisie, ihre unverzichtbare und unersetzliche Funktion bestand in ihrer Fähigkeit, aufgrund ihrer Herkunft und ihres Rufs eine ideologische Kontrolle über die Arbeiterklasse auszuüben, um deren Bewußtwerdung zu untergraben und sie auf dem Terrain des Klassenfeindes zu mobilisieren. So bestand das besondere Verdienst der Sozialdemokratie als bürgerliche Partei, ihr größter Volltreffer nicht so sehr darin, direkt für das Massaker an den Arbeitern im Januar 1919 in Berlin verantwortlich zu sein (wo der Verteidigungsminister, der Sozialdemokrat Noske, seiner Verantwortung als "Bluthund", wie er sich selbst bezeichnete, vollauf gerecht wurde), sondern vielmehr in dem Part, den sie als Rekrutierungsoffizier des Ersten Weltkrieges und schließlich, angesichts der revolutionären Welle, die dem imperialistischen Holocaust ein Ende bereitete und ihm folgte, als treibende Kraft hinter den Mystifikationen der Arbeiterklasse, hinter der Spaltung und Zersplitterung ihrer Kräfte gespielt hatte. Tatsächlich hat erst der Verrat des opportunistischen Flügels, der die meisten Parteien der II. Internationale dominierte, sein Wechsel mit Sack und Pack ins Lager der Bourgeoisie die Mobilisierung der europäischen Arbeiterklasse im Namen der „Verteidigung der Zivilisation", der „nationalen Verteidigung", und die Entfesselung dieses Gemetzels erst möglich gemacht. Auch die Politik dieser Parteien, die sich weiterhin als "Sozialisten" ausgaben und deshalb noch über einen großen Einfluß innerhalb des Proletariats verfügten, hat eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung der demokratischen und reformistischen Illusionen in den Reihen des Proletariats gespielt, die es schließlich entwaffnet und unmöglich gemacht haben, dem Beispiel der Arbeiter in Rußland im Oktober 1917 zu folgen.
Im Verlaufe dieser Periode hatten sich die Elemente und Fraktionen, die sich gegen diesen Verrat aufgelehnt und gegen heftigsten Widerstand die Fahne des Internationalismus und der proletarischen Revolution hochgehalten hatten, innerhalb der kommunistischen Parteien, den Sektionen der 3. Internationalen, zusammengeschlossen. Aber dieselben Parteien sollten in der folgenden Zeit eine ähnliche Rolle spielen wie die sozialistischen Parteien. Zermürbt vom Opportunismus, dem das Scheitern der Weltrevolution großzügig die Türen geöffnet hatte, wandelten sich treue Mitwirkende unter der Leitung einer "Internationalen", die zuvor diese Revolution tatkräftig angekurbelt hatte, immer mehr in schlichte Werkzeuge der Diplomatie des russischen Staates in seinem Streben nach Integration in die bürgerliche Welt um, folgten die kommunistischen Parteien denselben Weg wie ihre Vorgänger. So wie die sozialistischen Parteien wurden auch sie letztendlich vollständig in den politischen Apparat des nationalen Kapitals ihres jeweiligen Landes integriert. Doch nebenbei beteiligten sie sich an der Niederschlagung des letzten Aufbäumens der revolutionären Welle nach dem Krieg, wie in China 1927-28, und vor allem leisteten sie einen entscheidenden Beitrag zur Umwandlung der Niederlage der Weltrevolution in eine fürchterliche Konterrevolution.
Tatsächlich waren nach dieser Niederlage die Konterrevolution, die Demoralisierung und die Verstörtheit des Proletariats unvermeidbar. Doch die Form, die diese Konterrevolution in der UdSSR selbst annahm - es kam nicht zum Umsturz der Macht, die im Oktober 1917 entstanden war, sondern zu einer Degeneration dieser Macht und der Partei, die sie in den Händen hielt - verlieh ihr  eine unvergleichliche Dimension und Tiefe, die viel bedeutender waren, als wenn die Revolution unter den Schlägen der Weißen Armeen zusammengebrochen wäre. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU), die zuvor die unumstrittene Avantgarde des Weltproletariats in der Revolution von 1917 als auch bei der Gründung der Kommunistischen Internationale von 1919 gewesen war, hat sich nach ihrer Eingliederung in den post-revolutionären Staat und den damit entstehenden Konfusionen in einen Hauptagenten der Konterrevolution in der UdSSR verwandelt.(2) Doch dank des Nimbus ihrer vergangenen Großtaten weckte sie auch weiterhin Illusionen in der Mehrheit der anderen kommunistischen Parteien und ihrer Mitglieder wie auch in den großen Massen des Weltproletariats. Aufgrund dieses Prestiges, von dem die kommunistischen Parteien der anderen Länder einen Teil für sich vereinnahmten, wurde der ganze Verrat, der vom Stalinismus damals begangen wurde,  von diesen Militanten und Massen toleriert. Insbesondere haben die Preisgabe des proletarischen Internationalismus unter dem Deckmantel des „Aufbaus des Sozialismus in einem einzigen Land", die Identifizierung des „Sozialismus" mit dem Kapitalismus, der sich in der UdSSR in seinen barbarischsten Formen gebildet hatte, die Unterordnung der Kämpfe des Weltproletariats unter die Bedürfnisse der Verteidigung des „sozialistischen Vaterlands" und schließlich die Verteidigung der Demokratie gegen den Faschismus - haben all diese Lügen und Mystifikationen zum großen Teil das Vertrauen der Arbeitermassen mißbraucht, weil diese Lügen von den Parteien vermittelt wurden, die sich weiterhin als die "legitimen" Erben der Oktoberrevolution präsentierten, obgleich sie deren Mörder waren. Diese Lüge - die Identifikation des Stalinismus mit dem Kommunismus - ist wahrscheinlich die größte Lüge in der Geschichte und auf jeden Fall die widerlichste, wozu alle Sektoren der Weltbourgeoisie ihren Scherflein beigetragen haben (3). Sie hat es ermöglicht, daß die Konterrevolution das bekannte Ausmaß annahm und mehrere Generationen von Arbeitern lähmte sowie dem zweiten imperialistischen Gemetzel auslieferte, wodurch auch die kommunistischen Fraktionen, die gegen den Niedergang der Kommunistischen Internationalen und ihrer Parteien gekämpft hatten, eliminiert oder auf den Stand kleiner, vollständig isolierter Kerne reduziert wurden.
Besonders in den 30er Jahren übernahmen die stalinistischen Parteien einen Großteil der Arbeit, die darin bestand, die Wut und den Kampfgeist der von der Weltwirtschaftskrise betroffenen Arbeiter auf ein bürgerliches Terrain zu lenken. Diese Krise war mit ihrem Ausmaß und ihrer Intensität das unleugbare Zeichen für das historische Scheitern der kapitalistischen Produktionsweise und hätte als solche unter anderen Bedingungen der Hebel für eine neue revolutionäre Welle sein können. Aber die Mehrheit der Arbeiter, die sich einer solchen Perspektive zugewandt hätten, ist in den Fallen des Stalinismus, der vorgab, die Tradition der Weltrevolution zu repräsentieren, gefangen geblieben. Im Namen der Verteidigung des „sozialistischen Vaterlandes" und des Antifaschismus haben die stalinistischen Parteien systematisch die damaligen proletarischen Kämpfe jeglichen Inhalts entleert und sie in eine Unterstützung für die bürgerliche Demokratie umgewandelt, wenn sie nicht gar direkt den Vorbereitungen für den imperialistischen Krieg dienten. Dies war besonders in den Episoden der „Volksfront" in Frankreich und Spanien der Fall, wo der große Kampfgeist der Arbeiter durch den Antifaschismus, der "proletarisch" zu sein vorgab und hauptsächlich von den Stalinisten verbreitet wurde, auf Abwege geleitet und ausgelöscht wurde. Hier haben die stalinistischen Parteien bewiesen, daß sie auch außerhalb der Sowjetunion, wo sie seit Jahren schon die Rolle des Henkers spielten, mit ihrem sozialdemokratischen Meister als Mörder des Proletariats gleichzogen und ihn gar übertrafen (siehe insbesondere ihre Rolle bei der Niederschlagung des Aufstands des Proletariats von Barcelona im Mai 1937, in: „Blei, Maschinengewehre, Gefängnis..." in der INTERNATIONALEN REVUE Nr. 7, engl., franz., span. Ausgabe). In der Zahl der Opfer, für die er weltweit direkt verantwortlich ist, kommt der Stalinismus am Faschismus heran, dieser anderen Manifestation der Konterrevolution. Doch seine anti-proletarische Rolle war bei weitem noch größer gewesen, weil er diese Verbrechen im Namen der kommunistischen Revolution und des Proletariats beging, was in Letzterem einen Rückgang im Klassenbewußtsein ohnegleichen in der Geschichte auslöste.
Während am Ende des ersten imperialistischen Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegsperiode, als sich die Welle der Weltrevolution ausbreitete, der Einfluß der kommunistischen Parteien in direkter Proportion zur Kampfbereitschaft und vor allem zum Bewußtsein der gesamten Arbeiterklasse stand, verläuft die Entwicklung ihres Einflusses seit den 1930er Jahren umgekehrt proportional zum Bewußtsein der Klasse. Zur Zeit ihrer Gründung war es die Stärke der kommunistischen Parteien gewesen, in gewisser Hinsicht ein Gradmesser für die Macht der Revolution zu sein. Aber nachdem sie vom Stalinismus an die Bourgeoisie verkauft worden waren, spiegelte die Stärke der Parteien, die sich weiterhin "kommunistisch" nannten, nur das Ausmaß der Konterrevolution wider.
Aus diesem Grunde war der Stalinismus nie so stark wie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Periode bildete auch den Höhepunkt der Konterrevolution. Insbesondere mit Hilfe der stalinistischen Parteien, derer die Bourgeoisie benötigte, um ein neues imperialistisches Gemetzel zu ermöglichen, und die die besten Rekruteure der Befreiungsbewegungen waren, führte dieses Gemetzel im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg nicht zu einer neuen revolutionären Bewegung des Proletariats. Die Besetzung eines Großteils Europas durch die "Rote Armee" (4) einerseits sowie die Beteiligung stalinistischer Parteien an Regierungen der "Befreiung" andererseits haben jegliche kämpferische Bestrebungen des Proletariats auf seinem eigenen Terrain durch den Terror oder die Mystifikationen zum Schweigen gebracht und in einen Zustand der Verwirrung gestürzt, die noch größer war als am Vorabend des Krieges. Weit entfernt davon, den Boden für die Arbeiterklasse zu bereiten (wie die Trotzkisten vorgaben, um ihre Beteiligung an der "Résistance" zu rechtfertigen), trieb der Sieg der Alliierten, zu dem der Stalinismus in großem Maße beigetragen hat, sie noch tiefer in die absolute Unterwerfung unter die bürgerliche Ideologie. Dieser Sieg, der als der Triumph der "Demokratie" und der "Zivilisation" über die faschistische Barbarei dargestellt wurde, gestattete es der Bourgeoisie, dem Image der demokratischen Illusionen und des Glaubens an einen "humanen" und "zilisierten" Kapitalismus neuen Glanz zu verleihen. So wurde die Nacht der Konterrevolution um Jahrzehnte verlängert.
Es ist übrigens keinesfalls Zufall, daß das Ende dieser Konterrevolution und die historische Wiederbelebung der Kämpfe der Klasse ab 1968 mit einer bedeutsamen Abschwächung des Einflusses des Stalinismus, des Gewichts der Illusionen über den Charakter der UDSSR und der antifaschistischen Mystifikationen im Weltproletariat in seiner Gesamtheit zusammenfällt. Dies wurde besonders in den beiden westlichen Ländern deutlich, wo die stärksten "kommunistischen" Parteien existierten und wo die wichtigsten Kämpfe dieser Wiederbelebung stattfanden: in Frankreich 1968 und in Italien 1969.


Wie die Bourgeoisie aus dem Zusammenbruch des Stalinismus Kapital schlägt

Diese Abschwächung des ideologischen Einflusses des Stalinismus auf die Arbeiterklasse resultiert zu einem Gutteil aus der Erkenntnis der Arbeiter, was wirklich hinter den Ländern steckt, die sich "sozialistisch" nennen. In den vom Stalinismus beherrschten Ländern haben die Arbeiter schnell feststellen können, daß der Stalinismus zu ihren schlimmsten Feinden zählt. Die Arbeiteraufstände in Ostdeutschland 1953, in Polen und in Ungarn 1956 und ihre blutige Niederschlagung haben den Beweis erbracht, daß die Arbeiter in diesen Ländern keine Illusionen über den Stalinismus hatten. Diese Ereignisse (wie auch die bewaffnete Intervention des Warschauer Paktes in der CSSR 1968) haben auch einer gewissen Anzahl von Arbeitern im Westen die Augen über den Charakter des Stalinismus geöffnet, aber noch nicht so stark wie die Arbeiterkämpfe von 1970, 1976 und 1980 in Polen.(5)
Ein anderes Element, das zum Verschleiß der stalinistischen Mystifikationen beigetragen hat, ist die Offenbarung des Scheiterns der "sozialistischen" Ökonomie durch diese Arbeiterkämpfe. Doch in dem Maße wie dieses Scheitern offenbar wurde und sich die stalinistischen Mystifikationen abschwächten, nutzte die westliche Bourgeoisie dies aus, um ihre Kampagnen über die "Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus" zu verbreiten. Auch die demokratischen und gewerkschaftlichen Illusionen, denen die Arbeiter Polens mit voller Wucht ausgesetzt waren, wurden besonders seit der Gründung der Gewerkschaft "Solidarnosc" 1980 weidlich ausgeschlachtet, um ihr Image unter den Arbeitern des Westens aufzuwerten. Vor allem die Stärkung dieser Illusionen, die durch die Repression vom Dezember 1981 und die Illegalisierung von "Solidarnosc" noch größer wurden, erlaubt es, die Konfusionen und den Rückzug der Arbeiterklasse Anfang der 1980er Jahre zu begreifen.
Das Wiederaufkommen einer neuen Welle massiver Kämpfe seit dem Herbst 1983 in den meisten entwickelten Industrieländern und insbesondere in Westeuropa, die Gleichzeitigkeit  dieser Kämpfe auf internationaler Ebene bewiesen, daß die Arbeiterklasse dabei war, sich von dem Gewicht der Illusionen und der Mystifikationen zu befreien, die sie in der vorhergehenden Phase gelähmt hatten. Insbesondere das Übergehen und gar die Ablehnung der Gewerkschaften, die vor allem im Eisenbahnerstreik in Frankreich Ende 1986 und in den Streiks im Erziehungswesen in Italien 1987 deutlich geworden waren, die Errichtung von Eingrenzungsstrukturen durch die Linken in diesen und einigen anderen Ländern, die sich als "nicht-gewerkschaftlich", als "Koordinationen" präsentierten, spiegelten ebenfalls die Schwächung gewerkschaftlicher Mystifikationen wider. Damit einher ging eine Schwächung der parlamentarischen Mystifikationen, die durch die Steigerung der Wahlverweigerung insbesondere in den Arbeitervierteln offensichtlich wurde. Aber heute ist es der Bourgeoisie dank des Zusammenbruchs der stalinistischen Regimes und der damit ausgelösten Medienkampagnen gelungen, diese Tendenz wieder umzukehren, die sich Mitte der 80er Jahre manifestiert hatte.
Wenn schon die Ereignisse in Polen 1980/81 - nicht die Arbeiterkämpfe natürlich, sondern die gewerkschaftlichen und demokratischen Fallen, die sich über sie schlossen (und die Repression, zu der diese Fallen führten) - den Herrschenden ermöglicht hatten, innerhalb des Proletariats der fortgeschritteneren Länder eine beträchtliche Desorientierung hervorzurufen, so kann der allgemeine und historische Untergang des Stalinismus, der sich heute abspielt, nur zu noch größeren Konfusionen führen.
Die heutigen Ereignisse spielen sich auf einer ganz anderen Ebene ab als die von Polen 1980. Hier steht nicht ein einziges Land im Mittelpunkt. Alle Länder eines imperialistischen Blocks sind heute betroffen, angefangen mit dem wichtigsten unter ihnen, der UdSSR. Die stalinistische Propaganda konnte die Kalamitäten des Regimes in Polen als das Ergebnis der "Fehler" Giereks darstellen. Heute denkt niemand, auch nicht die neuen Führer Polens, daran, die Verantwortung für die Schwierigkeiten ihres Regimes auf die Politik der Führer der letzten Jahre zurückzuführen. Laut vielen dieser Führer, insbesondere der ungarischen, sind die ökonomischen Strukturen und die politische Praxis, die die stalinistischen Regimes seit ihrer Geburt kennzeichen, irrsinnig. Solch ein Eingeständnis des Scheiterns durch diese Führer ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Medienkampagnen der westlichen Bourgeoisie.
Der zweite Grund, weshalb die Bourgeoisie in der Lage ist, den Kollaps des Stalinismus und des von ihm beherrschten Blocks so wirksam auszunutzen, liegt in der Tatsache begründet, daß dieser Kollaps nicht das Ergebnis des Klassenkampfes, sondern eines völligen Scheiterns der Ökonomie dieser Länder ist.  Das Proletariat war in diesen grundlegenden Ereignissen, die zur Zeit in den osteuropäischen Ländern stattfindet, als Klasse, als Träger einer dem Kapitalismus entgegengesetzten Politik auf schmerzvolle Weise nicht anwesend. Insbesondere sind die Arbeiterstreiks, die im letzten Sommer in den Bergwerken der UdSSR stattgefunden haben, eher eine Ausnahme und enthüllen mit dem Gewicht der Mystifikationen, das auf sie drückt, die politische Schwäche des Proletariats dieser Länder. Sie waren hauptsächlich eine Folge des Zusammenbruchs des Stalinismus und kein aktiver Faktor in diesem Zusammenbruch. Im übrigen ging es bei den meisten Streiks, die in der letzten Zeit in der UdSSR stattgefunden haben, im Gegensatz zu den Bergarbeiterstreiks nicht um die Verteidigung von Arbeiterinteressen; sie fanden vielmehr auf einem nationalistischen  und damit bürgerlichen Terrain statt (baltische Republiken, Armenien, Aserbaidschan usw.). Auch in den zahllosen Massendemonstrationen, die zur Zeit die Länder Osteuropas, insbesondere die DDR, CSSR und Bulgarien, erschüttern und einige Regierungen zwingen, Säuberungen vorzunehmen, ist nicht einmal der Ansatz auch nur einer einzigen Arbeiterforderung zu sehen. Diese Demonstrationen sind vollständig von typisch und ausschließlich bürgerlichen, demokratischen Forderungen geprägt: „freie Wahlen", "Freiheit", "Rücktritt der KPs von der Macht" usw. Während die Auswirkungen der demokratischen Kampagnen, die während der Ereignisse in Polen 1980-81 stattfanden, etwas durch die Tatsache begrenzt wurden, daß diese Ereignisse ihren Ursprung im Klassenkampf hatten, kann die Abwesenheit eines signifikanten Klassenkampfes in den osteuropäischen Ländern nur die zerstörerischen Auswirkungen der gegenwärtigen Kampagnen der Bourgeoisie verstärken.
Auf einer allgemeineren Ebene, nämlich vor dem Hintergrund des  Zusammenbruchs eines ganzen imperialistischen Blocks, dessen Auswirkungen gewaltig sind, kann die Tatsache, daß dieses bedeutsame geschichtliche Ereignis unabhängig von der Arbeiterklasse stattgefunden hat, nur das Gefühl der Hilf- und Machtlosigkeit innerhalb der Arbeiterklasse verstärken, auch wenn, wie die in dieser Ausgabe veröffentlichten Thesen zeigen,  dieses Ereignis nur geschehen konnte aufgrund des Unvermögens der Bourgeoisie bis heute, die Arbeiterklasse für einen imperialistischen Holocaust zu mobilisieren. Es war der Klassenkampf, der 1917 den Zarismus und dann die Bourgeoisie in Rußland stürzte, danach dem Ersten Weltkrieg ein Ende bereitete und den Untergang des deutschen Kaiserreiches auslöste. Hauptsächlich aus diesem Grund konnte sich auf Weltebene die erste revolutionäre Welle ausbreiten. Demgegenüber bewirkte die Tatsache, daß der Klassenkampf nur ein zweitrangiger Faktor beim Zusammenbruch der "Achsenmächte" und bei der Beendigung des Zweiten Weltkriegs gewesen war, Lähmung und Konfusion in den Reihen des Proletariats nach Kriegsende. Heute, wo der Ostblock unter den Schlägen der Wirtschaftskrise zusammengebrochen ist und nicht unter den Schlägen des Klassenkampfes, verhält es sich nicht anders. Wenn sich die zweite Alternative durchgesetzt hätte, so hätte dies das Selbstvertrauen des Proletariats gestärkt und nicht - wie es heute der Fall ist - geschwächt. Weil der Zusammenbruch des Ostblocks einer Periode des "Kalten Krieges" mit dem westlichen Block folgte, an dessem Ende der Westen als kampfloser "Sieger" dieses "Krieges" erscheint, wird dies darüberhinaus in der Bevölkerung der westlichen Ländern und auch unter den Arbeitern ein Gefühl der Euphorie und des Vertrauens gegenüber ihren Regierungen auslösen, das (auch wenn in einem geringeren Umfang) den Gefühlen der Arbeiter in den Siegerländern nach den beiden Weltkriegen ähnelt, die eine der Ursachen für das Scheitern der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg waren.
Solch eine für das Bewußtsein der Arbeiterklasse katastrophale Euphorie wird natürlich viel begrenzter sein aufgrund der Tatsache, daß die Welt heute nicht aus einem imperialistischen Gemetzel hervorgegangen ist. Jedoch werden die unheilvollen Konsequenzen aus der gegenwärtigen Lage noch durch die Euphorie der Bevölkerung in einer gewissen Anzahl von osteuropäischen Länder verstärkt, die auch auf den Westen ihre Auswirkungen haben werden. So haben nach der Öffnung der Berliner Mauer, das ein Symbol des stalinistischen Terrors par excellence gegen die Bevölkerung der von ihm beherrschten Länder war, die Presse und einige Politiker die Atmosphäre, die in dieser Stadt herrschte, mit der "Befreiung" 1945 verglichen. Dies ist kein Zufall: die Gefühle der Bevölkerung der DDR nach der Öffnung der Mauer waren vergleichbar mit dem Gefühl der Bevölkerung, die jahrelang die Besatzung und den Terror durch Nazi-Deutschland ertragen mußte. Aber wie uns die Geschichte gezeigt hat, gehören diese Gefühle und Emotionen zu den schlimmsten Hindernissen in der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats. Darüberhinaus wird die von den Menschen in Osteuropa empfundene Freude über den Zusammenbruch des Stalinismus und vor allem die damit verbundene Verstärkung der demokratischen Illusionen sich stark niederschlagen, und hat sich bereits niedergeschlagen, auf das Proletariat des Westens und besonders auf das Proletariat Deutschlands, dessen Gewicht innerhalb der Weltproletariats im Hinblick auf die proletarische Revolution besonders groß ist. Ferner muß das Proletariat dieses Landes in der kommenden Periode dem Gewicht der nationalistischen Mystifikationen im Hinblick auf die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands entgegentreten, die - obgleich noch nicht unmittelbar auf der Tagesordnung - diese nur verstärken wird.
Diese nationalistischen Mystifikationen sind bereits sehr stark unter den Arbeitern der meisten osteuropäischen Länder. Sie existieren nicht nur in den verschiedenen Republiken der UdSSR. Sie lasten auch schwer auf den Arbeitern der "Volksdemokratien", insbesondere aufgrund der brutalen Art und Weise, mit der der "Große Bruder" seine imperialistische Herrschaft über sie ausübte. Die blutigen Interventionen der russischen Panzer in der DDR 1953, in Ungarn 1956 und in der CSSR 1968 sowie die regelrechte Ausplünderung, der die Volkswirtschaft dieser "Satelliten"-Länder ausgesetzt waren, haben diesen Mystifikationen neue Nahrung gegeben. Neben den demokratischen und gewerkschaftlichen Illusionen haben sie viel zur Verwirrung der Arbeiter in Polen 1980-81 beigetragen, was die Tür zur Niederschlagung im Dezember 1981 geöffnet hat. Mit dem Auseinanderbrechen des Ostblocks, das wir zur Zeit erleben, werden sie neuen Auftrieb erhalten und die Bewußtwerdung der Arbeiterklasse noch schwieriger gestalten. Diese nationalistischen Mystifikationen werden auch den Arbeitern des Westens zu schaffen machen, nicht zwangsläufig (abgesehen von Deutschland) durch eine Stärkung des Nationalismus in ihren Reihen, sondern durch die Diskreditierung und Entstellung, die in ihrem Bewußtsein die Idee des proletarischen Internationalismus erleidet. In der Tat ist dieser Begriff durch den Stalinismus und im gleichen Atemzug durch alle bürgerlichen Kräfte völlig verfälscht worden, die es mit der imperialistischen Herrschaft der UdSSR über ihren Block identifiziert haben. So wurde 1968 die Intervention der Panzer der Staaten des Warschauer Paktes in der CSSR im Namen des "proletarischen Internationalismus" durchgeführt. Der Zusammenbruch und die Ablehnung des "Internationalismus" stalinistischer Prägung durch die Bevölkerung der osteuropäischen Länder wird einen negativen Einfluß auf das Bewußtsein der Arbeiter des Westens ausüben, und dies umso mehr, als die westliche Bourgeoisie keine Gelegenheit verpassen wird, um dem wirklich proletarischen Internationalismus ihre "internationale Solidarität" entgegenzusetzen, die sie als eine Unterstützung der Volkswirtschaften der in Not geratenen osteuropäischen Länder (wenn es nicht direkt um Aufrufe für Almosen geht) oder der "demokratischen Forderungen" ihrer Bevölkerung versteht, wenn sie mit der brutalen Repression zusammenstößt (man erinnere sich an die Kampagnen über Polen 1981 oder erst kürzlich über China).
In der Tat gilt, und hier kommen wir zum Kern der Kampagnen, die die Bourgeoisie zur Zeit entfacht, ihr ultimatives und fundamentales Ziel der Perspektive der kommunistischen Weltrevolution, die vom Zusammenbruch des Stalinismus in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Internationalismus ist nur ein Element dieser Perspektive. Die alte Leier, die die Medien bis zum Erbechen verbreiten: „Der Kommunismus ist tot, er ist gescheitert", faßt die fundamentale Botschaft zusammen, die die Bourgeois aller Länder den Arbeitern, die sie ausbeuten, indoktrinieren wollen. Und die Lüge, über die bereits in der Vergangenheit, in den schlimmsten Zeiten der Konterrevolution Einmütigkeit bestand unter allen bürgerlichen Kräften - die Identifizierung des Kommunismus mit dem Stalinismus -, wird heute mit derselben Einhelligkeit wieder aufgegriffen. Diese Gleichsetzung hat es der Bourgeoisie in den 30er Jahren gestattet, die Arbeiterklasse für den Stalinismus mobilisieren, um ihre Niederlage zu besiegeln. Heute, wo der Stalinismus in den Augen aller Arbeiter völlig in Verruf geraten ist, dient dieselbe Lüge dazu, sie von der Perspektive des Kommunismus abzubringen.
In den Ländern Osteuropas leidet die Arbeiterklasse schon seit langem unter einer solchen Konfusion: wenn hinter dem Begriff der "Diktatur des Proletariats" der Polizeiterror steckt, wenn "Arbeitermacht" zynische Machtausübung durch Bürokraten bedeutet, wenn "Sozialismus" brutale Ausbeutung, Elend, Mangel und Mißwirtschaft bezeichnet, wenn man in der Schule Zitate von Marx oder Lenin auswendig lernen muß, dann kann man sich von diesen Begriffen nur abwenden. Das heißt, man verwirft die eigentliche Grundlage der historischen Perspektive des Proletariats und weigert sich, die Grundlagentexte der Arbeiterbewegung zu studieren; ja, die Begriffe "Arbeiterbewegung" und "Arbeiterklasse" sind zu Obszönitäten geworden. Vor solch einem Hintergrund ist die Idee einer Revolution des Proletariats selbst vollkommen unglaubwürdig. „Was bringt es, noch einmal wie im Oktober 1917 anzufangen, wenn es schließlich doch nur in einer stalinistischen Barbarei endet?" Solcherlei sind die Gefühle, die heute praktisch unter allen Arbeitern der osteuropäischen Länder herrschen. Heute strebt die Bourgeoisie in den westlichen Ländern mit Hilfe des Niedergangs und der Agonie des Stalinismus an, eine ähnliche Verwirrung unter den Arbeitern des Westens zu stiften. Und der Bankrott des Stalinismus ist so offensichtlich und spektakulär, daß ihr dies zu einem guten Teil gelingt.
So werden all diese Ereignisse in den osteuropäischen Ländern, die ihren Widerhall auf der ganzen Welt finden, noch eine ganze Zeitlang auf negative Weise die Bewußtwerdung der Arbeiterklasse behindern. Kurzfristig wird die Öffnung des "Eisernen Vorhangs", der das Weltproletariat in zwei Teile spaltete, den Arbeitern des Ostens nicht erlauben, von den Erfahrungen ihrer Klassenbrüder in den westlichen Ländern zu profitieren, die diese in ihren Kämpfen angesichts der von der stärksten Bourgeoisie der Welt aufgestellten Fallen und Mystifikationen erlangt haben. Im Gegenteil: die unter den Arbeitern in Osteuropa besonders stark verbreiteten Illusionen über die Demokratie, ihr Glaube an die "Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus" werden sich über den Westen ergießen, wodurch die Errungenschaften der Erfahrungen des Proletariats in diesem Teil der Welt kurzfristig und vorübergehend beeinträchtigt werden. Daher wird die Agonie dieses Instruments par excellence der Konterrevolution, das der Stalinismus gewesen war, heute von der Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse eingesetzt.


Die Perspektiven des Klassenkampfes

Der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes, der im wesentlichen auf das völlige Versagen ihrer Wirtschaft zurückzuführen ist, kann vor dem Hintergrund einer weltweiten Vertiefung der kapitalistischen Wirtschaftskrise dieses Versagen nur verschlimmern. Für die Arbeiterklasse dieser Länder bedeutet dies beispiellose Angriffe und Elend, gar Hungersnöte. Eine solche Situation wird zwangsläufig Wutausbrüche provozieren. Doch der politische und ideologische Kontext ist dergestalt in den osteuropäischen Ländern, daß der Kampfgeist der Arbeiter eine ganze Zeitlang nicht zu einer echten Entwicklung des Bewußtseins führen wird. Das Chaos und die Erschütterungen, die sich im wirtschaftlichen und politischen Bereich verbreiten, die Barbarei und Fäulnis der gesamten kapitalistischen Gesellschaft, die hier auf konzentrierteste und karikativste Weise zum Ausdruck kommen, werden so lange nicht zur Erkenntnis über die Notwendigkeit eines Umsturzes dieses Systems führen, wie solch eine Erkenntnis nicht unter den entscheidenden Bataillonen des Proletariats der großen Arbeiterkonzentrationen des Westens, insbesondere in Westeuropa, herangereift ist.(6)
Wie wir gesehen haben, erfahren bis heute eben diese Sektoren des Weltproletariats mit voller Wucht die Kampagnen der Bourgeoisie und sind durch einen Rückgang ihres Bewußtseins betroffen. Das heißt nicht, daß sie nicht imstande sind, den Kampf gegen die ökonomischen Attacken des Kapitalismus, dessen Weltkrise unumkehrbar ist, aufzunehmen. Es bedeutet vielmehr, daß mehr noch als in den vergangenen Jahren diese Kämpfe eine gewisse Zeitlang von Organen zur Kontrolle der Arbeiterklasse, insbesondere den Gewerkschaften in Schach gehalten werden, wie man bereits in den letzten Kämpfen sehen konnte. Insbesondere die Gewerkschaften werden von der allgemeinen Verstärkung der demokratischen Illusionen profitieren. Sie werden zudem ein Terrain vorfinden, das mit der Verbreitung der reformistischen Ideologie, die auf eine Verstärkung der Illusionen über die  "Überlegenheit des Kapitalismus" über jede andere Gesellschaftsform hinausläuft, viel besser geeignet ist für ihre Manöver.
Doch das Proletariat von heute ist nicht dasselbe wie in den 30er Jahren. Es hat keine Niederlage hinter sich wie jene, die es nach der revolutionären Welle in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkrieges erlitten hatte. Die weltweite Krise des Kapitalismus ist unauflösbar. Sie wird sich noch verschlimmern: nach dem Zusammenbruch der "Dritten Welt" Ende der 70er Jahre, nach der aktuellen Implosion der sog. "sozialistischen" Ökonomien steht als nächstes auf der Liste der Zusammenbruch der höchst entwickelten Länder, die sich bislang zum Teil hatte durchlavieren können, indem sie die schlimmsten Erschütterungen des Systems auf die Peripherie abgewälzt hatten. Die unvermeidliche Offenbarung des völligen Versagens nicht nur eines einzelnen Sektors des Kapitalismus, sondern der gesamten Produktionsweise wird die Grundlagen der Kampagnen der westlichen Bourgeoisie über die "Überlegenheit des Kapitalismus untergraben. Letztendlich wird die Entwicklung des Kampfgeistes der Arbeiter zu einer neuen Entwicklung ihres Bewußtseins führen, die jetzt durch den Zusammenbruch des Stalinismus unterbrochen und konterkariert wird. Es ist Sache der revolutionären Organisationen, zu dieser Entwicklung entschlossen beizutragen, nicht indem wir heute versuchen, die Arbeiter zu trösten, sondern indem wir offenlegen, daß es ungeachtet der Schwierigkeiten keinen anderen Weg  für die Arbeiterklasse gibt als den zur kommunistischen Revolution.

F.M. 25.11.89

 

 (1) Es ist aufschlußreich, daß die "revolutionäre" und "demokratische" französische Bourgeoisie nicht zögerte, die Erklärung der Menschenrechte zu verhöhnen, die sie selbst kurz zuvor verabschiedet hatte (und um die heute so viel Aufhebens gemacht wird), als sie jeglichen Zusammenschluß von Arbeitern untersagte (Gesetz Le Chapelier vom 14. Juni 1791). Dieses Gesetz wurde erst knapp ein Jahrhundert später (1884) abgeschafft.

(2) Die Degeneration und der Verrat gingen nicht ohne den Widerstand der Arbeiterklasse und der bolschewistischen Partei vonstatten. Insbesondere wurde ein Großteil der Militanten und fast alle Führer der Partei aus der Zeit des Oktober 1917 durch den Stalinismus ausgelöscht. Siehe dazu insbesondere „Der Niedergang der russischen Revolution", INTERNATIONALE REVUE, Nr. 2 und „Die Kommunistische Linke in Russland" in INTERNATIONALE REVUE, Nr. 8 + 9 (engl., franz., span. Ausgabe).

(3) In den späten 20er Jahren und die 30er Jahre hindurch hatte die demokratische Bourgeoisie des Westens bei weitem nicht dieselbe Abscheu gegenüber dem "barbarischen" und "totalitären" Stalinismus an den Tag gelegt, die erst mit dem "Kalten Krieg" aufkam und noch heute in diesen Kampagnen zur Schau gestellt wird. Insbesondere unterstützte sie Stalin vorbehaltlos bei dessen Verfolgungen der "Linksopposition" und ihres Hauptführers Trotzki. Für Letztgenannten wurde die Welt nach seiner Ausweisung aus der UdSSR 1928 zu einem „Planeten ohne Visa". Alle "Demokraten" der Welt, an erster Stelle die Sozialdemokraten, die in Deutschland, Großbritannien, Norwegen, Schweden, Belgien und in Frankreich die Regierun g bildeten, stellten erneut ihre widerwärtige Heuchelei unter Beweis, als sie ihre "tugendhaften Prinzipien" wie das "Asylrecht" fallenließen. Diese vornehme Welt hatte auch nichts an den Moskauer Schauprozessen auszusetzen, wo Stalin die alte Garde der bolschewistischen Partei liquidierte, indem er sie des "Hitler-Trotzkismus" bezichtigte. Diese Schöngeister haben gar gesagt, daß es „keinen Rauch ohne Feuer" gebe. (siehe dazu auch WELTREVOLUTION, Nr. 40)

(4) Ein zusätzlicher Beweis dafür, daß die Regimes, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa an die Macht kamen (wie auch das heutige Regime in der UdSSR), nichts mit dem Regime zu tun haben, das in Rußland 1917 die Macht übernahm, liegt in der Rolle begründet, die der imperialistische Krieg bei ihrer Entstehung spielte. Der proletarische Charakter der Oktoberrevolution wird durch die Tatsache veranschaulicht, daß sie gegen den imperialistischen Krieg entstanden ist. Der anti-proletarische und kapitalistische Charakter der "Volksdemokratien" wird von der Tatsache demonstriert, daß sie dank des imperialistischen Kriegs konstituiert wurden.

(5) Dies ist sicherlich nicht der einzige Faktor, der uns erlaubt, den schwindenden Einfluß des Stalinismus in der Arbeiterklasse wie auch die Abschwächung der gesamten bürgerlichen Mystifikationen seit dem Ende des Weltkrieges und dem historischen Wiedererstarken der Arbeiterklasse Ende der 60er Jahre zu erklären. Außerdem spielte der Stalinismus in vielen Ländern (insbesondere in Nordeuropa) seit dem 2. Weltkrieg im Vergleich zur Sozialdemokratie nur noch eine zweitrangige Rolle bei der Kontrolle der Arbeiterklasse. Die Schwächung der antifaschistischen Mystifikationen aufgrund des Fehlens eines faschistischen Schreckgespenstes in den meisten Ländern sowie der schwindende Einfluß der Gewerkschaften (ob sozialdemokratische oder stalinistische) nach all ihrem Mitwirken in der Sabotierung der Kämpfe in den sechziger Jahren erlauben uns ebenfalls, den schwindenden Einfluß sowohl des Stalinismus auch der Sozialdemokratie auf das Proletariat zu erklären. Daher war Letztgenannte in der Lage, auf der historischen Bühne wiederaufzutreten, sobald die ersten Angriffe der offenen Krise losgingen.

    (6) Siehe unsere Analyse zu dieser Frage im Artikel „Das Proletariat Westeuropas im Zentrum der Generalisierung des Klassenkampfes", INTERNATIONALE REVUE, Nr. 31 (engl., franz., span. Ausgabe).

 

Quell-URL: https://de.internationalism.org/die-arbeiterklasse-vor-einer-schwieriger... [10]

Die Dekadenz des Kapitalismus verstehen (Teil 3)

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Die Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats:
Der Klassencharakter der Sozialdemokratie


Die Dekadenz des Kapitalismus begreifen heißt auch, die Besonderheiten der Formen des proletarischen Kampfes in unserem Zeitraum und damit die Unterschiede zu anderen historischen Epochen zu erkennen. Durch das Verständnis dieser Unterschiede wird die Kontinuität deutlich, die sich durch die politischen Organisationen des Proletariats zieht.
Jene, die wie die Groupe Communiste Internationaliste (GCI) die Dekadenz des Kapitalismus ignorieren, ordnen "logischerweise" die Zweite Internationale (1889-1914) und die ihr angehörenden Parteien dem Lager der Bourgeoisie zu. Sie ignorieren somit diese reelle Kontinuität eines grundlegenden Elementes des Klassenbewußtseins.
Wenn wir diese Kontinuität vertreten, kommt es uns nicht darauf an, die Parteien heute zu glorifizieren, die die Zweite Internationale gebildet hatten. Noch weniger erachten wir ihre Praxis als für unsere Epoche gültig. Vor allem geht es uns nicht darum, sich auf das Erbe der reformistischen Fraktion zu berufen, die in den Sozialchauvinismus abglitt und mit dem Ausbruch des Krieges endgültig ins Lager der Bourgeoisie überwechselte. Worauf es uns ankommt, ist zu begreifen, daß die Zweite Internationale und die sie konstituierenden Parteien authentische Ausdrücke des Proletariats in einem Moment der Geschichte der Arbeiterbewegung waren.
Eines ihrer Verdienste, und nicht das geringste, bestand darin, den Klärungsprozeß abzuschließen, der in den letzten Jahren der Ersten Internationalen mit der Eliminierung der Anarchisten begonnen hatte, diesem ideologischen Ausdruck des Zerfallsprozesses der Kleinbourgeoisie und ihrer Proletarisierung, die von einigen Schichten der Handwerker sehr widerwillig akzeptiert worden war.
Die Zweite Internationale stellte sich von Anfang an auf die Grundlagen des Marxismus, den sie in ihr Programm aufnahm.
Es gibt zwei Arten, die Zweite Internationale und die sozialdemokratischen Parteien zu beurteilen: einmal mit der marxistischen, d.h. kritischen Methode, die sie in ihren historischen Zusammenhang einordnet. Die andere Methode ist die des Anarchismus, die ohne kohärente Methode und auf ahistorische Weise sich schlicht damit zufrieden gibt, ihre Existenz in der Arbeiterbewegung zu leugnen oder auszuradieren. Und dies aus gutem Grund!
Die erste Methode wurde stets von der kommunistischen Linke und auch von der IKS benutzt. Die zweite ist die der Unverantwortlichen, die mit einer "revolutionären" Phraseologie, die ebenso leer wie inkohärent ist, mehr schlecht als recht ihren eigenen Charakter und ihre halb-anarchistische Vorgehensweise verstecken wollen. Die GCI verfolgt die zweite Methode.


Ein apokalyptischer Nihilismus

"Vor mir das Chaos". Für jene, die glauben, es gebe keine Zukunft , "no future", erscheint die vergangene Geschichte als unnütz, absurd, widersprüchlich. So viele Bemühungen, soviel Zivilisation, soviel Wissen, nur um zur Perspektive einer hungernden, kranken, durch einen Atomkrieg bedrohten Menschheit zu gelangen. "Nach mir die Sintflut" ... "vor mir das Chaos".
Diese Art "Punk"-Ideologie, die heutzutage vom Kapitalismus in dieser Epoche der fortgeschrittenen Dekadenz hervorgebracht wird, dringt in unterschiedlichem Ausmaß in die gesamte Gesellschaft ein. Selbst die revolutionären Elemente, die eigentlich - per Definition - von der Existenz, wenn nicht gar  von dem unmittelbaren Bevorstehen einer revolutionären Zukunft der Gesellschaft überzeugt sind, erliegen manchmal, wenn sie nur ein geringes politisches Rüstzeug haben, dem Druck dieses "apokalyptischen Nihilismus", wo nichts aus der Vergangenheit mehr einen Sinn hat. Die Idee einer geschichtlichen "Entwicklung" an sich erscheint ihnen als albern. Und die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Bemühungen von anderthalb Jahrhunderten von Generationen von organisierten Revolutionären, um den Kampf ihrer Klasse zu beschleunigen, anzuregen, zu befruchten - all das wird geringgeschätzt, ja, selbst als Mittel zur Konservierung, zur "Selbstregulierung" der existierenden Gesellschaftsordnung betrachtet. Diese Mode, die gelegentlich aufkommt, wird hauptsächlich von Elementen anarchistischer Provenienz oder solchen Elementen getragen, die sich in seine Richtung bewegen.
Seit einigen Jahren spielt die Groupe Communiste Internationaliste (GCI) [1] mehr und mehr diese Rolle. Die GCI ist eine Abspaltung von der IKS (1978), aber die Elemente, die die GCI gründeten, waren, bevor sie sich der IKS anschlossen, selbst aus dem Anarchismus gekommen. Nach einem vorübergehend Flirt mit dem Bordigismus unmittelbar nach dem Bruch mit der IKS hat sich die GCI in Richtung der Kindheitsträumereien einiger ihrer Hauptanstifter, den Anarchismus, zurückentwickelt, mit einigen verzweifelten ahistorischen Hirngespinsten über die ewige Revolte. Aber es handelt sich nicht um einen erklärten, offenen Anarchismus, der in der Lage wäre, zum Beispiel unmißverständlich zu sagen, daß Bakunin und Proudhon inhaltlich gegenüber den Marxisten der damaligen Zeit Recht hatten. Es handelt sich um einen verschämten Anarchismus, der seinen Namen nicht nennen will und seine Thesen mit Hilfe von Zitaten von Marx und Bordiga zu verteidigen sucht. Die GCI hat den "anarcho-bordigistischen Punk" erfunden.
Wie ein Heranwachsender, dem es noch schwer fällt, sich seiner Identität zu bestätigen und mit seinen Eltern zu brechen, geht die GCI davon aus, daß es vor ihr und ihrer Theorie nichts oder fast nichts auf der Welt gab. Lenin? "Seine Theorie vom Imperialismus", behauptet die GCI, "ist nur ein Versuch, den Nationalismus, den Krieg, den Reformismus (...) das Verschwinden des Proletariats als Subjekt der Geschichte in einer anderen Form (der anti-imperialistischen!) zu rechtfertigen" (1). Rosa Luxemburg? Die deutschen Spartakisten? ... "linke Sozialdemokraten". Und die Sozialdemokratie selbst im 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, an deren Gründung sich Marx und Engels beteiligt hatten, aus der nicht nur die Bolschewisten und Spartakisten hervorgegangen waren, sondern auch jene, die später die Kommunistische Linke der Dritten Internationalen (italienische, deutsche, holländische usw.) bildeten? Für die GCI war die Sozialdemokratie (sowie die Zweite Internationale, die sie gründete) "eine durch und durch bürgerliche Organisation". Alle jene, die in der Zweiten Internationalen und später in der Dritten gegen die Reformisten die Unvermeidbarkeit der Dekadenz des Kapitalismus vertraten? "Ob anti-imperialistisch oder luxemburgistisch, die Theorie der Dekadenz ist nichts anderes als eine bürgerliche Wissenschaft, die darauf abzielt, die Schwäche des Proletariats in seinem Kampf ideologisch für eine Welt ohne Werte zu rechtfertigen".
Vor der GCI, so scheint es, wenn man all die angeführten Zitate berücksichtigt, waren die einzigen Revolutionäre Marx und vielleicht Bordiga... obgleich man sich fragen muß, was - der Auffassung der GCI zufolge- denn so revolutionär an den Gründern von "durch und durch bürgerlichen Organisationen" war, wie im Falle von Marx und einem Element wie Bordiga, der erst 1921 mit der italienischen Sozialdemokratie brach!
In der Tat ist für die GCI das Anliegen Nonsens, Kenntnis darüber zu erlangen, welche Organisationen in der Vergangenheit proletarisch waren und worin ihre sukzessiven Beiträge zur kommunistischen Bewegung bestanden. Aus der Sicht der GCI ist die Inanspruchnahme einer politischen, historischen Kontinuität der Organisationen des Proletariats, wie es die kommunistischen Organisationen stets gemacht haben und wie wir es auch tun, ein Einlenken gegenüber einem "Familien"-Geist. Dies ist nur eine Facette ihrer chaotischen Vorstellung über die Geschichte, nur eine der Rosinen aus dem theoretischen Brei, der der GCI als Rahmen für ihre Intervention dienen soll. In den beiden vorhergehenden Artikeln (2), die sich der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und der Kritik der GCI daran widmeten, haben wir einerseits die anarchistische Belanglosigkeit, die sich mit ihrer Ablehnung der Analyse der Dekadenz des Kapitalismus und selbst der Idee einer historischen Evolution hinter dem marxistischen Gerede der GCI versteckt, und andererseits die  politischen Irrwege aufgezeigt, die eindeutig bürgerlichen Positionen - Unterstützung der stalinistischen Guerilla des Leuchtenden Pfads in Peru beispielsweise - , zu der diese Methode oder vielmehr das völlige Fehlen einer Methode führt. Es geht also in diesem Artikel darum, die andere Seite dieser unhistorischen Auffassung zu bekämpfen: die Ablehnung der Notwendigkeit einer jeden revolutionären Organisation, den Rahmen der geschichtlichen Kontinuität mit den kommunistischen Organisationen der Vergangenheit zu begreifen und sich in ihm einzuordnen.


Die Bedeutung der historischen Kontinuität in der kommunistischen Bewegung

In all unseren Veröffentlichungen schreiben wir: "Die IKS beruft sich auf die nacheinander vom Bund der Kommunisten, von der I., II. und II. Internationale sowie den linken Fraktionen, welche aus der letzteren hervorgegangen sind, erbrachten Errungenschaften, insbesondere die der deutschen, holländischen und italienischen Linken." Dies ruft in der GCI Übelkeit hervor.
"Die Kommunisten", schreibt die GCI, "kennen kein Problem der 'Vaterschaft'; die Bindung an eine revolutionäre 'Familie' ist eine Art, die Unpersönlichkeit des Programms zu leugnen. Der Faden der Geschichte, an dem die kommunistische Strömung entlangfließt, ist weniger eine Frage von 'Personen'  denn eine formelle Organisationsfrage; es ist eine praktische Frage, eine Praxis, die mal von diesem Individuum, mal von jener Organisation getragen wird. Lassen wir die senilen Dekadentisten auf der Suche nach ihren Papas über ihren Stammbaum gackern. Befassen wir uns mit der Revolution".
Besessen von den Problemen der "Revolte gegen den Vater", spricht die GCI nur vom "Faden der Geschichte", um daraus eine überirdische Abstraktion zu machen, bar jeder Realität und über "Personen" und "formelle Organisationen" schwebend. Sich die Erfahrung der Geschichte des Proletariats und damit die von ihren politischen Organisationen gezogenen Lehren anzueignen nennt die GCI eine "Suche nach dem Papa". "Befassen wir uns eher mit der Revolution" - setzen sie dem entgegen, aber diese Sätze sind hohle Formulierungen und inkonsequent, wenn man die Bemühungen und die Kontinuität in den Anstrengungen der Organisationen außer Acht läßt, die sich tatsächlich seit mehr als anderthalb Jahrhunderten "mit der Revolution befaßt" haben.
Man untersucht die Gegenwart nicht vom Standpunkt der Vergangenheit aus; man untersucht die Vergangenheit vom Standpunkt der gegenwärtigen und zukünftigen Bedürfnisse der Revolution aus. Doch ohne dieses Verständnis der Geschichte ist man unweigerlich machtlos gegenüber der Zukunft.
Der Kampf für die kommunistische Revolution hat nicht mit der GCI begonnen. Dieser Kampf hat eine lange Vorgeschichte. Und auch wenn sie vor allem von Niederlagen des Proletariats geprägt ist, hat sie jene, die heute wirklich zum revolutionären Kampf beitragen wollen, mit Lektionen, Errungenschaften versorgt, die kostbare und unverzichtbare Instrumente des Kampfes sind. Und es sind gerade die politischen Organisationen des Proletariats, die sich die ganze Geschichte hindurch bemüht haben, diese Lehren zu ziehen und zu formulieren. Dazu aufzurufen, "sich mit der Revolution zu befassen", ohne sich mit den proletarischen politischen Organisationen der Vergangenheit und der Kontinuität ihres Wirkens zu befassen - das ist die Scharlanterie einer mit heißer Nadel gestrickten Revolte. Das Proletariat ist eine historische Klasse, d.h. der Träger einer Zukunft auf historischer Ebene. Es ist eine Klasse, die im Gegensatz zu anderen unterdrückten Klassen, die im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus zerfallen, sich verstärkt, sich weiterentwickelt,  ihre Kräfte bündelt, wobei sie gleichzeitig über Generationen hinweg mittels Tausender von täglichen Widerstandskämpfen und einigen großen revolutionären Anläufen ein Bewußtsein davon entwickelt, was sie ist, was sie kann und was sie will. Die Aktivitäten der revolutionären Organisationen, ihre Debatten, ihre Umgruppierungen wie auch ihre Spaltungen sind ein integraler Bestandteil dieses historischen, seit Babeuf und bis zu seinem endgültigen Triumph ununterbrochenen Kampfes.
Nicht die Kontinuität begreifen, die diese Organisationen durch die ganze Geschichte verbindet, hieße, im Proletariat nur eine Klasse ohne Geschichte, ohne Bewußtsein zu sehen, die allerfalls zur Revolte fähig ist. Dies ist die Sicht der Bourgeoisie auf die Arbeiterklasse. Aber nicht die der Kommunisten! Die GCI sieht ein psychologisches Problem der "Vaterschaft" und "Familienanhänglichkeit"", obgleich es sich in Wirklichkeit um ein Mindestmaß an Bewußtsein handelt, das von einer Organisation verlangt werden kann, die vorgibt, die Rolle einer Avantgarde des Proletariats zu spielen.


Auf welche Kontinuität berufen wir uns?

Die GCI behauptet, sich auf eine Kontinuität der früheren kommunistischen Organisationen zu berufen hieße, die "Unpersönlichkeit des Programms" zu leugnen. Es liegt auf der Hand, daß das kommunistische Programm weder das Werk noch das Eigentum irgendeiner Person, irgendeines Genies ist. Der Marxismus trägt den Namen von Marx, weil damit die Tatsache anerkannt wird, daß er es gewesen war, der die Grundlagen einer wirklich kohärenten proletarischen Konzeption der Welt geschaffen hat. Doch diese Konzeption hörte nicht auf, sich durch den Klassenkampf und durch seine Organisationen seit seinen ersten Formulierungen weiterzuentwickeln. Marx selbst berief sich auf das Werk der Gleichen von Babeuf, die utopischen Sozialisten, die englischen Chartisten usw. und faßte seine Ideen als ein Produkt aus der Entwicklung des reellen Kampfes des Proletariats auf.
Aber so "unpersönlich" es auch sein mag, das kommunistische Programm ist dennoch das Werk menschlicher Wesen, die aus Fleisch und Blut bestehen, von Militanten, die sich in politischen Organisationen sammeln, und es gibt dennoch eine Kontinuität im Wirken dieser Organisationen. In Wahrheit geht es nicht darum zu wissen, ob es eine Kontinuität gibt oder nicht, sondern darum, um welche Kontinuität es sich handelt.
Die GCI gibt zu verstehen, daß die Inanspruchnahme einer Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats auf ein Einverständnis  mit allem, was irgendwer irgendwann in der Arbeiterbewegung geäußerte hatte, hinausläuft, und demonstriert so, daß sie nicht einmal begriffen hat, was sie zu kritisieren vorgibt.
Eine der Hauptbeschuldigungen der GCI gegen jene, die die Idee der kapitalistischen Dekadenz vertreten, lautet, daß letztere "auf diese Weise unkritisch die vergangene Geschichte und insbesondere den sozialdemokratischen Reformismus billigen, was im Handumdrehen damit gerechtfertigt wird, daß letzterer in der 'aufsteigenden Phase des Kapitalismus' stattgefunden habe".
In der bornierten Logik der GCI kann die Akzeptierung einer historischen Kontinuität nur "unkritische Billigung" bedeuten. In Wahrheit hat, was die Organisationen der Vergangenheit anbetrifft, die Geschichte es selbst übernommen, eine schonungslose Kritik zu üben.
Die Kontinuität zwischen den alten und neuen Organisationen wird nicht von irgendeiner Tenden bewahrt. Es war immer die Linke gewesen, die die Kontinuität zwischen den drei politischen, internationalen Hauptorganisationen des Proletariats gewährleistet hat.
Sie haben in Gestalt der marxistischen Strömung die Kontinuität zwischen der Ersten und Zweiten Internationalen gegen proudhonistische, bakunistische, blanquistische und andere korporatistische Strömungen gesichert. Es war ebenfalls die Linke, die, indem sie den Kampf gegen die reformistische Strömung und dann gegen die "Sozialpatrioten" aufnahm, während des Krieges mit der Gründung der Kommunistischen Internationalen die Kontinuität zwischen der Zweiten und Dritten Internationalen sicherstellte. Und es war wieder die Linke, die "Linkskommunisten", die sich die revolutionären Errungenschaften, welche von der sozialdemokratischen und stalinistischen Konterrevolution mit Füßen getreten worden waren, wieder aneignete und weiterentwickelte. Dies erklärt sich aus der schwierigen Existenz politischer Organisationen des Proletariats. Allein die Existenz einer authentischen politischen Organisation des Proletariats stellt einen ständigen Kampf gegen den Druck der herrschenden Klasse dar, einen Druck, der sich materiell - Mangel an finanziellen Quellen, polizeiliche Repression - aber auch und vor allem ideologisch auswirkt. Die vorherrschende Ideologie neigt immer dazu, die Ideologie der ökonomisch herrschenden Klasse zu sein. Die Kommunisten sind Menschen, und ihre Organisationen sind nicht auf wunderbare Weise umempfänglich gegen das Eindringen einer Ideologie, die das gesamte Gesellschaftsleben durchtränkt. Politische Organisationen enden oft, indem sie Verrat begehen und ins gegnerische Lager überlaufen. Allein die Fraktionen der Organisation, die die Stärke besaßen, sich nicht dem Druck der herrschenden Klasse zu fügen - die Linke -, waren imstande, sich den proletarischen Inhalt zu eigen zu machen, den diese Organisationen einst besaßen.
In diesem Sinne bedeutet die Reklamierung einer Kontinuität, die die politischen Organisationen des Proletariats überspannt, die Inanspruchnahme des Vermächtnisses der unterschiedlichen Linksfraktionen, die allein in der Lage waren, diese Kontinuität zu wahren. Sich zu den "sukzessiven Beiträgen des Kommunistischen Bundes, der Ersten, Zweiten und Dritten Internationalen zu bekennen heißt nicht, die Willichs und Schappers im Kommunistischen Bund, die Anarchisten in der Ersten Internationalen, die Reformisten in der Zweiten oder die degenerierten Bolschewiki in der Dritten Internationalen "auf unkritische Weise zu billigen". Im Gegenteil, es heißt, sich zur politischen Auseinandersetzung zu bekennen, die von den allgemeinhin minoritären Linken gegen diese Tendenzen geführt wurde.
Diese Auseinandersetzung wurde jedoch nicht irgendwo geführt. Sie fand statt innerhalb jener Organisationen, die die fortschrittlichsten Elemente der Arbeiterklasse um sich scharten; in proletarischen Organisationen, die trotz all ihrer Schwächen immer eine lebendige Herausforderung der etablierten Ordnung waren. Sie waren nicht die Verkörperung einer unveränderlichen, ewigen Wahrheit, die ein für allemal festgelegt ist - wie die Theorie der Invarianz von KOMMUNISTISCHES PROGRAMM vorgibt, die die GCI von den Bordigisten übernommen hat. Sie waren die konkrete "Avantgarde" des Proletariats als eine revolutionäre Klasse in einem gegebenen Moment der Geschichte und auf einer entsprechenden Entwicklungsstufe ihres Klassenbewußteins gewesen.
Durch Debatten zwischen den Tendenzen von Willich und Marx im Kommunistischen Bund, durch die Konfrontation zwischen Anarchisten und Marxisten in der Ersten Internationalen, zwischen den Reformisten und der internationalistischen Linken in der Zweiten, zwischen den degenerierten Bolschewiki und den Linkskommunisten in der Dritten Internationalen nahmen die ständigen Bemühungen der Arbeiterklasse, politische Waffen für ihren Kampf zu schmieden, erst konkrete Gestalt an. Einen Anspruch auf die politische Kontinuität mit den politischen Organisationen des Proletariats zu erheben bedeutet, sich in eine Reihe mit Tendenzen, die diese Kontinuität übernommen hatten, aber auch mit den Bemühungen an sich zu stellen, die diese Organisationen darstellten.


Der Klassencharakter der Sozialdemokratie an der Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert

Die Hauptbeschuldigung der GCI lautet, die Idee einer Kontinuität mit politischen Organisationen des Proletariats führe dazu, die sozialdemokratischen Parteien und die II. Internationalen als proletarisch anzuerkennen. Für die GCI ist die Sozialdemokratie "im Kern bürgerlich".
Wie wir in den vorausgegangenen Artikeln gesehen haben, greift die GCI dabei die Vorstellung auf, derzufolge die kommunistische Revolution seit den Anfängen den Kapitalismus permanent auf der Tagesordnung gestanden habe: es gebe keine unterschiedlichen Perioden des Kapitalismus. Das proletarische Programm kann demnach auf die eine ewige Forderung reduziert werden: die sofortige Weltrevolution! Gewerkschaften, Parlamentarismus, der Kampf für Reformen seien nie proletarisch gewesen. Folglich konnten die sozialdemokratischen Parteien und die Zweite Internationale, die diese Kampfformen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Aktivitäten gemacht hatten, nichts anderes sein als Instrumente der Bourgeoisie. Die Zweite Internationale zu Engels' Lebzeiten ist also dasselbe wie das Einvernehmen zwischen Mitterand und Felipe Gonzales. Da wir uns in zwei früheren Artikeln lang genug mit ihnen beschäftigt haben, werden wir nicht auf solche Fragen zurückkommen wie die Existenz zweier fundamentaler historischer Epochen im Leben des Kapitalismus oder die zentrale Stellung der Analyse der kapitalistischen Dekadenz im marxistischen Kontext (s. INTERNATIONALE REVUE, Nr. 10, 11). Auch werden wir nicht noch einmal die Frage der Unterschiede aufgreifen, die sich aus dem Epochenwechsel für die Praxis und die Kampfformen der Arbeiterbewegung ergeben.
Ausgehend von der historischen Kontinuität revolutionärer Organisationen wollen wir hier hervorheben, was, unbenommen ihrer den Kampfformen dieser Periode entsprechenden Schwächen und ihrer Degeneration, proletarisch an der Sozialdemokratie war und was sie beigetragen hatte, das revolutionäre Marxisten danach für sich in Anspruch nehmen sollten.
Wie sehen die Kriterien für die Bestimmung des Klassencharakters einer Organisation aus? Es lassen sich drei Hauptkritrerien nennen:
- ihr Programm, d.h. die Definition ihrer Ziele und ihrer Handlungsinstrumente insgesamt;
- die Praxis der Organisation im Klassenkampf;
- schließlich ihre Herkunft und ihre historische Dynamik.
Jedoch bekommen diese Kriterien erst einen Sinn, wenn man die fragliche Organisation zuallererst in die historischen Bedingungen ihrer Existenz einordnet. Und dies nicht nur, weil es unerläßlich ist, die objektiven historischen Bedingungen zu berücksichtigen, um zu bestimmen, wie die Formen und die Sofort-Forderungen des proletarischen Kampfes aussehen und aussehen könnten. Es ist auch unerläßlich, um präsent zu haben, welchen Grad an Bewußtsein die proletarische Klasse in einem gegebenen Moment erreicht hat, um den Bewußtseinsgrad einer bestimmten Organisation zu beurteilen.
Bewußtsein entwickelt sich historisch. Es reicht nicht aus, begriffen zu haben, daß das Proletariat zumindest ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als eine politisch autonome Klasse existiert hat. Es ist ebenso notwendig zu begreifen, daß es seitdem nicht als Mumie, als ausgestopfter Dinosaurier überdauert hat. Sein Klassenbewußtsein, sein historisches Programm hat sich entfaltet, wurde mit jeder Erfahrung reicher und hat sich mit der Reifung der historischen Bedingungen weiterentwickelt. Um den Grad an Bewußtsein zu beurteilen, der sich im Programm einer proletarischen Organisation des 19. Jahrhunderts ausdrückt, wäre es absurd, den Maßstab eines Verständnisses anzulegen, das erst nach Jahrzehnten weiterer Erfahrungen möglich war.
Rufen wir uns schließlich kurz einige Elemente der historischen Bedingungen in Erinnerung, unter denen sich die sozialdemokratischen Parteien im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und bis zum Ausbruch des Weltkrieges gebildet und existiert hatten, dem Augenblick, in dem die Zweite Internationale starb und eine Partei nach der anderen unter der Last des Verrats ihrer opportunistischen Führung auseinanderbrach.


Die Bedingungen des proletarischen Kampfes in der Epoche der Sozialdemokratie

In der starren und statischen Konzeption der GCI, in der der Kapitalismus seit seinen Anfängen "unveränderlich" geblieben ist, erscheint die Epoche Ende des 19. Jahrhunderts identisch mit der aktuellen Epoche. Auch ihre Beurteilung der Sozialdemokratie aus dieser Epoche beschränkt sich auf die Identifizierung derselben mit den heutigen sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien. In Wahrheit ist diese Art von kindischer Projektion, die davon ausgeht, daß mehr, als man selbst weiß, nicht existiert, nichts anderes als eine plumpe Negation der historischen Analyse. Die heutigen Generationen kennen eine Welt, die seit mehr als einem dreiviertel Jahrhundert die schlimmsten Manifestationen der Barbarei in der Geschichte der Menschheit erlebt hat: die Weltkriege. Wenn es keinen Krieg gab, brach eine Wirtschaftskrise über die Gesellschaft herein, mit Ausnahme zweier Perioden der "Prosperität", die sich auf den "Wiederaufbau" nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gründeten. Hinzugefügt werden sollte auch das Aufkommen von lokalen Kriegen in Permanenz in den weniger entwickelten Regionen nach Ende des Zweiten Weltkrieges und die Ausrichtung der gesamten Weltwirtschaft auf im wesentlichen militärische und zerstörerische Ziele.
Der Apparat, der für die Erhaltung dieser dekadenten Ordnung verantwortlich zeichnet, hat seinen Griff auf die Gesellschaft pausenlos verstärkt; die Tendenz zum Staatskapitalismus in all seinen Formen äußert sich in allen Ländern immer mächtiger und allgegenwärtiger in allen Gesellschaftsbereichen und vor allen Dingen in den Klassenbeziehungen. In jedem Land ist der Staatsapparat mit einem ganzen Sortiment von Instrumenten ausgestattet, um die Arbeiterklasse zu kontrollieren, zu kanalisieren und zu atomisieren. Die Gewerkschaften und die Massenparteien sind Teil des Räderwerks in der staatlichen Maschinerie geworden. Das Proletariat kann nur sporadisch seine Existenz als Klasse unter Beweis stellen. Abgesehen von Momenten des sozialen Aufruhrs ist es als kollektiver Körper atomisiert, als ob es aus der zivilisierten Welt ausgestoßen ist.
Ganz anders der Kapitalismus im späten 19. Jahrhundert. Auf ökonomischer Ebene durchschritt die Bourgeoisie die längste und kraftvollste Prosperitätsperiode in ihrer Geschichte. Nach den zyklischen Wachstumskrisen, die das System ungefähr alle zehn Jahre zwischen 1825 und 1873 befielen, erlebte der Kapitalismus bis 1900 fast 30 Jahre eines ununterbrochenen Wohlstandes. Auf militärischer Ebene war die Periode geradezu ausnahmslos: es gab keine größeren Kriege. In dieser Zeit der verhältnismäßig friedlichen Prosperität, schwer vorstellbar für Menschen unserer Epoche, fand der proletarische Kampf in einem politischen Zusammenhang statt, der, obwohl er natürlich im Rahmen der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung blieb, nichtsdestotrotz sehr unterschiedliche Merkmale gegenüber dem 20. Jahrhundert aufwies.
Die Beziehungen zwischen Proletariern und Kapitalisten waren direkt und darüber hinaus zersprengt, weil die meisten Fabriken noch von beschränkter Größe waren. Der Staat griff in diesen Beziehungen nur bei offenen Konflikten ein, die "die öffentliche Ordnung zu gefährden" drohten. In der überwältigenden Mehrheit von Fällen waren Verhandlungen über Löhne und Arbeitsbedingungen eine Angelegenheit, die vom lokalen Kräfteverhältnis zwischen den Bossen (oft Familienunternehmen) und den Arbeitern abhing, die zumeist direkt aus dem Handwerk und der Landwirtschaft kamen. Der Staat hielt sich fern von diesen Verhandlungen.
Der Kapitalismus eroberte den Weltmarkt und verbreitete seine Formen der gesellschaftlichen Organisation in alle Winkel dieser Erde. Die Bourgeoisie brachte die Entwicklung der Produktivkräfte zur Explosion. Mit jedem Tag wurde sie reicher und profitierte sogar von der Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter. Arbeitskämpfe waren oft vom Erfolg gekrönt. Lange, unnachgiebige, selbst isolierte Streiks zwangen die Bosse, die - abgesehen von der Tatsache, daß sie in der Lage waren zu zahlen - den Arbeitern oft zersplittert gegenüberstanden. Die Arbeiter lernten, sich dauerhaft zu vereinen und zu organisieren (wie die Bosse übrigens auch). Ihre Kämpfe rangen der Bourgeoisie das Recht auf die Existenz von Arbeiterorganisationen - Gewerkschaften, politische Parteien, Kooperativen - ab. Das Proletariat bestätigte sich als eine soziale Kraft in der Gesellschaft, selbst außerhalb von Momenten des offenen Kampfes. Die Arbeiterklasse führte ein Leben für sich in der Gesellschaft: es gab die Gewerkschaften (die "Schulen des Kommunismus" waren), aber es gab auch Arbeitervereine, in denen man über Politik reden konnte, "Arbeiteruniversitäten", wo man den Marxismus, aber auch das Lesen und Schreiben erlernen konnte (Rosa Luxemburg und Pannekoek waren Lehrer in der deutschen Sozialdemokratie); es gab Arbeiterlieder und Arbeiterfeste, wo man sang, tanzte und sich über den Kommunismus unterhielt.
Das Proletariat erzwang das allgemeine Wahlrecht und setzte seine Vertretung durch eigene politische Organisationen im bürgerlichen Parlament durch - das Parlament war noch nicht vollständig vom Mystifikationszirkus durchtränkt; die reelle Macht befand sich noch nicht gänzlich in den Händen der Regierungssexekutive. Es gab echte Konfrontationen zwischen den verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen, und dem Proletariat gelang es manchmal, diese Divergenzen  zwischen bürgerlichen Parteien für die Durchsetzung seiner eigenen Interessen zu nutzen. Die Lebensbedingungen der europäischen Arbeiterklasse erfuhren reelle Verbesserungen: Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf bis vierzehn Stunden auf zehn; Verbot von Kinderarbeit und der schweren körperlichen Arbeit für Frauen; eine allgegenwärtige Steigerung des Lebensstandards; Hebung der allgemeinen Kultur. Inflation war unbekannt. Die Konsumgüterpreise fielen mit der Einführung neuer Produktionstechniken. Die Arbeitslosigkeit war auf das Minimum einer Reservearmee an Arbeitskräften reduziert, das ein expandierender Kapitalismus heranziehen konnte, um seine konstant wachsenden Bedürfnisse zu befriedigen. Ein junger beschäftigungsloser Arbeiter von heute mag Schwierigkeiten haben, sich dies vorzustellen, aber dies sollte für jede Organisation klar sein, die für sich in Anspruch nimmt, marxistisch zu sein.


Sozialdemokratie ist nicht gleich Reformismus

Die sozialdemokratischen Arbeiterparteien und "ihre" Gewerkschaften waren Produkt und Instrument der Kämpfe dieser Epoche. Im Gegensatz zu dem, was die GCI andeutet, waren die Gewerkschaft und der politische Kampf im Parlament in den 1870er Jahren keine "Erfindung" der Sozialdemokratie. Von den ersten Artikulationen des Proletariats als Klasse an, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat sich der Kampf für das Bestehen von Gewerkschaften oder für das allgemeine Wahlrecht (insbesondere die Chartisten in England) in der Arbeiterklasse entwickelt. Die Sozialdemokratie entwickelte und organisierte lediglich eine Bewegung, die schon vor ihr existiert und sich unabhängig von ihr entwickelt hatte. Für das Proletariat war die Frage damals wie heute dieselbe: wie bekämpft man die Ausbeutung, in der man sich befindet? Und zu dieser Zeit waren der gewerkschaftlich und politisch-parlamentarische Kampf durchaus effektive Mittel des Widerstandes. Sie im Namen der "Revolution" abzulehnen hieße, eine ganz reelle Bewegung und den einzigen Weg zur Revolution, der zu dieser Zeit möglich war, zu ignorieren und abzulehnen. Die Arbeiterklasse mußte ihn benutzen, um ihre Ausbeutung zu begrenzen, aber auch um sich bewußt über sich selbst und ihre Existenz als autonome und vereinte Kraft zu werden.
"Die große sozialistische Bedeutung des gewerkschaftlichen und politischen Kampfes besteht darin, daß sie die Erkenntnis, das Bewußtsein der Arbeiterklasse sozialisieren."  (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, Ges. Werke, Bd.1/1, S. 402)
Das war das "Minimalprogramm". Aber es war begleitet von einem "Maximalprogramm", das von der Klasse ausgeführt werden sollte, wenn sie einst fähig geworden ist, ihren Kampf gegen Ausbeutung bis zum Äußersten zu führen: die Revolution. Rosa Luxemburg drückte die Verknüpfung zwischen diesen beiden Programmen so aus:
"In der parteiüblichen Auffassung führt man das Proletariat durch den gewerkschaftlichen und politischen Kampf zu der Überzeugung von der Unmöglichkeit, seine Lage gründlich durch diesen Kampf aufzubessern, und von der Unvermeidlichkeit einer endgültigen Besitzergreifung der politischen Machtmittel." (ebenda, S. 401)
Dies war das Programm der Sozialdemokratie.
Im Gegensatz definierte sich der Reformismus durch seine Verneinung der Idee von der Notwendigkeit der Revolution. Er hielt allein den Kampf für Reformen innerhalb des Systems für sinnvoll. Und die Sozialdemokratie gründete sich im Widerspruch sowohl zu den Anarchisten - die glaubten, die Revolution sei zu jeder Zeit möglich - als auch zu den Pragmatikern und ihrem Reformismus, die annahmen, der Kapitalismus sei ewig. Hier ein Beispiel, wie die französische Arbeiterpartei ihr Wahlprogramm 1880 vorstellte:
"In Erwägung,
... daß die kollektive Aneignung nur von einer revolutionären Aktion der Klasse der Produzenten - dem Proletariat -, in einer selbständigen politischen Partei organisiert, ausgehen kann;
- daß eine solche Organisation mit allen Mitteln, über die das Proletariat verfügt, angestrebt werden muß, einschließlich des allgemeinen Wahlrechts, das so aus einem Instrument des Betrugs, das es bisher gewesen ist, in ein Instrument der Emanzipation umgewandelt wird,
haben die französischen sozialistischen Arbeiter, die sich auf wirtschaftlichem Gebiet die Rückkehr aller Produktionsmittel in Kollektiveigentum zum Ziel ihrer Anstrengungen gesetzt haben, als Mittel der Organisation und des Kampfes beschlossen, mit folgendem Minimalprogramm in die Wahlen zu gehen…"
(Einleitung zum Programm der französischen Arbeiterpartei, Mai 1880, erschienen in L'Egalité, Nr. 24, 30.6.1880, in: MEW, Bd. 19, S. 238)
Dieses Programm wurde von Karl Marx geschrieben.
Wie groß auch immer das Gewicht des Opportunismus gegenüber dem Reformismus innerhalb der sozialdemokratiscnen Parteien war, ihr Programm lehnte ihn ausdrücklich ab. Das Maximalprogramm der sozialdemokratischen Parteien war die Revolution; der gewerkschaftliche und parlamentarische Kampf war im wesentlichen das praktische Mittel, angepaßt an die Möglichkeiten und Forderungen der Epoche, um die Verwirklichung dieses Ziels vorzubereiten.


Die Errungenschaften der Zweiten Internationalen

Die Aneignung des Marxismus
Natürlich erkennt die GCI keinen Beitrag  all dieser "im Kern bürgerlichen" Organisationen für die Arbeiterbewegung an. "Zwischen der Sozialdemokratie und dem Kommunismus", so sagen sie, "gibt es dieselbe Klassengrenze wie zwischen Bourgeoisie und Proletariat."
Die Ablehnung der Sozialdemokratie und der Zweiten Internationalen des 19.Jahrhunderts ist nichts Neues. Die Anarchisten haben immer so verfahren. Was daran relativ neu ist, ist, dies zu tun und dabei Marx und Engels für sich zu reklamieren, aus Sorge um die elterliche Gewalt vielleicht...
Das Problem ist, daß die Aneignung marxistischer Konzeptionen und die ausdrückliche Ablehnung des Anarchismus zweifellos die Haupterrungenschaft der Zweiten Internationalen im Verhältnis zur Ersten Internationalen bildet. In der 1864 gegründeten Ersten Internationalen versammelten sich besonders in den Anfängen alle Arten von politischen Tendenzen: Mazzinisten, Proudhonisten, Bakunisten, Blanquisten, britische Gewerkschafter usw. Die Marxisten waren lediglich eine winzige Minderheit (das Gewicht der Persönlichkeit von Marx innerhalb des Generalrates sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen). Es gab nur einen Marxisten, Frankel, in der Pariser Kommune, und der war Ungar.
Im Gegensatz dazu fußte die Zweite Internationale mit Engels von Anfang an auf der Grundlage marxistischer Konzeptionen. Dies wurde ausdrücklich auf dem Erfurter Kongreß 1891 anerkannt.
In Deutschland wurde schon früh, 1869, in Eisenach die sozialdemokratische Partei von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründet, nachdem sie sich von Lassalles Organisation (der Allgemeinen Arbeiter Assoziation der deutschen Arbeiter) gespalten hat. Nach der Wiedervereinigung beider Parteien 1875 befanden sich die Marxisten in der Mehrheit, aber das verabschiedete Programm war derart voll von Konzessionen an die Lassalleanischen Konzepte, daß Marx in einem Begleitbrief zu seiner berühmten "Kritik am Gothaer Programm" schrieb:
"Nach abgehaltnem Koalitionskongreß werden Engels und ich nämlich eine kurze Erklärung veröffentlichen, des Inhalts, daß wir besagtem Prinzipienprogramm durchaus fernstehn und nichts damit zu tun haben." Er fügte hinzu: "Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme." (Brief an W. Bracke, 5. 5. 1875, MEW 19, S. 13).
Fünfzehn Jahre später wurde sein Vertrauen in die reelle Bewegung durch die Aneignung marxistischer Konzeptionen durch die Zweite Internationale von ihrer Gründung an gerechtfertigt.
Dies war ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der Arbeiterbewegung.
Die GCI erinnert uns daran, daß Marx und Engels den Begriff "Sozialdemokratie" ablehnten, der in Wirklichkeit die Lassalleanischen Schwächen der deutschen Partei widerspiegle: "Man wird bemerken, daß in allen diesen Aufsätzen und namentlich in diesem letzteren ich mich durchweg nicht einen Sozialdemokraten nenne, sondern einen Kommunisten (...) Für Marx und mich war es daher rein unmöglich, zur Bezeichnung unseres speziellen Standpunkts einen Ausdruck von solcher Dehnbarkeit zu wählen." (Engels, Vorwort zur Broschüre "Internationales aus dem 'Volksstaat'", 3.1.1894, MEW Bd. 22, S. 417)
Die GCI "vergißt" jedoch zu erwähnen, daß die Marxisten daraus nicht den Schluß zogen, mit der Partei zu brechen, sondern daß sie sich damit abfanden und eine inhaltliche Auseinandersetzung führten. So präzisierte Engels: "Heute ist das anders, und so mag das Wort passieren, so unpassend es bleibt für eine Partei, deren ökonomisches Programm nicht bloß allgemein sozialistisch, sondern direkt kommunistisch, und deren politisches letztes Endziel die Überwindung des ganzen Staates, also auch der Demokratie ist." (ebenda, S. 402).
Die Aneignung der grundsätzlichen Konzepte des Marxismus durch die Internationale war kein Geschenk des Himmels, sondern eine Errungenschaft, die dank der fortschrittlichsten Elemente erzielt wurde.

Die Unterscheidung zwischen proletarischen Einheitsorganisationen und politischen Organisationen des Proletariats
Ein anderer wichtiger Beitrag der Zweiten Internationalen im Vergleich zur Ersten war die Unterscheidung zwischen zwei gesonderten Organisationsformen. Auf der einen Seite die Einheitsorganisationen, die die Proletarier auf der Grundlage ihrer Klassenzugehörigkeit um sich sammeln (Gewerkschaften und später die Sowjets bzw. Arbeiterräte); auf der anderen Seite die politischen Organisationen, die die Militanten auf der Basis einer präzisen, politischen Plattform um sich sammeln.
Besonders in ihren Anfängen sammelte die Erste Internationale sowohl Individuen als auch Kooperativen, Solidargemeinschaften, Gewerkschaften und politische Vereine um sich. Was bedeutete, daß sie als Organ nie wirklich ihren Aufgaben gerecht wurde, weder der Aufgabe klarer politischer Orientierung noch der Aufgabe der Vereinigung der Proletarier.
Es war daher ganz natürlich, daß die Anarchisten, die sowohl den Marxismus als auch die Notwendigkeit einer politischen Organisation ablehnen, die Zweite Internationale von Anbeginn bekämpften. Im übrigen: viele anarchistische Strömungen berufen sich auch heute noch auf die IAA (Internationale Arbeiter Assoziation).
Auch hier kommt nichts Neues von der GCI, sie bleibt unverändert... anarchistisch.

Warum und wie die Revolutionäre innerhalb der Zweiten Internationalen kämpften
Bedeutet dies, daß die Sozialdemokratie und die Zweite Internationale perfekte Verkörperungen einer Organisation der proletarischen Avantgarde waren? Natürlich nicht.
Der Gothaer Kongreß wurde vier Jahre nach der Niederschlagungung der Kommune abgehalten; die Zweite Internationale wurde nach fast 20 Jahren ununterbrochene kapitalistischer Prosperität gegründet, angestoßen von Streiks, die nicht von einer sich verschlimmernden Ausbeutung infolge einer Wirtschaftskrise ausgelöst wurden, sondern von eben jener Prosperität, die das Proletariat in eine Lage relativer Stärke versetzte. Der Abstand zwischen den zyklischen Krisen des Kapitalismus und der Fortschritt bei den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse durch den gewerkschaftlichen und parlamentarischen Kampf erzeugten zwangsläufig Illusionen unter den Arbeitern und selbst in ihrer Avantgarde.
In der marxistischen Auffassung kann der Ausbruch der Revolution nur durch eine gewaltsame Wirtschaftskrise ausgelöst werden. Je länger die Periode der Prosperität anhielt, desto mehr schien die Wahrscheinlichkeit solch einer Krise zurückzuweichen. Auch der Erfolg des Kampfes für Reformen verlieh der reformistischen Idee Auftrieb, daß die Revolution unnütz und unmöglich sei. Die Tatsache, daß die Resultate des Kampfes im Kern von den herrschenden Kräfteverhältnissenwesentlich auf der Ebene des Nationalstaates abhingen und nicht vom internationalen Kräfteverhältnis - wie dies für den revolutionären Kampf der Fall ist -, beschränkte in steigendem Maße die Kampforganisation auf einen nationalen Rahmen, während internationalistische Konzeptionen und Aufgaben oft in den Hintergrund gedrängt oder auf unbestimmte Zeit vertagt wurden.
1898, sieben Jahre nach dem Erfurt Parteitag, stellte Bernstein in der Internationalen offen die marxistische Theorie von der Krise und der Unvermeidbarkeit des ökonomischen Zusammenbruchs des Kapitalismus (den auch die GCI leugnet) in Frage: nur der Kampf für Reformen sei lebensfähig. "Das Ziel ist nichts, die Bewegung ist alles".
Die parlamentarischen Fraktionen der Parteien haben sich häufig allzu leicht in den Netzen des bürgerlich-demokratischen Spiels verheddert, während die Gewerkschaftsführer dazu neigten, zu "verständnisvoll" gegenüber den Erfordernissen der kapitalistischen Nationalökonomie zu sein. Das Ausmaß der Auseinandersetzung, die Marx und Engels in der entstehenden Sozialdemokratie  gegen die Tendenzen geführt hatten, die versöhnlerisch gegenüber dem Reformismus waren, der Kampf Luxemburgs, Pannekoeks, Gorters, Lenins, Trotzkis in der degenerierenden Sozialdemokratie sind Beweis genug für das Gewicht, das diese Form der bürgerlichen Ideologie innerhalb der proletarischen Organisationen besaß... Doch das Gewicht des Reformismus in der Zweiten Internationalen macht letztere genausowenig zu einem bürgerlichen Organ, wie der proudhonistische Reformismus die IAA zu einem Instrument des Kapitals machte.
Die politischen Organisationen des Proletariats haben nie einen monolithischen Block identischer Konzeptionen gebildet. Überdies befanden sich die fortgeschrittensten Elemente häufig in der Minderheit - worauf wir an früherer Stelle hingewiesen hatten. Doch die Minderheiten, die von Marx und Engels bis hin zu den Linkskommunisten in den 1930er Jahren reichen, wußten, daß das Leben politischer Organisationen des Proletariats nicht nur vom Kampf gegen den Feind auf der Straße und an den Arbeitsstätten abhängt, sondern auch vom permanenten Kampf gegen den - stets präsenten - bürgerlichen Einfluß in diesen Organisationen.
Für die GCI war diese Art der Auseinandersetzung Unsinn, eine Hilfestellung für die Konterrevolution.
"Die Präsenz marxistischer Revolutionäre (Pannekoek, Gorter, Lenin...) in der II. Internationalen bedeutete nicht, daß letztere die Interessen des Proletariats vertraten (ob die 'unmittelbaren' oder die 'historischen'), sondern halfen - mangels einer Spaltung - mit, die ganzen konterrevolutionären Aktivitäten der Sozialdemokratie gutzuheißen."
Nur beiläufig sei bemerkt, daß hier Pannekoek, Gorter und Lenin - diese Linke einer Organisation, die durch eine 'Klassengrenze' vom Kommunismus getrennt ist - von der GCI in den Rang "marxistischer Revolutionäre" gehoben werden. Vielen Dank dafür. Aber indem sie das tut, gibt die GCI uns zu verstehen, daß Organisationen, deren "Klassencharakter im Kern bürgerlich" ist, einen linken Flügel besitzen können, der sich aus authentischen "revolutionären Marxisten" zusammensetzt... und das jahrzehntelang! Es handelt sich hier vermutlich um dieselbe "Dialektik", die die GCI zur Annahme führt, daß der linke Flügel des lateinamerikanischen Stalinismus (die Maoisten vom "Leuchtenden Pfad" in Peru) in diesen Ländern eine "einzigartige Struktur besitzt, die imstande ist, der stetig wachsenden Zahl an direkten Aktionen des Proletariats einen Zusammenhalt zu verschaffen".
Ob es unseren Punk-Dialektikern gefällt oder nicht, der maoistische Stalinismus Perus besitzt ebensowenig eine "Struktur, die imstande ist, einen Zusammenhalt zu verschaffen", wie die "marxistischen Revolutionäre" in der Zweiten Internationalen den "konterrevolutionäre Praktiken Rückendeckung verschafften".
Das Proletariat bereitet sich heute aufeine entscheidende Schlacht mit dem kapitalistischen System vor, dem es nicht gelingt, die offene Krise zu überwinden, von der es seit mittlerweile fast fünfundzwanzig Jahren, seit dem Ende der Wiederaufbauperiode Ende der 1960er Jahre, befallen ist.
Marx und Engels, Rosa und Lenin, Pannekoek und Gorter waren nicht wirre Schwachköpfe, die dachten, sie könnten als Militante für die Revolution kämpfen und bürgerliche Organisationen mit Leben erfüllen. Sie waren Revolutionäre, die im Gegensatz zu den Anarchisten - und zur GCI - um die konkreten Bedingungen des Arbeiterkampfes entsprechend der historischen Periode des Systems wußten.
Man mag kritisieren, daß Lenin spät sich das Ausmaß der opportunistischen Krankheit in der Zweiten Internationalen vergegenwärtigt hat; man mag Rosa Luxemburgs Unfähigkeit kritisieren, die organisatorische Arbeit der Fraktion in der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende wirklich zu leiten, aber man kann nicht den Klassencharakter des Kampfes, den sie führten, leugnen.
Wir sollten vielmehr die Klarheit von Rosa Luxemburg Ende des 19. Jahrhunderts, als sie schonungslos die in der Zweiten Internationalen entstehende revisionistische Strömung kritisierte, und die Fähigkeit der Bolschewiki begrüßen, sich als unabhängige Fraktion mit ihren eigenen Interventionsmitteln in der russischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu organisieren. Deshalb waren sie die Avantgarde des Proletariats in der revolutionären Kämpfe am Ende des Ersten Weltkriegs.
Glaubt die GCI tatsächlich, daß es Zufall ist, wenn jene, die sie gelegentlich "marxistische Revolutionäre" nennt, aus der Sozialdemokratie stammen und nicht aus dem Anarchismus oder aus anderen Strömungen? Es ist unmöglich, diese elementare Frage zu beantworten, ohne die Wichtigkeit der Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats zu verstehen. Und sie kann nicht begriffen werden, ohne die Analyse der kapitalistischen Dekadenz zu verstehen.
Die ganze Geschichte der Zweiten Internationalen kann nur dann als sinnloses Chaos erscheinen, wenn wir nicht im Kopf haben, daß sie in der Übergangsperiode zwischen der historischen Epoche des Aufstiegs des Kapitalismus und jener seiner Dekadenz existiert hatte.


Schlussfolgerung

Heute bereitet sich das Proletariat darauf vor, eine entscheidende Schlacht gegen einen Kapitalismus zu führen, der nicht länger imstande ist, der offenen Krise zu entkommen, die seit über zwanzig Jahren, seit dem Ende der Wiederaufbauperiode in den späten 1960er Jahren, andauert.
Es tritt relativ frei von den Mystifikationen in den Kampf, mit denen die stalinistische Konterrevolution es 40 Jahre lang beeinflußt hatte; in jenen Ländern mit einer alten Tradition der bürgerlichen Demokratie hat es viele seiner Illusionen über den gewerkschaftlichen und den parlamentarischen Kampf verloren, während es in den weniger entwickelten Ländern seine Illusionen über den anti-imperialistischen Nationalismus verloren hat.
Jedoch ist es den Proletariern, auch wenn sie sich von diesen Illusionen freigemacht haben, noch nicht gelungen, sich all die Lehren der Kämpfe der Vergangenheit wieder anzueignen.
Die Aufgabe der Kommunisten ist es nicht, die Arbeiterklasse zu organisieren - wie dies die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert tat. Der Beitrag der Kommunisten zum Arbeiterkampf liegt wesentlich auf der Ebene der bewußten Praxis, der Praxis des Kampfes. Auf dieser Ebene tragen sie nicht soviel durch die Antworten bei, sondern durch die Art und Weise, wie sie die Probleme in Betracht ziehen und stellen. Es ist eine Weltanschauung und eine praktische Haltung, die stets die globalen und historischen Dimensionen jeder Frage, auf die der Kampf stößt, in den Vordergrund stellt.
Jene wie die GCI, die die historische Dimension des Arbeiterkampfes ignorieren, indem sie die unterschiedlichen Phasen der kapitalistischen Realität leugnen, indem sie die reelle Kontinuität der politischen Organisationen des Proletariats abstreiten, entwaffnen das Proletariat in einem Augenblick, wo es der Wiederaneignung seiner eigenen Weltanschauung besonders bedarf.
Es reicht nicht aus, "für Gewalt", "gegen die bürgerliche Demokratie" zu sein, um jederzeit Perspektiven im Klassenkampf zu entdecken und zu skizzieren. Weit gefehlt. Illusionen diesbezüglich zu pflegen ist gefährlich und kriminell.

RV

    1) Alle Zitate der GCI sind, soweit nicht anders angegeben, aus den Artikeln "Théories de la décadence, décadence de la théorie" entnommen, veröffentlicht in: LE COMMUNISTE, Nr. 23 und 25 (Nov. 1985 und 1986) und von uns übersetzt.
    2) Siehe INTERNATIONALE REVUE, Nr. 10 und 11
    3) In Wahrheit ist dies die alte Leier der Modernisten und "verschämten" Anarchisten, besonders seit 1968.
Quell-URL: https://de.internationalism.org/ir/12/1990_poldekadenz03 [11]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Dekadenz des Kapitalismus [12]

Die russische Erfahrung: Privateigentum und Gemeineigentum (Internationalisme, 1946)

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Einleitung


Den Artikel, den wir hier wiederveröffentlichen, wurde von der Gruppe "Kommunistische Linke Frankreichs" (GCF) in der Zeitschrift INTERNATIONALISME, Nr. 10 im Mai 1946, veröffentlicht. INTERNATIONALISME faßte sich als Fortsetzung von BILAN und OCTOBRE auf, die von der internationalen kommunistischen Linken vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veröffentlicht worden waren. Doch INTERNATIONALISME ist keine simple Fortsetzung von BILAN; sie geht vielmehr über letztere hinaus.
Die russische Frage stand Anfang der 30er Jahre im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen und Diskussionen im politischen Milieu des Proletariats, und diese Debatte intensivierten sich noch während des Kriegs und in den ersten Nachkriegsjahren. Grob gesagt, schälten sich vier voneinander abweichende Analysen in diesen Debatten heraus:
1) Jene, die den proletarischen Charakter der Oktoberrevolution 1917 wie auch der bolschewistischen Partei leugneten und für die die russische Revolution lediglich eine bürgerliche Revolution war. Die Hauptvertreter dieser Analyse waren Gruppen, die sich auf die rätekommunistische Bewegung beriefen, insbesondere auf Pannekoek und die holländische Linke.
2) Am anderen Ende finden wir die Linksopposition Trotzkis, aus deren Sicht Rußland trotz der konterrevolutionären Politik des Stalinismus die Haupterrungenschaften der proletarischen Oktoberrevolution behütet: Enteignung der Bourgeoisie, Verstaatlichung und Planwirtschaft, Außenhandelsmonopol. Folglich bleibe das Regime in Rußland ein degenerierter Arbeiterstaat und müsse als solcher jedesmal verteidigt werden, wenn er in einen bewaffneten Konflikt mit anderen Mächten gerät. Es sei die Pflicht des russischen und des Weltproletariats, ihn bedingungslos zu verteidigen.
3) Eine dritte, gegen diese bedingungslose Verteidigung gerichtete Position stützte sich auf eine Analyse, derzufolge das Regime in Rußland, ähnlich wie sein Staat,  "weder kapitalistisch noch proletarisch" sei, sondern ein "kollektivistisches, bürokratisches Regime". Diese Analyse wollte eine Ergänzung zur marxistischen Alternative - kapitalistische Barbarei oder proletarische Revolution für eine sozialistische Gesellschaft - sein. Jetzt sollte ein dritter Weg hinzukommen, eine neue Gesellschaft, die vom Marxismus nicht vorhergesehen worden sei, die antikapitalistische, bürokratische Gesellschaft (1). Diese dritte Strömung fand ihre Anhänger in den Reihen der Trotzkisten vor und während des Krieges, die 1948 mit dem Trotzkismus brachen, um die Gruppe "Socialisme ou Barbarie" unter der Führung von Castoriadis alias "Chaulieu" (2) zu gründen.
4) Die italienische Faktion der internationalen kommunistischen Linken bekämpfte energisch die abwegige Theorie einer "dritten Alternative", die eine "Korrektur", eine "Erneuerung" des Marxismus zu liefern vorgab. Aber weil sie keine eigene zutreffende Analyse der Wirklichkeit des dekadenten Kapitalismus anbieten konnte, zog sie es vor, auf dem festen Boden der klassischen Formel zu verbleiben: Kapitalismus = Privateigentum; Einschränkung des Privateigentums = Marsch in den Sozialismus, was sich hinsichtlich des russischen Regimes in einer anderen Formel ausdrückte: Fortbestehen des degenerierten Arbeiterstaates mit einer konterrevolutionären Politik und Nicht-Verteidigung Rußlands im Kriegsfall.
Diese widersprüchliche, hybride Formel, die allen möglichen gefährlichen Konfusionen Tür und Tor öffnete, hatte schon am Vorabend des Krieges große Kritik innerhalb der italienischen Fraktion hervorgerufen, aber diese Kritik war durch eine noch dringendere Frage verdrängt worden, nämlich die Perspektive des Ausbruchs des allgemeinen imperialistischen Kriegs, die von der Führung der Fraktion abgestritten wurde (Vercesi-Tendenz).
Die Diskussion über den Klassencharakter des stalinistischen Rußlands wurde während des Krieges von der italienischen Fraktion wiederaufgegriffen, die sich 1940 in Südfrankreich rekonstituiert hatte (diese Rekonstitution fand ohne die Vercesi-Tendenz statt, die - im Namen der Theorie des Verschwindens der Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft in diesem Krieg - jede Möglichkeit der Existenz und des Lebens einer revolutionären Organisation bestritt). Diese Diskussion hat schnell kategorisch alle Zweideutigkeiten und Scheinbeweise verworfen, die in der Position über den degenerierten Arbeiterstaates enthalten waren, welche von der Fraktion vor dem Krieg vertreten wurde, und sie hat dies mit ihrer Analyse des stalinistischen  Staates als Produkt des Staatskapitalismus klar dargelegt. (3)
Doch es war vor allem die GCF, die ab 1945 in ihrer Zeitschrift INTERNATIONALISME den Begriff des Staatskapitalismus in Rußland vertiefte und erweiterte, indem sie ihn in die globale Sichtweise einer allgemeinen Tendenz des Kapitalismus in seiner Dekadenzperiode integrierte.
Der Text, den wir nun wiederveröffentlichen, gehört zu den zahlreichen Texten von INTERNATIONALISME, die sich den Problemen des Staatskapitalismus widmeten. Der Artikel hat die Frage längst nicht erschöpfend behandelt, aber mit seiner Veröffentlichung wollen wir, neben seiner unbestrittenen Bedeutung, die Kontinuität und die Entwicklung der Ideenwelt und der Theorie in der Bewegung der internationalen kommunistischen Linke aufzeigen, auf die wir uns berufen.
INTERNATIONALISME machte endgültig Schluß mit dem "Mysterium" des stalinistischen Staates in Rußland, indem sie die allgemeine historische Tendenz zum Staatskapitalismus herausgestellte, dessen Bestandteil der stalinistische Staat war. Es zeigte ebenso die Besonderheiten des russischen Staatskapitalismus auf, die, weit entfernt davon, Ausdruck "eines Übergangs von der formellen Herrschaft zur reellen Herrschaft des Kapitalismus" zu sein, wie es dummerweise unsere Dissidenten von der EFIKS tun, ihre Ursachen in der Tatsache haben, daß sie aus dem Tiumph der stalinistischen Konterrevolution hervorgegangen waren, nachdem die Oktoberrevolution die alte bürgerliche Klasse vernichtet hatte.
Aber INTERNATIONALISME hatte nicht die Zeit, ihre Analyse des Staatskapitalismus weiter voranzutreiben und insbesondere die objektiven Grenzen dieser Tendenz aufzuzeigen. Obgleich INTERNATIONALISME schrieb: "Die ökonomische Tendenz zum Staatskapitalismus, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft nicht in einer Vergesellschaftung und Kollektivierung zum Abschluß gelangen kann, bleibt dennoch eine sehr reelle Tendenz..." (INTERNATIONALISME, Nr. 9), hat sie die Analyse der Gründe, der Grenzen nicht vorangetrieben, die diese Tendenz daran hindern, "zum Abchluß zu kommen". Es blieb der IKS vorbehalten, diese Frage innerhalb des von INTERNATIONALISME skizzierten Rahmens anzugehen.
Es ist an uns zu demonstrieren, daß der Staatskapitalismus, weit entfernt davon, die unüberwindbaren Widersprüche der Dekadenzperiode zu lösen, nur noch neue Widersprüche hinzufügt, neue Faktoren, die die Lage des Weltkapitalismus letztlich verschlechtern. Einer dieser Faktoren ist die Schaffung einer immer größeren Masse von unproduktiven und parasitären Schichten, einer Verantwortungslosigkeit von immer mehr Staatsbediensteten, deren Aufgabe es paradoxerweise ist, die Wirtschaft zu führen, zu orientieren und zu verwalten.
Der kürzliche Zusammenbruch des stalinistischen Blocks, die Vervielfachung von Korruptionsskandalen, die in allen Staatsapparaten weltweit herrschen, liefern den Beweis, daß die "Parasitisierung", um es mal so zu sagen, die ganze herrschende Klasse ergriffen hat. Es ist unbedingt notwendig, diese Forschungsarbeit fortzusetzen und die Tendenz zum Parasitismus, zur Verantwortungslosigkeit all dieser hohen Funktionäre zu verdeutlichen, eine Tendenz, die sich unter der Herrschaft des Staatskapitalismus beschleunigt.
MC

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Es gibt überhaupt keine Zweifel mehr: all die positiven Errungenschaften und noch mehr die negativen Lehren aus der ersten Erfahrung der proletarischen Revolution stellen die Grundlage der modernen Arbeiterbewegung dar. Solange die Bilanz dieser Erfahrung nicht gezogen wird, solange ihre Lehren nicht erhellt und assimiliert werden, werden die revolutionäre Avantgarde und die Arbeiterklasse dazu verurteilt sein, auf der Stelle zu treten.
Selbst indem man das Unmögliche für möglich hält, d.h. daß das Proletariat durch ein Zusammenspiel von glücklichen Umständen die Macht an sich reißt, könnte es diese unter diesen Bedingungen nicht halten. Innerhalb kürzester Zeit würde es die die Kontrolle über die Ereignisse verlieren, und die Revolution würde umgehend auf den Weg zurück zum Kapitalismus gebracht werden.
Die Revolutionäre können sich nicht damit zufrieden geben, nur zum heutigen Rußland Stellung zu beziehen. Das Problem, ob man Rußland verteidigt oder nicht, ist seit langem kein Gegenstand der Debatte mehr im Lager der Avantgarde.
Der imperialistische Krieg von 1939-45, in dem Rußland der ganzen Welt sein wahres Gesicht zeigte, das Gesicht einer äußerst blutrünstigen, räuberischen imperialistischen Macht zeigte, machte all die Verteidiger Rußlands - gleichgültig, in welchem Gewand sie sich präsentierten - zu Agenten, zu politischen Handlangern des imperialistischen russischen Staats im Proletariat, genauso wie der Krieg von 1914-18 den endgültigen Schulterschluß der sozialistischen Parteien mit den nationalen kapitalistischen Staaten enthüllt hatte.
Wir wollen in diesem Text auf diese Frage nicht mehr zurückkommen. Genauso wenig wollen wir hier auf den Charakter des russischen Staates zurückkommen, den die opportunistische Tendenz innerhalb der internationalen kommunistischen Linken noch als "proletarischen Charakter mit konterrevolutionärer Funktion", als "degenerierten Arbeiterstaat" darzustellen versucht. Wir meinen, daß sich dieser spitzfindige Scheinbeweis eines Gegensatzes erledigt hat, der angeblich zwischen dem proletarischen Charakter und der konterrevolutionären Funktion des russischen Staates existierte und der, statt auch nur den Ansatz einer Analyse und Erklärung der Entwicklungen in Rußland zu liefern, direkt zur Stärkung des Stalinismus, des kapitalistischen Staates Rußlands und des internationalen Kapitalismus führte. Man kann übrigens feststellen, daß seit der Veröffentlichung unserer Untersuchung und Polemik gegen diese Auffassung, die im BULLETIN INTERNATIONAL, Nr. 6, der italienischen Fraktion im Juni 1944 erschien, die Vertreter dieser Theorie es nicht mehr gewagt haben, offen weiterzubohren. Die kommunistische Linke Belgiens hat offiziell erklärt, daß sie diese Auffassung ablehnt. Die Internationale Kommunistische Partei (IKP) Italiens scheint noch nicht Stellung bezogen zu haben. Und obschon es keine offene, methodische Verteidigung dieser falschen Auffassung gibt, vermissen wir dennoch ihre ausdrückliche Ablehnung. Was erklärt, daß man in den Publikationen der IKP Italiens Begriffe wie "degenerierter Arbeiterstaat" liest, wenn sie vom kapitalistischen russischen Staat sprechen.
Es liegt auf der Hand, daß es sich nicht um eine Frage von Begriffen handelt, sondern um die substantielle Frage einer falschen Analyse der russischen Gesellschaft, um einen Mangel an theoretischer Präzision, auf den wir auch in anderen politischen und programmatischen Fragen stoßen.
Das Ziel unserer Untersuchung ist ausschließlich die Klärung der, wie uns scheint, Hauptlehren der russischen Erfahrung. Wir wollen keine Geschichte der Ereignisse schreiben, die sich in Rußland abgespielt haben, wie bedeutsam sie auch gewesen sein mögen. Solch eine Arbeit erfordert Anstrengungen, die unsere Kapazitäten überschreiten. Wir wollen nur jenen Teil dieser Erfahrung in Rußland betrachten, der über den Kontext einer einzelnen historischen Situation hinausgeht und Lehren für alle Länder und für die gesamte zukünftige gesellschaftliche Revolution beinhaltet. Damit wollen wir uns an der Untersuchung der grundlegenden Fragen beteiligen und unseren Beitrag zu diesen Fragen leisten, deren Lösung nur durch die Bemühungen aller revolutionären Gruppen mittels einer internationalen Diskussion erreicht werden kann.


 Privateigentum und Gemeineigentum

Das marxistische Konzept des Privateigentums an Produktionsmitteln als Grundlage der kapitalistischen Produktion und damit der kapitalistischen Gesellschaft schien eine andere Formel zu beinhalten: das Verschwinden des Privateigentums an Produktionsmitteln käme danach dem Verschwinden der kapitalistischen Gesellschaft gleich. Auch findet man in der gesamten marxistischen Literatur die Formel vom Verschwindens des Privateigentums an Produktionsmitteln als Synonym für den Sozialismus. Nun gibt es in der Entwicklung des Kapitalismus oder, genauer gesagt, des Kapitalismus in seiner dekadenten Phase eine mehr oder weniger markante Tendenz in allen Bereichen zur Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln, eine Tendenz hin zu ihrer Verstaatlichung.
Doch Verstaatlichungen sind kein Sozialismus, und wir wollen uns nicht damit aufhalten, dies zu beweisen. Was uns interessiert, ist die Tendenz selbst und ihre Bedeutung vom Standpunkt der Klasse aus betrachtet.
Wenn man davon ausgeht, daß das Privateigentum an Produktionsmitteln die Hauptgrundlage der kapitalistischen Gesellschaft ist, führt uns jede Konstatierung einer Tendenz zur Begrenzung dieses Privateigentums zu einem unüberwindbaren Widerspruch, nämlich: der Kapitalismus bedroht seine eigenen Grundlagen, er untergräbt seine eigene Basis.
Es wäre ganz sinnlos, hier mit Worten zu spielen und über die dem kapitalistischen Regime innewohnenden Widersprüche zu spekulieren.
Wenn man zum Beispiel von dem tödlichen Widerspruch des Kapitalismus spricht - nämlich daß dieser, um seine Produktion weiterzuentwickeln, neue Märkte erobern muß, daß er aber in dem Maße, wie er diese neuen Märkte erobert, sie in sein Produktionssystem integriert und somit den Markt zerstört, ohne den er nicht leben kann -, dann zeigt man einen reellen Widerspruch auf,  der aus der objektiven Entwicklung der kapitalistischen Produktion herrührt, unabhängig von seinem Willen und unlösbar für ihn. Das gleiche trifft zu, wenn man den imperialistischen Krieg und die Kriegswirtschaft nennt, in denen der Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche seine Selbstzerstörung produziert.
Und so weiter bei all den Widersprüchen, in die sich die kapitalistische Gesellschaft verstrickt.
Mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln verhält es sich jedoch ganz anders, denn hier gibt es keine Kräfte, die den Kapitalismus zwingen, sich bewußt, wissentlich für die Bildung einer Struktur zu entscheiden, die eine Beeinträchtigung seines Charakters, seiner Essenz schlechthin darstellt.
Mit anderen Worten: indem man das Privateigentum an Produktionsmitteln zum Wesen des Kapitalismus erklärt, verkündigt man gleichzeitig, daß außerhalb dieses Privateigentums der Kapitalismus nicht bestehen kann. Gleichzeitig behauptet man, daß jegliche Veränderung im Sinne einer Limitierung dieses Privateigentums eine Einschränkung des Kapitalismus bedeuten würde und damit eine Veränderung im nicht-kapitalistischen, anti-kapitalistischen Sinne wäre. Noch einmal, es geht nicht um die Proportionen dieser Tendenz zur Einschränkung! Sich in quantitative Berechnungen zu flüchten, die beweisen sollen, daß es nicht um eine vernachlässigbare Größe handelt, hieße, der Frage aus dem Weg zu gehen. Jedenfalls wäre es falsch, denn es reicht nicht aus, das Ausmaß der tendenziellen Einschränkung in den totalitären Ländern und in Rußland zu benennen, wo alle Produktionsmittel verstaatlicht sind, um davon überzeugt zu sein. Es geht hier nicht um den Umfang, sondern um den Charakter dieser Tendenz schlechthin.
Wenn eine tendenzielle Liquidierung des Privateigentum wirklich eine antikapitalistische Tendenz bedeutet, kommt man zu einer stupenden Schlußfolgerung: weil diese Tendenz vom Staat gesteuert wird, wäre der kapitalistische Staat Makler seiner eigenen Zerstörung.
Und in der Tat enden all die "sozialistischen" Anhänger von Verstaatlichungen, der Kommandowirtschaft, all die Fabrizierer von "Plänen", die, auch wenn sie nicht bewußt den Kapitalismus stärken, dennoch Reformer in den Diensten des Kapitalismus sind, wie die Gruppen "Abondance" (etwa: Überfluß), CETES usw., in dieser Theorie des antikapitalistischen kapitalistischen Staates.
Die Trotzkisten, die nicht viel Verstand in ihrem Kopf haben, treten natürlich für diese Einschränkungen ein, denn alles, was gegen den kapitalistischen Charakter ist, ist zwangsläufig proletarisch. Vielleicht sind sie ein wenig skeptisch, aber sie meinen, es sei ein Verbrechen, auch nur die geringste Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. Für sie stellen die Verstaatlichungen immerhin eine Schwächung des Privateigentums im Kapitalismus dar. Auch wenn sie nicht, wie die Stalinisten und die Sozialisten, sagen, daß Verstaatlichungen ein Stück Sozialismus innerhalb des Kapitalismus sind, sind sie dennoch davon überzeugt, daß sie "fortschrittlich" sind. Schlau wie sie sind, beabsichtigen sie, den kapitalistischen Staat dazu zu bringen, eine Arbeit zu verrichten, die andernfalls das Proletariat nach der Revolution erfüllen müsse. "Es bedeutet, daß es weniger für uns zu tun gibt", sagen sie und reiben sich die Hände, froh, den kapitalistischen Staat übers Ohr gehauen zu haben.
Aber: "Das ist Reformismus!", schreit der Linkskommunist von der Art Vercesis. Und als "Marxist" versucht er nicht das Phänomen zu erklären, sondern es ganz einfach zu leugnen und zu beweisen, daß es z.B. Verstaatlichungen nicht gibt, nicht geben kann, daß sie nur eine Erfindung, eine demagogische Lüge der Reformisten seien.
Warum diese auf den ersten Blick überraschende Entrüstung, dieses starrsinnige Leugnen? Weil  er mit den Reformisten einen gemeinsamen Ausgangspunkt hat, denn darauf fußt seine ganze Theorie des proletarischen Charakters der russischen Gesellschaft. Und weil sie den gleichen Maßstab für die Einschätzung des Klassencharakters der Wirtschaft haben, kann die Anerkennung solch einer Tendenz in den kapitalistischen Ländern für ihn nur die Anerkennung einer allmählichen Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus bedeuten.
Dies ist nicht so, weil er am "marxistischen" Begriff des Privateigentums festhält, sondern vielmehr weil er auf die Umkehrung dieses Begriffes, auf seine Karikatur fixiert ist, d.h. daß das Fehlen von Privateigentum an Produktionsmitteln das Kriterium für den proletarischen Charakter des russischen Staates ist; so führt es ihn dazu, die Tendenz und die Möglichkeit der Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln in der kapitalistischen Gesellschaft leugnen. Anstatt die objektive und reelle Entwicklung des Kapitalismus und seine Tendenz zum Staatskapitalismus zu beobachten und seine Position zum Klassencharakter des russischen Staats zu korrigieren, zieht er es vor, an dem Begriff festzuhalten und seine Theorie über den proletarischen Charakter Rußlands zu retten, und sei es auf Kosten der Realität. Und weil der Widerspruch zwischen dem Begriff und der Wirklichkeit unüberwindbar ist, wird die Wirklichkeit schlicht geleugnet, und die Sache ist geritzt.
Eine dritte Tendenz versucht die Lösung in der Ablehnung des Marxismus zu finden. "Diese Doktrin", so behauptet sie, "war richtig, solange sie auf die kapitalistische Gesellschaft angewandt wurde, doch was Marx nicht vorhergesehen hatte und weshalb er 'überholt' ist, das ist die Tatsache, daß eine neue Klasse aufgetaucht ist, die die politische und wirtschaftliche Macht der Gesellschaft schrittweise und zum Teil friedlich (!) an sich reißt, auf Kosten des Kapitalismus und des Proletariats." Diese neue (?) Klasse wäre für die einen die Bürokratie, für die anderen die Technokratie und für dritte wiederum die "Synarchie".
Belassen wir es bei diesen Ausführungen und kehren zu unserem Thema zurück. Es ist unleugbar, daß es eine Tendenz gibt, die in Richtung einer Einschränkung des Privateigentums an Produktionsmitteln geht und die sich täglich in allen Ländern verstärkt. Diese Tendenz konkretisiert sich in der allgemeinen Entwicklung eines Staatskapitalismus, der die Hauptproduktionszweige und das Wirtschaftsleben des Landes verwaltet. Der Staatskapitalismus ist nicht das Vorrecht einer bestimmten Fraktion der Bourgeoisie oder einer einzelnen ideologischen Denkschule. Man sieht ihn sowohl im demokratischen Amerika wie auch in Hitlerdeutschland, im Labour-regierten England wie im "sowjetischen" Rußland sich ausbreiten.
Innerhalb des Rahmens dieser Untersuchung können wir die Analyse des Staatskapitalismus, der Bedingungen und historischen Ursachen, welche diese Form bestimmen, nicht in ihrer Gänze fortführen. Wir wollen nur anmerken, daß der Staatskapitalismus die der dekadenten Phase des Kapitalismus entsprechende Form ist, wie seinerzeit der Monopolkapitalismus der Phase der vollen Entwicklung des Kapitalismus entsprach. Eine weitere Bemerkung: ein charakteristisches Merkmal des Staatskapitalismus scheint uns seine Entwicklung zu sein, die stärker in direkter Verbindung steht zu den Auswirkungen der permanenten Wirtschaftskrise in den verschiedenen entwickelten kapitalistischen Ländern.
Der Staatskapitalismus stellt jedoch mitnichten eine Negation des Kapitalismus und noch weniger eine schrittweise Umwandlung zum Sozialismus dar, wie die Reformisten der verschiedenen Denkschulen behaupten.
Die Furcht, dem Reformismus anheimzufallen, wenn man die Tendenz zum Staatskapitalismus anerkennt, hängt mit dem Fehler zusammen, den man bei der Einschätzung des Klassencharakters des Kapitalismus begeht. Dieser definiert sich nicht durch das Privateigentum an Produktionsmitteln, das nur eine Form ist, die für eine gegebene Periode des Kapitalismus, den liberalen Kapitalismus, geeignet ist, sondern durch die Trennung der Produktionsmittel von den Produzenten.
Der Kapitalismus ist die Trennung zwischen der vergangenen, akkumulierten Arbeit, die sich in den Händen einer Klasse befindet, die die lebendige Arbeit einer anderen Klasse diktiert und ausbeutet. Es kommt nicht darauf an, wie die besitzende Klasse die Anteile unter ihren Mitgliedern verteilt. Im kapitalistischen Regime ändert sich diese Aufteilung ständig durch den Wirtschaftskampf oder durch die militärische Gewalt. Wie wichtig die Untersuchung der Funktionsweise dieser Aufteilung vom Standpunkt der politischen Ökonomie auch ist, sie spielt hier keine Rolle.
Unabhängig von den auftretenden Änderungen in den Beziehungen zwischen den verschiedenen Schichten der Bourgeoisie in der Kapitalistenklasse bleibt aus der Sicht des gesellschaftlichen Systems der Klassenbeziehungen das Verhältnis zwischen der besitzenden und produzierenden Klasse kapitalistisch.
Daß der während des Produktionsprozesses aus den Arbeitern herausgepreßte Mehrwert auf die eine oder andere Art verteilt wird, daß der Anteil, den das Finanz-, Handels- oder Industriekapital erhält, unterschiedlich groß ist, beeinflußt und ändert keinesfalls den eigentlichen Charakter des Mehrwerts. Für die kapitalistische Produktion ist es vollkommen unerheblich, ob es sich dabei um Privateigentum oder Gemeineigentum der Produktionsmittel handelt. Was den kapitalistischen Charakter der Produktion bestimmt, ist die Existenz von Kapital, das heißt, von akkumulierter Arbeit in den Händen der einen Klasse, die über die lebendige Arbeit der anderen Klasse gebietet, um Mehrwert zu produzieren. Der Kapitaltransfer aus privaten, individuellen Händen in die Hände des Staates bedeutet nicht eine Veränderung des Charakters des Kapitalismus in Richtung eines Nicht-Kapitalismus , sondern eine strikte Konzentration des Kapitals, welche die Ausbeutung der Arbeitskräfte rationaler, perfekter gestalten soll.
Worum es hier geht, ist nicht das marxistische Konzept, sondern ausschließlich sein beschränktes Verständnis, seine engstirnige und und formelle Lesart. Die Produktion nimmt nicht deshalb einen kapitalistischen Charakter an, weil es Privateigentum an Produktionsmitteln gibt. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln existierte in der Sklavengesellschaft wie auch im Feudalismus. Was den kapitalistischen Charakter der Produktion bestimmt, ist die Trennung der Produktionsmittel von ihren Produzenten, ihre Umwandlung in Erwerbsmittel und in Mittel zur Beherrschung der lebendigen Arbeit mit dem Ziel, sie Überschüsse, Mehrwert produzieren zu lassen, d.h. die Umwandlung der Produktionsmittel, die ihre Eigenschaft als einfache Werkzeuge im Produktionsprozeß verlieren, um zu Kapital zu werden und als solches zu existieren.
Die Form, in der das Kapital existiert, ob in privater oder konzentrierter Gestalt (Trust, Monopol oder verstaatlicht), bestimmt genausowenig seine Existenz wie die Größe des Mehrwerts oder die Formen, die er annehmen kann (Profit, Bodenrente). Die Formen sind nur die Manifestation der Existenz der Substanz und spiegeln dies nur unterschiedlich wider.
In der Epoche des liberalen Kapitalismus war die Form, in der das Kapital existierte, vor allem die des privaten Kapitals. Auch die Marxisten konnten sich ohne weiteres des Begriffs bedienen, der hauptsächlich diese Form darstellte, um seinen Inhalt auszudrücken und zu präsentieren.
Für die Propaganda gegenüber den Massen erwies sich dies sogar als Vorteil, um eine etwas abstrakte Idee in ein konkretes, lebendiges und leichter verständliches Bild zu übersetzen.
"Privateigentum der Produktionsmittel = Kapitalismus" und "Einschränkung des Privateigentums = Sozialismus" waren die gängigen Formulierungen, aber sie waren nur zum Teil wahr.
Der Nachteil wurde erst offenbar, als die Form sich zu verändern begann. Die Gewohnheit, den Inhalt durch die Form darzustellen, die in einem gegebenen Augenblick miteinander korrespondiert hatten, wurde in eine falsche Identifikation umgewandelt und führte zum Irrtum, den Inhalt durch die Form zu ersetzen. Wir finden diesen Irrtum in der russischen Revolution, wo er in seiner ganzen Vollständigkeit zum Ausdruck kam.
Der Sozialismus erfordert einen sehr hohen Entwicklungsgrad der Produktivkräfte, der nur im Gefolge größter Konzentration und Zentralisierung der Produktivkräfte denkbar ist.
Diese Konzentration kommt durch die Enteignung des Privateigentums an Produktionsmitteln zustande. Doch diese Enteignung ist wie die Konzentration der Produktivkräfte auf nationaler und selbst auf internationaler Ebene erst nach dem Triumph der proletarischen Revolution eine Bedingung für die Entwicklung in Richtung Sozialismus, aber selbst noch nicht Sozialismus.
 Die weitreichendsten Enteignungen können allenfalls für das Verschwinden der Kapitalisten als Individuen sorgen, die vom Mehrwert leben, aber damit ist noch nicht das Verschwinden der Mehrwertproduktion, d.h. des Kapitalismus, sichergestellt.
Diese Behauptung mag auf den ersten Blick als paradox erscheinen, aber eine aufmerksame Untersuchung der russischen Erfahrung wird diese Realität beweisen. Damit es Sozialismus oder auch nur eine Tendenz zum Sozialismus gibt, reicht es nicht aus, daß es Enteignungen gibt, sondern ist es notwendig, daß die Produktionsmittel aufhören, als Kapital zu funktionieren. Mit anderen Worten: das kapitalistische Produktionsprinzip an sich muß umgewälzt werden.
Das kapitalistische Prinzip der akkumulierten Arbeit, die die lebendige Arbeit im Hinblick auf die Mehrwertproduktion beherrscht, muß ersetzt werden durch das Prinzip der lebendigen Arbeit, die die akkumulierte Arbeit hinsichtlich der Konsumgüterproduktion für die Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft bestimmt.
Einzig und allein aus diesem Prinzip besteht der Sozialismus.
Der Fehler der russischen Revolution und der bolschewistischen Partei war gewesen, die Betonung auf die Bedingung zu legen, nämlich die Enteignung, die als solche noch keinen Sozialismus darstellt und auch kein entscheidender Faktor bei der Ausrichtung der Wirtschaft in sozialistischem Sinne ist, sowie das Prinzip einer sozialistischen Ökonomie an sich vernachlässigt und in den Hintergrund gerückt zu haben.
Nicht ist lehrreicher zu diesem Thema als die Lektüre der zahlreichen Reden und Schriften Lenins über die Notwendigkeit einer raschen Entwicklung der Industrie und der Produktion in Sowjetrußland. Aus Lenins Sicht ist die Entwicklung der Industrie identisch mit der Entwicklung des Sozialismus. Er verwendete häufig und fast undifferenziert die Begriffe "Staatskapitalismus" und "Staatssozialismus", ohne sie genau voneinander zu unterscheiden. Formulierungen wie "Kommunismus - das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung" und anderer dieser Art spiegeln nur die Konfusionen und das Tasten der Führer der Oktoberrevolution von 1917 in diesem Bereich wider.
Es ist sehr bezeichnend, daß Lenin die Aufmerksamkeit vor allem auf den Privatsektor und den kleinbäuerlichen Landbesitz gelenkt hat, die ihm zufolge eine Bedrohung für die Entwicklung der russischen Wirtschaft zum Kapitalismus darstellen konnten, und  die andere, viel präsentere und entscheidendere Gefahr, die von der verstaatlichten Industrie ausging, völlig vernachlässigt hat.
Die Geschichte hat Lenins Analyse über diesen Punkt vollständig widerlegt. Die Liquidierung des kleinbäuerlichen Eigentums in Rußland sollte nicht die Stärkung eines sozialistischen Sektors bedeuten, sondern führte dazu, daß ein staatlicher Sektor von der Stärkung des Staatskapitalismus profitierte.
Es steht fest, daß die Schwierigkeiten, auf die die russische Revolution durch ihre Isolierung und durch den Staat hinter ihrer Wirtschaft stieß, auf internationaler Ebene größtenteils hätten abgeschwächt werden können. Allein auf dieser Ebene ist die sozialistische Entwicklung der Gesellschaft und eines jeden Landes möglich. Genauso trifft es zu, daß selbst auf internationaler Ebene das grundlegende Problem nicht in der Enteignung, sondern im eigentlichen Produktionsprinzip liegt.
Nicht nur in den rückständigen Ländern, sondern selbst in den Ländern, in denen der Kapitalismus seine höchste Entwicklungsstufe erreicht hat, wird das Privateigentum in einigen Bereichen der Produktion eine Zeitlang überleben und nur langsam und schrittweise absorbiert werden.
Jedoch wird die Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus nicht hauptsächlich aus diesen Bereichen kommen, denn die Gesellschaft in ihrer Evolution zum Sozialismus kann nicht zu einem Kapitalismus in seiner primitiven und von ihm selbst überwundenen Form zurückkehren.
Die große Gefahr einer Rückkehr zum Kapitalismus kommt hauptsächlich aus dem verstaatlichten Sektor, zumal sich der Kapitalismus in seiner unpersönlichen, sozusagen ätherischen Form befindet. Die Verstaatlichung kann dazu dienen, lange einen Prozeß gegen den Sozialismus zu kaschieren.
Das Proletariat wird diese Gefahr nur dann überwinden, wenn es die Gleichsetzung von Enteignung und Sozialismus ablehnt, wenn es zwischen der Verstaatlichung selbst mit dem Adjektiv "sozialistisch" und dem sozialistischen Wirtschaftsprinzip zu unterscheiden weiß.
Die russische Erfahrung zeigt und ruft uns in Erinnerung, daß es nicht die Kapitalisten sind, die den Kapitalismus erzeugen, sondern umgekehrt. Es ist der Kapitalismus, der die Kapitalisten hervorbringt. Die Kapitalisten können nicht außerhalb des Kapitalismus existieren; das Gegenteil ist der Fall.
Das kapitalistische Produktionsprinzip kann nach dem juristischen und selbst realen Verschwinden der Kapitalisten, die vom Mehrwert profitieren, weiter existieren. In diesem Fall wird der Mehrwert genau wie im Privatkapitalismus in den Produktionsprozeß zwecks Auspressens einer größeren Mehrwertmasse reinvestiert.
Kurzfristig erzeugt die Existenz von Mehrwert die Menschen, die die Klasse bilden, welche sich den Mehrwert aneignen wird. Die Funktion schafft sich ihr Organ. Gleichgültig, ob es sich um Parasiten, Bürokraten oder Techniker handelt, die sich an der Produktion beteiligen, ob der Mehrwert mehr oder weniger direkt oder indirekt mittels des Staates verteilt wird, ob in der Form hoher Gehälter oder leistungsgebundenen Dividenden oder als Staatsanleihen (wie es in Rußland der Fall ist), all dies ändert nichts an der grundlegenden Tatsache, daß es sich um eine neue kapitalistische Klasse handelt.
Der zentrale Punkt der kapitalistischen Produktion besteht in dem Unterschied zwischen dem Wert der Arbeitskraft, der durch die notwendige Arbeitszeit bestimmt wird, und der Arbeitskraft, die mehr als ihren eigenen Wert reproduziert. Dies drückt sich im Unterschied zwischen der für den Arbeiter notwendigen Arbeitszeit, um seine eigene Subsistenz zu reproduzieren und für die er bezahlt wird, sowie der Arbeitszeit aus, die er mehr arbeitet und für die er nicht bezahlt wird und die den Mehrwert bildet, den der Kapitalist an sich reißt. Es ist das Verhältnis zwischen der bezahlten und unbezahlten Arbeitszeit, das die sozialistische von der kapitalistischen Produktion unterscheidet.
Jede Gesellschaft benötigt einen wirtschaftlichen Reservefond, um die Fortsetzung ihrer Produktion und der erweiterten Produktion zu gewährleisten. Dieser Fond besteht aus unverzichtbarer Mehrarbeit. Andererseits ist ein gewisses Quantum an Mehrarbeit unverzichtbar, um für die Bedürfnisse von unproduktiven Mitgliedern der Gesellschaft aufzukommen. Die kapitalistische Gesellschaft neigt vor ihrem Verschwinden dazu, die - dank der unbarmherzigen Ausbeutung der Arbeiter - gewaltigen Massen von akkumulierter Arbeit zu zerstören.
Nach der Revolution wird das siegreiche Proletariat vor Ruinen und einer katastrophalen Wirtschaftslage stehen, dem Erbe der kapitalistischen Gesellschaft. Sie wird den wirtschaftlichen Reservefond neu aufbauen müssen.
Das heißt, daß der Teil der Mehrarbeit, den die Arbeiterklasse wird erbringen müssen, anfangs möglicherweise ebenso groß sein wird wie im Kapitalismus. Das sozialistische Wirtschaftsprinzip kann also hinsichtlich seiner unmittelbaren Umfangs nicht durch das Verhältnis zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit unterschieden werden. Allein die Tendenz der Kurve, die Tendenz zur Annäherung des Verhältnisses kann als Maßstab für die Wirtschaftsentwicklung dienen und das Barometer sein, das den Klassencharakter der Produktion anzeigen kann.
Das Proletariat und seine Klassenpartei werden daher sehr wachsam sein müssen. Die größten industriellen Errungenschaften würden (selbst dann, wenn der Anteil der Arbeiter am Wert absolut gesehen zwar größer, aber relativ gesehen geringer wäre) die Rückkehr zum kapitalistischen Produktionsprinzip bedeuten. All die subtilen Demonstrationen der Nicht-Existenz des Privatkapitalismus durch Verstaatlichung der Produktionsmittel können diese Wirklichkeit nicht verbergen.
Das Proletariat und seine Partei dürfen nicht diesen eigennützigen Spitzfindigkeiten anheimfallen,  die nur der Aufrechterhaltung der Ausbeutung der Arbeiter dienen, und müssen sofort einen unerbittlichen Kampf führen, um dieser Orientierung auf eine Rückkehr zur kapitalistischen Wirtschaft Einhalt zu gebieten und mit allen Mitteln die Wirtschaftspolitik der Arbeiterklasse hin zum Sozialismus durchzusetzen.
Abschließend wollen wir eine Passage von Marx zitieren, um unsere Gedanken hierzu zu verdeutlichen und zusammenzufassen:
"Der große Unterschied zwischen kapitalistischem und sozialistischem Prinzip der Produktion besteht in folgendem: ob die Arbeiter die Produktionsmittel als Kapital vor sich finden und darüber nur verfügen, um das Mehrprodukt und den Mehrwert zugunsten ihrer Ausbeuter zu erhöhen, oder ob sie anstatt durch diese Produktionsmittel beschäftigt zu sein, sie diese verwenden, um den Reichtum zu ihrem eigenen Nutzen zu produzieren.” (eigene Übersetzung, da keine Quellenangabe im franz. Originaltext)

Internationalisme (1946)

 

 Fußnoten:

(1) Unter den ersten Vertretern dieser Theorie befand sich Albert Treint, der 1932 zwei Broschüren mit dem Titel "Das russische Rätsel" veröffentlicht hatte, und der in dieser Frage mit der Gruppe gebrochen hatte, die unter dem Namen Bagnolet-Gruppe bekannt war. Albert Treint, vormals Generalsektretär der KPF, früherer Führer der linksoppositionellen Gruppe "Die Leninistische Einheit" 1927 und der Gruppe "Redressement Communiste" (etwa: Kommunistische Wiederbelebung) von 1928 bis 1931, hatte sich nach dem Bruch mit der Bagnolet-Gruppe wie viele andere in Richtung Sozialistische Partei, in die er 1935 eintrat, und der Résistance während des Krieges entwickelt. 1945 trat er nicht nur der Armee mit seinem Dienstgrad als Hauptmann bei, sondern er führte auch als Kommandant ein Besatzungsbataillon in Deutschland.
(2) Es ist dabei zu berücksichtigen, daß die Rätekommunisten der holländischen Linken und insbesondere Pannekoek persönlich die Hauptideen dieser brillanten Analyse einer dritten Alternative teilten (siehe die Korrespondenz Chaulieu-Pannekoek in 'Socialsme ou Barbarie').
(3) Die Ad hoc-Gründung der Internationalen Kommunistischen Partei in Italien 1945, die überstürzte Auflösung der Fraktion, das Wiederauftauchen Bordigas mit seinen Theorien der "Invarianz" des Marxismus, der "Doppelrevolution", der "Unterstützung der nationalen Befreiungen", der Unterscheidung nach "geographischen Zonen", der Proklamierung des "US-Imperialismus zum Hauptfeind" usw., usf. stellten einen klaren Rückschritt dieser neuen Partei in der Frage des Klassencharakters des stalinistischen Regimes und eine Ablehnung des Dekadenzbegriffs und seines politischen Ausdrucks: den Staatskapitalismus dar.

 

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Stalinismus, der Ostblock [9]

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Links
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