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Weltrevolution Nr. 143

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"Die Linke" - Schützenhilfe gegen die Arbeiterklasse

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Auftakt war die Bürgerschaftswahl in Bremen. Über Nacht war „Die Linke“ drittgrößte politische Kraft geworden. Nie zuvor hatte das aus PDS und WASG bestehende Wahlbündnis Gregor Gysis und Oskar Lafontaines bei einer westdeutschen Landtagswahl ein solches Ergebnis erzielt. Der Beweis war erbracht: Der Erfolg dieses Bündnisses bei den letzten Bundestagswahlen, als Lafontaine erstmals gegen Schröders SPD angetreten war, war keine Eintagsfliege. Es ist möglich geworden, im „wiedervereinigten“ Deutschland längerfristig eine parlamentarische Partei links von der SPD zu etablieren.

Mit diesem Erfolg konnten die letzten Zweifler in den Reihen der westdeutschen WASG überzeugt werden. Im Juni 2007 war es dann vollbracht. Aus dem Wahlbündnis „Linkspartei“ wurde ganz offiziell eine ganz neue gesamtdeutsche Partei des „demokratischen Sozialismus“ aus der Taufe gehoben, genannt „Die Linke“. Zu deren ersten Vorsitzenden wurden Oskar Lafontaine und Lothar Bisky gewählt.

Der Kalte Krieg ist zu Ende

Das, was während der gesamten Geschichte der westdeutschen Bundesrepublik der Nachkriegsepoche nicht sein durfte, ist jetzt Wirklichkeit geworden: Eine Partei links von der SPD ist in die Familie der parlamentarischen Parteien des deutschen Kapitals mit allen Würden aufgenommen worden. Damals, in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts, wurde die KPD nicht nur verboten. Deren Mitglieder wurden auch und gerade von den linken und liberalen Vertretern des westdeutschen Staates verfolgt oder abgekanzelt: von den DBG-Gewerkschaften etwa oder von den Kirchen. Heute hingegen wurde die neue Partei gerade von Kräften innerhalb der Gewerkschaften und den Kirchen willkommen geheißen. Das macht deutlich, was es auf der Ebene der politischen Parteien des Staates bedeutet, dass der Kalte Krieg vorbei ist. Denn die KPD wurde von der Bonner Republik vor allem deshalb verboten und die Mitglieder ihrer Nachfolgeorganisation DKP mit jahrelangen, brutalen Berufsverboten verfolgt, weil diese Partei die Interessen der DDR mit verfocht. Heute hat niemand im größer gewordenen Deutschland mehr Angst vor den Altstalinisten. Nicht, weil sie alt geworden sind, sondern weil es die DDR und die anderen imperialistischen Rivalen des damaligen Ostblocks in dieser Form nicht mehr gibt. Mehr noch: die gewendeten Stalinisten dienen heute neuen Herren. Sie haben sich entschlossen auf den Boden des gesamtdeutschen Staates gestellt und in den ostdeutschen Ländern und innerhalb der Gewerkschaften bereits ihre Loyalität gegenüber diesem neuen Brötchengeber bewiesen.

In der Tradition der SPD und der SED

 

Mit „Die Linke“ gibt es eine weitere Neuerung. Zum ersten Mal seit der Annahme des Godesberger Programms der SPD in den sechziger Jahre gibt es wieder eine parlamentarische Partei in Deutschland, die das Ziel des „demokratischen Sozialismus“ propagiert. In einer Polemik gegen den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle erklärte Lafontaine auf dem Gründungsparteitag, dass „Freiheit“ und „Sozialismus“ nicht nur keine Gegensätze seien, sondern dass die „Freiheit“ sich nur durch den „Sozialismus“ verwirklichen lasse. Außerdem werden mit der neuen Partei bisher ungewohnte historische Bezugspunkte im „politischen Diskurs“ der Bundesrepublik eingeführt. So bezog sich Lafontaine in seiner Parteitagsrede nicht nur auf Willy Brandt, sondern auch auf Revolutionäre der vergangenen Arbeiterbewegung wie August Bebel oder Rosa Luxemburg, um seine These zu untermauern, dass in Wahrheit „Die Linke“ und nicht mehr die SPD nach Schröder in der Nachfolge der traditionellen Politik der Sozialdemokratie stehe.

Als Bebel und Luxemburg noch lebten, klangen ihre bloßen Namen wie Anklagen gegen das kapitalistische System. Der Widerhall ihrer Namen auf dem Gründungsparteitag der „Linken“ hingegen hat keinerlei Unruhe in den Reihen der deutschen Bourgeoisie ausgelöst. Vielleicht finden die Anführer des deutschen Imperialismus es amüsant, dass der Name der großen Revolutionärin Rosa Luxemburgs, die 1919 im Auftrag der SPD ermordet wurde, um den ins Wanken geratenen Kapitalismus in Deutschland vor dem revolutionären Ansturm des Proletariats zu retten, heute verwendet wird, um eine Kontinuität mit der Politik der SPD abzuleiten.

So ist es auch. Die neue Partei steht in der Kontinuität mit der SPD, die das kapitalistische Vaterland im Ersten Weltkrieg unterstützte und ins Lager des Imperialismus wechselte. Sie steht in Kontinuität mit der SPD, die am Ende des Weltkriegs die sozialistische Revolution niederschlug, dabei die Freikorps aufstellte und somit dem Nationalsozialismus den Weg bahnte. Sie steht in Kontinuität mit der SPD, die im Kalten Krieg die arbeitende Bevölkerung hinter die Vorbereitungen eines dritten Weltkriegs zu mobilisieren trachtete und die ab den 1970er Jahren die Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschaftskrise auf die Schultern der Arbeiterklasse abwälzte. Aber sie steht auch in der Nachfolge des Stalinismus, der ab den 1930er Jahren alle wirklichen, also internationalistischen Marxisten verfolgte und zu ermorden trachtete; der im Gulag und in der „sowjetischen“ Atombombe die Verwirklichung des Sozialismus erblickte; der die Proletarier der DDR 1953 in Blut ertränkte und ab 1961 hinter Stacheldraht einsperrte; der 1980 unablässig die Niederschlagung des polnischen Massenstreiks verlangte. Damals, in Januar 1981, saßen die Staatschefs der BRD und der DDR, Helmut Schmidt und Erich Honecker, die zugleich Parteiführer der Sozialdemokratie im Westen und der Stalinisten im Osten waren, einträchtig beisammen, als die polnischen Sicherheitskräfte zur massiven Repression gegen die polnischen Arbeiterinnen und Arbeiter übergingen. Heute haben ihre würdigen Nachfolger sich die Hand gereicht und eine neue Partei gegründet. Oskar Lafontaine, einstiger Parteichef und Kanzlerkandidat der SPD, und Gregor Gysi, der zu retten wusste, was aus den Trümmern des Stalinismus zu retten war, als 1989 die DDR und ihre Regierungspartei pleite gingen - sie haben etwas erschaffen, was der deutschen Bourgeoisie heute hoch willkommen ist. Es ist nichts Geringeres als die Bewahrung und Zusammenballung der gesammelten Erfahrungen der Sozialdemokratie und des Stalinismus im Westen wie im Osten im Kampf gegen die Arbeiterklasse.

Die Lücke links der SPD schließen

Nur ein Teil des traditionellen Machtapparates des deutschen Staates zeigte sich beunruhigt über das Aufkommen der neuen Partei: die SPD. Der Grund liegt auf der Hand. Der Aufstieg der „Linken“ droht auf Kosten der Sozialdemokratie zu gehen.

Die Antwort der SPD ließ nicht lange auf sich warten. Wenige Tage nach der Parteigründung in Berlin unterschrieb die SPD ein „Kompromisspapier“ mit der mitregierenden Koalitionspartei CDU/CSU im Sachen Mindestlohn, um es einige Stunden später selbst in Grund und Boden zu verdammen. Daraufhin erklärte der Vizekanzler und die gute Seele der SPD, Müntefering, dem Wahlvolk: Mehr sei mit dem „ungeliebten“ Koalitionspartner nicht zu holen! Wenn ihr echte Mindestlöhne und Sozialstandards haben wollt, müsst ihr es uns ermöglichen, nach der nächsten Bundestagswahl ohne die Union zu regieren! Jede Stimme für die Linke sei aber indirekt eine Stimme für die Union und somit gegen Mindestlöhne. So gedenkt die aufgescheuchte Sozialdemokratie in die nächsten Wahlkämpfen zu ziehen.

Aber abgesehen von diesen leicht verständlichen Rivalitäten gibt es tiefere Beweggründe, die das Aufkommen der „Linken“ mit dem Schicksal der SPD verbindet. Nicht zuletzt auf Grund des „Sonderfalls deutsche Wiedervereinigung“ geriet die Bundesrepublik im Verlauf der 1990er Jahren im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf ins Hintertreffen gegenüber ihren Hauptkonkurrenten. Solange Helmut Kohl Kanzler blieb, wurde die Arbeiterklasse im ehemaligen Westdeutschland im internationalen Vergleich aus Sicht des Kapitals nicht hart genug angegriffen. Erst die SPD unter Schröder bewies den „Mut“ zur konsequenten Demolierung von Sozialleistungen und -regelungen, wodurch das jährliche Haushaltsdefizit verkleinert und der Standort Deutschland für internationale Investoren wieder attraktiv gemacht werden konnte. Was die SPD bewies, war nicht so sehr „Mut“, sondern Können. Die klassische Partei der sozialen Kontrolle über die Arbeiterklasse traute sich die Aufgabe zu, die Arbeiterklasse frontal anzugreifen, ohne eine allgemeine Widerstandswelle loszutreten. Und sie war erfolgreich. Aber diese Erfolge sowie die gnadenlose Verschärfung der Lage der Arbeiterklasse – allen „Reformen“ zum Trotz -  haben Folgen längerfristiger Art, die nicht so leicht zu kontrollieren sind. Wachsende Teile der Arbeiterklasse scheinen sich von der Illusion zu lösen, dass ihre Interessen wirksam durch eine politische Partei im Parlament vertreten werden. Die Folge daraus wird sein, dass die Lohnabhängigen mehr und mehr ihre Interessen in die eigene Hand nehmen werden. Jedenfalls ist es unbestreitbar, dass immer mehr Teile der Arbeiterklasse in Deutschland ihre Kampferfahrungen machen, während gleichzeitig eine Desillusionierung gegenüber den etablierten Parteien und gegenüber dem Parlamentarismus als angebliche Interessensvertretung der Arbeiter sich breit macht. Zugleich beginnt eine neue Generation sich zu politisieren, die immer weniger an die Möglichkeit von Reformen innerhalb dieses Systems glaubt. Die ersten Gehversuche dieser neuen Generation hat man im Frühjahr 2006 bei den Massenkämpfen der Studenten und Schüler in Frankreich erleben können. Aber auch bei den G8-Protesten in Rostock und Heiligendamm in diesem Sommer konnte man beobachten, wie die überwiegend sehr jungen Aktivisten auf Distanz zu den etablierten linken Strukturen gehen und eine eigene Perspektive suchen.

Die Linke: Schützenhilfe für die SPD

Die SPD ist die erfahrenste Partei der deutschen Bourgeoisie mit der ausgeprägtest staatsmännischen Haltung. Die Unruhe in ihren Reihen sowie in den Reihen der Gewerkschaften hat mit mehr zu tun als mit der Angst vor einem lästigen Konkurrenten. Im übrigen ist es gar nicht ausgemacht, dass die Entwicklung der neuen Partei unbedingt zu Lasten der SPD gehen muss. Die SPD/PDS-Regierungen in Mecklenburg-Vorpommern, noch mehr aber in Berlin gelten in Deutschland als Vorreiter der erfolgreichen Angriffe gegen die Arbeiterklasse auf Länderebene. Sie zeigen zugleich, wie die PDS dazu dienen kann, die Sozialdemokratie an die Regierung zu bringen bzw. sie dort zu halten. Denselben Kunstgriff werden sie auf Bundesebene vollbringen können, wenn erforderlich. Wenn es soweit ist, wird „Die Linke“ auch die „Erfordernisse“ einer weltweit operierenden Bundeswehr einsehen, so wie vor ihnen die Grünen.

Nein, die Unruhe innerhalb von SPD und DGB gilt zuallererst den wachsenden Problemen bei der politischen Kontrolle der sozialen Lage. Und da liefert die neue Partei, wenngleich Rivale um Posten und Privilegien, vor allem Rückendeckung an der sozialen Front. Sie liefert Schützenhilfe, um die Leute vom Kampf abzuhalten und an die Illusionen des Parlamentarismus zu binden. Sie dient dazu, möglichst zu verhindern, dass die zwei wichtigsten Elemente der jetzigen Lage – die wachsenden Kämpfe der Lohnabhängigen und die wachsende Politisierung und Radikalisierung der neuen Generation - zusammenkommen und dadurch eine revolutionäre Perspektive aufkommen lassen.

Die Wurzeln der neuen Partei sind, für sich betrachtet, an Schäbigkeit kaum zu überbieten. Im Osten die PDS, als Vertreter der untergegangenen Staatsbourgeoisie der DDR, die nichts anderes im Sinn hatte, als etwas von ihren alten Privilegien hinüberzuretten. Im Westen Lafontaine, der machthungrige Klein-Napoleon von der Saar, der von Schröder entmachtete  Parteichef, der seitdem unablässig auf Rache gegenüber seinen ehemaligen Parteigenossen aus ist. Was aus diesen und anderen schmutzigen Beweggründen der bürgerlichen Politik etwas Staatstragendes machte, war nicht Gysi und nicht Lafontaine, sondern der Gang der Geschichte selbst. Es war die Notwendigkeit für das Kapital, Lücken in den Verteidigungslinien des Ausbeutersystems gegenüber der Arbeiterklasse zu schließen.

In diesem – und nur in diesem – Sinne haben die ehemaligen SPDler und die ehemaligen SEDler gemeinsam etwas Großes geschaffen: ein großes Hindernis, das die lohnabhängige Bevölkerung im Verlauf des Klassenkampfes beiseitefegen muss.

20.07.07

Bahn, Telekom - Nur gemeinsam sind wir stark!

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Wie passt dies zusammen? In den letzten Wochen und Monaten waren die Medien voll von Berichten, dass die Arbeitslosenzahlen endlich deutlich sinken; die Wirtschaftswachstumsprognosen werden kräftig nach oben korrigiert. Gebetsmühlenartig wird die Botschaft gepredigt: Es geht endlich aufwärts – für alle!

 

Für alle? Irgendwie passt hier etwas nicht ins Bild! Wenn doch für alle Menschen in dieser sich verbessernden kapitalistischen Gesellschaft eine echte Zukunft greifbar wird, weshalb erleben wir dann immer mehr Streiks und dazu noch in Branchen, in denen bisher kaum oder gar nicht gestreikt wurde, wie bei der Telekom, der Bahn, bei Airbus oder letztes Jahr die Krankenhausärzte. Es sei nur am Rande auf die zunehmende Gewalt an Schulen und die rasante Erhöhung privater Insolvenzen verwiesen – ist dies die Sprache der hoffnungsvollen Zukunft in dieser Gesellschaft? Werfen wir einmal einen exemplarischen Blick auf die aktuelle Lage der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland, und zwar ohne die Brille der Verblendung durch die Medien.

Die Kampfbereitschaft wächst

Nun, zweifelsohne kann man festhalten, dass die Telekom-MitarbeiterInnen Recht behalten haben, als sie sich auf ihre selbstgemachten Transparente die Prognose schrieben: „Heute wir, morgen ihr!“ Bezüglich der Telekom waren die Forderungen des Unternehmens besonders offensichtlich ein Angriff auf die ArbeiterInnen, um auf deren Kosten das Unternehmen wettbewerbsfähig zu halten. 50.000 ArbeiterInnen sollten mehr arbeiten, und dies für weniger Geld. Die einzig richtige Antwort der MitarbeiterInnen lautete: Streik. Wochenlang zog er sich hin und am Ende lenkte die Gewerkschaft plötzlich ein. Die Unternehmensforderungen wurden mit Zustimmung der Gewerkschaft fast vollständig angenommen. Die Reaktionen der Streikenden waren klar vernehmbar: Wut und Enttäuschung. Manche fragten: „Hat sich der wochenlange Kampf überhaupt gelohnt? Unsere Niederlage ist doch so offensichtlich!“ Unsere Antwort: der Kampf hat sich gelohnt, wenn auch nicht auf der unmittelbaren Ebene, in Form einer Abwendung der Angriffe der kapitalistischen Marktgesetze. Und dennoch: die Telekom-ArbeiterInnen haben wichtige Kampferfahrungen gesammelt, haben eine große Sympathie von Seiten der restlichen arbeitenden Bevölkerung erfahren. Und was besonders wichtig ist: sie haben erfahren, dass die gewerkschaftlichen Kampfmethoden und der ganze Apparat der Gewerkschaften offenbar doch nicht ihren Interessen entsprechen. Kämpfen lohnt sich, aber man wird sich das nächste Mal überlegen müssen, wie man selbst seinen Kampf organisieren kann, um nicht mehr allein auf weiter Flur zu sein.

 

Wie es kürzlich eine Radiosprecherin ausdrückte: Jetzt treten die MitarbeiterInnen der Bahn in die Fußstapfen der Telekom-MitarbeiterInnen und streiken. Nachdem in den Medien in den ersten Tagen fast ausschließlich Bahnkunden zu Worte kamen, die sich sehr negativ über den Streik äußerten, musste in den folgenden Tagen das Bild offensichtlich nuancierter dargestellt werden, weil auch hier ein relativ großes Verständnis und Zustimmung zu vernehmen war und ist. Besonders entsetzt zeigten sich viele befragte ArbeiterInnen darüber, dass bei der Bahn die Beschäftigten, trotz ihrer enormen Verantwortung im Beruf, so wenig verdienen, wie etwa die Lokführer mit ihren familienfeindlichen Schichtplänen und knapp 1800 Euro Monatsgehalt. Was ist nun der Stand der Dinge in diesem Streik? Inzwischen haben die Gewerkschaften Transnet und die Gewerkschaft der Bahnangestellten (GDBA) einen neuen Tarifabschluss mit der Bahn vereinbart. Im Vergleich zum Streik bei der Telekom kam dieser Tarifabschluss relativ rasch zu Stande. Erfüllt die Gewerkschaft doch eine sinnvolle Aufgabe für die ArbeiterInnen? Das Argument bei den Verhandlungen war, dass die Bahn Rekordgewinne einfahre und diese daher selbstverständlich auch an die Mitarbeiter weitergeben müssen. Stolz präsentierte man dann auch den Tarifabschluss, den „höchsten seit Kriegsende“: 4,5 Prozent mehr Lohn, eine Einmalzahlung von ca. 600 Euro für eine Laufzeit von 19 Monaten. Was bleibt davon aber am Ende im Geldbeutel der Beschäftigen? Die Hälfte davon geht schon mal an den Staat, der bis 53 Prozent des Bruttolohns für Steuern und Sozialabgaben einkassiert, die gestiegene Mehrwertsteuer kommt noch hinzu – ganz zu Schweigen von der allgemeine Teuerungsrate, die offiziell mit 1,5 Prozent veranschlagt wird. Damit hätte man gerade so verhindert, dass sich die Arbeits- und Lebensbedingungen noch weiter massiv verschlechtern – fürs Erste.

 

Ist schwarz jetzt weiß? Ist Spaltung jetzt Solidarität?

Doch die Lage bei der Bahn wird nun noch etwas unübersichtlicher, denn es gibt ja noch eine Gewerkschaft, nämlich die der Lokführer (GDL). Die GDL ist ausgeschert und will ihren eigenen Tarifabschluss erringen. Forderung: 31 Prozent mehr Lohn. Argument: die Verantwortung der Lokführer ist mit der eines Piloten vergleichbar, doch verdienen speziell die Lokführer viel zu wenig. Hier sind wir mit einem ernsten Problem konfrontiert, das wir auch schon bei den Streiks des Flugpersonals und Krankenhauspersonals sehen konnten. Die besonders hoch qualifizierten Berufe wie Ärzte, Piloten und Lokführer fordern mit ihrer eigenen Gewerkschaft mehr Lohn als die anderen Mitarbeiter, indem sie die Unterschiede unter den Beschäftigten hervorheben. Dies aber führt zu einer Spaltung der Beschäftigten. Dies wird in den Medien auch dankbar aufgegriffen. So wird in der FAZ der Professor für Arbeitsrecht, Picker, zitiert: „Wie zuvor bei den Klinikärzten und Fluglotsen hätte sich eine ‚Elitegruppe’ innerhalb der Arbeitnehmerschaft, in diesem Fall die Lokführer, eine gesonderte tarifliche Stellung erkämpft.“ (9.7.2007) So wird dann weiter von „Elitestreiks“ gesprochen, wo es angeblich einzig und allein um eigene, „gesonderte Vorteile“ gehe. Aber nicht die hohe Forderung ist eine Frechheit, sondern allein die Tatsache, dass sie für eine Berufsgruppe allein gefordert wird, während fast alle Bahnbeschäftigten mittlerweile  zu der stets anschwellenden Armee der „working poor“ zählen. Während die Lokführergewerkschaft die Lokführer von ihren KollegInnen absondert, klagen die übrigen Gewerkschaften nicht etwa die Kapitalseite an, sondern hetzen im Gleichklang mit Bahnchef Mehdorn gegen die Lokführer. Statt auf die gewerkschaftliche Spaltung hereinzufallen und auf Teile der Belegschaft sauer zu sein, sollte man sich lieber fragen, was die wirklichen Ursachen für die immer schlechteren Arbeits- und Lebensbedingungen für die Beschäftigten sind. Es ist das kapitalistische Wirtschaftssystem, das Diktat der Konkurrenz, die Anarchie der Produktion um des Profits willen. Dem wird alles untergeordnet, ganz gleich, ob Menschen dabei auf der Strecke bleiben oder nicht. Und jede Institution welche uns, wie die Gewerkschaften, glauben machen will, dass ein bestimmter Teil der Belegschaft der Übeltäter ist oder dass wir als ArbeiterInnen im Kapitalismus doch eine Zukunft haben, kettet uns in Wahrheit nur noch mehr an diese Ausbeutung und Entfremdung.

 

Was also sehen wir, wenn wir die Brille der Verblendung abstreifen, die uns die Medien und die Gewerkschaften vor die Augen setzen? Wir sehen: Kämpfen lohnt sich! Denn wenn wir uns nicht wehren, greifen die Bossen uns umso härter an. Mehr noch, und sogar wichtiger, können wir viel an Kampferfahrung hinzugewinnen. So etwa, beim Telekomstreik, wo die Gewerkschaften ihr wahres Gesicht zeigen mussten. Nicht um die Interessen der Beschäftigten ging es den Gewerkschaften, sondern um etwas dem geradezu Entgegengesetztes: Das Wiedererlangen der Konkurrenzfähigkeit des betroffenen Unternehmens. Insgesamt zeigt uns ein  genauerer Blick auf den Tarifabschluss der Bahn mit Transnet und GDBA nicht etwa, dass die „Arbeitnehmer“ am „Aufschwung angemessen beteiligt“ seien, wie von allen Seiten behauptet, sondern dass wir um Kopf und Kragen kämpfen müssen. Es geht eigentlich nur noch darum, sich Verschlechterungen zu erwehren. Selbst bei den Lokführern der Bahn ist das so, wo die angeblich so hohen Forderungen nicht mal reichen, um die Verschlechterungen der letzten Jahre auch nur ansatzweise wettzumachen. So erzählen uns Lokführer, selbst wenn deren Forderungen durchgesetzt werden, damit rechnen, nur 150 Euro monatlich mehr herauszukriegen. Die Lokführer mussten die Erfahrung machen, dass in „unserer Demokratie“ doch nicht jeder einfach das Recht zum Streiken hat. So wurden ihre Warnstreiks zunächst gerichtlich verboten, was deutlich macht, dass der Staat sicher nicht die Interessen aller Bürger vertritt, sondern die des Kapitals.

Suche aus dem Labyrinth

 

Was wir heute erleben, sind erste zaghafte Keime massiver Kämpfe. Auch wenn die Kämpfe noch nicht über die Branchen hinweg ausgedehnt werden, so werden die Abstände zwischen den Kämpfen immer kürzer und die Solidaritätsbekundungen der übrigen Bevölkerung vernehmbarer. Es gibt zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass die ArbeiterInnen alle in einem Boot sitzen und wir uns nur gemeinsam erfolgreich zur Wehr setzen können. Gemeinsam zur Wehr setzen heißt aber auch, ohne und gegen die Gewerkschaften zu agieren, denn diese Organe identifizieren sich längst mit dem kapitalistischen System und sind ein Teil dessen Logik geworden. Diese spalterische, weil die kapitalistische Konkurrenz nicht in Frage stellende Sichtweise muss überwunden werden, wenn wir als arbeitende Bevölkerung eine Tendenz aufhalten wollen, die immer deutlicher wird: die Tendenz zum working poor. Oder mit den Worten von Marx: Neben der relativen tritt nun auch die absolute Verarmung der ArbeiterInnen. Es ist wohl etwas dran, dass heute die Arbeitslosenzahlen sinken, aber zu welchem Preis? Die Löhne werden immer mehr gedrückt, viele Neubeschäftigte sind ZeitarbeiterInnen, also prekär beschäftigt. Der so genannte Sozialstaat wird immer weiter abgebaut, so dass die Armut nicht nur der Hartz IV-Empfänger, sondern auch der Beschäftigten stetig zunimmt. Die Altersarmut wächst ebenfalls mit. Die Zukunft sieht also nicht sehr rosig aus, wenn wir dies alles so hinnehmen würden. Aber man sollte auch nicht resignieren; denn schon heute sieht man immer mehr Versuche der arbeitenden Bevölkerung, sich zur Wehr zu setzen, und mit diesen Kampferfahrungen können wir den Weg gemeinsam beschreiten, der uns in eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Profit und Elend führen wird.    20.07.07

 

Der Operaismus: Eine ökonomistische und soziologische Betrachtungsweise des Proletariats / 3

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Die ambivalente Haltung des Operaismus gegenüber der bürgerlichen Linken

 

Dem Operaismus ist es nie gelungen, seine eigene Herkunft kritisch und vollständig aufzuarbeiten. Um dazu in der Lage zu sein, hätte es der Bereitschaft zur konsequenten politischen Auseinandersetzung mit der Linken des Kapitals bedurft. Schließlich stammte ein Großteil der Begründer des Operaismus aus der italienischen KP, dem PCI, und aus der Sozialistischen Partei Italiens (PSI). Auch gab es viele Berührungspunkte mit den etablierten Gewerkschaften. Doch der Operaismus ist, wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ein gebranntes Kind des stalinistischen und sozialdemokratischen Umgangs mit politischen Fragen. Seine Begründer sind mit der Erfahrung groß geworden, dass Politik nichts anders als eine Metapher für Macht ist, und zwar für die Macht der Parteien über die Arbeiterklasse. Diese Erfahrung war ein nicht unwesentlicher Grund für die Unverbindlichkeit des Operaismus in politischen Fragen, für sein Zurückschrecken vor der letzten Konsequenz.

Wir wollen nicht leugnen, dass es in den operaistischen Strömungen in Italien durchaus Bemühungen um eine Klärung ihrer Haltung zu Gewerkschaften und zu den linksbürgerlichen Parteien gab. Jedoch blieben diese Klärungsbemühungen zumeist auf halbem Wege stehen, beschränkten sich auf Oberflächlichkeiten und widersprachen einander. Ein paar Beispiele: Raniero Panzieri, einer der Mitbegründer des Operaismus Anfang der sechziger Jahre, diagnostizierte zwar eine „Krise der Organisationen“, der Parteien und der Gewerkschaften, deren Ursache er in der Trennung zwischen Parteipolitik und Arbeiterkampf lokalisierte. Dennoch gab er seine Hoffnung auf eine Kehrtwende in den Gewerkschaften nie auf. Auch Romano Alquati und die von ihm mitherausgegebene Zeitschrift Quaderni Rossi äußerten nur moderate Kritik an den Gewerkschaften. Zwar konstatierten sie eine wachsende Ablehnung der Gewerkschaften durch die Klasse, insbesondere durch die sog. Massenarbeiter, doch erblickten sie die Ursache hierfür nicht in der Funktionsweise der Gewerkschaften, sondern in der Spaltungspolitik von PCI und PSI.

Etwas weiter in der Kritik an den Gewerkschaften ging Classe Operaia, die von einer veränderten Funktion der Gewerkschaften infolge der „Entstehung des gesellschaftlichen Kapitals“ sprach. Die Gewerkschaft sei zur „Mitspielerin der demokratischen Struktur der Gesellschaft“ und zu einer „immer organischeren Funktion des Plans des Kapitals“ geworden. Und die Gewerkschaftsfunktionäre seien mittlerweile genauso verhasst unter den Arbeitern wie Vorarbeiter, Werkschutz, etc. Nichtsdestotrotz vermeinte Classe Operaia immer noch die Existenz eines „gewerkschaftlichen Lebens innerhalb der Arbeiterklasse“ auszumachen und hielt es daher weiterhin für taktisch notwendig, Gebrauch von den eben noch denunzierten Gewerkschaften zu machen. Mario Tronti, Mitherausgeber von Classe Operaia, liebäugelte mit Lenins Haltung in der Gewerkschaftsfrage und favorisierte die Idee, „die Gewerkschaften über einen Transmissionsriemen an die Partei zu binden“; und in einem Editorial in Classe Operaia vom Juni 1964 wurde es gar für möglich gehalten, dass die künftigen neuen Organisationsformen des Klassenkampfs die... alten sein können, d.h. die „traditionellen Parteien“ und die Gewerkschaften.

Kurzum, die Haltung eines großen Teils des italienischen Operaismus der sechziger Jahre gegenüber den Linken und den Gewerkschaften war in gewissem Sinne eine Vorwegnahme der Politik der linksextremistischen Gruppen in den darauffolgenden Jahrzehnten: einerseits oberflächliche und unvollständige Kritik an diesen Säulen der kapitalistischen Herrschaft, andererseits Taktiererei, Opportunismus und Rückzug, wenn es um die Konsequenzen aus der Kritik ging.

Etwas anders verhielt es sich mit Potere Operaio veneto-emiliano (POv-e), einer von Negri u.a. 1966 gegründeten Gruppe und Zeitschrift. Sie brach mit den KPs und begründete dies mit der Rolle der französischen KP im Mai 68, als diese die Bewegung der französischen Arbeiter kanalisiert und provoziert habe. Dabei verstieg sich POv-e zu dem Urteil, dass 1968 für die KPs die gleiche Bedeutung gehabt habe wie das Jahr 1914 für die II. Internationale – dabei völlig verkennend, dass der Verrat durch die stalinistischen KPs 1968 bereits ziemlich genau vier Jahrzehnte alt war und dass diese Parteien seither alteingesessene bürgerliche Organisationen sind.

Was ihre Gewerkschaftskritik anbetrifft, so erwies sich POv-e als weitaus konsequenter als das restliche operaistische Milieu. Nachdem sie anfangs trotz ihrer Attacken gegen die Gewerkschaftsführung immer noch der Überzeugung gewesen war, dass die Arbeiterklasse die Gewerkschaften beeinflussen konnte, änderte sie in Folge des Streiks in der petrochemischen Industrie Italiens 1967 ihre Haltung. Nun hatte sich für POv-e „die Frage des ‚Gebrauchs‘ der Gewerkschaft ein für allemal erledigt“. Es sei in diesem Zusammenhang „Unsinn, von Verrat zu reden“, seien die Gewerkschaften doch zu Instrumenten des Kapitals geworden. Als nach 1970 sog. Delegiertenräte in der italienischen Industrie aufkamen, stießen diese Basisorgane, die von militanten Arbeitern gebildet worden waren und einen nicht unbeträchtlichen Zulauf hatten, unter den Operaisten mehrheitlich auf Ablehnung. An ihrer Spitze stand die POv-e, die befürchtete, dass die Gewerkschaften mittels dieser Delegiertenräte ihren verlorengegangenen Einfluss in der Klasse wieder wettmachten. Doch ungeachtet dessen entschieden sich etliche ihrer Mitglieder für eine Mitarbeit in den Delegiertenräten.

Hier rächte sich die ambivalente, unentschiedene Haltung des Operaismus in seiner Gesamtheit gegenüber der Frage der Gewerkschaft als solche. Bei aller Kritik an den bestehenden Gewerkschaften wie auch an den linksbürgerlichen Parteien unterließen die verschiedenen operaistischen Strömungen eine wirklich grundsätzliche und historische Analyse dieser Institutionen. Sie kritisierten die jeweilige Politik und Ideologie der Partei- und Gewerkschaftsführungen, näherten sich mithin dem Problem von empirischer Seite. Doch sie versäumten es, die Gründe für das „Versagen“ und die „Fehler“ dieser Institutionen in den materiellen Bedingungen eines Kapitalismus zu suchen, dessen historische Krise die Existenz permanenter und reeller Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse außerhalb revolutionärer Perioden verbietet und in dem solch traditionellen Arbeiterorganisationen wie die Gewerkschaften und die klassischen Arbeiterparteien nur überlebt haben, weil sie bereits vor langer Zeit in eine neue Rolle geschlüpft waren – in die Rolle von Sachwaltern des staatskapitalistischen Regimes im dekadenten Kapitalismus. Statt für Klarheit unter ihren eigenen Mitgliedern und in der restlichen Klasse zu sorgen, schufen die Operaisten Grauzonen, in denen die basisgewerkschaftliche Idee überlebte und in Gestalt sog. Fabrikkomitees, Fabrikaktivisten u.ä. neue Blüten schlug.

 

 

 

Der Operaismus – Versuch eines Resumees

 

Was ist der Operaismus? Worin besteht seine Eigenart? Worin besteht seine Attraktivität, die er zweifellos auf Teile unserer Klasse ausübte und ausübt?

Zum einen ist es -  neben einer gewissen Beliebigkeit in theoretischen, grundsätzlichen Fragen – vor allem die voluntaristische Haltung des Operaismus, die ihn in Zeiten eines gedämpften Klassenkampfes gerade unter den jungen Arbeitermilitanten so anziehend macht. Seine Hauptkritik am Marxismus gipfelt in dem Vorwurf, der Marxismus sei „deterministisch“; er lege vorrangigen Wert auf die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und vernachlässige dabei die Rolle der Arbeiterklasse. Ja, manche operaistische Ideologen (s. Castoriadis 1994) sprachen den ökonomischen Theorien des Marxismus jegliche Gültigkeit ab, da sie die „Selbsttätigkeit“ der Klasse, sprich: den Klassenkampf außer Acht ließen.

Der Anspruch des Operaismus war es dagegen, das Verhältnis zwischen den objektiven und subjektiven Faktoren in der Dynamik des Kapitalismus zugunsten Letzterer umzukehren – das bereits eingangs dieser Artikelreihe erwähnte „Primat des Klassenkampfes“. Nicht die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten beherrschen die Dynamik des Kapitalismus, sondern der Klassenkampf. Für den Operaismus reduzierte sich alles im Leben des Kapitalismus auf die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit um die Höhe der Ausbeutungsrate.

Abgesehen von der grotesken Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital, die ihn zu der gewagten Behauptung verleitete,  die Arbeiterklasse würde auch außerhalb der revolutionären Periode das Heft des Handels in der Hand halten – abgesehen davon, beging der Operaismus genau jenen Fehler, den er dem Marxismus vorwarf – nur in einer umgekehrten Version. Bezichtigte er den Marxismus der Missachtung der Selbsttätigkeit der Klasse, so leugnete der klassische Operaismus – wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen - die objektive, historische Krise des Kapitalismus. Als Kind der sog. Wirtschaftswunderjahre betrachtete er den „Neokapitalismus“ der 50er und 60er Jahre als ein System, das seine ökonomischen „Kinderkrankheiten“ überwunden hat und das allein von der „Selbsttätigkeit“ der Massen sabotiert werden kann.

Selbst als die Weltwirtschaftskrise im Verlauf der 70er Jahre immer unübersehbarer wurde, sahen die operaistischen Denkschulen keinen Anlass, ihre Scheuklappen gegenüber den objektiven, systemimmanenten Ursachen der Schwächeerscheinungen des Kapitalismus abzulegen. Im Gegenteil, getreu ihrem Motto, dass alles nur eine Frage des Klassenkampfes sei, bogen sie sich die Wirklichkeit zurecht. Entweder vermeinten sie hinter den Krisenerscheinungen „geplante Rezessionen“ zu erblicken, mit denen das Kapital den Widerstand der Arbeiter zu brechen beabsichtige. Oder sie glaubten in den Arbeiterkämpfen selbst die Auslöser der Krise zu lokalisieren: Demzufolge machte es der Widerstand der ArbeiterInnen den Kapitalisten unmöglich, dem tendenziellen Fall der Profitrate durch die Ausweitung der Arbeitszeit und/oder durch die Steigerung der Arbeitsintensität entgegenzuwirken, und bewirkte letztendlich eine „Profitkrise“ des Kapitals.

Zum anderen erklärt sich die Popularität, die der Operaismus in Teilen der Arbeiterklasse durchaus genoss (und heute noch genießt), aus seiner Eigenart, die ArbeiterInnen in ihrer politischen Unschuld zu lassen. Diese Eigenart kam sicherlich dem Umstand entgegen, dass die Arbeiterklasse besonders im Europa der Nachkriegsjahre und des Kalten Krieges durch die Politik ihrer angeblichen Arbeiterparteien schwer traumatisiert war; Politik war in weiten Teilen der Klasse zu einem anderen Wort für „schmutziges Geschäft“ geworden. So beschränkte sich der klassische Operaismus in seinen Schriften vorwiegend auf Analysen rund um die kapitalistische Produktion, auf Interviews mit betroffenen ArbeiterInnen, auf das Austüfteln von Strategien für die „Selbsttätigkeit“ der ArbeiterInnen an ihren Arbeitsplätzen.

Die Tabuisierung des Politischen im Operaismus führte dazu, dass in den vielen, wortreichen Beiträgen dieser Strömung ein Begriff so gut wie gar nicht vorkommt – das Wort „Kommunismus“. Nirgendwo, weder in Classe Operaia noch Quaderni Rossi oder in irgendeinem anderen Organ der zahlreichen operaistischen Strömungen wird der Kommunismus thematisiert – weder als Bewegung noch als Ziel. Kein Wort über die Russische Revolution oder über die Gründe ihrer Niederlage, keine Silbe über eine gesellschaftliche Alternative zum heutigen Kapitalismus – der Operaismus, der sich sonst äußerst eloquent über Ausbeutungsmechanismen, Arbeitsabläufe, Klassenzusammensetzungen u.ä. auslassen kann, wirkt seltsam wortkarg, wenn es um die politischen Konsequenzen des täglichen Kampfes der Arbeiterklasse geht – der revolutionäre Kampf um die politische Machteroberung und der Aufbau einer kommunistischen Gesellschaft.

Fassen wir zusammen: Indem der Operaismus einerseits die historische Krise des Kapitalismus und ihre objektiven Ursachen – die relative Sättigung des Weltmarktes – nicht anerkennt und andererseits das historische Ziel des Proletariats, den Kommunismus, völlig missachtet, entpuppt er sich nicht nur als voluntaristisch, sondern offenbart darüber hinaus in seinem ziellosen Aktivismus eine gewisse Nähe zum Bernsteinschen Motto: „Das Ziel ist mir nichts, die Bewegung alles“. Ohne wirkliches Ziel vor Augen wird der Kampf selbst zum eigentlichen Inhalt, zum Selbstzweck, der alle Mittel heiligt. Ob Absentismus, Sabotage, kollektiver Kaufhausdiebstahl, Schwarzfahren, Bummelstreiks – alles was dem Kapital schadet, ist dem Operaismus recht und billig.

Wir dagegen denken, dass es den Revolutionären nicht darum gehen kann, den einzelnen Kapitalisten wehzutun, sondern vielmehr darum, das kapitalistische Gesellschaftssystem zu stürzen. Und dazu bedarf es mehr als einiger Guerillaaktionen. Dazu bedarf es der bewussten „Selbsttätigkeit“ der gesamten Klasse. Mehr noch. Ein solch revolutionärer Ansturm erfordert eine Klasse, die sich der politischen Dimension ihres Kampfes bewusst ist. Sie muss sich bewusst werden, wofür sie kämpft, und nicht nur, wogegen. Sie muss raus aus der Defensive des ökonomischen Verteilungskampfes und rein in die Offensive des politischen Kampfes für eine Ablösung des kapitalistischen Klassengesellschaft durch den klassenlosen Kommunismus.

Gerade weil es hierin noch gewaltig in unserer Klasse mangelt, ist es um so dringlicher, dass die Revolutionäre ihrer Verantwortung gerecht werden. Und die besteht nicht darin, unsere Klassenbrüder und –schwestern ihrem „ökonomistischen“ Bewusstsein zu überlassen, wie es der Operaismus tut. Unsere Pflicht als Avantgarde der Arbeiterklasse ist es stattdessen, die Politisierung des Klassenbewusstsein mit all unseren bescheidenen Mitteln voranzutreiben.

Die Gruppe Eiszeit über den Streik in Reconvilier

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Wir veröffentlichen hier einen langen Auszug aus der politischen Bilanz eines Arbeitskampfes in der Schweiz, geschrieben von einem Mitglied der Gruppe Eiszeit[1] [1]. Anschliessend einige Betrachtungen der IKS:    

 

Streik und Fabrikbesetzung in Reconvilier - eine kritische Betrachtung

Einleitung

Der Streik bei Swissmetal in Reconvilier im Jahr 2006 war der intensivste Arbeitskampf in der Schweiz seit geraumer Zeit. Er hatte starke mediale Präsenz, beschäftigte gar den Bundesrat und in der Arena im Schweizer Fernsehen war er Thema eines ganzen Abends. Die folgende Analyse versucht den Arbeitskonflikt bei der Boillat, so der Name des Swissmetal Werkes in Reconvilier, möglichst exemplarisch zu betrachten um daraus allgemeine Schlüsse und Perspektiven für Interventionen hinsichtlich der Überwindung des Kapitalismus zu ziehen.

Perspektiven der Swissmetal

Heute verkauft die Swissmetal nur noch 37% ihrer Produkte in der Schweiz. Wie in der ganzen MEM–Industrie rechnete man auch bei der Swissmetal mit weiteren Absatzeinbussen im Inland und einem starken Wachstum in Asien. Zentrale Absatzbranchen der Swissmetal wie die Elektronik- oder Luftfahrtsindustrie produzieren fast ausschliesslich im Ausland. Die Swissmetal hatte also nur eine längerfristige Überlebenschance, wenn sie sich diesen äußeren Marktentwicklungen anpasste. Im Jahr 2005 publizierte der Verwaltungsrat der Swissmetal aufgrund der beschriebenen Entwicklungen ein Strategiepapier. Dieses umfasste drei Pfeiler:

* Die Swissmetal soll mit Vertrieb und einer Produktionsstätte in Asien präsent sein.

* Es sollen in Europa weitere vier bis fünf Standorte dazu gewonnen werden.

* Der Produktionsprozess in der Schweiz soll restrukturiert werden. Diese Restrukturierungen sehen aus Effektivitätsgründen eine Verlagerung der Giesserei von Reconvilier nach Dornach vor. Zudem sollten bis im Jahr 2010 rund 80 Arbeitsplätze in Reconvilier abgebaut werden.

 

Streik und Fabrikbesetzung

Auslöser

Das im Herbst 2005 publizierte Positionspapier der Swissmetal–Leitung war der eigentliche Auslöser des Streiks und der Fabrikbesetzung im vergangenen Jahr. Vor allem die Restrukturierungspläne (Verlagerung der Gießerei von Reconvilier nach Dornach und Abbau von rund 80 Stellen) stiessen bei der Belegschaft der Boillat auf Unmut. Der Kern des Arbeitskampfes in Reconvilier war ein regionalpolitischer. Seit jeher sind in der Boillat Autonomiebestrebungen vorhanden. Man hat sich in der Boillat nie mit der Swissmetal angefreundet, auch nicht mit der Belegschaft in Dornach (im ersten Streik bei der Boillat im Jahr 2004 trat die Belegschaft in einen wilden Streik, da die Swissmetal-Leitung den Werkdirektor in Reconvilier entließ. Dieser weigerte sich, eine Standort übergreifende Betriebssoftware einzuführen).

Der Streik und die regionale Solidarität

Auch im Jahr 2006 entschied sich die Belegschaft unabhängig von der Gewerkschaft Unia, die Arbeit niederzulegen. Erst danach schaltete sich die Unia ein. Während des über 30-tägigen Streikes wurde die Fabrik besetzt und das darin lagernde Material zurückgehalten. Die Belegschaft hätte den Streik und die Fabrikbesetzung nie so lange aufrechterhalten können, wenn sie nicht von der ganzen Region unterstützt worden wäre. Lebensmittellieferungen, Solidaritätsfonds von Kleinbetrieben, Befehlsmissachtungen der lokalen Polizei usw. waren Teil der breiten Unterstützung in der Region, welche einen lokalpatriotischen Ursprung hatte. Kleinunternehmer solidarisierten sich mit den Streikenden nicht etwa, weil sie besonders gute Menschen sind, sondern da sie vom Standort Reconvilier profitierten. Bürgerliche Politiker solidarisierten sich mit den Arbeitern nicht etwa, weil sie Marx gelesen haben, sondern aus politischer Profilierung.

 

Gewerkschaft und die Linke

Hetze gegen das Finanzkapital

Der ganze Arbeitskampf war begleitet von viel Spekulation. Allem voran stand die Angst, Swissmetal wolle den Standort Reconvilier ganz zerstören. Verschiedene Kräfte, allen voran die Gewerkschaft Unia, interpretierten das Strategiepapier als Versuch, die Boillat zugunsten des spekulativen Finanzkapitals zu verscherbeln. Obwohl diese Befürchtung nie einen rationalen Kern hatte, hielten Unia und andere Kräfte an dieser These fest. In etlichen Flugpapieren ist die Rede vom „gierigen“ Finanzkapital, von dem „Heuschrecken-Manager“ Hellweg, welcher die Boillat zugunsten der kurzfristigen Profitinteressen des Finanzkapitals zerstören wolle. Auch linke Gruppierungen übernahmen diese Behauptungen kritiklos. So war in einem Flugblatt einer libertär-sozialistischen Gruppierung zu lesen: „Die branchenfremde Reißbrettstrategie [!] von Swissmetal wird sich nicht schmerzlos umsetzen lassen“. Und etwas weiter im selben Flugblatt: „Aber das ist etwas, dass Hellweg, Sauerländer und die Börsenspekulanten [!], die den Kauf der deutschen Gießerei […]“. Heute spricht niemand mehr von der Zerstörung der Boillat. Die Unia schreibt in ihren neueren Mitteilungen gar: „Der Belegschaft werde empfohlen [von der Unia], auf weitere Kampfmassnahmen zu verzichten und sich auf die Swissmetal-Strategie einer einzigen Gießerei für den ganzen Konzern einzulassen“. Der Kern des letztjährigen Streiks bei der Boillat war die geplante Verlagerung der Giesserei und die daraus resultierenden Befürchtungen, die vor allem von der Unia geschürt wurden, dass die Boillat noch ganz zerstört werde. Ein Jahr später fordert dieselbe Institution die Lohnarbeiter der Boillat auf, die geplante Verlagerung der Giesserei zu akzeptieren. Swissmetal-Verwaltungsratspräsident Sauerländer warf der Unia gezielte Verschleierung der Tatsachen zugunsten eigener Interessen vor. Dieser Vorwurf, auch wenn er von einem Vertreter des Kapitals kommt, scheint offensichtlich nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Die Unia

Während des ganzen Arbeitskampfes spielte die Unia eine sehr opportunistische Rolle. Der

Entscheid nach 4-wöchigem Streik und Fabrikbesetzung, die Arbeit wieder aufzunehmen, wurde von den Unia-Strategen beschlossen und in einer kurz angelegten Betriebsversammlung durchgepeitscht. Brisant daran ist die Tatsache, dass an der erwähnten Betriebsversammlung rund 120 Arbeiter nicht teilnahmen, da diese sich nach der Spätschicht in der permanent besetzten Fabrik im Bett befanden. Was sich auf das Abstimmungsresultat über die Wiederaufnahme der Arbeit noch stärker auswirkte, war die subtile Drohung der Unia, den Streik bei einer Weiterführung nicht mehr zu unterstützen. Dass die Gewerkschaft Unia in Reconvilier keineswegs die Interessen der Lohnarbeiter vertrat, wird noch durch eine andere Tatsache verdeutlicht: Vor dem Streik waren rund 80% der Lohnarbeiter Mitglied der Unia, heute sind es noch 50%.

 

Die Belegschaft

Allgemeine Situation

Der Konflikt rund um die Boillat war begleitet von sehr speziellen Bedingungen. Dazu zählt der starke Regionalpatriotismus, welcher z.B. verantwortlich dafür war, dass erst sehr spät das Gespräch mit der Belegschaft in Dornach gesucht wurde. Dazu zählt auch die Tatsache, dass im ersten Streik im Jahre 2004 die Belegschaft für den Erhalt eines eigenen „jurassischen“ Direktors kämpfte und der zweite Streik im Jahr 2005 vom werkeigenen Management ausgelöst wurde. Trotz alledem war die Situation die, dass Lohnarbeiter für mehr Mitspracherecht und gegen Entlassungen kämpften. Ob die Befürchtungen einer Verscherbelung der Boillat gerechtfertigt waren oder nicht, spielt hinsichtlich der Belegschaft auch keine Rolle. Die wirren Spekulationen über die Zerstörung der Boillat gehen auf das Konto der Unia und anderen selbsternannten Interessensvertreter der Lohnarbeiterklasse. Wenn während des Arbeitskampfes in den besetzten Fabriken über die Macht des Finanzkapitals, über den „bösen“ Hellweg, statt über die Macht des Kapitals und den Scheiß Kapitalismus gesprochen wurde, dann hat dies mit der Verschleierung der Tatsachen eben dieser Interessenvertretungen zu tun.

Zunehmende Politisierung

Wie länger der Streik dauerte, desto grundsätzlicher wurden die aufgeworfenen Fragen. Nach dem Beschluss, die Arbeit wieder aufzunehmen, protestierte ein Teil der Belegschaft, unabhängig von der Gewerkschaft, in Zürich vor dem Gebäude eines Hauptaktionärs der Swissmetal. Bei einem Teil der Belegschaft zeigte sich in Gesprächen, dass sich die ernüchternde Erkenntnis durchgesetzt hat, dass nicht der „böse“ Hellweg für all das Übel verantwortlich sei, sondern die Gesetzmäßigkeiten des Systems. Ein resignierter Arbeiter meinte, er sei frustriert:  Solange sich andere Arbeiter nicht mit ihrem Kampf solidarisieren (z.B. die Belegschaft in

Dornach), sei die Situation hoffnungslos.

 

Resumée

Objektive Situation

Der Arbeitskampf in Reconvilier konnte nur scheitern. Denn es handelte sich um nichts anderes als um den Hauptwiderspruch der kapitalistischen Warenproduktion: auf der einen Seite der Sachzwang des Kapitals, auf der anderen Seite das Interesse der Lohnarbeiter. So banal es tönen mag, die einzige Lösung wäre die Überwindung des Kapitalismus gewesen, wofür die objektiven Verhältnisse natürlich nicht vorhanden waren. Doch wie soll man als Revolutionär mit dieser Situation umgehen?

Die Gewerkschaft und die Linke

Es wurde bereits gezeigt, dass die Gewerkschaft als integrative Kraft im Kapitalismus nur versagen kann, wenn die Forderungen der Lohnarbeiter über das im Kapitalismus Machbare hinausschießen. Die Gewerkschaft kann nicht bloß nur versagen, sie stellt sich, wie im Falle Reconvilier, gegen die Interessen der Lohnarbeiter. Die Interessen der Institution Gewerkschaft laufen deren der Lohnarbeiter entgegen. Verschiedene Linksradikale unterstützten den Kampf der Boillat-Belegschaft, indem sie selbst Schichten übernahmen und somit die Fabrikbesetzung aufrechterhielten. Wieder andere bauten zusammen mit Teilen der Belegschaft ein Sozialzentrum auf, eine Plattform, wo diskutiert und informiert wurde. In der „Uzine 3“, so der Name des Sozialzentrums, wurde durch ständige Informationskampagnen auch versucht, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und den Streik in der Boillat mit anderen Arbeitskämpfen zu verbinden. Heute wird in der „Uzine 3“ vorwiegend Karten gespielt...

Perspektiven

Es braucht revolutionäre Arbeiterorganisationen. Deren Funktion sollte es sein, Kämpfe zu unterstützen, zu versuchen, den gemeinsamen Charakter der verschiedenen Bruchstellen in der Gesellschaft und eine kommunistische bzw. revolutionäre Perspektive aufzeigen. In der momentanen objektiven Situation kann ein Arbeitskampf wie derjenige in Reconvilier nicht gewinnen, er kann aber auch nicht verlieren. Denn die Entlassungen und die Verlegung der Gießerei

wären im Falle der Boillat so oder so vonstatten gegangen. Gewonnen werden können jedoch Erfahrungswerte. Gewonnen werden kann das Selbstvertrauen, das Gefühl gekämpft zu haben, gemeinsam gekämpft zu haben. Gewonnen wurde im Falle Reconvilier zu guter Letzt die Erkenntnis einer gemeinsamen Lage, welche ethnische Herkunft und allerlei sozikulturelle Konstrukte hinter das gemeinsame Interesse des wirklichen, materiellen Lebens stellt. Dieser Text ist eine Kurzfassung des Referats, welches im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Den kapitalistischen Alltag durchbrechen“ in mehreren Städten vorgetragen wurde.

Ein Mitglied der Gruppe Eiszeit [email protected] [2] www.eiszeit.tk [3].

 

Für die klassen- und staatenlose Gesellschaft!

 

Kommentar der IKS:

Zuallererst gilt es die Anstrengung hinter dieser Bilanz eines Arbeitskampfes zu begrüssen. Wie im letzten Abschnitt treffend beschrieben, muss die Arbeiterklasse „Erfahrungswerte“ aus ihren Kämpfen ziehen und diese weiter tragen. Auch nach „verlorenen“ Streiks bleibt eine Erfahrung zurück. Sie muss aber benannt und ausgesprochen werden. Genau dies ist eine der Hauptaufgaben revolutionärer Organisationen innerhalb der Arbeiterklasse.

Wir schliessen uns auch vollständig der Stellungnahme gegen die Gewerkschaften an, die nicht etwa in naiver Enttäuschung über eine fehlende Radikalität der Gewerkschaft Unia lamentiert. Es wird klar ausgesprochen, dass die Gewerkschaften heute generell ein Instrument zur Integration der Arbeiterklasse in den Kapitalismus sind und keinesfalls die Interessen der Arbeiterklasse vertreten. Illusionen über einen radikaleren Kurs der Gewerkschaften oder gar neue, „kämpferische“ Gewerkschaften zu schüren ist ein Markenzeichen linksextremistischer Organisationen, die damit nur ihre Rolle als verkappte Organe des Kapitalismus wahrnehmen.

Auf eine im Text von Eiszeit aufgeworfene Sorge wollen wir kurz eingehen: die Frage der Dynamik, Politisierung und Perspektive, und in diesem Zusammenhang den erwähnten Regionalismus innerhalb der Arbeiterklasse. Es ist oft hilfreich, Streiks (neben der Untersuchung spezifischer Besonderheiten) aus einem internationalen Blickwinkel zu betrachten. Dies schlicht und einfach deswegen, weil der Kapitalismus eine weltumspannende Produktionsweise ist und die Arbeiterklasse über eine internationale historische Tradition verfügt. Arbeitskämpfe finden meist aufgrund spezifischer Angriffe gegen eine Belegschaft oder einen Sektor statt, doch sind diese Angriffe gerade heute deutliche Ausdrücke einer sich international verschärfenden Krise, auch wenn die herrschende Klasse von „Aufschwung“ redet. Seit 2003 hat die Arbeiterklasse in verschiedensten Ländern verstärkt Kämpfe geführt (Frankreich, Deutschland, USA, Bangladesh, Indien, Dubai, Ägypten, Großbritannien, Spanien). Wir sind überzeugt, dass ein wesentlicher Faktor, der die Belegschaft von Swissmetall bei der mutigen Aufnahme ihres Streiks stützte, ein heute international anwachsendes Selbstvertrauen ist, das sich innerhalb der Arbeiterklasse beobachten lässt. Es wäre absolut verfehlt, Theorien über einen „besonders kämpferischen Typus Arbeiter“ in der jurassischen Region zusammenzuschustern.

Dennoch ist es unabdingbar, ehrlich zu sein und Schwächen innerhalb der Arbeiterklasse aufs Tapet zu bringen. In dieser Sorge stellt Eiszeit fest, dass ein vorhandener „Regionalpatriotismus“ ein wichtiges Hindernis zur notwendigen Ausdehnung des Streiks darstellte. Eine solche Feststellung bezieht sich natürlich nicht nur auf die Arbeiter in Reconvilier, sondern auch auf die Belegschaft vom Swissmetall-Standort Dornach, die sich dem Kampf ihrer Kollegen nicht anschlossen. Verglichen mit dem Beispiel aus dem Sommer 2004, als die Beschäftigten von Daimler-Chrysler in Bremen sich direkt mit den Kollegen in Baden-Württemberg solidarisierten, sticht beim Streik bei Swissmetall die Hürde des Regionalismus deutlich ins Auge. Die Arbeiterklasse leidet auf internationaler Ebene nach wie vor insgesamt unter dieser Schwäche und die Arbeiter in Reconvillier bilden keine Ausnahme. Regionalistische und - auf höherer Ebene - nationalistische Beschränktheiten werden der Arbeiterklasse durch die bürgerliche Ideologie als tagtägliches Gift in die Wiege gelegt und tauchen selbst in kämpferischsten Situationen auf: Selbst beim  Massenstreik 1980 in Polen, wo von Regionalismus nur noch wenig zu spüren war, scheiterte diese Bewegung im Wesentlichen aufgrund der nationalen Isoliertheit der polnischen Arbeiterklasse, an deren Durchsetzung die nationalistischen Ideen der Gewerkschaft Solidarnosc ebenso beteiligt waren wie die Hetzkampagnen der Bourgeoisie der benachbarten Staaten gegenüber der Arbeiterbewegung in Polen.

Woher rühren solche Tendenzen zum Regionalismus? Gehen sie von der Arbeiterklasse selbst aus? Der Arbeitskampf bei Swissmetall zeigt uns deutlich, dass es die bewussten Aktivitäten politischer Organisationen der herrschenden Klasse (von Rechts bis Links) waren, die das Klima der Solidarität auf eine lokalpatriotische Ebene abzudrängen versuchten. Dasselbe hatte die Belegschaft des Cardinal-Betriebes in Fribourg vor einigen Jahren exemplarisch erlebt, als sich alle lokalen bürgerlichen Parteien an die Spitze ihres Protestzuges drängten. Die Arbeiterklasse selbst, die vom Regionalismus oder Nationalismus nie irgendwelchen Nutzen hat, kann unter Druck in solche Fallen tappen, sie ist aber durch ihren internationalen Charakter nicht wirklich Ausgangspunkt solcher Tendenzen. Der „Lokalpatriotismus“ oder Nationalismus entspringt dem Wesen der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft. Die heutige Situation einer international zunehmenden Kampfbereitschaft und Solidarität ist der beste Rahmen um diese Schwäche zu überwinden. Zudem ist die Arbeiterklasse heute immer stärker mit politischen Fragen wie dem Krieg und der Umweltzerstörung konfrontiert, die sich nur auf internationaler Ebene beantworten lassen.

20.07.07

 

[1] [4] Der vollumfängliche Text kann unter www.eiszeit.tk [3] nachgelesen werden. Aus Platzgründen haben wir den Abschnitt über die Entwicklung der schweizerischen Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie weggelassen.  

 

 

Ein Willkommensgruß an den Kern der IKS in Brasilien

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Wir möchten gern an dieser Stelle unsere Leser über die Schaffung eines IKS-Kerns in Brasilien informieren. Dies wird erheblich zur Entwicklung einer politischen Präsenz unserer Organisation im wichtigsten Land Lateinamerikas beitragen – in einem Land, das die größten industriellen Konzentrationen in dieser Weltregion aufweist und eines der größten Länder weltweit ist. In diesem Land existiert ein Milieu proletarischer Gruppen und von Menschen, die revolutionären Positionen entgegenstreben. Wir haben in unserer Presse und auf unserer portugiesischenWebsite bereits auf die Arbeiteropposition (OPOP) und auf folgende Ereignisse hingewiesen: die Abhaltung gemeinsamer öffentlicher Treffen und die Veröffentlichung einer gemeinsamen Stellungnahme über die soziale Lage; die Veröffentlichung (auf Portugiesisch) eines Berichts über eine Debatte zwischen unseren beiden Organisationen über den historischen Materialismus und Texte von OPOP, die wir als besonders interessant erachten. Als Ausdruck dieses gegenseitigen Interesses nahm OPOP auch an der Arbeit des 17. Kongresses unserer Sektion in Frankreich und am 17. Internationalen Kongress teil.

 

Auch in Sao Paulo ist eine Gruppe im Entstehen begriffen, die von den Positionen der Kommunistischen Linken beeinflusst ist. Erst kürzlich haben wir regelmäßige politische Beziehungen zu dieser Gruppe aufgenommen, einschließlich gemeinsamer öffentlicher Treffen.

 

Wir hoffen sehr, dass unsere Zusammenarbeit mit diesen Gruppen immer enger und fruchtbarer wird. Diese Perspektive steht keineswegs in Widerspruch zu unserem Ziel, eine spezifische politische Präsenz der IKS in Brasilien zu entwickeln. Im Gegenteil, unsere dauerhafte Anwesenheit in diesem Land wird es ermöglichen, die Zusammenarbeit zwischen unseren Organisationen zu verstärken. Dies umso mehr, als unser Kern und die OPOP bereits eine lange gemeinsame Geschichte teilen, die sich auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen gründete.

 

Die Bildung unseres Kerns ist eine Konkretisierung der Arbeit, die die IKS vor 15 Jahren begonnen hatte. Diese Arbeit ist in jüngster Zeit durch die Kontakte, die wir zu verschiedenen Gruppierungen und Individuen aufgenommen haben, und durch das Abhalten öffentlicher Veranstaltungen in verschiedenen Städten intensiviert worden, von denen einige – nämlich jene, die wir an Universitäten abhielten – äußerst gut besucht waren. Für uns ist dies nicht das Ende eines Prozesses, sondern ein bedeutsamer Schritt bei der Weiterentwicklung der Positionen der Kommunistischen Linken auf dem südamerikanischen Kontinent. Weit davon entfernt, lediglich eine brasilianische Ausnahme darzustellen, ist dies Teil eines weltweiten Phänomens – das Auftreten von Gruppierungen als Resultat einer Wiederbelebung von weltweiten Kämpfen und der Tendenz der Arbeiterklasse, revolutionäre Minderheiten in die Welt zu setzen.

 

 IKS im Juni 2007

Eine Bilanz des G-8 Gipfels: Das Rütteln am Zaun

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Der G8-Gipfel in Heiligendamm ist zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen. Eine Bilanz des Gipfels wie auch der Gipfelproteste. Was haben sie gebracht? Das Unbehagen der Mächtigen

Das Gipfeltreffen der Mächtigen hat – vom Standpunkt der Regierenden selbst betrachtet – einen verheerenden Eindruck hinterlassen. Das letzte Mal, als die Regierungchefs der führenden Industrieländer in Deutschland zusammenkamen – damals in Köln –, speisten sie im Schatten des Kölner Doms, im Herzen der Innenstadt. Heute undenkbar. Heutzutage treffen sie sich in der Abgeschiedenheit eines in Vergessenheit geratenen mecklenburgischen Ostseebades und müssen sich dennoch hinter Verteidigungslinien verschanzen. Nichts könnte eindrücklicher den Verlust an Ansehen und Popularität der demokratisch gewählten „world leaders“ in den Augen der eigenen Bevölkerungen verdeutlichen.
Die Maßnahmen, die getroffen wurden, um die Sicherheit der Herrschenden zu garantieren, riefen in der ganze Welt üble Assoziationen hervor. Der millionenteure, zwölf Kilometer lange Sicherheitszaun mit „NATO-Stacheldraht“ erinnerte manchen an die Berliner Mauer, andere an die Sperranlagen der US-Grenze zu Mexiko oder an die Demarkationslinien der Kriegsparteien in Nordirland oder zwischen Israel und Palästina. Die Entnahme von „Geruchsproben“ „potenzieller Verbrecher“ im Vorfeld des Gipfels, um sie speziell abgerichteten Polizeihunden zuzuführen, belebte eine altbewährte Methode der ostdeutschen Staatssicherheit wieder. Was die Einsperrung Hunderter von Demonstranten in Käfigen nach der Demonstration vom 2. Juni in Rostock betrifft – wo sie die Nacht über ohne Kontakt zu ihren Anwälten und überhaupt zur Außenwelt festgehalten und bei ununterbrochener Beleuchtung wachgehalten und gefilmt wurden –, so musste jeder unwillkürlich an Guantanamo denken. Haben nicht die führenden Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union jahrelang gegen die menschenunwürdige Unterbringung und Behandlung der Gefangenen in Guantanamo durch die Vereinigten Staaten protestiert? Die Tatsache, dass jetzt mitten in Europa Gefangene ebenfalls in Käfige eingesperrt werden, wirft ein anderes Licht auf diese Proteste. Es wird deutlich: Was die Führer Europas missbilligen wollten, war nicht die Unmenschlichkeit, sondern die in Guantanamo zum Ausdruck gekommene Machtdemonstration der USA.
Und tatsächlich: in Heiligendamm ist nicht nur der Ansehensverlust der Mächtigen der Industriestaaten und ihre Angst vor der eigenen Bevölkerung sichtbar geworden, sondern auch ihre Zerstrittenheit. Während die Sprecher von ATTAC und die Anführer der „künstlerischen Opposition“ wie Campino oder Grönemeyer die G8 als eine Art Weltregierung bezeichnen, knisterten die tödlichen Rivalitäten der führenden Industrieländer kaum verborgen unter der Oberfläche. So versuchte Russlands Präsidenten Putin, das amerikanische Vorhaben zu torpedieren, ein Raketenabwehrsystem in Osteuropa aufzubauen. Er tat so, als schenkte er den Beteuerungen Washingtons Glauben, dieses amerikanische Abwehrschild richte sich vornehmlich gegen den Iran, und schlug Bush vor, dieses System gemeinsam in Aserbaidschan (in unmittelbarer Nachbarschaft zum Iran also) zu errichten. Bush zeigte sich - nachdem er sich von einer plötzlichen Magenverstimmung erholt hatte -  „offen“ und „interessiert“. Doch sobald der G8-Gipfel beendet war, eilte er nach Warschau, um zu versichern, dass der Abwehrschild auf jeden Fall dort errichtet werden soll. Hintergrund dieser pikanten Geschichte: vorausgesetzt, es funktioniert tatsächlich, würde dieses Militärprojekt die Vereinigten Staaten in die Lage versetzen, die Raketenarsenale aller anderen Staaten zu neutralisieren. Damit würden die USA ihre militärische Überlegenheit erheblich ausbauen, auch gegenüber anderen G8-Staaten wie Russland, Frankreich oder Großbritannien.
Aber nicht nur die Zerstrittenheit – genauer gesagt: die kapitalistischen Interessensgegensätze und die imperialistischen Rivalitäten – der führenden Industrieländer wurde sichtbar, sondern auch und noch mehr ihre Unfähigkeit, Antworten auf die großen Schicksalsfragen der Gegenwart zu finden. Gerade weil die Augen der Welt auf Heiligendamm gerichtet waren und gerade wegen der peinlichen Verschanzung der „Volksvertreter“ mussten die Gipfelteilnehmer darauf bedacht sein, jeden Eindruck eines Scheiterns dieses Gipfels zu vermeiden. Es war eher diesem „Erfolgsdruck“ als der Gipfeldiplomatie von Frau Merkel (der von einem deutschen Revolverblatt der Titel „unsere Miss World“ verliehen wurde) zu verdanken, dass Bush sich in der Klimafrage auf die Position der Europäer hinzubewegte und die Vereinten Nationen als „Dachorganisation“ der Klimapolitik nicht mehr prinzipiell ausschließt! Was kam dabei heraus? Eine Absichtserklärung, derzufolge die G8 „ernsthaft in Betracht zieht“, Maßnahmen zu ergreifen, um den Anstieg der Klimaerwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen. Wenn nicht der Gipfel von Heiligendamm, so wird wenigstens diese Formulierung in die Geschichte eingehen. Eines Tages werden sich vielleicht die ehemaligen Bewohner längst versunkener Küstenregionen daran erinnern.

Die Ohnmacht des schwarzen Blocks

Wie ein Überbleibsel aus einer längst versunkenen Welt wirkte die Kulisse des einst mondänen Seebads von Heiligendamm. Die Weltführer zeigten sich hinter ihrem Zaun zerstritten und zur planvollen Umgestaltung der Welt unfähig. Hatten sie wirklich so viel Angst vor einigen zehntausend Protestierenden? Kamen sie sich nicht ein wenig lächerlich vor?
Polizeitechnisch betrachtet, wäre es ein Leichtes gewesen, sich die Demonstranten auch ohne Zaun vom Halse zu schaffen. Das Sicherheitsproblem dieses Gipfels war nicht so sehr militärischer als politischer Natur. Wie die Protestierenden zur „Räson“ bringen, ohne das sinkende Ansehen der Regierungen in der Bevölkerung noch mehr zu schädigen? Soll heißen: Wie diejenigen einschüchtern, die es wagen, das System zu hinterfragen, ohne die diktatorische Fratze der parlamentarischen Demokratie sichtbar werden zu lassen?
Dieses Problem erwies sich als lösbar. Erheblich dazu beigetragen hat die politische Unbeholfenheit des „schwarzen Blocks“. Dabei stellen wir die antikapitalistischen Absichten der großen Mehrheit der autonomen Szene keineswegs in Frage. Aber der Weg zur Hölle ist bekanntlich mit guten Absichten gepflastert. Die großen Schwächen dieses Milieus sind die Theoriefeindlichkeit und die Gewaltverherrlichung. Diese Grundauffassungen teilt dieses Milieu leider mit manch anderer politischen Bewegung, die keineswegs antikapitalistisch eingestellt ist. Denn es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Gewalt an sich revolutionär oder auch nur radikal ist. In diesen Irrtum gefangen, begriff der schwarze Block nicht, dass das Unbehagen der Regierenden von Heiligendamm nicht polizeilicher, sondern politischer Natur war. Die Staatsmacht suchte nach einem Vorwand für den eigenen Einsatz von Gewalt. Dazu war es lediglich nötig, die am 2. Juni nach Rostock zur Auftaktdemo Anreisenden kaum zu kontrollieren und den schwarzen Block ohne die übliche massive Polizeieinkesselung marschieren zu lassen. Provokateure unter den vermummten Demonstranten mögen das Ihre beigetragen haben, um eine Eskalation der Gewalt in Gang zu setzen. Es reichte jedenfalls, um gegenüber den Medien aus aller Welt den Eindruck zu erwecken, als sei die Staatsmacht die wehrlose, angegriffene Partei. Die Demonstranten, die vor Ort waren, wissen es besser. Die ganz große Mehrheit der während dieser Gipfeltage festgenommenen und zusammengeschlagenen Menschen hat keine Gewalt ausgeübt, ja vielfach versucht, sie zu verhindern. Dabei ging es aber nicht nur darum, die Protestierenden ordentlich zu verdreschen. Es ging auch um die Frage, welche Bilder um die Welt gehen und die Wirkung des Gipfels auf die Bevölkerung prägen. Das Image von angeblich wehrlosen Polizisten lässt vielleicht den Eindruck des Zauns vergessen machen... Mehr noch: nicht nur vor Ort wird die wirkliche Frage verdrängt. Man diskutiert, wenn überhaupt, nur noch um die Frage, ob man „friedlich“ oder „gewaltsam“ protestieren soll. Die wirkliche Frage wird verdrängt: Wofür kämpft man?

Die Sackgasse der Antiglobalisierungsbewegung

Aber nicht nur die Vermeidung von Debatten über die Perspektive unsere Gesellschaft droht das Potenzial der Infragestellung des Systems zunichte zu machen. Auch die Ideologie der „Globalisierungsgegner“ selbst erwies sich erneut als Sackgasse.
Auffallend: aus ganz Deutschland, teilweise aus der ganzen Welt kommen Menschen zusammen, um gegen Verarmung und Ausbeutung zu protestieren. Sie kommen in eine Gegend, wo eine Erwerbsloslosenrate von über 20 Prozent herrscht - Mecklenburg-Vorpommern. Sie protestieren in einem Land, in dem Massenentlassungen, Werksschließungen, Ausgliederungen von Produktionsstätten, Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen zum Alltag gehören.  Gerade während des Gipfels streikten Zehntausende bei der Telekom gegen eine 12%-ige Lohnkürzung sowie eine – unbezahlte – Ausdehnung der Arbeitszeit um wöchentlich vier Stunden. Die Lage in Deutschland ist stellvertretend für die Entwicklung in allen G8-Ländern, ja in allen Industrieländern. Dennoch wurde bei den Anti-G8-Protesten zu keinem Zeitpunkt die Verarmung, die zunehmende Ausbeutung, sprich: die soziale Lage in den Industrieländern thematisiert. Nirgends wurde die Verbindung des Kampfes der Lohnabhängigen in den Industrieländern zum Kampf gegen globale Armut, Krieg und Umweltzerstörung hergestellt!
Wie erklärt sich diese verblüffende Unterlassung? Sie ist kein Zufall. Die Ideologie der Antiglobalisierung schließt eine solche Verbindung aus. Diese Ideologie, ein Kind der Zeit nach dem Fall der Mauer, rühmt sich ihres praktischen Charakters. Sie ist stolz darauf, angeblich keine neuen Ideologien zu predigen und keinen Utopien nachzuhängen. Dennoch ist und bleibt das Weltbild von ATTAC und Freunden eine Ideologie. Es teilt die Welt in zwei Lager ein, in das Lager der Industrieländer und in jenes der Armenhäuser dieser Welt, und behauptet, das Erstere lebe von der Ausbeutung des Letzteren. Diese Sichtweise verschließt sich gegenüber dem Kampf der arbeitenden Bevölkerung in den Industrieländern, indem sie diese Länder undifferenziert als privilegierte Zonen betrachtet, ohne den Klassencharakter dieser Gesellschaften selbst zu berücksichtigen. Andererseits betrachtet sie die Bevölkerung der Armutsländer ebenfalls als eine undifferenzierte Masse. So werden die arbeitenden Menschen dieser Länder mit ihren Ausbeutern vor Ort in ein Boot geschmissen. Sie werden zu passiven Opfern herabgestuft, die ausgerechnet auf die Hilfe der G8 angewiesen seien. So verschließt man die Augen vor der Notwendigkeit, aber auch der Möglichkeit des gemeinsamen Kampfes der Lohnabhängigen aller Länder, die den Kampf der Ausgebeuteten der ganzen Welt gegen die herrschende Weltordnung anführen können und müssen.

Zaun und Kapitalismus

Ein wenig unbeholfen wirkte diese waffenstarrende Welt von Heiligendamm angesichts des jugendlichen Elans und des aufkeimenden Idealismus einiger Zehntausend Protestierender, die nach Alternativen zum Kapitalismus suchen. Um zu versuchen, diese Unbeholfenheit zu überspielen, ließen die Mächtigen der Welt „Gegengipfel“ organisieren. Ein unter dem Dach der UNESCO stehender Gipfel der Kinder und Jugend ließ acht handverlesene Jugendliche mit den sichtlich genervten und desinteressierten Staatschefs „diskutieren“.
Die protestierende Jugend lief indessen unentwegt zum Zaun. Viele waren wirklich sehr jung. Und schon wenden sie sich angewidert von der herrschenden Weltordnung ab. Sie träumten davon, den Gipfel zu stören, zu blockieren. Sie wollten ihn sogar belagern. Sie wollten am Zaun rütteln. Eine Illusion. Die waffenstarrende Macht des Staates lässt sich nicht so leicht in die Enge treiben. Aber die aufrüttelnde Jugend hat etwas anderes erreicht, etwas, was mehr bedeutet. Sie haben diesen Zaun zum Symbol gemacht. Zum Symbol dieses Gipfels. Zum Symbol dieser Weltordnung. Die Menschheitsgeschichte lehrt uns, wie wichtig Symbole sind für die Entwicklung des Klassenkampfes. So die Erstürmung der fast leerstehenden, aber symbolträchtigen Bastille am Anfang der französische Revolution.
Was bedeutet heute der Zaun? Zäune weisen die Verzweifelten ab, die dort Zuflucht und menschlichen Beistand suchen, wo noch kein Krieg, keine Dürre oder Hungersnot herrscht. Zäune riegeln den Besitz der Herrschenden ab. Die Reichen riegeln ihre Wohlviertel immer mehr ab. Sie leben verbarrikadiert. Zäune bzw. Mauern trennen irrsinnig aufeinander gehetzte Volksgruppen auf dem Balkan oder im Nahen Osten. Andere, unsichtbare Zäune halten die Produkte aus anderen Weltgegenden ab.
Die linken Professoren und Politiker von ATTAC wettern gegen die Globalisierung. Aber die Jugend spürt, dass das Problem nicht die wachsende Globalität der Gesellschaft ist, sondern die Zäune. Einst brach der Kapitalismus auf, um die ganze Welt zu erobern. Dabei riss er alle chinesischen Mauern nieder, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest schrieben. Aber er vereinigte die Menschheit nicht. Er schuf lediglich die Voraussetzungen dafür. Zugleich erhob er etwas zum Weltprinzip, auf dem letztlich alle Zäune der modernen Geschichte ruhen, ob der Stacheldraht von Auschwitz oder die Berliner Mauer: das Prinzip der Konkurrenz. Die Jugend von Heiligendamm hat Recht. Es gilt, alle Zäune niederzureißen. Der Zaun ist entstanden mit dem Privateigentum, der Keimzelle des modernen Kapitalismus. Diese Keimzelle hat sich zur beherrschenden Macht aufgeschwungen, zur Bedrohung der Menschheit. Die Überwindung des Zauns bedeutet in Wahrheit die Überwindung des Privateigentums von Produktionsmitteln. Sie bedeutet die Ablösung der Konkurrenzgesellschaft durch eine Welt der gemeinschaftlichen Produktion und der Solidarität.   13.06.07

Zur ersten Ausgabe des Heftes 'aufheben' - Debatte über Religion

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Im letzten Herbst haben wir online einen Leserbrief zum Thema Religion zusammen mit einer ersten Reaktion dazu veröffentlicht[i] [5]. Diese Artikel „Die lebendige Blume brechen“ von Riga und „Kommentare zum Beitrag des Genossen Riga“ von der IKS sind nun zwei von insgesamt sieben Beiträgen eines Heftes mit dem Titel aufheben - Ansichten aus der Klassengesellschaft, das Anfang dieses Jahres erschienen ist.

Das Projekt dieser Broschüre „ist als Idee in einem Hamburger Diskussionszirkel entstanden“ (aus dem Editorial), und wir finden nicht nur die Idee fruchtbar, sondern sehen die erste Ausgabe von aufheben als Ort und Ausdruck einer proletarischen Debatte im deutschsprachigen Raum, die hoffentlich fortgesetzt wird[ii] [6]. Die Texte stammen von Einzelpersonen, politischen Gruppen und Diskussionszirkeln. Eine gemeinsame Grundlage aller publizierten Beiträge ist der Anspruch, die herrschende kapitalistische Ordnung revolutionär zu überwinden. Die Herausgeber schreiben im Editorial, dass sie sich entschieden hätten, „eine Zeitschrift zur Verfügung zu stellen, die sich unabhängig von bestehenden revolutionären Organisationen entfaltet, ohne uns jedoch als deren Konkurrenten zu betrachten. Wir fordern alle GenossInnen auf, sich an dieser Debatte offen und aufgeschlossen zu beteiligen. Egal, ob als Individuum, oder als Kollektiv. Ob als Kommunisten, Sozialisten oder Anarchisten. In diesem Sinne verstehen wir uns pluralistisch.“ Diese Offenheit für die Debatte beruht gleichzeitig auf einem bewussten proletarischen Klassenstandpunkt. Jeder Verteidigung der herrschenden Ordnung und ihrer Logik wird eine Absage erteilt. Allen Beteiligten geht es um eine weltweite Beseitigung des Kapitalismus, als „internationalistische, kosmopolitische Kommunisten“ bestehen sie auf einem klaren Trennungsstrich: „So haben wir z.b. keine Gemeinsamkeiten mit den alten und neuen Antiimperialisten, die nach dem Motto ‚der Feind meines Feindes ist mein Freund’ derzeit positive Seiten im Klerikal-Faschismus islamischer Prägung entdecken, oder mit sog. Antideutschen, die nach dem gleichen Prinzip die USA zum Hort der Zivilisation und Retter der Menschheit erklären.“ (aus dem Editorial, Hervorhebungen hier und in allen weiteren Zitaten nach dem Original)

Nachdem wir uns im bereits publizierten Artikel mit Rigas Beitrag befasst haben, möchten wir an dieser Stelle insbesondere auch auf weitere interessante Fragen in den anderen fünf Texten eingehen. Drei davon sind ebenfalls Antworten auf Rigas Text, nämlich „Auf dass wir das irdische Jammertal des Kapitalismus beenden“ von Red Devil (Unabhängige Rätekommunisten), eine „Diskussionssynthese zur Frage der Religion“ des Politischen Diskussionszirkels Rheinland und „Thesen zu ‚Die Lebendige Blume brechen’“ von TZ, Zürich. Am Schluss folgen noch ein historischer Aufsatz aus Belgrad aus dem Jahre 1969 mit dem Titel „Sozialistischer Humanismus und Religion“ und ein Aufsatz von Genossinnen und Genossen aus Frankreich, der im Sommer 2006 entstanden ist: „Die Präsenz einer Illusion. Aus: ‚La Lettre de Troploin’ No 7“.

 

Der vulgäre Atheismus

 Allen Texten gemeinsam ist eine Ablehnung und Kritik des vulgären Atheismus, wie er etwa in Stalins Russland gepredigt und später auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks Staatsdoktrin wurde.

Miladin Zivotic aus Belgrad würdigt in seinem Artikel die Verdienste der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts im Kampf gegen den mittelalterlichen Mystizismus und Aberglauben. Bezogen auf die Gegenwart (d.h. Jugoslawien 1969) hält er aber fest: „Das allgemeine Niveau dieser Kritik bildet heutzutage jedoch die Basis eines vulgären Atheismus, rationalistischer Einseitigkeit und primitiver Antireligiosität. Diese Kritik erkennt vor allem nicht die historische Notwendigkeit religiösen Bewusstseins und dessen soziologisches Äquivalent: der Glaube ist nicht dasselbe wie Aberglaube und Unwissenheit. Wäre Unkenntnis die Quelle der Religion, hätte dann die Entfaltung der Wissenschaften, mit deren Hilfe der Mensch in die tiefsten Tiefen der Naturgeheimnisse eindringt, nicht die Bedingungen für ihr Absterben und ihre Aufhebung geliefert? (...) Inhuman ist es, den Menschen die Religion zu entziehen, die ihrer bedürfen, ohne gleichzeitig die Veränderung einer Wirklichkeit zu fordern, in der die Religion häufig das einzige therapeutische Mittel individueller Frustration darstellt.“ (S. 39 f.)

Ausführlich argumentieren auch La Lettre de Troploin und Riga in die gleiche Richtung. Dieser kritisiert die Freidenkerbewegung, die im 19. Jahrhundert aufkam und in der Arbeiterbewegung bis in die 1930er Jahre eine Rolle spielte; die Freidenker erkannten nicht, dass der Atheismus als bloß abstrakte Negation auch eine Art Religion, ein Glaubensbekenntnis ist. Sie ignorierten die Kritik des Atheismus, wie sie vom marxistischen Flügel der Arbeiterbewegung von den Anfängen über Luxemburg bis Pannekoek formuliert worden war. Riga zeigt aber auch auf, dass die heutigen Linken mit ihrer Religionskritik „die modernen Freidenker“ sind (S. 18).

Dazu schreibt TZ in seinem Beitrag: „Wenn ihr aber über die linke Religionskritik schreibt, dass sie bürgerlicher Natur sei, so geht ihr damit zu weit. Gerade in Zeiten, in denen das Programm der Abschaffung nicht auf der Tagesordnung steht, scheint mir Ideologiekritik und damit auch die Kritik der Religion nicht bloss Beigemüse, sondern wichtige Aufgabe kommunistischer Kritik und Praxis. Wobei klar sein muss, dass Ideologiekritik keine „Disziplin“ ist, welche von der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen getrennt wäre.“ (S. 34)

Zwar ist hier nicht klar, was mit dem „Programm der Abschaffung“ gemeint ist. Bezieht sich die Abschaffung auf die Religion? Genau die Beiträge, die den vulgären Atheismus kritisieren, zeigen auf, dass die Religion unabhängig von der gerade geltenden Tagesordnung gar nicht abgeschafft werden kann: Und dennoch bleibt es richtig, dass die Kritik an den bestehenden Verhältnissen oft mit der Kritik an der Religion ansetzt, (um Marx zu paraphrasieren) da die Religion eine der ältesten und im inneren Kern des Menschen am stärksten wirkende Form der Entfremdung darstellt. Man soll den bürgerlichen Atheismus auch in seiner linken Form verwerfen, ohne aber den proletarischen Kampf um die Überwindung der Religion mit zu ‚verdammen‘.

 

Die Quellen der religiösen Bedürfnisse

Zivotic erinnert daran, dass Engels im „Anti-Dühring“ zu Recht gemeint habe, Religion werde es solange geben, wie es den Staat gebe, „denn das Bestehen des Staates ist die reale Tatsache einer ‚höheren Macht’, die über den Menschen steht“. Die Religion sei der ideologische Ausdruck dieser Macht, deren Widerspiegelung, wodurch sich das Abhängigkeitsgefühl bestätige und verstärke. Der Glaube an Gott sei das Bedürfnis nach Aussöhnung mit dieser Welt, in welcher der Mensch kein freies, sondern ein abhängiges Wesen sei (S. 37). Dies lässt umgekehrt den Schluss zu, dass in der klassenlosen Gesellschaft, in der es keinen Staat mehr braucht und der Mensch frei ist, auch keine religiösen Bedürfnisse mehr existieren. 

Im Politischen Diskussionszirkel Rheinland hat ein Teilnehmer aber seine Zweifel daran geäußert, dass das Bedürfnis nach Religion im Kommunismus verschwinde. „Zwar würde es keine religiöse Institutionen wie die Kirche als Herrschaftsapparat mehr geben, aber den Glauben an etwas außer der Welt Stehendes könnte im Menschen doch weiter bestehen.“ (S. 29) In eine ähnliche Richtung geht auch ein Argument Zivotics, wenn er die scheinbar paradoxe Behauptung aufstellt, „dass die Religion, hätte sie ihren Ursprung in der Unkenntnis der Dinge, niemals zu existieren aufhörte. Die menschliche Erkenntnis ist kein Prozess der Annäherung an eine fixierte Realität, die wir nach und nach erkennen und damit den Bereich des Unbekannten zu verringern vermögen. Im Gegenteil: je mehr der Mensch erkennt, um so größer wird die Sphäre des Unbekannten, um so höher wird die Zahl der Konfliktsituationen, in die er durch die Realität gerät.“ (S. 39)

Hier drängt sich die Frage auf, die insbesondere im Zirkel Rheinland diskutiert wurde, nämlich aus welchen Quellen sich das Bedürfnis nach Religion speist. Zunächst einmal wurde klar, dass das Phänomen der Religion älter ist als die Klassengesellschaft. Es entstand schon im Urkommunismus. In der Diskussionssynthese des Zirkels werden drei Hauptquellen der Religion erwähnt, die sich im Laufe der Debatte über Rigas Beitrag herauskristallisiert hätten: Erstens die Abhängigkeit der Menschen von der Natur; zweitens die Beziehungen der einzelnen Menschen zur Gesellschaft; und drittens – eigentlich ein Sonderfall der ersten Kategorie – die Angst vor der eigenen Sterblichkeit (S. 30). Dies deckt sich mit der Auffassung von Zivotic, der zum Beleg Ludwig Feuerbach zitiert: „…das Grab des Menschen (ist) die Geburtsstätte der Götter (…). Wenn der Mensch nicht stürbe, wenn er ewig lebte, wenn also kein Tod wäre, so wäre auch keine Religion“ (S. 37, mit Quellenangaben).

Im Diskussionszirkel Rheinland wurde dazu von mehreren Teilnehmern und Teilnehmerinnen die Auffassung vertreten, dass die Menschen in der klassenlosen Gesellschaft, da sie Teil eines Kollektivs sein werden, anders und besser mit dieser Angst vor dem eigenen Tod wie auch mit der Angst vor dem Tod der Anderen umzugehen wissen werden, da die Gemeinschaft weiterleben wird. Es ist sicher schwierig – wenn nicht unmöglich – diese Frage aus heutiger Sicht zu beantworten. Wir sind zu weit von einem solchen befreiten Zustand entfernt. Doch leuchtet die Antwort, die im Zirkel aufgetaucht ist, ein: In dem Maße, wie das Individuum sich aufgehoben fühlt im Kollektiv der menschlichen Gesellschaft und der Natur, sind die Voraussetzungen für einen wesentlich anderen, vielleicht angstfreieren Umgang mit dem Tod gegeben. In diesem Zusammenhang sollten wir uns auch fragen, ob denn das Gegenteil unserer eigenen Sterblichkeit: die individuelle Unsterblichkeit, wünschenswert wäre. Mindestens in der Literatur und namentlich in Mythen erscheint die Unsterblichkeit oder die fehlende Möglichkeit, die Welt der Lebenden zu verlassen, immer wieder auch als Pein und Strafe[iii] [7].

Interessant ist auch, dass sich dieses Aufgehobensein des Individuums in Gesellschaft und Natur als Antwort auf alle drei im Zirkel Rheinland genannten Quellen der Religion anbietet: auf die Abhängigkeit von der Natur mit dem Sonderfall der eigenen Sterblichkeit sowie auf den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft. Und dieses ‚Aufheben‘ ist ja nicht von ungefähr auch Titel und Programm des hier diskutierten Heftes: „Die immanente Dialektik von „Aufheben“ symbolisiert für uns die Entwicklung des Menschen und der Menschheit, mit sich selbst und zu sich selbst, als einzigen historischen Prozess.“ (aus dem Editorial)

Auch der Beitrag von Red Devil unterstreicht die enge Verwandtschaft zwischen den genannten Abhängigkeiten: „Die Menschen unserer Tage begegnen der Allmacht und der Gewalt des Marktes, d.h. der Allgegenwart des Kapitalverhältnisses und dem Totalitarismus der Ware, gleich hilflos und ohnmächtig wie einst die Menschen der vorindustriellen Zeit den Naturgewalten. So wie es einst die Allmacht Gottes und die Gottesfurcht richten sollte, so setzt heute das offizielle Vertrauen auf die Allmacht der Märkte und die Leistungsbereitschaft der ArbeiterInnen.“ (S. 26 f.).

Eine Teilnehmerin des Diskussionszirkels hob hervor, dass die Naturgewalten heute nicht mehr das wichtigste Moment für den Glauben seien, wohl aber das Gefühl der Unsicherheit im Kapitalismus, dass vielleicht noch nie größer gewesen sei. Grund sei die Anarchie der Produktion im Kapitalismus. Man könne noch so gut qualifiziert sein oder noch so gut seine Arbeit machen, eine Arbeitsplatzgarantie gebe es nicht. Dies schüre natürlich Existenzängste, ein Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber den unsichtbaren Marktgesetzen. So falle es vielen Menschen schwer, gerade heute zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. „Mit anderen Worten, die zweite Quelle für die Religion, nämlich die Beziehungen der einzelnen Menschen zur Gesellschaft ist heute ein zentraler Grund für die Gläubigkeit.“ (S. 31)

Dieser Gedanke ist auch in Rigas Beitrag zentral: Er zeigt auf, dass sich die Welt heute in einem Zustand der Implosion befindet, was zu einer entsprechenden Verunsicherung der Leute führt. Das Kräfteverhältnis zwischen den beiden Hauptklassen im Kapitalismus, der Bourgeoisie und dem Proletariat, befindet sich in einer Patt-Situation. Keine der beiden Klassen kann ihre „Lösung der generalisierten Krise des Wertes durchsetzen“. Das Resultat davon ist ein drohendes Versinken der Welt in Chaos und Barbarei. Der Fundamentalismus, welcher als Tendenz in allen alten Religionen gegenwärtig wieder deutlich zum Vorschein komme, sei der Reflex auf den unaufhaltsamen Niedergang der postulierten Ideale dieser Religionen. Er komme zum Ausdruck als Aufschrei gegen das, was das „Volk“ und seine politische Kaste als Werteverlust beklagten. Der Verlust der Werte sei aber nur Ausdruck des Niedergangs der Wertegesellschaft selbst. Religion sei zum Ausdruck eines auf globaler Ebene implodierenden Gesellschaftssystems geworden (S. 9 f.).

 

Die Selbstverständigung unter Revolutionären

Allen Texten gemeinsam ist also auch der Wille, diese Welt der Unsicherheit und der zunehmenden Barbarei revolutionär zu verändern. Und für alle ist klar, dass eine solche Überwindung der heute herrschenden (Un-)Ordnung nur durch die Arbeiterklasse vollbracht werden kann, die auf diesem Weg ein klares Bewusstsein über den jetzigen Zustand und die Ziele in der Zukunft braucht: „Wenn die Arbeiterklasse Illusionen hat, muss sie dafür bitter zahlen – im Gegensatz zur Bourgeoisie, die nicht ohne Illusionen leben kann.“ (S. 32)

Die Diskussion ist ein unabdingbares Mittel der Bewusstseinsbildung. Es ist deshalb nicht nur naheliegend, sondern eine unabdingbare Notwendigkeit, dass sich diejenigen, die die herrschende Ordnung revolutionär überwinden wollen, miteinander über das Ziel und die möglichen Wege dorthin verständigen. Die „Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ ist seit den ersten Regungen des Proletariats als revolutionäre Klasse ein Ziel der Kommunisten und ihrer Publikationen gewesen[iv] [8].

Dies schließt die Notwendigkeit ein, sich von den Positionen der Bourgeoisie – auch ihrer linken Teile – abzugrenzen, welche Entschlossenheit auch im Editorial zum Ausdruck kommt (vgl. oben). Zur Abgrenzung gegenüber bürgerlichen Positionen gehört auch, dass man den Opportunismus als solchen erkennt und entlarvt. Opportunismus bezeichnet die politische Haltung, die um eines größeren Einflusses Willen bereit ist, proletarische Prinzipien zu opfern. Für eine proletarische Gruppe ist also der Kampf gegen den Opportunismus ein mehr als nur legitimes Ziel. Genau von diesem Interesse ist offensichtlich auch der Beitrag von Red Devil „Auf dass wir das irdische Jammertal des Kapitalismus beenden“ beseelt.
Diese richtige Sorge ist aber bei ihm kombiniert mit einer Angst, sich mit gewissen Positionen inhaltlich auseinanderzusetzen. Er grenzt sich von allem ab, was von weitem irgendwelche Gemeinsamkeiten mit bürgerlichen, namentlich stalinistischen Positionen zu haben scheint, aber auf eine Weise, die ebenso prinzipienlos ist wie der Opportunismus selber. Diese Versteifung führt bei Red Devil nicht nur zu einer schematischen Schubladisierung von anderen politischen Positionen, sondern auch zu Unterstellungen, zu Verfälschungen derselben.

So scheint er allen Ernstes zu meinen, dass „der IKS der Blick“ dafür fehle, „dass Menschen gewisse Bedürfnisse haben, die in Form von Ideologien wie der Religion und anderen Waren befriedigt werden“ (S. 26). Er unterstellt der IKS eine „Kautskyanische-Leninsche Position der Partei“, nach der alles „Gute“ oder „Schlechte“ von außen komme und von Experten in die Klasse hineingetragen werde bzw. werden müsse (S. 24). Man muss keineswegs sämtliche Texte der IKS zu diesen Themen gelesen haben, um zu wissen, dass sie ungefähr das Gegenteil dessen sagt, was ihr Red Devil unterstellt. So ist eine Kernaussage unserer Plattform, dass die Klasse und die Organisation ihrer Avantgarde nicht getrennt werden können und diese gerade nicht außerhalb der Klasse steht (Punkt 16 der IKS-Plattform).

Der Kampf gegen den Opportunismus erfordert klare Kriterien, und diese müssen mit der notwendigen Strenge angewandt werden. Es reicht nicht, Verdächtigungen auszusprechen und sich irgendwelchen gedanklichen Assoziationen hinzugeben; vielmehr muss zur Überzeugung anderer Diskussionsteilnehmer die Kritik belegt werden können.

Diese kritischen Bemerkungen stellen aber nicht den Beitrag als ganzen oder gar die Qualität des Heftes in Frage. Im Gegenteil: Gewisse Schwächen in einer Diskussion können uns die Augen für neue Fragen, z.B. diejenige des Verhaltens unter Revolutionären öffnen, und so auch wieder zur Klärung beitragen. Vorausgesetzt, es besteht ein Klima der offenen Debatte. Und genau dieses meinen wir, in diesem Heft vorgefunden zu haben.

 

Weltrevolution, 07.07.07

 

[i] [9] Leserbrief zum Thema Religion [10] und Kommentare der IKS zum Leserbrief über Religion [11].

[ii] [12] Offenbar besteht die Idee, den Fragen Faschismus – Antifaschismus und Islamismus – Antisemitismus eine weitere Ausgabe von aufheben zu widmen (S. 33).

[iii] [13] Beispielsweise El inmortal von Jorge Luis Borges; oder das Schicksal von Prometheus, den Zeus an einen Felsen im Kaukasus fesselte; oder weniger ernsthaft, aber doch eindeutig die Piraten im Film Der Fluch der Karibik.

[iv] [14] Vgl. Marx, Brief an Ruge, September 1843 (MEW Bd. 1 S. 346), und Die Internationale, Eine Monatszeitschrift für Praxis und Theorie des Marxismus, April 1915, Zur Einführung.


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