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Internationale Revue 40

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Internationale Revue Nr. 40

Der 17. Kongress der IKS: Eine internationale Verstärkung des proletarischen Lagers

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Ende Mai hat die IKS ihren 17. Internationalen Kongress abgehalten. Da die revolutionären Organisationen nicht um ihrer selbst willen existieren, sondern ein Ausdruck des Proletariats sind und gleichzeitig als aktive Faktoren im Leben der Arbeiterklasse wirken, ist es ihre Aufgabe, an die gesamte Klasse über die Arbeit dieses besonderen Augenblickes zu berichten, den solch ein Kongress darstellt. Diesem Ziel dient dieser Artikel, welcher die Resolution über die internationale Situation ergänzt, welche auf dem Kongress angenommen wurde und in dieser Nummer der Internationalen Revue ebenfalls veröffentlicht ist.

Alle Kongresse der IKS sind natürlich wichtige Momente im Leben unserer Organisation. Dennoch muss gesagt werden, dass dieser Kongress noch bedeutender war als die vorhergegangenen, da er einen bedeutenden Schritt in der mehr als 30jährigen Geschichte der IKS darstellt.[1]

Die Anwesenheit anderer Gruppen des proletarischen Milieus

Dies wird hauptsächlich anhand der Präsenz von Delegationen dreier Gruppen des internationalen proletarischen Lagers auf unserem Kongress deutlich: OPOP[2] aus Brasilien, SPA[3] aus Südkorea, EKS[4] aus der Türkei. Eine andere Gruppe, Internasyonalismo von den Philippinen, war ebenfalls zu unserem Kongress eingeladen worden. Aber trotz ihrer Entschlossenheit, eine Delegation zu unserem Kongress zu entsenden, war es ihnen nicht möglich gewesen zu kommen. Doch hat diese Gruppe dem Kongress eine Grußbotschaft und Stellungnahmen zu den Hauptberichten übermittelt, die wir der Gruppe geschickt hatten.

Die Beteiligung mehrerer Gruppen an einem Kongress der IKS ist nichts Neues. Bereits in der Vergangenheit, in ihrer Gründungsphase, hatte die IKS Delegationen anderer Gruppen an unseren Kongressen willkommen geheißen. So beteiligten sich an unserem Gründungskongress im Januar 1975 die Revolutionary Workers Group aus den USA, Pour une Intervention Communiste aus Frankreich und Revolutionary Perspectives aus Großbritannien. Auch auf unserem 2. Kongress (1977) war eine Delegation des Partito Comunista Internazionalista (Battaglia Comunista) anwesend. Zu unserem 3. Kongress (1979) kamen Delegationen der Communist Workers Organisation (Großbritannien), des Nucleo Comunista Internazionalista und von Il Leninista (Italien) sowie ein einzelner Genosse aus Skandinavien. Später konnten wir aber diese Praxis leider aus von uns unabhängigen Gründen nicht fortsetzen: Einige Gruppen verschwanden, andere Gruppen entwickelten sich hin zu linksextremen Positionen (wie der NCI) oder schlugen einen sektiererischen Kurs ein (CWO und Battaglia Comunista). Letztere waren für die Sabotage der Internationalen Konferenzen der Gruppen der Kommunistischen Linken verantwortlich, die Ende der 1970er Jahre stattgefunden hatten[5]. So war mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, ehe die IKS wieder andere Gruppen auf ihrem Kongress begrüßen konnte. Als solches war also schon die Beteiligung von vier Gruppen[6] auf unserem 17. Kongress ein wichtiges Ereignis.

Die Bedeutung des 17. Kongresses

Die Bedeutung dieses Kongresses geht weit über die Tatsache hinaus, dass wir in der Lage waren, diese Praxis wieder aufzunehmen, die ein Kennzeichen der IKS seit ihren Anfängen darstellte. Noch bedeutsamer ist die Existenz und Haltung dieser Gruppen. Sie sind Teil einer historischen Entwicklung, die wir schon auf unserem letzten Kongress folgendermaßen umrissen hatten: „Das Hauptanliegen des Kongresses war sowohl die Wiederbelebung des Kampfes der Arbeiterklasse als auch die damit einhergehende Verantwortung unserer Organisation, besonders hinsichtlich der Entwicklung einer neuen Generation von suchenden Menschen, die sich in Richtung einer revolutionären politischen Perspektive bewegen." (https://en.internationalism.org/ir/122_16congres [1]).

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regimes 1989 hat die „ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das ‚Scheitern des Kommunismus‘, den ‚endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus‘, das ‚Ende des Klassenkampfes‘, ja das Ende der Arbeiterklasse selbst (...) dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war tiefgreifend und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst (...) Erst im Laufe des Jahres 2003 begann sich das Proletariat vor allem durch die großen Mobilisierungen in Frankreich und Österreich gegen die Angriffe auf die Altersrenten wieder von den Rückschlägen nach 1989 zu erholen. Seither hat sich die Tendenz zur Wiederaufnahme von Klassenkämpfen und zur Entwicklung des Bewusstseins bestätigt. Arbeiterkämpfe haben in den zentralen Ländern stattgefunden, und zwar auch in den wichtigsten wie den USA (Boeing und öffentlicher Verkehr in New York 2005), Deutschland (Daimler und Opel 2004, Klinikärzte im Frühjahr 2006, Deutsche Telekom im Frühjahr 2007), Großbritannien (Londoner Flughafen im August 2005, öffentlicher Dienst im Frühjahr 2006), Frankreich (Studenten und Schüler gegen den CPE im Frühjahr 2006), aber auch in einer ganzen Reihe von peripheren Ländern wie Dubai (Bauarbeiter im Frühjahr 2006), Bangladesh (Textilarbeiter im Frühjahr 2006), Ägypten (Textil- und Transportarbeiter im Frühjahr 2007)." („Resolution über die internationale Lage", vom 17. Kongress angenommen)

„Heute geht wie 1968 (anlässlich des historischen Wiederaufflammens der Arbeiterkämpfe, die der vier Jahrzehnte währenden Konterrevolution ein Ende bereitet haben) der Anstieg der Klassenkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher, bei dem das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, nur die Spitze des Eisbergs darstellt." (ebenda)

Deshalb war die Präsenz mehrerer Gruppen des proletarischen Milieus auf unserem Kongress und ihre sehr offene Haltung in den Diskussionen (die sich deutlich abhebt von der sektiererischen Haltung der „alten" Gruppen der Kommunistischen Linken) keineswegs ein Zufall: Sie ist ein wesentlicher Bestandteil der neuen Entwicklungsetappe im Kampf der Weltarbeiterklasse gegen den Kapitalismus.

Während der Diskussionen auf dem Kongress wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch Schilderungen aus verschiedenen Ländern immer wieder unterstrichen - von Belgien bis Indien, von den Ländern des Zentrums bis zu den Ländern der Peripherie. Dies wird sowohl in den wieder erstarkenden Arbeiterkämpfen als auch im Denkprozess unter den Suchenden einer politischen Debatte verdeutlicht, die sich auf die Positionen der Kommunistischen Linken zu bewegen - eine Tendenz, die sich einerseits in der Integration neuer Genossen in unsere Organisation (einschließlich in Ländern, wo bis dato lange keine neuen Integrationen stattgefunden hatten), andererseits in der Bildung eines Kerns der IKS in Brasilien zeigt. Dies ist für uns ein wichtiges Ereignis, da es die Präsenz unserer Organisation im größten Land Südamerikas, mit den gewaltigsten Industriekonzentrationen dieses Teils der Erde und auch weltweit, konkretisiert. Die Entstehung des Kerns in Brasilien ist das Resultat einer engagierten punktuellen Arbeit der IKS in den letzten 15 Jahren, welche sich in letzter Zeit intensivierte. Es entstanden Kontakte mit verschiedenen Gruppen und Einzelpersonen, vor allem OPOP, von der eine Delegation an unserem 17. Kongress teilnahm, aber auch mit einer Gruppe aus Sao Paulo, welche sich unter dem Einfluss linkskommunistischer Positionen gegründet hatte und mit der wir regelmäßige politische Kontakte aufgenommen haben, so zum Beispiel eine gemeinsam abgehaltene öffentlichen Diskussionsveranstaltung. Die Zusammenarbeit mit diesen Gruppen steht in keinem Widerspruch zu unserem Willen die spezifische organisatorische Präsenz der IKS in Brasilien zu verstärken. Ganz im Gegenteil wird unsere dauernde Präsenz in diesem Land auch die Zusammenarbeit unserer Organisationen verstärken, vor allem auch deshalb, weil zwischen unserem Kern und der OPOP schon eine lange gemeinsame Geschichte besteht, die von Vertrauen und Respekt geprägt ist.

Die Diskussionen auf dem Kongress

In Anbetracht der besonderen Bedingungen, unter denen der Kongress tagte, stand die Behandlung der Arbeiterkämpfe als erster Punkt auf der Tagesordnung. An zweiter Stelle untersuchten wir die nun auftauchenden neuen revolutionären Kräfte. Wir können in diesem kurzen Artikel nicht im Detail auf die stattgefundenen Diskussionen eingehen: Die ebenfalls in dieser Internationalen Revue veröffentliche Resolution zur internationalen Situation liefert eine Synthese ihrer Hauptelemente. Was wir hier allerdings betonen wollen, sind die neuen und spezifischen Merkmale der gegenwärtigen Entwicklung im Klassenkampf. Es wurde insbesondere auf Faktoren hingewiesen, die alle dazu führen werden, die Arbeiterkämpfe zu politisieren: Erstens das Ausmaß der kapitalistischen Krise, zweitens die Massivität der Angriffe gegen die Arbeiterklasse, drittens die dramatische Zuspitzung der militärischen Barbarei und viertens die wachsende Bedrohung durch die Umweltkatastrophe. Die Lage unterscheidet sich insofern ein wenig von der Situation nach dem historischen Wiedererstarken des Arbeiterkampfes nach 1968, als der Spielraum, über den der Kapitalismus damals noch verfügte, es diesem ermöglicht hatte, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass „die Zukunft etwas Besseres bringen" werde. Heute sind solche Illusionen nicht mehr möglich: Die neuen Arbeitergenerationen, aber auch die älteren, werden sich immer bewusster, dass die Lage in der Zukunft sich nur noch verschlechtern wird. Auch wenn diese Perspektive zunächst demoralisierend und demobilisierend wirken kann, werden die immer heftiger werdenden Angriffe die Arbeiter dazu veranlassen, sich bewusst zu werden, dass die heutigen Kämpfe eine Vorbereitung sind für die viel größeren Klassenkämpfe gegen ein todgeweihtes System. Bereits jetzt machen sich die Kämpfe, die wir seit 2003 erlebt haben: „...immer mehr die Frage der Solidarität zu eigen. Dies ist eine Frage von höchster Wichtigkeit, da die Solidarität das wirksamste ‚Heilmittel‘ gegen das für den gesellschaftlichen Zerfall typische ‚Jeder-für-sich‘ darstellt und vor allem weil sie den Kern der Fähigkeit des Weltproletariats ausmacht, nicht nur die gegenwärtigen Kämpfe zu entwickeln, sondern auch den Kapitalismus zu überwinden." (ebenda)

Obgleich der Kongress sich hauptsächlich mit dem Klassenkampf befasst hat, wurden auch andere Aspekte der internationalen Situation behandelt. So ist der Kongress näher auf die Entwicklung der Wirtschaftskrise eingegangen, insbesondere auf das gegenwärtige Wachstum von „Schwellenländern" wie Indien oder China, deren Entwicklung im scheinbaren Widerspruch zu den Analysen über den endgültigen Bankrott der kapitalistischen Produktionsweise steht, wie sie von unserer Organisation und den Marxisten allgemein vertreten wird. Auf der Grundlage eines sehr detaillierten Berichtes und einer vertieften Diskussion kam der Kongress zu der Schlussfolgerung, dass die „außergewöhnlichen Wachstumsraten, die gegenwärtig Länder wie Indien und insbesondere China kennen, (...) in keinster Weise einen Beweis für einen ‚frischen Wind‘ in der Weltwirtschaft darstellen. Selbst wenn sie zu einem beträchtlichen Teil zum erhöhten Wachstum derselben im Laufe der letzten Zeit beigetragen haben. Paradoxerweise ist die Ursache für dieses außergewöhnliche Wachstum einmal mehr die Krise des Kapitalismus (...) Somit sind das ‚chinesische Wunder‘und das einiger anderer Länder der Dritten Welt alles andere als ein ‚frischer Wind‘ der kapitalistischen Wirtschaft, sondern eine weitere Manifestation des niedergehenden Kapitalismus (...) So wie das ‚Wunder‘ der zweistelligen Wachstumsraten der asiatischen ‚Tiger‘ und ‚Drachen‘ 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige ‚chinesische Wunder‘, auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentlich gewichtigere Trümpfe verfügt, früher oder später mit der harschen Realität der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise konfrontiert werden." (ebenda)

Es muss betont werden, dass der Kongress bezüglich der ökonomischen Krise die Diskussionen widerspiegelte, welche wir momentan in unserer Organisation führen: Wie analysiert man die Mechanismen, welche es dem Kapitalismus erlaubten, nach dem Zweiten Weltkrieg spektakuläre Wachstumsraten zu erzielen? Die verschiedenen Analysen, die gegenwärtig in der IKS vertreten werden (welche aber alle gemeinsam die vom IBRP und „bordigistsichen" Gruppen vertretene Idee verwerfen, dass der Krieg eine „momentane Lösung" der kapitalistischen Widersprüche darstelle), richten sich darauf aus, die aktuelle Dynamik der Wirtschaft verschiedener „neu aufgetauchter" Länder wie allen voran China zu verstehen. Weil sich der Kongress spezifisch dieses Phänomens angenommen hat, konnten sich auch die in unserer Organisation darüber existierenden Divergenzen am Kongress ausdrücken. Wie wir das immer in der Vergangenheit getan haben, werden wir in der Internationalen Revue Dokumente veröffentlichen, welche diese Debatte zusammenfassen, sobald sie einen gewissen Reifegrad erreicht hat.

Schließlich waren an unserem Kongress die Folgen der Sackgasse der kapitalistischen Gesellschaft für die Bourgeoisie und der daraus resultierende Sturz in den Zerfall Gegenstand zweier Diskussionen: Eine befasste sich mit den Konsequenzen dieser Lage in den jeweiligen Ländern, die andere mit der Entwicklung der imperialistischen Gegensätze zwischen den Staaten. Diese zwei Aspekte sind miteinender verknüpft, vor allem weil die Streitigkeiten innerhalb der nationalen Bourgeoisien auch unterschiedliche Haltungen gegenüber den imperialistischen Konflikten hervorbringen können (über die Allianzen zwischen den Staaten, die Modalitäten beim Einsatz der militärischen Mittel, usw.). Zum ersten Punkt hat der Kongress hervorgehoben, dass alle Debatten über „weniger Staat" nichts anderes sind als Maskeraden der permanenten Verstärkung des Staates in der Gesellschaft, in dem Sinne als dieses Organ die einzige Garantie dafür ist, dass die Gesellschaft nicht dem „Jeder-für-sich" unterworfen wird, welches die Zerfallsphase des Kapitalismus charakterisiert. Es wurde vor allem die stattfindende Verstärkung der polizeilichen Funktion des Staates unterstrichen, so auch in den „demokratischen" Ländern wie Großbritannien und den USA. Die Verstärkung des Polizeiapparates findet offiziell unter dem Banner der Bedrohung durch den Terrorismus statt (ein Phänomen das auch mit dem Zerfall in Verbindung steht, welches aber den stärksten Bourgeoisien selbst nicht fremd ist) und erlaubt der herrschenden Klasse, sich auf die zukünftigen Konfrontationen mit der Arbeiterklasse vorzubereiten. Zum Punkt der imperialistischen Konflikte verwies der Kongress auf das Scheitern der Politik der stärksten Bourgeoisie der Welt, nämlich der amerikanischen, vor allem bei ihrem Abenteuer im Irak. Diese Tatsache offenbart die allgemeine Sackgasse des Kapitalismus: „Tatsächlich aber war der Regierungsantritt der Bande um Cheney, Rumsfeld und Konsorten nicht einfach eine gigantische ‚Fehlkalkulation‘ der US-Bourgeoisie. Einerseits hat dies erheblich zur Verschlechterung der Situation der USA auf imperialistischer Ebene beigetragen. Andererseits ist die Einsetzung dieser Regierungsmannschaft an sich schon ein Ausdruck der wachsenden Schwierigkeiten der USA, ihre Führungsrolle durchzusetzen. Darüber hinaus ist dies ein Ausdruck des ‚Jeder-für-sich‘ in den internationalen Beziehungen, wodurch sich die Zerfallsphase auszeichnet." (ebenda)

Ganz allgemein hat der Kongress unterstrichen, dass das „militärische Chaos, das sich über die Erde ausbreitet und ganze Gebiete in ein höllisches Inferno stürzt - vor allem im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika - (...) weder der einzige Ausdruck der historischen Sackgasse des Kapitalismus noch die größte Bedrohung für die Gattung Mensch (ist). Heute wird immer deutlicher, dass die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems durch die bisherige Funktionsweise auch die Zerstörung der Umwelt, die den Aufstieg der Menschheit erst ermöglichte, mit sich bringt". (ebenda)

Aus diesem Teil der Diskussionen wurde die Schlussfolgerung gezogen, dass die „von Engels Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Alternative ‚Sozialismus oder Barbarei‘ im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden ist. Was uns das 21. Jahrhundert in Aussicht stellt, ist wahrhaft ‚Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit‘. Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann - die Arbeiterklasse." (ebenda)

Die Verantwortung der Revolutionäre

Diese Perspektive verdeutlicht umso mehr die entscheidende Bedeutung der gegenwärtigen Kämpfe, die die Arbeiterklasse überall auf der Welt austrägt. Sie unterstreicht ebenso die grundlegende Rolle der revolutionären Organisationen, insbesondere der IKS, bei der Intervention in den Kämpfen, damit sich ein Bewusstsein darüber entwickelt, was heute weltweit auf dem Spiel steht.

In dieser Hinsicht zog der Kongress eine sehr positive Bilanz unserer Intervention in den Klassenkämpfen und gegenüber den entscheidenden Fragen, vor denen die Bewegung steht. Besonders begrüßt wurde die Fähigkeit der IKS, sich international zu mobilisieren (Artikel in unserer Presse, auf unserer Webseite, öffentliche Diskussionsveranstaltungen usw.), damit die Lehren aus einer der Hauptepisoden des Klassenkampfes gezogen werden - dem Kampf der studentischen Jugend gegen den CPE im Frühjahr 2006 in Frankreich. Wir haben dabei festgestellt, dass es damals einen spektakulären Anstieg der Zugriffe auf unsere Internetseite gab, was belegt, dass die Revolutionäre nicht nur die Verantwortung, sondern auch die Möglichkeit haben, dem Blackout entgegenzutreten, das die bürgerlichen Medien systematisch gegenüber den Arbeiterkämpfen praktizieren.

Der Kongress hat ebenfalls eine sehr positive Bilanz über unsere Arbeit gegenüber Gruppen und Einzelpersonen gezogen, welche sich für die Verteidigung oder Annäherung an linkskommunistische Positionen einsetzen. In letzter Zeit, wie schon zu Beginn dieses Artikels erwähnt, sind bemerkenswert viele neue Genossen in die IKS eingetreten, ein Resultat von all den Diskussionen, die wir mit ihnen geführt hatten (es war aber schon immer die Praxis unserer Organisation, nicht „Rekrutierungen zu jedem Preis" zu machen, wie dies bei linken Gruppen der Fall ist). Die IKS hat sich auch aktiv an verschiedenen Internet-Foren beteiligt, in denen Klassenpositionen vertreten werden können, vor allem in englischer Sprache, der wichtigsten auf Weltebene. Dies hat zahlreichen Leuten ermöglicht, unsere Positionen und Diskussionsmethoden besser kennen zu lernen und damit ein gewisses Misstrauen zu überwinden, welches von kleinsten parasitären Kapellen geschürt wird, deren Ziel nicht die Förderung des Klassenbewusstseins in der Arbeiterklasse ist, sondern die Aussaat von Misstrauen gegenüber Organisation, welche genau diese wichtige Aufgabe übernehmen. Aber der positivste Aspekt dieser Arbeit ist zweifellos die Verstärkung des Kontaktes zu anderen Organisationen, welche revolutionäre Positionen vertreten, und dies wurde durch die Präsenz von vier Gruppen auf unserem 17. Kongress konkretisiert. Dahinter stand eine große Anstrengung der IKS, vor allem durch die Entsendung von zahlreichen Delegationen in verschiedene Länder (unter anderen nach Brasilien, Südkorea, Türkei und den Philippinen).

Die zunehmende Verantwortung, die auf der IKS lastet, sei es in der Intervention in den Klassenkämpfen, sei es in den Diskussionen mit Gruppen und Einzelpersonen, welche sich auf einem Klassenterrain befinden, erfordert auch eine Verstärkung unseres Organisationsgewebes. Dies war zu Beginn des Jahres 2000 durch eine Krise ernsthaft angegriffen worden, welche unmittelbar nach unseren 14. Kongress ausgebrochen war und ein Jahr später eine außerordentliche Konferenz sowie eine vertiefte Reflexion bis zum 15. Kongress im Jahr 2003 erforderte[7]. Wie dieser Kongress feststellte und dann auch der 16. Kongress bestätigte, hat die IKS zum großen Teil ihre organisatorischen Schwächen überwunden, welche die Wurzeln dieser Krise darstellten. Eines der wichtigsten Elemente in der Fähigkeit der IKS, ihre organisatorischen Schwierigkeiten zu überwinden, liegt in der genauen und vertieften Untersuchung der Schwierigkeiten. Dazu hat sich die IKS im Laufe des Jahres 2001 eine spezielle Kommission gegeben, welche unabhängig vom Zentralorgan ist und durch den Kongress zur Ausführung dieser spezifischen Arbeit ernannt wurde. Diese Kommission hat sich in ihrem Mandat, neben den großen Forschritten, welche die Organisation als ganze machte, auch um weiter bestehende Narben der Vergangenheit in einzelnen Sektionen gekümmert. Dies alles ist ein Beweis dafür, dass der Aufbau eines soliden Organisationsgewebes nie zu Ende ist, sondern dass es einer immerwährenden Anstrengung seitens der ganzen Organisation und ihrer Mitglieder bedarf. Aufgrund dieser Notwendigkeit und der wichtigen Rolle, welche diese Kommission in den vergangenen Jahren spielte, hat der Kongress beschlossen, sie als ein permanentes Organ vorzusehen und in die Statuten der IKS aufzunehmen. Dies ist keineswegs eine „Erfindung" unserer Organisation, sondern knüpft an eine Tradition innerhalb der politischen Organisationen der Arbeiterklasse an. Selbst die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die Referenz innerhalb der 2. Internationale, verfügte über eine „Kontrollkommission" mit denselben Aufgaben.

Eines der wichtigsten Elemente, das uns erlaubte, die Krise zu überwinden und daraus gestärkt hervorzugehen, war die Fähigkeit zu einem tiefen Nachdenken über die Gründe und Auswirkungen der organisatorischen Schwächen, und dies unter Berücksichtigung der historischen und theoretischen Dimension. Ein Nachdenken, das sich im Wesentlichen um verschiedene Orientierungstexte drehte, von denen lange Auszüge in der Internationalen Revue veröffentlicht wurden[8]. Dieses Anliegen vor Augen, hat der Kongress sich ausführlich mit einem Orientierungstext zur Debattenkultur befasst, der einige Monate zuvor in der IKS zur Diskussion gestellt wurde (und nächstens in der Internationalen Revue veröffentlicht wird). Diese Frage betrifft nicht nur das interne Leben der Organisation. Die Intervention der Revolutionäre beinhaltet, dass Letztere dazu fähig sind, die angemessensten und tiefgreifendsten Analysen der Lage zu erstellen und diese Analyse so wirksam wie möglich in der Arbeiterklasse zu vertreten, um bei der Weiterentwicklung des Bewusstseins mitzuhelfen. Dies setzt voraus, dass sie diese Analysen so genau als möglich diskutieren, sie innerhalb der Arbeiterklasse als Ganzes und gegenüber interessierten Leuten vertreten, sowie auf deren Sorgen und Fragen eingehen können. In dem Masse, wie die IKS in ihren eigenen Reihen und der ganzen Klasse mit einer neuen Generation von Militanten oder nahe stehenden Menschen, welche sich für die Überwindung des Kapitalismus einsetzen, konfrontiert ist, gehört es zu ihrer Aufgabe, sich voll und ganz dafür einzusetzen, dass dieser Generation eine der wichtigsten Erfahrungen der Arbeiterbewegung, die mit der kritischen Methode des Marxismus unzertrennlich ist, näher gebracht wird: die Debattenkultur.

Die Debattenkultur

Die Einleitung und Diskussion zu dieser Frage ging davon aus, dass bei allen Abspaltungen in der Geschichte der IKS der Monolithismus eine bestimmende Rolle spielte. Wenn Divergenzen auftauchten, sagten Genossen, dass wir nicht mehr zusammenarbeiten könnten, die IKS eine bürgerliche Organisation geworden sei oder sich auf dem Weg dazu befinde, auch wenn nach Ansicht der Mehrheit solche Divergenzen in einer nicht monolithischen Organisation vorhanden sein konnten. Die IKS hat von der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken gelernt, wie auch bei der Existenz von Meinungsunterschieden bezüglich prinzipieller Fragen die genauste gemeinsame Klärung vor einer organisatorischen Spaltung kommt. In diesem Sinne waren die Abspaltungen mehrheitlich Ausdruck eines Mangels an Debattenkultur und einer monolithischen Auffassung. Doch die Probleme waren natürlich nicht gelöst durch den Austritt einzelner Genossen. Sie waren vielmehr Ausdruck einer generellen Schwierigkeit der IKS in dieser Frage, weil es in unseren Reihen Konfusionen gab, die ein Abgleiten in den Monolithismus ermöglichten und eine Tendenz zur Negierung statt Förderung der Debatte aufwiesen. Diese Probleme hielten an, doch soll man das Ausmaß dieser Probleme nicht übertreiben. Es waren Konfusionen und Ausrutscher, die punktuell stattfanden. Doch die Geschichte, diejenige der IKS sowie die der gesamten Arbeiterbewegung, hat uns gezeigt, dass aus kleinen Ausrutschern und Konfusionen große und gefährliche Abgleitungen werden können, wenn man die Wurzeln der Probleme nicht versteht.

In der Geschichte der Kommunistischen Linken gibt es Strömungen, welche den Monolithismus verteidigen und theoretisieren. Die „bordigistische" Strömung ist eine Karikatur davon. Die IKS ist im Gegensatz dazu Erbin der Tradition der Italienischen Fraktion und der Französischen Kommunistischen Linken, welche die entschlossensten Gegner des Monotlithismus waren und in einer gradlinigen Art die Debattenkultur pflegten. Die IKS wurde auf diesem Verständnis gegründet, das auch in ihren Stauten verankert ist. Aus all diesen Gründen wird klar, dass sich trotz Problemen bei der praktischen Umsetzung kein Genosse der IKS in allgemeiner Hinsicht gegen die Entfaltung einer Debattenkultur wenden würde. Dennoch ist es wichtig, das Bestehen gewisser Schwierigkeiten zu anerkennen. Eine dieser Schwächen ist der Hang, jede Diskussion als eine Auseinandersetzung zwischen Marxismus und Opportunismus, zwischen Bolschewismus und Menschewismus oder gar zwischen Proletariat und Bourgeoisie zu betrachten. Eine solche Angehensweise würde nur dann Sinn machen, wenn wir die Auffassung der Invarianz des kommunistischen Programms hätten. Hier bleibt der Bordigismus wenigsten konsequent: Die Invarianz und der Monolithismus, auf die sich diese Strömung bezieht, gehen Hand in Hand. Es gilt aber zu begreifen, dass der Marxismus kein Dogma und die Wahrheit relativ ist, und diese nicht erstarrt sind, sondern einen Prozess darstellen, weil wir aufgrund der Realität, welche sich andauernd verändert, nie aufhören zu lernen. Aufgrund all dessen sind der Drang zur Vertiefung und selbst Irrtümer normale Etappen auf dem Weg zur Schärfung des Klassenbewusstseins. Entscheidend sind der kollektive Impuls und der Wille zu einer aktiven Teilnahme an der Vertiefung.

Es ist wichtig zu bemerken, dass der Hang überall und in jeder Debatte den Opportunismus (also eine Tendenz hin zu bürgerlichen Positionen) sehen zu wollen, zu einer Banalisierung der opportunistischen Gefahr führen kann. Damit stellt man jede Debatte auf dasselbe Niveau. Die Erfahrung zeigt uns, wie in den raren Diskussionen, in denen die Prinzipien in Frage gestellt wurden, oft die Schwierigkeit herrschte, dies zu sehen: Ist alles opportunistisch, so ist schlussendlich gar nichts mehr opportunistisch.

Ein anderes Resultat einer solchen Haltung, in jeder Diskussion den Opportunismus und die bürgerliche Ideologie erkennen zu wollen, ist die Hemmung der Debatte. Die Genossen haben so nicht mehr „das Recht", Unklarheiten zu haben, diese auszusprechen oder Irrtümer zu begehen, weil man sie sofort als Verräter betrachtet und sie sich selbst so vorkommen. Gewisse Debatten beinhalten tatsächlich eine Konfrontation zwischen bürgerlichen und proletarischen Positionen. Dies ist Ausdruck einer Krise und Degenerationsgefahr. Doch im Leben der Arbeiterklasse ist dies nicht die generelle Regel. Wenn man alle Debatten auf diese Ebene stellt, endet man schlussendlich in der Idee, dass die Debatte an sich Ausdruck einer Krise ist.

Ein anderes Problem, welches mehr in der Praxis als in theoretisierter Version besteht, ist das Verhalten, in einer Debatte die Anderen so schnell wie möglich von der richtigen Position überzeugen zu wollen. Diese Angehensweise führt zur Ungeduld, der Haltung, die Diskussion monopolisieren und in gewisser Weise den „Gegner ausschalten" zu wollen. Diese Haltung führt nur zu Schwierigkeiten, wirklich zu verstehen, was die Anderen sagen. Es ist sicher richtig, dass es sonst im Leben, in einer vom Individualismus und der Konkurrenz geprägten Gesellschaft, schwer ist zu lernen, den Anderen zuzuhören. Aber verschlossene Ohren führen zu einer Abwendung von der Welt, genau zum Gegenteil einer revolutionären Haltung. In diesem Sinne ist es wichtig zu verstehen, dass das Wichtigste in einer Debatte ihr Platz ist, dass sie sich entwickeln kann, dass es eine breitest mögliche Beteiligung daran gibt und eine wirkliche Klärung daraus hervorgeht. Zu guter Letzt trägt auch das kollektive Leben der Arbeiterklasse, wenn es sich entwickeln kann, zur Klärung bei. Der Wille zu einer politischen Klärung wohnt dem Proletariat in seinem Charakter inne; es ist sein Klasseninteresse. Die Arbeiterklasse braucht die Wahrheit, und nicht Verfälschungen. Deshalb, so schrieb Rosa Luxemburg, ist und bleibt die revolutionärste Tat, immer das zu sagen, was ist. Verwirrungen sind nicht die Regel oder dominierend in der IKS, doch sie existieren, können gefährlich werden und müssen überwunden werden. Besonders muss gelernt werden, die Debatten nicht zu dramatisieren. Die meisten Diskussionen in unserer Organisation sind nicht Konfrontationen zwischen bürgerlichen und proletarischen Positionen. Es sind Diskussionen, bei denen wir auf der Basis von gemeinsamen Positionen und einem gemeinsamen Ziel eine Vertiefung anstreben und Verwirrungen überwinden wollen.

Die Entwicklung einer wirklichen Debattenkultur in den revolutionären Organisationen ist eines der Hauptanzeichen ihrer Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse, ihrer Fähigkeit, lebendig und offen zu bleiben, und auf die Bedürfnisse der Klasse reagieren zu können. Dies gilt gleichermaßen für die Arbeiterklasse insgesamt, da sie durch ihre eigenen Diskussionen, insbesondere in ihren Vollversammlungen, in der Lage ist, die Lehren aus ihren Erfahrungen zu ziehen und ihr Bewusstsein voranzutreiben. Das Sektierertum und die Verweigerung der Debatte, die heute leider das Merkmal einiger Organisationen des proletarischen Lagers sind, stellen keineswegs einen Beweis für ihre „Unnachgiebigkeit" gegenüber der bürgerlichen Ideologie oder gegenüber bestehenden Konfusionen dar. Im Gegenteil, es handelt sich dabei um einen Ausdruck ihrer Angst, ihre eigenen Positionen zu vertreten, und es ist letzten Endes der Beweis einer mangelnden Überzeugung von der Richtigkeit der eigenen Positionen.

Die Interventionen der eingeladenen Gruppen

Diese Debattenkultur hat unseren ganzen Kongress geprägt. Sie äußerte sich besonders in der Tatsache, dass die eingeladenen Gruppen ihre Erfahrungen und Überlegungen weitergaben.

Die Delegation aus Korea unterstrich dies, als einer ihrer Delegierten sagte, dass er „sehr beeindruckt sei von dem solidarischen Geist, dem kameradschaftlichen Verhältnis untereinander, was im Gegensatz zu seiner bisherigen Erfahrung steht, um was er uns beneidet".

Ein anderer Genosse dieser Delegation gab seine Überzeugung weiter, dass „die Diskussion über die Debattenkultur für die Entwicklung ihrer eigenen Aktivitäten fruchtbar und es wichtig ist, dass sich die IKS nicht als „einzige Gruppe auf der Welt" betrachtet".

Die Delegation der OPOP hat „mit größter Brüderlichkeit einen Gruß an den Kongress" vermittelt und ihre „Zufriedenheit darüber, an einem so wichtigen Ereignis teilnehmen zu können", ausgedrückt. Für die Delegation sei „dieser Kongress nicht lediglich ein wichtiges Ereignis für die IKS, sondern für die Arbeiterklasse als Ganzes. Wir lernen viel mit der IKS. Wir haben in den vergangenen drei Jahren viel gelernt durch den Kontakt, den wir hatten, und die Debatten, die wir zusammen in Brasilien geführt haben. Wir haben schon am vorangegangenen Kongress teilgenommen (derjenige der französischen Sektion der IKS im Jahr 2006) und haben dort die Gewissenhaftigkeit festgestellt, mit der die IKS die Debatte führt, ihre Offenheit für die Debatte, dass sie keine Angst vor einer Debatte hat und auch nicht davor, andere Positionen mit ihren eigenen zu konfrontieren. Ganz im Gegenteil, ihre Haltung ist es, die Debatte voranzutreiben, und wir wollen der IKS dafür danken, dass wir diese Haltung kennen gelernt haben. Wir begrüßen ebenfalls die Art, mit der die IKS die Frage der neuen Generationen angeht, heute und in der Zukunft. Wir lernen vom Erbe, auf das sich die IKS bezieht und das uns von der Arbeiterbewegung seit ihrer Existenz übertragen wird." Gleichzeitig tat die Delegation ihre Überzeugung kund, dass „auch die IKS von der OPOP gelernt habe", vor allem als eine IKS-Delegation in Brasilien an der Seite der OPOP an einer Intervention in einer Arbeitervollversammlung teilnahm, welche von den Gewerkschaften dominiert war.

Auch der Delegierte der EKS unterstrich die Wichtigkeit der Debatte bei der Entwicklung der revolutionären Positionen innerhalb der Arbeiterklasse, besonders für die neuen Generationen: „Ich möchte damit beginnen, die Wichtigkeit der Debatte für die neue Generation zu unterstreichen. Wir haben in unserer Gruppe junge Leute und wir haben uns durch die Debatte politisiert. Wir haben wirklich viel in den Debatten gelernt, vor allem in denen mit jungen Leuten, mit denen wir in Kontakt stehen (...) Ich denke, dass in der Zukunft für die junge Generation die Debatte ein wichtiger Aspekt der politischen Entwicklung sein wird. Wir haben einen Genossen getroffen, der aus einem sehr armen Arbeiterquartier von Istanbul stammt und der älter ist als wir. Er sagte uns, dass in dem Quartier, aus dem er komme, die Arbeiter immer diskutieren wollen. Aber die Linken, die in den Arbeiterquartieren politische Arbeit betreiben, versuchen immer schnell die Debatte abzuwürgen, um „praktische Sachen" zu machen, so wie man es von ihnen erwarten kann. Ich denke die proletarische Kultur, in der man jetzt hier diskutiert und die ich auf diesem Kongress erleben konnte ist eine Verneinung der linken Diskussionsmethode, welche nur ein Konkurrenzkampf darstellt. Ich möchte einige Bemerkungen machen über die Diskussionen unter den internationalistischen Gruppen. Zuerst denke ich, müssen solche Diskussionen so konstruktiv und brüderlich wie möglich sein und wir müssen immer dazu Sorge tragen, dass diese Debatten eine kollektive Anstrengung sind, um zu einer politischen Klärung unter den Revolutionären zu kommen. Dies ist keinesfalls ein Wettkampf oder etwas, das Feindschaften oder Rivalitäten hervorbringen darf. So etwas wäre die komplette Verneinung der kollektiven Anstrengung, zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen, um sich damit der Wahrheit anzunähern. Es ist auch wichtig, dass die Debatte unter den internationalistischen Gruppen so regelmäßig wie möglich stattfindet, weil dies viel zur Klärung beiträgt für alle, die international beteiligt sind. Ich denke es ist für die Debatte auch notwendig, offen zu sein gegenüber allen interessierten proletarischen Elementen. Gleichfalls gehe ich davon aus, dass die Debatten für die interessierten revolutionären Elemente zugänglich sind. Eine Debatte begrenzt sich nicht auf diejenigen, die direkt beteiligt sind. Die Debatte selbst, das was diskutiert wird, ist eine große Hilfe für denjenigen, der es lediglich liest. Ich erinnere mich, wie ich noch vor einiger Zeit Angst vor Diskussionen hatte, aber viel lesen wollte. Debatten und ihre Resultate zu lesen hilft enorm viel und deshalb ist es sehr wichtig, die geführten Debatten den Interessierten zugänglich zu machen. Das ist ein Mittel, um sich wirkungsvoll theoretisch und politisch weiterzuentwickeln."

Diese offenherzigen Redebeiträge der Delegierten der eingeladenen Gruppen haben nichts mit Schmeichelei gegenüber der IKS zu tun. So haben die Genossen aus Südkorea auch Kritiken an der Arbeit des Kongresses formuliert, vor allem, dass nicht mehr auf die Erfahrung unserer Intervention in der Bewegung gegen den CPE in Frankreich eingegangen wurde und dass die ökonomische Analyse der Situation in China nicht stärker auf die soziale Lage und die Kämpfe der Arbeiterklasse in diesem Land einging. Alle Delegierten der IKS brachten diesen Kritiken eine große Aufmerksamkeit entgegen, weil sie unserer Organisation erlauben, auf die Sorgen und Erwartungen der anderen Gruppen des proletarischen Lagers einzugehen, und unsere Anstrengung stimulieren, eine so wichtige Situation wie diejenige in China besser zu analysieren. Die Beiträge und Analysen, welche die anderen Gruppen liefern können (vor allem auch aus Ostasien), sind sehr wichtig für unsere eigene Arbeit.

Während des Kongresses selbst, waren die Beiträge der Delegationen wichtig für unser Verständnis der internationalen Situation. Dies vor allem, weil sie uns ein genaues Bild von der Situation in den Ländern gaben, in denen sie leben. Wir können im Rahmen dieses Artikels die Beiträge der Delegationen nicht ausführlich wiedergeben, sie werden in anderen Artikeln unserer Presse Platz finden. Wir geben uns hier damit zufrieden, die wichtigsten Eckpunkte kurz zu erwähnen. Bezüglich des Klassenkampfes hat der Delegierte der EKS darauf bestanden, dass nach der Niederlage der massiven Kämpfe von 1989 heute, angesichts der dramatischen wirtschaftlichen Lage für die Arbeiter in der Türkei, eine Wiederaufnahme von Arbeiterkämpfen und eine Welle von Streiks mit Fabrikbesetzungen stattfindet. In dieser Situation begnügen sich die Gewerkschaften nicht damit, die Kämpfe so wie gewöhnlich zu sabotieren, sondern sie versuchen auch den Nationalismus unter den Arbeitern zu schüren, indem sie eine Kampagne um die „säkulare Türkei" führen. Die Delegation der OPOP hat aufgezeigt, wie durch die Verbindung zwischen den Gewerkschaften und der gegenwärtigen Regierung (Präsident Lula war der führende Gewerkschaftsboss des Landes gewesen) in Brasilien nun eine Tendenz zu Kämpfen außerhalb des Rahmens der offiziellen Gewerkschaften existiert, eine „Rebellion der Basis", so wie es in der Bewegung unter den Bankangestellten 2003 der Fall gewesen war. Die neuen ökonomischen Angriffe, welche die Regierung Lula vorbereitet, werden die Arbeiterklasse dazu stoßen, sich weiterhin zu Wehr zu setzen, auch wenn die Gewerkschaften eine „kritischere" Haltung gegenüber Lula vorspielen.

Ein anderer wichtiger Beitrag der Delegationen von OPOP und EKS auf dem Kongress betraf die imperialistische Politik Brasiliens und der Türkei. OPOP schilderte wichtige Elemente zu einem besseren Verständnis der Positionierung dieses Landes, das sich einerseits als getreuer Verbündeter der amerikanischen „Weltpolizist-Politik" gibt (vor allem durch die militärische Präsenz in Timor und Haiti, wo es das Kommando über die fremden Truppen führt) und gleichzeitig aber seine eigene Diplomatie mit bilateralen Abkommen entwickelt, vor allem mit Russland (von dem es Flugzeuge kauft) und mit Indien und China (deren Industrieprodukte eine Konkurrenz für die brasilianische Produktion sind). Brasilien entwickelt überdies eine starke regionale imperialistische Macht, bei der es seine Bedingungen gegenüber Ländern wie Bolivien oder Paraguay durchzusetzen beginnt. Der Genosse der EKS hatte einen sehr interessanten Beitrag über das Leben der türkischen Bourgeoise (so über den Konflikt zwischen dem „islamistischen" und dem „laizistischen" Sektor) und deren imperialistische Ambitionen gemacht. Wir können auch diesen Beitrag in diesem Artikel leider nicht ausführlich beschreiben. Die Hauptidee wollen wir aber weitergeben: Das Risiko, dass in einem Nachbargebiet eines der gewalttätigsten imperialistischen Konflikte, im Irak, die türkische Bourgeoise auch in eine dramatische militärische Spirale eintritt und damit die Arbeiterklasse noch mehr den Preis für die kapitalistischen Widersprüche bezahlen muss.

Die Beiträge der Delegationen der eingeladenen Gruppen haben zusammen mit denjenigen der Sektionen der IKS Wertvollstes zur Arbeit des Kongresses und seinem Nachdenken über alle Fragen beigetragen und ihm erlaubt „die internationale Situation zu synthetisieren", wie es die Delegation der SPA aus Südkorea ausdrückte. Wie schon zu Beginn dieses Artikels erwähnt: Eines der Hauptelemente für den Erfolg dieses Kongresses und den Enthusiasmus, der von allen Delegationen zum Abschluss des Kongresses zum Ausdruck gebracht wurde, bestand gerade in der Teilnahme der eingeladenen Gruppen.

Kurz hintereinander fanden zwei internationale Treffen statt: der G8-Gipfel und der Kongress der IKS. Natürlich unterscheiden sich die beiden Treffen hinsichtlich des Einflusses und der unmittelbaren Wirkung, aber es ist wichtig, den großen Gegensatz hinsichtlich des Umfeldes, der Ziele und der Funktionsweise zu unterstreichen. Das eine war ein Treffen hinter Stacheldraht, mit einem unerhörten Aufgebot an Polizei und polizeilicher Repression, bei dem die Deklarationen über die „Ernsthaftigkeit der Debatte", zum „Frieden" und zur „Zukunft der Menschheit" nur eine Verschleierung waren, um die Widersprüche zwischen den kapitalistischen Staaten zu verhüllen, neue Kriege vorzubereiten und ein System zu bewahren, das der Menschheit nichts mehr anzubieten hat. Das andere war ein Treffen von Revolutionären aus 15 Ländern, die gegen alle Verschleierungen und den schönen Schein kämpften und die sich in wahrhaft solidarischen Debatten engagierten, um zur einzigen Perspektive beizutragen, welche die Menschheit retten kann: dem vereinten und internationalen Kampf der Arbeiterklasse mit dem Ziel, den Kapitalismus zu stürzen und den Kommunismus zu etablieren.

Wir wissen dass der Weg dorthin noch lang und schwierig sein wird. Doch die IKS ist überzeugt, dass ihr 17. Kongress ein wichtiger Schritt dabei war.

IKS, Juni 2007



[1] Zur Geschichte der IKS siehe unseren Artikel 30 Jahre IKS: Von der Vergangenheit für die Zukunft lernen, Internationale Revue Nr. 37.

[2] OPOP: Oposição Operária - Arbeiteropposition. Die Gruppe besteht in mehreren Städten Brasiliens; sie wurde Anfang der 1990er Jahre gegründet. Dabei beteiligten sich insbesondere Leute, die mit der CUT (Gewerkschaftsverband) und der Arbeiterpartei (PT) Lulas (gegenwärtig Präsident Brasiliens) gebrochen haben, um proletarische Positionen zu übernehmen - insbesondere in der Frage des Internationalismus, aber auch der Gewerkschaften (Anprangerung dieser Organe als Instrumente der herrschenden Klasse) und des Parlamentarismus (Anprangerung der „demokratischen" Maskerade). Die Gruppe interveniert aktiv in Arbeiterkämpfen (insbesondere im Bankensektor). Die IKS führt seit Jahren solidarische Diskussionen mit dieser Gruppe. Wir haben auch mehrere gemeinsame öffentliche Diskussionsveranstaltungen mit ihnen in Brasilien abgehalten (siehe dazu insbesondere „ICC Public Meetings in Brazil: A strengthening of revolutionary positions in Latin America", in: World Revolution Nr. 292, https://en.internationalism.org/wr/292_brazil_forums.html [2]). Eine Delegation von OPOP beteiligte sich bereits im Frühjahr 2006 am 17. Kongress unserer Sektion in Frankreich (siehe dazu unseren Artikel in Révolution Internationale).

[3] SPA: Socialist Political Alliance. Die Gruppe hat sich zur Aufgabe gesetzt, die Positionen des Linkskommunismus in Korea bekannt zu machen (insbesondere durch Übersetzungen bestimmter Grundlagentexte des Linkskommunismus) und Diskussionen unter Gruppen und Individuen über diese Positionen in Korea anzuregen. Im Oktober 2006 organisierte die SPA eine internationale Konferenz, an der sich die IKS, die seit mehr als einem Jahr mit dieser Gruppe im Austausch steht, beteiligte (siehe unseren Artikel „Rapport über die Konferenz in Korea, Oktober 2006"in Internationale Revue Nr. 129 (engl., franz., span.). Es sollte angemerkt werden, dass die Teilnehmer dieser Konferenz, die unmittelbar nach den nordkoreanischen Nuklearversuchen stattfand, eine „Internationalistische Erklärung aus Korea angesichts der Kriegsgefahr" verabschiedete (siehe Weltrevolution Nr. 139)

[4] EKS: Enternasyonalist Komünist Sol (Internationale Kommunistische Linke), eine Gruppe, die jüngst in der Türkei gegründet wurde und sich entschlossen auf linkskommunistische Positionen stützt. Wir haben mehrere ihrer Stellungnahmen auf unserer Website veröffentlicht: https://en.internationalism.org/wr/295_eks_basicpositions [3], https://en.internationalism.org/node/1772 [4].

[5] Das hatte 1999 die IKS jedoch nicht daran gehindert, das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei (IBRP) zu ihrem 13. Kongress einzuladen. Wir meinten, dass die Tragweite der imperialistischen Spannungen mitten in Europa (damals wurde Serbien von NATO-Flugzeugen bombardiert) es verlangte, dass die revolutionären Gruppen ihre Streitigkeiten beiseite schieben, um an einem Ort zusammenzukommen, damit man gemeinsam die Folgen dieses Konfliktes untersucht und ggf. eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Leider hatte das IBRP diese Einladung ausgeschlagen.

[6] Da Internasyonalismo politisch präsent war, auch wenn ihre Delegation nicht physisch anwesend sein konnte.

[7] siehe Ausserordentliche Konferenz der IKS: Der Kampf für die Verteidigung der organisatorischen Prinzipien, in: Internationale Revue Nr. 30 und 15. Kongress der IKS: Die Organisation gegenüber den Herausforderungen der Zeit verstärken, in: International Review Nr.114 (engl., franz., span. Ausgabe).

[8] Siehe das Vertrauen und die Solidarität im Kampf des Proletariats, in: Internationale Revue Nr. 31 und 32, sowie Marxismus und Ethik, in Internationale Revue Nr. 39 und 40.

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [5]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die revolutionäre Organisation [7]

Der Kommunismus: Der Beginn der wirklichen Geschichte der Menschheit (II)

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Der Kommunismus ist nicht nur eine schöne Idee, sondern auch eine materielle Notwendigkeit

Der Artikel in dieser Ausgabe kehrt zum Werk des jungen Marx 1843 zurück, um die Ursprünge seiner Methoden zur Erarbeitung des kommunistischen Programms zu untersuchen. Wir hoffen, dass diese Zusammenfassung älterer Artikel die Leser dazu animieren wird, zu den Originalartikeln zurückzugehen, die wir auf Englisch in Form eines Buches veröffentlichten, aber auch online stellten. Die in Punkt 1 bis 7 zusammengefassten Artikel sind in voller Länge in Deutsch als Broschüre und Online auf unserer Web-Site erhältlich. Bisher hat es nur wenig Reaktionen aus dem politischen proletarischen Milieu zu den Artikeln gegeben. Dennoch bieten wir sie all jenen als eine Quelle der Untersuchung und Reflexion an, die danach streben, die wahre Bedeutung und den wirklichen Inhalt der kommunistischen Revolution zu klären.

Der erste Band konzentriert sich - mit Ausnahme des ersten Artikels, der das kommunistische Gedankengut vor dem Erscheinen des Kapitalismus betrachtet und mit den frühesten Formen des proletarischen Kommunismus schließt - im Wesentlichen auf die Evolution des kommunistischen Programms in der Epoche des im Aufstieg befindlichen Kapitalismus, als die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand. Der Titel des Bandes ist eine polemische Entgegnung auf all jene, die zwar anerkannt haben, dass der so genannte Kommunismus der stalinistischen Regimes nicht gerade dem entspricht, was Marx und andere im Kopf hatten, die aber pro-kommunistische Argumente mit der Äußerung abtun, dass der Kommunismus in der Theorie zwar eine schöne Idee sein mag, aber niemals in der realen Welt funktionieren könne. Im Gegensatz dazu sind Marxisten der Ansicht, dass der Kommunismus nicht in dem Sinne eine schöne Idee ist, dass er von guten Geistern oder von einzelnen Genies erfunden wurde. Der Kommunismus ist fraglos eine Theorie oder - besser - eine Bewegung, die die theoretische Dimension mit beinhaltet. Dennoch rührt die kommunistische Theorie aus der realen Praxis einer revolutionären gesellschaftlichen Kraft her. Und zentraler Bestandteil dieser Theorie ist es, dass der Kommunismus als Gesellschaftsform an dem Punkt zu einer Notwendigkeit wird, wo der Kapitalismus nicht mehr funktioniert, wo er in wachsendem Maße in Widerspruch zu den menschlichen Bedürfnissen gerät. Doch lange bevor dieser Punkt erreicht war, waren das Proletariat und seine politischen Minderheiten nicht nur dazu gezwungen gewesen, die allgemeingültigen, historischen Ziele ihrer Bewegung in großen Zügen zu skizzieren, sondern sahen sich auch dazu veranlasst, das kommunistische Programm im Lichte der Erfahrungen zu erarbeiten, die durch die praktischen Kämpfe der Arbeiterklasse gemacht wurden.

1. „Vom primitiven Kommunismus zum utopischen Sozialismus" (International Review, Nr. 69)

Ein flüchtiger Blick auf das Inhaltsverzeichnis dieser Internationalen Revue (engl., franz. und span. Ausgabe), die im ersten Quartal 1992 herauskam, erinnert uns an den historischen Kontext, in dem diese Reihe begann. Der Leitartikel konzentriert sich auf die Explosion der UdSSR und auf die Massaker in Jugoslawien; ein anderer Text trägt den Titel: „Bemerkungen zum Imperialismus und Zerfall: hin zum größten Chaos in der Geschichte". Kurz, die IKS hatte erkannt, dass der Zusammenbruch des Ostblocks endgültig eine neue Phase im Leben (oder Tod) des dekadenten Kapitalismus eröffnet hatte, die Zerfallsphase - eine Phase, die neue Gefahren und Prüfungen für die Arbeiterklasse und somit für ihre revolutionären Minderheiten mit sich brachte. Gleichzeitig erlaubte der spektakuläre Niedergang der stalinistischen Regimes den Herrschenden, eine massive Propagandakampagne auszulösen, in der Absicht, die Arbeiterklasse, deren Kämpfe sie die letzten beiden Jahrzehnte geplagt hatten, abzustumpfen und zu demoralisieren. Ausgehend von der völlig falschen Annahme, dass Stalinismus = Kommunismus sei, wurde uns mit arroganter Selbstverständlichkeit erklärt, dass wir Zeuge des Endes des Kommunismus, des endgültigen Bankrotts des Marxismus, des Verschwindens der Arbeiterklasse, ja des Endes der Geschichte seien... Die Kommunismus-Reihen waren daher anfangs als eine Antwort auf diese bösartigen Kampagnen gedacht und konzentrierten sich auf den fundamentalen Unterschied zwischen dem Stalinismus und der authentischen Vision des Kommunismus in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung. Sie wurden als kurze Artikelreihen von fünf oder sechs Artikeln ins Auge gefasst. Doch schon die ersten Artikel zeigten, dass eine gründlichere Vorgehensweise erforderlich war, und zwar aus zwei Gründen. Erstens war die Aufgabe, die Ziele des Kommunismus zu klären, von Beginn an ein ständiges Anliegen der revolutionären marxistischen Bewegung gewesen; diese Aufgabe bleibt auch heute gültig und ist nicht abhängig von den Erfordernissen unmittelbar historischer Ereignisse, seien sie noch so epochal wie der Zusammenbruch des Ostblocks. Zweitens ist die Geschichte des Kommunismus an sich nicht nur die Geschichte des Marxismus oder der Arbeiterbewegung, sondern auch die Geschichte der Menschheit.

In besagtem Artikel in der Internationalen Revue, Nr. 39, widmeten wir unsere besondere Aufmerksamkeit einem Satz, der im Brief von Marx an Ruge 1843 stand: „Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen." Der erste Artikel versucht also, die kommunistischen Träume der Menschheit zusammenzufassen. Diese Träume wurden in theoretischer Form zunächst in den antiken Gesellschaften entwickelt; doch wir mussten noch weiter zurückgehen, weil diese frühen Spekulationen in gewissem Maße auf einer realen Erinnerung an den realen, wenn auch beschränkten Kommunismus in den primitiven Stammesgesellschaften beruhten.

Die Entdeckung, dass menschliche Wesen Zigtausende von Jahren in einer Gesellschaft ohne Klassen und Staat gelebt hatten, sollte sich als mächtige Waffe in den Händen der Arbeiterbewegung erweisen, denn sie schuf ein Gegengewicht zu all den Behauptungen, dass die Liebe zum Privateigentum und die Notwendigkeit einer hierarchischen Vorherrschaft ein dem menschlichen Wesen innewohnendes Bedürfnis seien. Gleichzeitig besaß die Vorgehensweise der kommunistischen Vordenker ein stark rückwärts gewandtes, mythisches Element, das sich im Nachtrauern einer unwiederbringlich verloren gegangenen Gemeinschaft äußerte. Dies war zum Beispiel im „Urkommunismus" der frühen Christen oder in den von Spartacus angeführten Sklavenaufständen der Fall, die von der Suche nach dem verlorenen Goldenen Zeitalter angetrieben wurden. Es traf auch in einem großen Umfang auf die kommunistischen Predigten von John Ball während des englischen Bauernaufstandes zu, wenngleich es hier schon klar war, dass das einzige Heilmittel gegen die gesellschaftliche Ungerechtigkeit das Gemeineigentum des Landes und der Produktionsinstrumente war.

Die kommunistischen Ideen, die im aufkeimenden Kapitalismus aufkamen, waren schon eher in der Lage, einen vorwärts gewandten Standpunkt zu entwickeln, der sich sukzessive von dieser Fixierung auf eine mythische Vergangenheit freimachte. Von der annabaptistischen Bewegung, die von Münzer im 16. Jahrhundert in Deutschland angeführt wurde, über Winstanley und die Diggers im englischen Bürgerkrieg bis hin zu Babeuf und der „Verschwörung der Gleichen" in der Französischen Revolution gab es eine Bewegung weg von der religiös-apokalyptischen Sichtweise des Kommunismus und hin zu einer wachsenden Betonung der Fähigkeit der Menschheit, sich selbst von einer ausbeuterischen Gesellschaftsordnung zu befreien. Dies wiederum spiegelte den historischen Fortschritt wider, der vom Kapitalismus ermöglicht wurde, insbesondere die Entwicklung einer wissenschaftlichen Weltanschauung und das allmähliche Auftauchen des Proletariats als eine besondere Klasse in der neuen Gesellschaftsordnung. Diese Entwicklung erreichte mit dem Erscheinen der utopischen Sozialisten wie Robert Owen, Saint-Simon und Fourier ihren Höhepunkt, die eine durchdringende Kritik an den Schrecken des Industriekapitalismus übten und die Möglichkeiten, darüber hinauszugehen, bereits als gegeben ansahen, ohne allerdings in der Lage zu sein, die reale Gesellschaftskraft zu erkennen, die im Stande ist, eine menschlichere Gesellschaft herbeizuführen - das moderne Proletariat.

2. „Wie das Proletariat Marx für den Kommunismus gewonnen hatte" (International Review, Nr. 69)

Der Kommunismus war also im Gegensatz zur vulgären Interpretation keine Bewegung, die von Marx „erfunden" wurde. Wie der erste Artikel zeigte, geht der Kommunismus dem Proletariat und der proletarische Kommunismus Marx voraus. Doch so wie der Kommunismus des Proletariats einen qualitativen Sprung über alle vorherigen Formen des Kommunismus hinaus repräsentierte, so verkörperte der „wissenschaftliche" Kommunismus, der von Marx und anderen entwickelt wurde, die nacheinander seine Methoden aufgriffen, einen qualitativen Fortschritt gegenüber den Hoffnungen und Spekulationen der Utopisten.

Dieser Artikel folgt den Spuren, auf denen sich Marx, ausgehend von der kritischen Hegelianischen Philosophie und der radikalen Demokratie, in Richtung Kommunismus begeben hatte. Wie wir in der Internationalen Revue Nr. 39, betonten, handelte es sich hier um eine sehr schnelle, aber keinesfalls willkürliche Entwicklung: Marx beharrte auf eine gründliche Untersuchung aller existierenden kommunistischen Strömungen, die in Deutschland und Frankreich zu blühen begonnen hatten, besonders in Paris, wohin Marx 1844 gezogen und wo er mit Gruppen kommunistischer Arbeiter in Kontakt gekommen war. Diese Gruppen laborierten notgedrungen an einer Fülle von Konfusionen und Ideologien, die sie von den Revolutionen der Vergangenheit geerbt hatten. Doch zusammen mit den ersten embryonalen Anzeichen eines allgemeineren Klassenkampfes der Arbeiter reichten diese Manifestationen einer zutiefst historischen Bewegung aus, um Marx davon zu überzeugen, dass das Proletariat die gesellschaftliche Kraft ist, welche nicht nur, was einmalig ist, in der Lage ist, eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu etablieren, sondern auch durch ihre eigentliche Natur gezwungen ist, so zu handeln. So wurde Marx vom Proletariat für den Kommunismus gewonnen und brachte die theoretischen Waffen mit, die er von der Bourgeoisie erhalten hatte.

Von Anfang an (besonders in Die deutsche Ideologie, die sich gegen die idealistische Philosophie richtete, die das Bewusstsein als etwas betrachtete, was außerhalb der ungehobelten materiellen Wirklichkeit steht) bestand Marx darauf, dass das kommunistische Bewusstsein aus dem Proletariat kommt und dass die kommunistische Avantgarde ein Produkt dieses Prozesses ist, nicht sein Schöpfer, auch wenn sie produziert wurde, um ein aktiver Faktor in eben diesem Bewusstseinsprozess zu werden. Dies allein war bereits eine Widerlegung der These, die ein halbes Jahrhundert später von Kautsky aufgegriffen wurde, derzufolge es die sozialistische Intelligenzia sei, die das kommunistische Bewusstsein „von außen" in die Arbeiterklasse injiziere.

3. „Die Entfremdung der Arbeit ist eine Voraussetzung für ihre Emanzipation" (International Review,
Nr. 70)

Nachdem er diesen fundamentalen Wechsel zum Standpunkt des Proletariats vollzogen hatte, begann Marx die Vision eines gewaltigen Projektes der menschlichen Emanzipation zu entwickeln, die die Existenz der revolutionären proletarischen Bewegung nun von einem schönen, aber unerreichbaren Traum in ein realisierbares gesellschaftliches Ziel umwandeln sollte. Die Ökonomischen und Philosophischen Manuskripte (ÖPM) von 1844 enthalten einige von Marx‘ kühnsten Einsichten über den Charakter des menschlichen Handelns in einer wirklich freien Gesellschaft. Es ist argumentiert worden, dass diese Notizbücher „vor-marxistisch" seien, da sie sich noch mit im Grunde philosophischen Konzepten wie die Entfremdung befassten, die ein Schlüsselbegriff in Hegels philosophischem System war. Und es trifft zu, dass das Konzept der Entfremdung des Menschen, der von seinen realen Kräften ferngehalten wird, nicht nur bei Hegel, sondern mehr oder weniger die ganze Geschichte hindurch existiert hatte, selbst in den frühesten Formen der Mythologie. Auch ist es natürlich richtig, dass es noch viele andere fundamentale Entwicklungen im Denken von Marx in den folgenden Jahrzehnten geben sollte. Dennoch herrscht grundsätzlich eine Kontinuität zwischen den Schriften des frühen Marx und jenen des späten Marx, der große „wissenschaftliche" Werke wie das Kapital produzierte. Als Marx die Entfremdung in den ÖPM analysierte, hatte er sie bereits aus den Wolken der Mythologie und Philosophie auf die konkrete Ebene des realen gesellschaftlichen Lebens des Menschen und seiner produktiven Tätigkeiten heruntergeholt; überdies gründeten sich seine anregenden Bilder, die er von der kommunistischen Menschheit zeichnete, auf reale menschliche Fähigkeiten. Spätere Werke wie die Grundrisse gingen vom gleichen Ausgangspunkt aus.

In den ÖPM schuf Marx die Bühne, um diese befreite Menschheit zu schildern, indem er eingehend die Natur des Problems analysiert, dem sich die Spezies gegenübersieht - ihrer Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft.

Marx identifiziert vier Facetten der Entfremdung, alle verwurzelt im fundamentalen Arbeitsprozess:

- die Entfremdung des Menschen von seinem eigenen Produkt, so dass die Schöpfungen der Menschen zu Kräften werden, die ihn beherrschen: Die Maschine, die vom Arbeiter gebaut und in Bewegung gesetzt wird, kettet den Arbeiter an ihren höllischen Rhythmus; der gesellschaftliche Reichtum, der vom Arbeiter geschaffen wurde, wie das Kapital, wird zu einer unpersönlichen Macht, die das gesamte Gesellschaftsleben tyrannisiert;

- die Entfremdung von seiner produktiven Tätigkeit, so dass die Arbeit jeden Anschein eines schöpferischen Vergnügens verliert und zu einer Qual für den Arbeiter wird;

- die Entfremdung gegenüber anderen Menschen: Die entfremdete Arbeit basiert auf der Ausbeutung der einen Klasse durch eine andere, und diese fundamentale Teilung zieht viele andere nach sich, insbesondere unter der Herrschaft einer universellen Warenproduktion, in der die Gesellschaft zu einem Krieg des Jeder-gegen-jeden tendiert;

- die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen spezifischen Natur, die eine soziale und schöpferische ist und in beispielloser Weise durch die bürgerlichen Produktionsverhältnisse entleert worden ist.

Doch in der marxistischen Analyse der Entfremdung steckt kein Nachtrauern früherer, weniger deutlicher Formen der Entfremdung und auch kein Anlass zur Verzweiflung: Denn obwohl die ausbeutende Klasse ebenfalls entfremdet ist, wird erst mit dem Proletariat die Entfremdung zur subjektiven Grundlage eines revolutionären Angriffs gegen die kapitalistische Gesellschaft.

4. „Der Kommunismus: Der wahre Beginn der menschlichen Gesellschaft" (International Review, Nr. 71)

Die Schriften des frühen Marx, die diese Krankheit analysierten, zeigten auch, wie das Wohlergehen der Spezies aussehen könnte. Entgegen dem Begriff der „Egalisierung" nach unten weist Marx darauf hin, dass der Kommunismus einen riesigen Fortschritt für die Menschheit darstellt, die Lösung von Konflikten, die sie nicht nur in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern die gesamte Geschichte hindurch geplagt hatten - „die Auflösung des Rätsels der Geschichte". Der Mensch im Kommunismus wird nicht reduziert, sondern erhöht werden; doch er wird sich innerhalb der Möglichkeiten seiner eigenen Natur erheben. Marx unterstreicht die vielfältigen Dimensionen im gesellschaftlichen Handeln des Menschen, wenn einmal die Ketten des Kapitals abgeschüttelt sind:

- Wenn die Arbeitsteilung und vor allem die Produktion unter der Herrschaft des Geldes und Kapitals die Menschheit in eine Unendlichkeit von miteinander wetteifernden Atomen teilt, so stellt der Kommunismus die gesellschaftliche Natur des Menschen wieder her, so dass ein Teil der eigentlichen Befriedigung der Arbeit das Verständnis ist, dass sie für die Bedürfnisse anderer unternommen wird.

- Desgleichen muss die Arbeitsteilung in einzelne Individuen unterbunden werden, so dass die Produzenten nicht wie angewachsen an eine einzige Form der Tätigkeit, ob geistig oder manuell, gebunden sind: Der Produzent wird zu einem Allround-Individuum, dessen Arbeit geistige, physische, künstlerische und intellektuelle Tätigkeiten miteinander kombiniert.

- Befreit von der Not und der Knute der Zwangsarbeit, öffnet sich der Weg zu einer neuen und erhellenden Erfahrung der Welt, zu einer „Emanzipation aller Sinne"; desgleichen erlebt der Mensch sich selbst nicht mehr als ein atomisiertes Ego, das im „Gegensatz" zur Natur steht, sondern erfährt ein neues Bewusstsein von seiner Einheit mit der Natur.

5. „1848: Der Kommunismus als politisches Programm" (International Review, Nr. 72)

Diese frühen Schriften enthalten bereits ein Verständnis für die Zentralität der Produktionsverhältnisse bei der Bestimmung menschlicher Handlungen, doch war dies noch nicht zu einer kohärenten und dynamischen Darstellung der historischen Evolution ausgereift. Dies sollte bald darauf der Fall sein, in Werken wie Die deutsche Ideologie, wo Marx erstmals die Methode skizzierte, die später als historischer Materialismus bekannt wurde. Gleichzeitig war das Bekenntnis zum Kommunismus und zur proletarischen Revolution nicht „bloß" theoretischer Art; es beinhaltete notwendigerweise ein militantes, politisches Bekenntnis. Dies spiegelte den eigentlichen Charakter des Proletariats als eigentumslose Klasse wider, die innerhalb der alten Gesellschaft nicht zu wirtschaftlicher Stärke gelangen kann, sondern sich nur im Gegensatz zu ihr behaupten kann. Somit konnte der kommunistischen Transformation nur eine politische Revolution vorausgehen, die Machtergreifung durch die Arbeiterklasse. Und um sich darauf vorzubereiten, musste das Proletariat seine eigene politische Partei schaffen.

Es gibt viele heute, die ihre Anhängerschaft zu den Ideen von Marx bekunden, die aber, traumatisiert durch die Erfahrungen aus dem Stalinismus, keine Notwendigkeit erblicken, auf kollektive, organisierte Weise zu handeln. Dies ist sowohl dem Marxismus als auch dem Dasein des Proletariats wesensfremd, das als kollektive Klasse keine anderen Mittel für seine Sache besitzt als die Bildung von kollektiven Assoziationen; und es ist unvorstellbar, dass die höchstentwickelten Schichten der Klasse, die Kommunisten, irgendwie außerhalb dieses tiefen Bedürfnisses stünden.

Von Anfang an war Marx ein Vorkämpfer der Arbeiterklasse. Sein Ziel war es, an der Bildung einer kommunistischen Organisation mitzuwirken. Daher die Intervention von Marx und Engels in jener Gruppe, die zum Bund der Kommunisten werden sollte und 1847, auf dem eigentlichen Höhepunkt der Welle von revolutionären Erhebungen, als das Proletariat zum ersten Mal als eine separate politische Kraft auftrat, das Kommunistische Manifest veröffentlichte.

Das Manifest beginnt damit, indem sie die neue Theorie kurz umreißt, und zählt kurz die Chronik des Aufstiegs und Falls der verschiedenen Formen der Klassenausbeutung auf, die dem Erscheinen des modernen Kapitalismus vorausgegangen waren. Der Text macht keinen Hehl aus seiner Anerkennung der revolutionären Rolle der Bourgeoisie, diente diese doch der globalen Ausweitung der kapitalistischen Produktionsweise; gleichzeitig weist er mit der Identifizierung der Widersprüche des Systems, insbesondere der ihm innewohnenden Tendenz zur Überproduktionskrise, darauf hin, dass auch der Kapitalismus, wie das Römische Reich oder der Feudalismus vor ihm, nicht für immer währen wird, sondern durch eine höhere Form des gesellschaftlichen Lebens ersetzt wird.

Das Manifest bekräftigt diese Möglichkeit, indem es auf einen zweiten fundamentalen Widerspruch im System hinweist - auf den Klassenwiderspruch zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. Die historische Entwicklung spaltet die kapitalistische Gesellschaft in zwei sich bekriegende Lager, deren Kampf entweder zur Gründung einer höheren Gesellschaftsform führt oder zum „gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen".

Tatsächlich sind dies Indikatoren, die bereits die Zukunft des Kapitalismus anzeigen: eine Epoche, in der der Kapitalismus nicht mehr dem menschlichen Fortschritt dient, sondern zu einer Fessel der Produktivkräfte wird. Das Manifest ist allerdings nicht konsequent in diesem Punkt: Es sieht zwar noch immer die Möglichkeit eines Fortschritts unter der Bourgeoisie, besonders bei der Überwindung der Überreste des Feudalismus; doch an anderer Stelle nimmt es an, dass das System bereits in den Niedergang umgekippt sei und dass die proletarische Revolution bevorstehe. Nichtsdestotrotz bleibt das Manifest ein Werk wirklich gesellschaftlicher „Prophezeiungen": Nur einige Monate nach seiner Veröffentlichung bewies das Proletariat in der Praxis, dass es die neue revolutionäre Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft ist. Dies war der Beweis für die Solidität der historischen Methode, die das Manifest verkörpert.

Das Manifest war der erste richtige Ausdruck eines neuen politischen Programms und wies auf die Schritte hin, die das Proletariat unternehmen musste, um die neue Gesellschaft einzuleiten:

- die Eroberung der politischen Macht. Der Klassenkampf wird als mehr oder weniger verhüllter Bürgerkrieg beschrieben; die Revolution wird als gewaltsamer Sturz der Bourgeoisie ins Auge gefasst. Damals gab es die Idee, dass die Klassengewalt des Proletariats auf die Eroberung des bestehenden Staatsapparates abzielt; und es wurde sogar von einer friedlichen Eroberung der Macht durch „die Erkämpfung der Demokratie" gesprochen. Diese Vorgehensweise gegenüber dem bürgerlichen Staat wurde jedoch im Lichte weiterer Erfahrungen gründlich revidiert;

- die Eroberung der Macht durch das Proletariat muss auf internationaler Ebene stattfinden. Dies ist der Text, in dem Marx und Engels den unsterblichen Ruf erhoben: „Die Arbeiter haben kein Vaterland" und darauf beharrten, dass die „vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder (...) eine der ersten Bedingungen seiner (des Proletariats, Red.) Befreiung" ist;

- das langfristige Ziel ist die Ersetzung eines auf Klassenteilung beruhenden Systems durch eine „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Vorbedingung für die freie Entwicklung aller ist". Diese Gesellschaft bedarf keines weiteren Staates mehr und wird die abstumpfende Arbeitsteilung und die Trennung zwischen Stadt und Land überwinden.

Das Manifest bildet sich nicht ein, dass eine solche Gesellschaft über Nacht erbaut werden kann; es berücksichtigt eine mehr oder weniger lange Übergangsperiode. Viele der unmittelbaren Maßnahmen, die vom Manifest als Verkörperung „despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse" vorgestellt werden - wie die Verstaatlichung der Banken und die Durchsetzung einer starken Progressivsteuer - sind mittlerweile völlig vereinbar mit dem Kapitalismus, besonders mit dem Kapitalismus in seiner Niedergangsepoche, die sich durch eine totalitäre Vorherrschaft des Staates auszeichnet. Auch hier hat die revolutionäre Erfahrung der Arbeiterklasse mittlerweile einen viel größeren Grad an Klarheit über den ökonomischen Inhalt der proletarischen Revolution gezeitigt. Doch das Manifest bekräftigt völlig richtig das allgemeine Prinzip, dass das Proletariat nur durch die Zentralisierung der Produktivkräfte unter seiner Kontrolle zum Kommunismus gelangen kann.

6. „Die Revolution von 1848: Die kommunistische Perspektive tritt zutage" (International Review, Nr. 73)

Die realen Erfahrungen aus der Revolution von 1848 machten die Dinge klarer. In der Erkenntnis, dass eine breite soziale Erhebung bevorstand, antizipierte das Manifest bereits ihren hybriden Charakter zwischen der großen bürgerlichen Revolution von 1789 und der zukünftigen kommunistischen Revolution, indem es eine Reihe von taktischen Maßnahmen vorschlug, die dazu bestimmt waren, der Bourgeoisie und dem radikalen Kleinbürgertum in ihrem Kampf gegen den Feudalismus beizustehen und gleichzeitig den Boden für eine proletarische Revolution zu bereiten, die es unmittelbar nach dem Sieg der Bourgeoisie folgen sah.

In der Tat stand diese Perspektive nicht außerhalb der Ereignisse. Das politische Auftreten des Proletariats in den Straßen von Paris - parallel dazu in England der Aufstieg der ersten wirklichen Arbeiterpartei, der Chartisten - verbreitete Angst und Schrecken in der Bourgeoisie. Letztere realisierten, dass solch eine aufsteigende Kraft nicht leicht kontrolliert werden kann, wenn sie erst einmal gegen die feudalen Mächte losgelassen worden war. So sah sich die Bourgeoisie dazu gedrängt, Kompromisse mit dem Ancien Regime einzugehen, besonders in Deutschland. Das Proletariat war damals politisch noch nicht reif genug, um die Richtung der Gesellschaft zu bestimmen: Die kommunistischen Bestrebungen der Pariser ProletarierInnen waren eher unbewusst als beabsichtigt. Und in vielen anderen Ländern befand sich das Proletariat noch im Stadium der Herausschälung aus den sich auflösenden früheren Ausbeutungsformen.

Die Bewegungen von 1848 waren eine Feuertaufe des erst kurz zuvor gebildeten Bundes der Kommunisten. Indem er versuchte, die im Manifest befürworteten Taktiken auszuführen, widersetzte sich der Bund dem oberflächlichen Revolutionismus jener, die behaupteten, dass die proletarische Diktatur eine unmittelbare Möglichkeit sei, oder die sich in militärischen Träumereien der Befreiung Deutschlands durch das französische Bajonett verloren. Der Bund dagegen versuchte, das taktische Bündnis mit den Radikaldemokraten in Deutschland in die Tat umzusetzen. Jedoch ging er dabei zu weit; der Bund löste sich in den Demokratischen Vereinigungen auf, die von den radikalbürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien aufgestellt worden waren.

Im Lichte dieser Irrtümer und als Resultat des Denkprozesses hinsichtlich der schlimmen Repression gegen die Pariser Arbeiter und des Verrates der deutschen Bourgeoisie an ihrer eigenen Revolution zog der Bund der Kommunisten, besonders im Text von Marx über die „Klassenkämpfe in Frankreich", einige wichtige Lehren:

- die Notwendigkeit einer proletarischen Autonomie. Die Niedertracht der Bourgeoisie war zu erwarten und war beabsichtigt. Letztere würde unvermeidlich entweder einen Kompromiss mit der Reaktion eingehen oder, falls siegreich, sich gegen die Arbeiter wenden. Somit war es wichtig für die Arbeiter, ihre eigene Organisation im Verlauf der bürgerlichen Revolution zu erhalten. Dies betraf sowohl die kommunistische Avantgarde als auch die allgemeineren Organisationen der Klasse („Vereine, Komitees, etc.");

- diese Organe müssen bewaffnet werden und sogar darauf vorbereitet sein, eine Arbeiterregierung zu bilden. Darüber hinaus begann Marx zu dämmern, dass solch eine neue Macht erst durch die „Zerschmetterung" des bereits existierenden Staatsapparates entstehen kann - eine Lehre, die von den Erfahrungen der Pariser Kommune 1871 voll und ganz bestätigt wurde.

Was die Perspektive anging, so blieb es bei einer „permanenten Revolution": ein unmittelbarer Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution. Allerdings waren diese Lehren eher für die Epoche der proletarischen Revolution relevant, wie die Ereignisse in Russland 1917 zeigen sollten. Und innerhalb des Bundes der Kommunisten selbst gab es in der Tat hitzige Debatten über die Aussichten für die Arbeiterklasse nach den Niederlagen von 1848. Eine immediatistische Tendenz, die von Willich und Schapper angeführt wurde, nahm an, dass die Niederlage nur geringe Konsequenzen hatte und dass der Bund sich auf neue revolutionäre Abenteuer vorbereiten solle. Doch die Tendenz um Marx dachte tiefer über die Ereignisse nach. Sie begriff nicht nur, dass die Revolution nicht wie Phönix aus der Asche der Niederlage entstehen kann, sondern auch, dass der Kapitalismus selbst noch nicht reif war für die proletarische Revolution, die nur aus einer neuen kapitalistischen Krise kommen kann. Daher hatten es die Revolutionäre mit der Aufgabe zu tun, die Lehren aus der Vergangenheit zu bewahren und eine ernsthafte Untersuchung über das kapitalistische System anzustellen, um sein tatsächliches Schicksal zu verstehen. Diese Differenzen mündeten in der Auflösung des Bundes und für Marx in eine Periode profunder theoretischer Arbeit, die seinem Meisterstück, das Kapital, zum Leben verhalf.

7. „Das Studium des Kapitals und die kommunistischen Grundlagen"
Teil 1: „Der geschichtliche Hintergrund" (International Review, Nr. 75)

Der Schlüssel, um die Tür zur Zukunft des Kapitalismus aufzuschließen, lag auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Zu ihren revolutionärsten Zeiten haben die Nationalökonomen der Bourgeoisie, insbesondere Adam Smith, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Charakters der kapitalistischen Gesellschaft geliefert, insbesondere zur Entwicklung der Theorie des Arbeitswertes, der die bürgerlichen „Wirtschaftsexperten" heute, in der Niedergangsepoche des Kapitalismus, den Rücken zugekehrt haben. Doch auch damals waren die besten bürgerlichen Ökonomen nicht in der Lage, diese ersten Einblicke bis zu ihrer letzten Konsequenz weiterzuentwickeln, da ihre Klassenvorurteile im Weg standen. Die tatsächliche innere Funktionsweise des Kapitals konnte sich nur vom Standpunkt des Proletariats aus erschließen, das scharfsinnige Schlussfolgerungen ziehen konnte, die für die Bourgeoisie und ihren Apologeten ungenießbar waren: Der Kapitalismus ist nicht nur eine Gesellschaft, die auf Klassenausbeutung fußt, er ist auch die letzte Form der Klassenausbeutung in der menschlichen Geschichte und hat sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit für seine Verdrängung durch eine klassenlose kommunistische Gesellschaft geschaffen.

Doch bei der Untersuchung des Charakters und Schicksals des Kapitals blieb Marx nicht an den Grenzen der kapitalistischen Epoche stehen. Im Gegenteil, der Kapitalismus konnte nur vor dem Hintergrund der gesamten menschlichen Geschichte richtig verstanden werden. So kehren das Kapital und sein „Entwurf", die Grundrisse, mit Hilfe einer fortgeschritteneren historischen Methode zu den anthropologischen und philosophischen Anliegen zurück, die die ÖPM angeregt hatten:

- die Bestätigung der Existenz einer menschlichen Natur: Der Mensch ist ist kein unbeschriebenes Blatt Papier, in jeder ökonomischen Formation aufs Neue geboren; stattdessen entwickelt der Mensch sein Wesen durch sein eigenes Handeln in der Geschichte weiter;

- die Bestätigung des Konzeptes der Entfremdung, die auch in ihrer geschichtlichen Entwicklung gesehen wird: Die kapitalistische Lohnarbeit verkörpert die fortgeschrittenste Form der Entfremdung der Arbeit und ist gleichzeitig die Voraussetzung für ihre Emanzipation. Daher die Ablehnung einer rein linearen Sichtweise der Geschichte als reibungsloser Fortschritt und stattdessen die Befürwortung einer dialektischen Methode, die den historischen Fortschritt als etwas betrachtet, das durch einen widersprüchlichen Prozess geht, der auch Phasen der Regression und des Niedergangs beinhaltet.

In diesem Rahmen betrachtet, bewirkt die Dynamik der Geschichte eine wachsende Auflösung der ursprünglichen gesellschaftlichen Bande des Menschen durch die Verallgemeinerung der Warenverhältnisse: Der primitive Kommunismus und der Kapitalismus stehen an den antithetischen Enden dieses historischen Prozesses und ebnen den Weg für die kommunistische Synthese. Innerhalb dieses breiten Rahmens ist die Bewegung der Geschichte synonym für den Aufstieg und Niedergang unterschiedlicher antagonistischer Gesellschaftsformationen. Das Konzept des Aufstiegs und der Dekadenz von aufeinander folgenden Produktionsweisen ist vom historischen Materialismus nicht zu trennen; und im Gegensatz zu manch kruden Fehlkonzeptionen beinhaltet die Dekadenz eines Gesellschaftssystems überhaupt nicht einen völligen Stopp im Wachstum.

Teil 2: „Die Abschaffung des Warenfetischismus" (International Review, Nr. 76)

Bei all seiner Gründlichkeit und Komplexität ist das Kapital im Wesentlichen ein polemisches Werk. Es ist eine Tirade gegen die „wissenschaftlichen" Apologeten des Kapitalismus und somit „das sicherste Geschoß, das den Bürgern (Großgrundbesitzer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist", um die Worte von Marx zu gebrauchen.

Ausgangspunkt von Das Kapital ist die Enträtselung der Mystifikation der Ware. Der Kapitalismus ist ein System der universellen Warenproduktion: Alles ist käuflich. Die Herrschaft der Ware zieht einen Schleier über die wahre Funktionsweise des Systems. Es war somit notwendig, das Geheimnis des Mehrwerts zu enthüllen, um zu demonstrieren, dass alle kapitalistische Produktion ohne Ausnahme auf der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft basiert und somit die wahre Quelle aller Ungerechtigkeit und Barbarei im Leben des Kapitalismus ist.

Gleichzeitig heißt das Geheimnis des Mehrwerts zu begreifen, zu demonstrieren, dass der Kapitalismus mit tiefen Widersprüchen belastet ist, die unvermeidlich zu seinem Niedergang und schließlichem Ableben führt. Diese Widersprüche sind im eigentlichen Charakter der Lohnarbeit eingeflochten:

- die Krise der Überproduktion. Die Mehrheit der Bevölkerung im Kapitalismus ist durch den eigentlichen Charakter der Mehrarbeit Überproduzent und Unterkonsument in einem. Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, alle Werte, die er produziert, innerhalb des geschlossenen Kreislaufes seiner Produktionsverhältnisse zu realisieren;

- der tendenzielle Fall der Profitrate. Nur die menschliche Arbeitskraft kann neue Werte schaffen, und dennoch zwingt die nie nachlassende Konkurrenz den Kapitalismus dazu, den Anteil menschlicher Arbeit im Verhältnis zur toten Arbeit der Maschinen zu reduzieren.

In der aufsteigenden Epoche, in der Marx gelebt hatte, konnte der Kapitalismus seine inneren Widersprüche immer wieder aufschieben, indem er immer weiter in die unermesslichen vor-kapitalistischen Regionen, die ihn umgaben, expandierte. Das Kapital begriff bereits die Realität dieses Prozesses und seiner Grenzen, doch es musste ein unvollständiges Werk bleiben, nicht nur wegen der persönlichen Einschränkungen, denen sich Marx gegenübersah, sondern auch, weil nur die reale Entwicklung des Kapitalismus den tatsächlichen Prozess klären konnte, durch den das kapitalistische System in die Epoche seines Niedergangs eintrat. Das Verständnis der Phase des Imperialismus, der kapitalistischen Dekadenz, konnte daher erst von den Nachfolgern Marx‘ - insbesondere von Rosa Luxemburg - entwickelt werden.

Die Widersprüche des Kapitalismus weisen auch auf ihre wahre Lösung hin - den Kommunismus. Eine Gesellschaft, die durch das Gesetz der Marktverhältnisse dem Chaos entgegen treibt, kann nur von einer Gesellschaft ersetzt werden, die die Lohnarbeit und die Produktion für den Austausch abschafft, einer Gesellschaft von „frei assoziierten Produzenten", in der die Beziehungen zwischen den Menschen nicht mehr obskur, sondern einfach und klar sind. Aus diesem Grund ist das Kapital auch eine Beschreibung des Kommunismus; größtenteils im negativen Sinn, aber auch im direkteren und positiven Sinn einer Skizzierung, wie eine Gesellschaft von frei assoziierten Produzenten funktionieren könnte. Und darüber hinaus kehren das Kapital und die Grundrisse zur inspirierten Vision der ÖPM zurück, indem sie versuchen, das Reich der Freiheit zu beschreiben - um uns einen Einblick in das freie, kreative Handeln zu verschaffen, das die Essenz der kommunistischen Produktion ist.

8. „1871: die erste proletarische Revolution" (International Review, Nr. 77)

1864 fand die Periode des Rückzugs der Arbeiterklasse ein Ende. Die Arbeiter Europas und Amerikas organisierten sich in Gewerkschaften, um ihre wirtschaftlichen Interessen zu verteidigen. Es wurde zunehmend von der Streikwaffe Gebrauch gemacht; und die Arbeiter mobilisierten sich auch auf dem politischen Terrain, um fortschrittliche Anliegen wie den Krieg gegen die Sklaverei in den USA zu unterstützen. Diese Unruhe in der Klasse verhalf der Internationalen Arbeiterassoziation zu ihrer Existenz, wobei die Fraktion rund um Marx eine aktive Rolle bei ihrer Bildung spielte. Marx und Engels erkannten die Internationale als authentischen Ausdruck der Arbeiterklasse an, auch wenn sie sich aus vielen diversen und oft konfusen Strömungen zusammensetzte. Die marxistische Fraktion in der Internationale setzte sich dabei in vielen kritischen Debatten mit diesen Strömungen auseinander, insbesondere:

- über das Prinzip der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse gegen wohlmeinende bürgerliche Reformer, die die Klasse von oben befreien wollten, und über das Prinzip der Klassenautonomie gegenüber bürgerlichen Nationalisten wie Mazzini;

- über die Verteidigung einer proletarischen Politik und zentralisierten Organisation gegen die antipolitische Attitüde und die föderalistischen Vorurteile der Anarchisten.

Die Debatte über die Notwendigkeit für das Proletariat, die politische Dimension seines Kampfes anzuerkennen, war in einem gewissen Sinn eine Debatte darüber, ob man auf dem Gebiet der bürgerlichen Politik, des Parlaments und der Wahlen agieren soll oder nicht, und somit über die historische Perspektive der Revolution: Für die Marxisten war der Kampf um Reformen noch auf der Tagesordnung, da das kapitalistische System noch nicht in seine „Epoche der sozialen Revolution" eingetreten war. Doch 1871 tat die reale Klassenbewegung einen historischen Schritt nach vorn: die erste politische Machtergreifung durch die Arbeiterklasse, die Pariser Kommune. Auch wenn Marx den „frühreifen" Charakter dieser Erhebung erkannte, war sie ein enorm wichtiger Vorläufer, der in der Frage des Verhältnisses zwischen Proletariat und bürgerlichem Staat neue Klarheit schuf. Während im Kommunistischen Manifest die Perspektive in der Übernahme des existierenden Staates bestand, bewies die Pariser Kommune, dass dieser Teil des Programms nun obsolet war und dass das Proletariat nur durch die gewaltsame Zerstörung des kapitalistischen Staates an die Macht gelangen konnte. Weit davon entfernt, die marxistische Methode zu falsifizieren, war dies eine eindrucksvolle Bestätigung Letzterer.

Diese Klärung kam nicht aus heiterem Himmel: Die marxistische Kritik am Staat geht zurück auf Marx‘ Schriften von 1843; das Manifest erblickte im Kommunismus eine staatenlose Gesellschaft; und in den Lehren des Bundes der Kommunisten aus den Erfahrungen von 1848 wurde bereits die Notwendigkeit einer autonomen proletarischen Organisation betont, ja wurde vom Zerschlagen des bürokratischen Apparates gesprochen. Doch nach der Kommune konnte dies nun in einer höheren Synthese eingegliedert werden.

Der heroische Kampf der Kommunarden machte deutlich, was die Arbeiterrevolution bedeutete:

- die Auflösung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch die Bewaffnung des Proletariats;

- die Ersetzung der privilegierten Bürokratie durch öffentliche Angestellte, die mit einem durchschnittlichen Arbeiterlohn bezahlt werden; die Ersetzung aller parlamentarischen oder semiparlamentarischen Körperschaften durch Organe der Arbeiterklasse, die die Legislative und Exekutive miteinander verbinden; und am wichtigsten von allen das Prinzip der Wahl und jederzeitigen Abwählbarkeit aller verantwortlichen Positionen der neuen Macht.

Diese neue Macht schuf den organisierten Rahmen:

- für das Bemühen, die anderen nicht-ausbeutenden Klassen hinter das Proletariat zu ziehen;

- für den Beginn der ökonomischen und sozialen Umwandlung, der den Weg zum Kommunismus anzeigte, auch wenn Letzterer in dieser Epoche und in solch einem begrenzten geographischen Kontext noch nicht verwirklicht werden konnte.

Die Kommune war also bereits ein „Halbstaat", der historisch dazu bestimmt ist, den Weg zur staatenlosen Gesellschaft freizugeben. Doch schon damals waren Marx und Engels in der Lage, einen Blick auf die „negative" Seite des Kommune-Staates zu werfen: Marx betonte, dass die Kommune nur einen organisierten Rahmen schaffen konnte, aber nicht in sich selbst die Bewegung für die soziale Emanzipation des Proletariats war; Engels beharrte darauf, dass dieser Staat ein „notwendiges Übel" blieb. Spätere Erfahrungen - die Russische Revolution von 1917-27 - sollten den Scharfsinn der beiden beweisen und enthüllen, wie wichtig es für das Proletariat war, seine eigenen autonomen Klassenorgane zu schmieden, um den Staat zu kontrollieren - Organe wie die Arbeiterräte, die unter den semi-handwerklichen Proletariern von 1871 noch nicht vorstellbar waren.

Schließlich zeigte die Kommune an, dass die Zeit der Nationalkriege in Europa vorüber war: Angesichts des Gespenstes der proletarischen Revolution vereinigten die Bourgeoisien von Frankreich und Preußen ihre Kräfte, um ihren Hauptfeind niederzuschlagen. Für das Proletariat Europas war die nationale Verteidigung zu einer Maske geworden, hinter der sich Klasseninteressen verbargen, die sich ihren eigenen gegenüber völlig feindlich verhielten.

9. „Kommunismus gegen ‚Staatssozialismus‘"(International Review, Nr.78)

Mit der brutalen Niederschlagung der Kommune sah sich die Arbeiterbewegung einer neuerlichen Periode des Rückzugs gegenüber. Die Internationale sollte dies nicht lange überleben. Für die marxistische Strömung war dies erneut eine Zeit der intensiven politischen Auseinandersetzung mit Kräften, die zwar innerhalb der Bewegung agierten, aber mehr oder weniger den Einfluss und die Weltanschauung anderer Klassen zum Ausdruck brachten. Es war eine Auseinandersetzung einerseits mit den explizit bürgerlichen Einflüssen des Reformismus und des „Staatssozialismus" und andererseits mit den kleinbürgerlichen und deklassierten Ideologien des Anarchismus.

Die Identifikation des Staatskapitalismus mit dem Sozialismus lag der großen Lüge des 20. Jahrhunderts zugrunde, dass Stalinismus gleich Kommunismus ist, so wie auch den etwas milderen „sozialdemokratischen" Versionen des gleichen Schwindels. Einer der Gründe, warum diese Lüge solch ein großes Gewicht besitzt, besteht darin, dass sie sich aus einst ehrlichen Konfusionen innerhalb der Arbeiterbewegung speist. In der aufsteigenden Periode, als sich der Kapitalismus größtenteils im Gewand der Privatkapitalisten manifestierte, konnte man leicht behaupten, dass die Zentralisierung des Kapitals, die vom Staat repräsentiert wird, einen Schlag gegen das Kapital darstelle (wie wir zum Beispiel im Kommunistischen Manifest sahen). Nichtsdestotrotz schufen marxistische Theoretiker bereits die Grundlage für eine Kritik an dieser Behauptung, indem sie demonstrierten, dass das Kapital kein rechtliches, sondern ein gesellschaftliches Verhältnis ist, so dass es wenig Unterschied macht, ob der Mehrwert von einem individuellen oder von einem kollektiven Kapitalisten extrahiert wird. Darüber hinaus hatte Engels, als der Staat Ende des 19. Jahrhunderts immer energischer in die Wirtschaft zu intervenieren begann, diese bisher unausgesprochene Kritik bereits ausdrücklich artikuliert.

In der Periode nach der Auflösung der Internationale rückte die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Deutschland in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die rückständigen politischen Bedingungen, die hier noch immer herrschten, wurden auch von der Rückständigkeit der Strömung um Lassalle reflektiert, die sich durch eine abergläubische Verehrung des Staates und insbesondere des halbfeudalen Bismarck'schen Staates auszeichnete. Und selbst die von Bebel und Liebknecht angeführte marxistische Fraktion war nicht völlig frei von solchen Vorurteilen. Der Kompromiss zwischen diesen beiden Gruppen verhalf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum Leben. Das Programm der neuen Partei (1875) sah sich einer vernichtenden Kritik durch Marx (in seiner Kritik am Gothaer Programm) ausgesetzt, die die marxistische Vorgehensweise gegenüber dem Problem der Revolution und des Kommunismus, wie es damals existierte, zusammenfasste. So:

- warnte Marx gegen die Tendenz des Gothaer Programms, unmittelbare Reformen mit dem langfristigen Ziel des Kommunismus zu verwechseln, sowie vor dem Vertrauen der deutschen Partei in den Ausbeuterstaat, der angeblich nicht nur die Ausgebeuteten beschützte, sondern auch die Gesellschaft zum Sozialismus mitnehmen sollte;

- beharrten die Marxisten - für die die Bezeichnung „Sozialdemokratie" ein völlig unzureichender Begriff war - entgegen der Tendenz, die Sozialdemokratie zu einer Mehrklassenpartei der demokratischen Reform zu machen, auf den Klassencharakter der Partei als ein gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft unversöhnliches Element;

- bestanden die Marxisten entgegen substitutionistischen Ideen der Partei als eine gebildete bürgerliche Elite, die den unbedarften Arbeitern Heilung verschafft, darauf, dass Elemente aus anderen Klassen sich nur dann der proletarischen Bewegung anschließen konnten, wenn sie ihre bürgerlichen Vorurteile ablegten;

- bestanden die Marxisten entgegen den Illusionen über den Begriff eines „Volksstaates", der stückweise Reformen bringen könne, die möglicherweise zum Sozialismus führten, darauf, dass der Kommunismus eine radikale gesellschaftliche Umwälzung bedeutete und dass er erst nach einer Periode der proletarischen Diktatur, die das ultimative Verschwinden jeglicher staatlichen Form anstrebt, eingeleitet werden könne. Das Prinzip der proletarischen Diktatur wurde durch die Praxis der Pariser Kommune vollkommen bestätigt;

- bestand Marx entgegen der Forderung des Gothaer Programms nach „gerechter Verteilung" des gesellschaftlichen Produkts darauf, dass der Schlüssel jeder Bewegung zum Kommunismus die Abschaffung des Tausches und des Wertgesetzes sei;

- sprach Marx über eine Bewegung von der niederen zur höheren Stufe des Kommunismus, während das Gothaer Programm Sozialismus mit Staatseigentum verwechselte. In der ersten Stufe sei die Gesellschaft noch vom Mangel und durch das Gepräge der alten Gesellschaft gezeichnet. Die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse müssen mit Maßnahmen bekämpft werden, die die Rückkehr des Strebens nach Wertanhäufung verhindern. Solch eine Übergangsmaßnahme war das System der Arbeitsgutscheine, in denen Marx einen Schritt zur Abschaffung des Lohnsystems sah, auch wenn dies noch von „bürgerlichem Recht" eingeschränkt war.

10. „Anarchismus oder Kommunismus" (International Review, Nr. 79)

Der Kampf gegen die offen bürgerlichen Einflüsse des „Staatssozialismus" ging mit dem Kampf gegen die Überbleibsel der im Anarchismus verkörperten kleinbürgerlichen Ideologie einher. Dies war keine neue Auseinandersetzung: In Werken wie Das Elend der Philosophie hatte sich der Marxismus bereits gegen die proudhonistische Nostalgie für eine Gesellschaft von unabhängigen Produzenten, vermittelt durch den „gerechten Austausch", ausgesprochen. Ab den 1860er Jahren schien sich der Anarchismus weiterentwickelt zu haben, betrachtete sich doch zumindest Bakunins Strömung nun als kollektivistisch, ja kommunistisch. Doch in Wahrheit war auch der Bakunismus in seinem Kern der Arbeiterbewegung nicht weniger fremd als die proudhonistische Ideologie, abgesehen vom Nachteil, dass Ersterer nicht mehr als Ausdruck der Unreife der Arbeiterbewegung betrachtet werden kann, sondern sich von Anfang an gegen den fundamentalen Fortschritt richtete, der von der marxistischen Weltanschauung verkörpert wurde.

Der Konflikt zwischen Marxismus und Bakunismus, zwischen dem proletarischen und dem kleinbürgerlichen Standpunkt wurde auf mehreren Ebenen ausgefochten:

- die Frage der Organisation: Bakunins Beitrag zum Leben der Internationale bestand darin, als Verteidiger der Freiheit und lokalen Autonomie gegen übertrieben zentralistische Tendenzen, die sich im Zentralrat der Internationale ausdrückten, zu posieren. Doch die Zentralisierung ist ein organischer Ausdruck des Bedürfnisses des Proletariats nach Einheit, wohingegen die Bakunisten den Zentralrat auf einen bloßen Briefkasten stutzen wollten, um die Fähigkeit der Internationale, mit einer Stimme gegen den Klassenfeind zu sprechen, zu liquidieren. Dieses Projekt konnte nur Unordnung in den Reihen der proletarischen Bewegung stiften. Gleichzeitig waren seine Reden über Freiheit und Autonomie reine Heuchelei, da das ganze Ziel des Bakunismus darin bestand, die Internationale via eines äußerst „autoritären" Geheimordens zu infiltrieren, der auf dem freimaurerischen Modell basierte, mit „Bürger B" - Bakunin - an seiner Spitze. Der Kampf für organisatorische Prinzipien des Proletariats - der auf Transparenz und klaren Richtlinien für die Verantwortlichkeiten fußt - gegen die kleinbürgerlichen Intrigen des Bakunin-Clans war die Schlüsselfrage auf dem Kongress der Internationale 1872;

- die historische Methode: Während die marxistische Strömung für die Methode des historischen Materialismus stand, für das Verständnis, dass das Handeln der Arbeiterbewegung im Verhältnis zu den objektiven historischen Bedingungen, mit denen sie konfrontiert ist, definiert werden muss, lehnte Bakunin dieses Vorgehen ab und befürwortete den Gedanken einer ewig gültigen Freiheit und Gerechtigkeit, wobei er argumentierte, dass die Revolution jederzeit möglich sei;

- das Subjekt der Revolution: Während der Marxismus erkannt hatte, dass die Klasse, die einzig und allein dazu bestimmt ist, die Revolution anzuführen - das moderne Proletariat -, sich noch im Formierungsprozess befand, standen die Bakunisten, für die die Revolution ein Großbrand war, der gleichermaßen von Bauern, Halbproletariern und Banditen-Rebellen wie von Arbeitern entfacht werden konnte, dem gleichgültig gegenüber;

- der politische Charakter des Klassenkampfes: Da für die Marxisten die kommunistische Revolution noch nicht auf der Tagesordnung der Geschichte stand, war es für die Arbeiterklasse notwendig, sich selbst als politische Kraft innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft zu konsolidieren, was bedeutete, sich selbst in Gewerkschaften und ähnlichen Verteidigungsorganen zu organisieren und auf dem bürgerlichen politischen Terrain des Parlaments zu intervenieren, um die eigenen Interessen auf legale Weise durchzusetzen. Die Bakunisten jedoch lehnten jegliche parlamentarische Tätigkeit prinzipiell und - oberflächlich zumindest - überhaupt jeglichen Kampf ab, der nicht der Abschaffung des Kapitalismus galt; ferner erforderte - nach ihnen - der Sturz des Kapitalismus nicht die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, sondern die unmittelbare „Auflösung" jeglicher Staatsform. Die Marxisten dagegen zogen die wirklichen Lehren aus der Kommune: dass die Arbeiterrevolution in der Tat die Ergreifung der politischen Macht bedeutet, dass aber diese Macht neuartig ist - eine Macht, mit der das gesamte Proletariat, besser als jede privilegierte Elite, direkt die Verwaltung des politischen und wirtschaftlichen Lebens ausüben kann. Und in der Praxis erwiesen sich die ultrarevolutionären Sprüche der Anarchisten als dünnes Furnier über ihrer opportunistischen Rolle als Wurmfortsatz der Bourgeoisie, wie sich in Spanien zeigte, wo sie sich an den lokalen Behörden beteiligten, die sich keineswegs vom kapitalistischen Staat getrennt hatten;

- die Frage der künftigen Gesellschaft: Der wahre Charakter des Anarchismus als Widerspiegelung der konservativen Weltanschauung kleinbürgerlicher Schichten, die von der Kapitalkonzentration ruiniert worden waren, war nirgendwo deutlicher als in ihrer Vision einer künftigen Gesellschaft. Dies trifft auf die „kollektivistischen" Bakunisten nicht weniger zu als auf Proudhon: Besonders Guillaumes Text „Über den Aufbau der neuen Gesellschaft" betont, dass die vielen Produzenten-Assoziationen und Kommunen, die nach der Revolution ins Leben gerufen werden, mit den guten Diensten einer „Tauschbank" verknüpft werden sollten, die das Geschäft des Kaufs und Verkaufs für die Gesellschaft organisiert. Im Gegensatz dazu beharrten die Marxisten darauf, dass in einer wirklich „kollektivistischen" Gesellschaft die Produzenten nicht ihre Produkte austauschen, da diese bereits Produkt und „Eigentum" der Gesamtheit der Gesellschaft sind. Die Fortführung der Warenverhältnisse kann nur eine Reflexion auf die Existenz von Privateigentum sein und dient als Humus für das Wachsen neuer Formen des Kapitalismus.

11. „Der späte Marx: vergangener und zukünftiger Kommunismus" (International Review, Nr. 81)

Während seiner letzten Lebensjahre widmete Marx einen Gutteil seiner intellektuellen Energie dem Studium archaischer Gesellschaften. Die Veröffentlichung von Morgans Ancient Society und Fragen, die ihm von der russischen Arbeiterbewegung über die Perspektive einer Revolution in Russland gestellt wurden, veranlassten ihn zu einem intensiven Studium, das uns zwar sehr unvollständige, aber äußerst wichtige Ethnologische Notizbücher hinterlassen hat. Diese Studien regten auch Engels‘ großes anthropologisches Werk Über die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates an.

Morgans Werk über die nordamerikanischen Indianer war für Marx und Engels eine klare Bestätigung ihrer Thesen über den primitiven Kommunismus: Entgegen der konventionellen bürgerlichen Vorstellung, dass Privateigentum, gesellschaftliche Hierarchie und geschlechtliche Ungleichheit der menschlichen Natur immanent sind, enthüllte Morgans Untersuchung: Je älter die Gesellschaftsformation, desto mehr Gemeineigentum, desto kollektiver der Entscheidungsprozess, desto mehr fußte das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf gegenseitigem Respekt. Dies bedeutete eine ungeheure Unterstützung für das kommunistische Argument gegen die Mythen der Bourgeoisie. Gleichzeitig befand sich das Hauptobjekt von Morgans Untersuchungen - die Gesellschaft der Irokesen - bereits im Übergang von der früheren Form der „Wildheit" zur Stufe der Zivilisation oder Klassengesellschaft; und die Formen des Erbrechts, die im Clan bzw. im Gens-System eingepflanzt waren, stellten schon die Keime des Privateigentums dar, der den Humus für die Entstehung der Klassen und des Staates bilden sowie für die „historische Niederlage des weiblichen Geschlechts" sorgen sollte.

Marx‘ Annäherung an die primitive Gesellschaft basierte auf seiner materialistischen Methode, die die historische Entwicklung von Gesellschaften als in letzter Instanz durch die Änderungen in ihrer ökonomischen Produktionsweisen bestimmt sieht. Diese Änderungen brachten das Ableben der primitiven Gemeinde mit sich und ebneten den Weg für das Erscheinen entwickelterer Gesellschaftsformationen. Doch diese Sichtweise des historischen Fortschreitens war dem kruden bürgerlichen Evolutionismus radikal entgegengesetzt, der einen rein linearen Aufstieg aus der Dunkelheit ans Licht sah, welcher in der blendenden Pracht der bürgerlichen Zivilisation kulminierte. Marx‘ Sichtweise war vollkommen dialektisch: Weit davon entfernt, die primitive kommunistische Gesellschaft als halb-menschlich abzutun, drücken die Notizbücher einen tiefen Respekt für die menschlichen Qualitäten der Stammesgemeinschaft aus: ihre Fähigkeit zur Selbstregierung, die unvorstellbare Kraft ihrer künstlerischen Kreationen, ihre Geschlechtergleichheit. Die einschränkenden Begleiterscheinungen der primitiven Gesellschaft - insbesondere die Restriktionen für das Individuum und die Separierung der Menschheit in getrennte Stammeseinheiten - wurden vom historischen Fortschritt überwunden. Doch die positive Seite dieser Gesellschaften wird in der kommunistischen Zukunft auf einer höheren Ebene wiederhergestellt werden müssen.

Im Gegensatz zu jenen, die einen Keil zwischen Marx und Engels zu treiben versuchten, indem sie Letzteren beschuldigten, ein gewöhnlicher „Evolutionist" zu sein, wurde diese dialektische Sichtweise der Geschichte von Engels geteilt, was deutlich in Der Ursprung der Familie... demonstriert wird.

Das Problem der primitiven und vor-kapitalistischen Gesellschaften war nicht einfach eine Frage der Vergangenheit. Die 1870er und 1880er Jahre waren eine Zeit, in der sich der Kapitalismus, nachdem er die Aufgaben der bürgerlichen Revolution im alten Europa erfüllt hatte, auf die imperialistische Phase zubewegte, in der die verbliebenen nicht-kapitalistischen Gebiete des Globus‘ aufgeteilt wurden. Die proletarische Bewegung musste also eine klare Position zur Kolonialfrage beziehen, nicht zuletzt weil es in ihren Reihen Strömungen gab, die den Begriff des „sozialistischen Kolonialismus" vertraten, eine frühe Form des Chauvinismus, dessen ganze Gefahr sich 1914 entblößte.

Die Unterstützung der fortschrittlichen Mission des Imperialismus stand für die Revolutionäre außer Frage. Doch da weite Teile des Planeten noch von vor-kapitalistischen Produktionsformen beherrscht wurden, war es notwendig, eine kommunistische Perspektive für diese Regionen zu erarbeiten. Dies wurde in der russischen Frage konkretisiert: Die Begründer des Kommunismus in Russland schrieben an Marx, um ihn über seine Haltung gegenüber dem archaischen Kommunismus, der agrarischen Mir, zu befragen, die im zaristischen Russland überlebt hatte. Könnte diese Formation als Grundlage für eine kommunistische Entwicklung in Russland dienen? Und - im Gegensatz zu den Erwartungen einiger seiner „marxistischen" Anhänger in Russland, die sich über den Inhalt der Antwort von Marx ausschwiegen - zog Marx den Schluss, dass es keine unvermeidliche Stufe der „bürgerlichen Revolution" in Russland geben muss und dass die Agrargemeinde durchaus als Grundlage für eine kommunistische Umwandlung dienen kann. Doch es gab einen wichtigen Vorbehalt: Dies kann nur geschehen, wenn die russische Revolution gegen den Zarismus das Signal zu einer proletarischen Revolution im Westen ist.

Diese ganze Episode zeigt, dass die Methode von Marx keineswegs beschränkt oder orthodox war. Im Gegenteil, er lehnte die groben Schemata der historischen Entwicklung ab, die einige Marxisten aus seinen Prämissen zogen, und prüfte sowie revidierte, sofern notwendig, stets seine Schlussfolgerungen. Doch sie offenbart auch seine prophetische Gabe: Auch wenn die kapitalistische Entwicklung in Russland die Mir im Wesentlichen unterminierte, sollte Marx‘ Ablehnung einer Stufentheorie der Revolution in Russland einen Nachhall in Trotzkis Theorie der permanenten Revolution und in Lenins Aprilthesen finden, die Marx in der Erkenntnis folgten, dass das Schicksal einer revolutionären Umwälzung in Russland unmittelbar mit der proletarischen Revolution in Westeuropa verknüpft war.

12. „1883-1895: Die Sozialdemokratie treibt die Sache des Kommunismus voran" (International Review, Nr. 84)

Das Aufkommen „sozialdemokratischer" Parteien in Europa war ein wichtiger Ausdruck der Wiederbelebung des Proletariats nach der niederschmetternden Niederlage der Kommune. Trotz ihrer Irritation über den Begriff „Sozialdemokratie" unterstützten Marx und Engels enthusiastisch die Bildung dieser Parteien, die einen Fortschritt gegenüber der Internationale in zwei Punkten markierten: Erstens verkörperten sie eine klarere Unterscheidung zwischen den allgemeinen Einheitsorganen der Klasse (damals besonders die Gewerkschaften) und der politischen Organisation, die die fortgeschrittensten Elemente der Klasse um sich scharte. Und zweitens konstituierten sie sich auf der Grundlage des Marxismus.

Zweifellos gab es von Anbeginn ernsthafte Schwächen in den programmatischen Grundlagen dieser Parteien. Auch die marxistische Führung in ihnen war häufig von all dem ideologischen Ballast erdrückt; und mit dem Wachsen ihres Einflusses wurden sie zu einem Anziehungspunkt für alle Arten bürgerlicher Reformisten, die sich feindlich gegenüber dem Marxismus verhielten. Die Periode der kapitalistischen Expansion Ende des 19. Jahrhunderts schuf die Bedingungen für die Zunahme eines immer offeneren Opportunismus innerhalb dieser Parteien, für einen Prozess der inneren Degenerierung, der im großen Verrat von 1914 kulminierte.

Dies hatte viele pseudoradikale politische Strömungen, die gewöhnlich behaupteten, kommunistisch zu sein, aber tief vom Anarchismus beeinflusst waren, dazu verleitet, die ganze Erfahrung der Sozialdemokratie en bloc abzulehnen, sie als eine Widerspiegelung und Adaption der bürgerlichen Gesellschaft abzutun. Doch damit wurde die tatsächliche Kontinuität der proletarischen Bewegung und die Art und Weise, in der sie zu einem Verständnis für ihr historisches Ziel gelangt, völlig verleugnet. Die besten Elemente der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert - von Lenin bis Luxemburg, von Bordiga bis Pannekoek - gingen durch die Schule der Sozialdemokratie und hätten ohne sie nicht existiert. Es ist kein Zufall, dass die ahistorische Methode, die zur pauschalen Verurteilung der Sozialdemokratie führte, immer häufiger damit schloss, Engels, ja den Marxismus selbst in den Mülleimer der Geschichte zu werfen, und somit die anarchistischen Wurzeln ihrer Denkweise enthüllte.

Entgegen der Versuche, Engels von Marx zu trennen und ihn als gewöhnlichen Reformisten darzustellen, ist es evident, dass Engels‘ Polemik gegen die realen bürgerlichen Einflüsse, die auf die Sozialdemokratie wirkten, - insbesondere sein Anti-Dühring - eine fulminante Verteidigung kommunistischer Prinzipien darstellte:

- die Bestätigung der unlösbaren Widersprüche des Kapitalismus, die in der eigentlichen Natur der Produktion und der Realisierung des Mehrwerts liegen;

- die Kritik an der Staatsintervention, die als eine Assoziation der Produzenten dargestellt wird, die sich der Lohnarbeit und Warenproduktion entledigt hat;

- die wiederholte Feststellung, dass das höchste Ziel des Kommunismus die Überwindung der Entfremdung und der wahre Beginn der menschlichen Geschichte ist.

Auch war Engels kein einsamer Rufer in den sozialdemokratischen Parteien. Ein kurzes Studium des Werkes von August Bebel und William Morris bestätigt dies: Die Befürwortung der Idee, dass der Kapitalismus überwunden werden müsse, weil seine Widersprüche in wachsende Katastrophen für die Menschheit mündeten; die Ablehnung der Identifizierung des Staatseigentums mit dem Sozialismus; die Notwendigkeit für die revolutionäre Arbeiterklasse, eine neue Form der Macht zu etablieren, wie sie von der Pariser Kommune vorgezeichnet wurde; die Erkenntnis, dass der Sozialismus die Abschaffung von Handel und Geld beinhaltet; das Verständnis, dass der Sozialismus nicht in einem Land errichtet werden kann, sondern die vereinte Aktion des Weltproletariats erfordert; die internationalistische Kritik am kapitalistischen Kolonialismus und die Ablehnung des nationalen Chauvinismus vor allem im Zusammenhang mit den zunehmenden Rivalitäten zwischen den imperialistischen Großmächten - diese Positionen waren den sozialdemokratischen Parteien nicht fremd, sondern drückten ihren fundamental proletarischen Kern aus.

13. „Die Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse: Wie die Revolutionäre am Ende des 19. Jahrhunderts die Frage betrachtete" (International Review, Nr. 85)

Nur wenn man sich des Mythos‘ entledigt, dass die Sozialdemokratie vor 1914 einen bürgerlichen Charakter besessen habe, kann man eine seriöse Untersuchung über die Stärken und die Grenzen der Art und Weise anstellen, in der sich die Revolutionäre die Umwandlung des Gesellschaftslebens und die Eliminierung einiger der drückendsten Probleme der Menschheit vorstellen konnten.

Eine wichtige Frage, die sich dem kommunistischen Denken im 19. Jahrhundert stellte, war die „Frauenfrage". Schon in den Manuskripten von 1844 hatte Marx argumentiert, dass das Verhältnis zwischen Mann und Frau in jeder Gesellschaft ein Schlüssel zum Verständnis war, wie nah oder wie weit die betreffende Gesellschaft von der Verwirklichung des Menschen entfernt war. Die Werke von Engels, Über die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates an, und von Bebel, Die Frau und der Sozialismus, bezeugten die historische Weiterentwicklung der Frauenunterdrückung, die mit der Abschaffung des primitiven Kommunismus und dem Auftreten des Privateigentums einen großen Schritt tat, jedoch auch in den entwickeltsten Formen der kapitalistischen Zivilisation ungelöst blieb. Diese historische Annäherung ist per Definition eine Kritik an der feministischen Ideologie, die dazu neigt, die Unterdrückung der Frauen zu einem angeborenen, biologischen Element des Mannes und somit zu einem ewigen Attribut der menschlichen Bedingungen zu machen. Auch wenn der Feminismus sich hinter einer scheinbar radikalen Kritik am Sozialismus versteckte, dem sie eine rein ökonomische Transformation vorhält, offenbarte er seine im Wesentlichen konservative Herangehensweise. Der Kommunismus ist keineswegs eine rein ökonomische Umwandlung. Denn so wie er beginnt, nämlich mit dem politischen Sturz des bürgerlichen Staates, so erfordert sein äußerstes Ziel - die tief greifende Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse - die Eliminierung eben jener ökonomischen Kräfte, die sich hinter dem Konflikt zwischen Mann und Frau sowie hinter der Umwandlung der Sexualität in eine Ware verbergen.

So wie der Feminismus den Marxismus fälschlicherweise beschuldigt, „nicht weit genug zu gehen", so behaupten die Umweltaktivisten - indem sie die Lüge wiederholen, dass Marxismus gleich Stalinismus ist - , dass der Marxismus nur eine weitere „produktivistische" Ideologie sei, die für die Vergewaltigung der natürlichen Umwelt im 20. Jahrhundert mit verantwortlich sei. Dieser Vorwurf wurde auch auf einer etwas philosophischeren Ebene geäußert, besonders gegen die Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts, deren Methodik oft mit einer rein mechanistischen Art des Materialismus identifiziert wurde, mit einem unkritischen „Wissenschaftskult", der dazu neige, den Menschen von der natürlichen Welt zu abstrahieren, so wie er vom Kapital behandelt wird: als ein totes Ding, das gekauft, verkauft und ausgebeutet werden kann. Auch hier befindet sich Engels oft unter den als schuldig Ausgemachten. Doch auch wenn es zutrifft, dass diese mechanistischen Tendenzen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien existierten und gar überhand nahmen, als sich der Degenerationsprozess beschleunigte, so ist es genauso richtig, dass ihre besten Elemente stets ein ganz anderes Vorgehen vertraten. Und auch hier gibt es eine vollkommene Kontinuität zwischen Marx und Engels, nämlich in der Erkenntnis, dass die Menschheit Teil der Natur ist und dass der Kommunismus nach Jahrtausenden der Entfremdung eine echte Aussöhnung zwischen Mensch und Natur bringen wird.

Diese Vision beschränkte sich nicht auf eine unerreichbar ferne Zukunft; in den Werken von Marx, Engels, Bebel und anderen gründete sie sich auf ein konkretes Programm, das das Proletariat in Gang setzen müsse, sobald es an die Macht gelangt sei. Dieses Programm wurde in der Formulierung zusammengefasst: „Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land". Der Stalinismus an der Macht interpretierte diese Phrase auf seine Weise - mit der Rechtfertigung der Vergiftung des Landes und des Aufbaus von öden Baracken, in denen die ArbeiterInnen hausen sollten. Doch für die wirklichen Marxisten des 19. Jahrhunderts bedeutete die Phrase „Abschaffung der Trennung zwischen Stadt und Land" nicht eine besessene Urbanisierung des Globus, sondern die Eliminierung der überquellenden Städte und die harmonische Verteilung der Menschheit auf dem ganzen Planeten. Dieses Projekt ist in der heutigen Welt der unermesslichen Megacitys und der zügellosen Vergiftung der Umwelt mehr denn je relevant.

14. „Die Umwandlung der Arbeit nach den Vorstellungen der Revolutionäre des späten 19. Jahrhunderts" (International Review, Nr. 86)

Als Künstler, der sich mit Haut und Haaren der sozialistischen Bewegung angeschlossen hatte, befand sich William Morris an der richtigen Stelle, um über die Umwandlung der Arbeit in einer kommunistischen Gesellschaft zu schreiben, da er sowohl den Seelen zerstörenden Charakter der Arbeit im Kapitalismus als auch die radikalen Möglichkeiten kannte, entfremdete Arbeit durch eine wahrhaft schöpferische Tätigkeit zu ersetzen. In seinem visionären Roman Kunde aus dem Nirgendwo wird schlicht festgestellt, dass „Glück ohne glückliches Tageswerk unmöglich" ist. Dies stimmt perfekt mit der marxistischen Konzeption, die Arbeit ins Zentrum des menschlichen Leben zu rücken, überein: Der Mensch hat sich selbst durch Arbeit geschaffen, aber er hat sich unter Bedingungen geschaffen, die seine Entfremdung erzeugten. Aus diesem Grund kann die Überwindung der Entfremdung nicht ohne eine gründliche Umwandlung der Arbeit erreicht werden.

Der Kommunismus ist im Gegensatz zu einigen, die in seinem Namen sprechen, nicht „gegen die Arbeit". Selbst im Kapitalismus drückt die Ideologie der „Arbeitsverweigerung" eine rein individuelle Revolte marginaler Klassen oder Schichten aus. Und eine der ersten Maßnahmen der proletarischen Macht wird es sein, eine allgemeine Arbeitspflicht durchzusetzen. In seinen Frühphasen enthält der revolutionäre Prozess unvermeidlich ein Element der Einschränkung, da es unmöglich ist, den Mangel ohne eine mehr oder weniger lange Übergangsperiode abzuschaffen, die sicherlich beträchtliche materielle Opfer beinhaltet, besonders in der Anfangsphase des Bürgerkriegs gegen die alte herrschende Klasse. Doch das Fortschreiten zum Kommunismus kann an dem Grad gemessen werden, mit dem die Arbeit aufhört, eine Form des Opfers zu sein, und zu einem positiven Vergnügen wird. In seinem Essay Nützliche Arbeit versus unnützliche Arbeit identifiziert Morris drei wesentliche Aspekte der Arbeit:

- dass die Arbeit von der „Hoffnung auf Erholung" beseelt ist: Die Reduzierung des Arbeitstages muss ein unmittelbares Mittel der siegreichen Revolution sein, andernfalls wird es für die Mehrheit der Arbeiterklasse unmöglich sein, eine aktive Rolle im revolutionären Prozess zu spielen. Der Kapitalismus hat bereits die Bedingungen für diese Maßnahme geschaffen, indem er die Technologie entwickelte, die - wenn sie einmal vom Profitstreben befreit ist - sehr gut dazu benutzt werden kann, die Menge an repetitiven und unangenehmen Aufgaben, die im Arbeitsprozess involviert sind, zu reduzieren. Gleichzeitig könnte die riesige Masse an menschlicher Arbeitskraft, die in der kapitalistischen Produktion überflüssig zu werden droht - in Gestalt massiver Arbeitslosigkeit oder in Form von Arbeit, die keinem nützlichen Zweck dient (Bürokratie, Rüstungsproduktion, etc.) -, für nützlichere Produktion oder Dienste eingesetzt werden. Auch dies würde helfen, den Arbeitstag für alle zu reduzieren. Diese Beobachtungen wurden bereits von Engels, Bebel und Morris gemacht, und sie treffen in der dekadenten Epoche des Kapitalismus mehr denn je zu;

- dass es eine „Hoffnung auf Ergebnisse" gibt: Mit anderen Worten, die Arbeiter sollten ein Interesse daran haben, was produziert wird, sei es, weil dies wichtig für die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse ist oder schlicht wegen der eigentlichen Schönheit des Produktes. Schon zu Lebzeiten von Morris besaß der Kapitalismus eine große Gabe darin, schäbige und nutzlose Produkte herzustellen, doch die Massenproduktion von Trödel und Hässlichem im dekadenten Kapitalismus würde wahrscheinlich seine schlimmsten Albträume übertreffen;

- dass es eine „Hoffnung auf Vergnügen an der Arbeit selbst" gibt. Morris und Bebel bestehen darauf, dass die Arbeit in angenehmen Umständen ausgeführt werden soll. Im Kapitalismus ist die Fabrik ein Modell für die Hölle auf Erden; die kommunistische Produktion wird den assoziierten Charakter der Fabrikarbeit erhalten, jedoch in einer ganz unterschiedlichen Umgebung. Gleichzeitig muss die kapitalistische Arbeitsteilung - die so viele ProletarierInnen dazu verdammt, stumpfsinnige, repetitive Arbeiten zu verrichten - überwunden werden, so dass jeder Produzent eine Balance zwischen körperlicher und geistiger Arbeit erreicht und imstande ist, sich selbst einer Vielfalt von Aufgaben zu widmen und eine Vielzahl an Fertigkeiten zu entwickeln, um eben diese Aufgaben auszuführen. Darüber hinaus wird die Arbeit der Zukunft vom frenetischen Tempo befreit sein, das die Jagd nach den Profiten erfordert, und den menschlichen Bedürfnissen und Wünschen angepasst sein.

Fourier mit seiner bemerkenswerten Vorstellungskraft hat im Zusammenhang mit seinen „Phalansterien" von einer Arbeit gesprochen, die auf „leidenschaftlicher Anziehung" basierte. Er ging davon aus, dass die tägliche Arbeit gleichsam zum Spiel wird. Marx, der Fourier sehr bewunderte, argumentierte, dass wirklich schöpferische Arbeit auch eine „verdammt ernste Angelegenheit" sei oder, wie er es in den Grundrissen nannte: „Ein Mensch kann nicht wieder zum Kind werden, ohne kindlich zu werden". Jedoch fährt er fort: „Aber findet er nicht Freude an der Naivität des Kindes und muss er sich nicht anstrengen um auf einem höheren Niveau zur Wahrheit zu gelangen?" (eigene Übersetzung). Die kommunistische Tätigkeit wird den alten Gegensatz zwischen Arbeit und Spiel überwunden haben.

Diese Skizzen der kommunistischen Zukunft waren nicht utopisch, da der Marxismus bereits demonstriert hatte, dass der Kapitalismus die materiellen Bedingungen dafür geschaffen hatte, damit die tägliche Arbeit endlich dergestalt umgewandelt wird. Der Marxismus hat zudem die gesellschaftliche Kraft identifiziert, die dazu gezwungen wird, diese Umwandlung vorzunehmen, eben weil sie das letzte Opfer der Entfremdung der Arbeit ist.

15. „1895-1905: Parlamentarische Illusionen verbergen die Perspektive der Revolution" (International Review, Nr. 88)

Die Diktatur des Proletariats war seit Anfang an ein fundamentales Konzept des Marxismus gewesen. Frühere Artikel zeigten, dass sie nie eine statische Idee war, sondern weiterentwickelt wurde und im Lichte des proletarischen Kampfes immer konkreter wurde. Desgleichen war die Verteidigung der proletarischen Diktatur gegen die vielen Formen des Opportunismus stets ein konstantes Element im Werdegang des Marxismus gewesen. So war Marx 1875, als er seine Argumente auf die Erfahrungen der Pariser Kommune stützte, in der Lage, eine vernichtende Kritik am Lassalleanischen Begriff des „Volksstaates" zu üben, der im Gothaer Programm der neuen Sozialdemokratischen Partei in Deutschland Eingang gefunden hatte.

Gleichzeitig beinhaltet dies, da die Perspektive der proletarischen Macht aus dem erbarmungslosen Kampf gegen die vorherrschende Ideologie geboren wird, auch einen Kampf gegen die Auswirkungen, den diese Ideologie selbst auf die scharfsinnigsten Fraktionen der Arbeiterbewegung hatte. Selbst nach der Erfahrung der Pariser Kommune hielt Marx zum Beispiel in einer Rede vor dem Haager Kongress von 1872 daran fest, dass in zumindest einigen Ländern das Proletariat friedlich, mittels des demokratischen Apparates des existierenden Staates, zur Macht gelangen könne.

In den 1880er Jahren wurde die deutsche Partei - die führende Partei in der internationalen Bewegung - vom Bismarck-Regime für außergesetzlich erklärt, was ihre revolutionäre Integrität zu bewahren half. Selbst da, wo Zugeständnisse gegenüber der bürgerlichen Demokratie fortbestanden, war es die vorherrschende Ansicht, dass die proletarische Revolution notwendigerweise den erzwungenen Sturz der Bourgeoisie erfordert. Und die fundamentale Lehre aus der Kommune - dass der herrschende Staat nicht erobert werden kann, sondern in Stücke zerschlagen werden muss - war keineswegs vergessen worden.

In der sich anschließenden Periode jedoch schuf die Legalisierung der Partei, der Zustrom von kleinbürgerlichen Elementen und vor allem die spektakuläre Expansion des Kapitalismus sowie der daraus folgende Zugewinn an realen Reformen für die Arbeiterklasse den Boden für das Wachstum eines deutlicher prononcierten Reformismus innerhalb der Partei. Der Aufstieg einer „staatssozialistischen" Tendenz um Vollmar und insbesondere die revisionistischen Theorien von Eduard Bernstein strebten danach, die sozialistische Bewegung davon zu überzeugen, ihre Ansprüche zugunsten einer gewaltsamen Revolution aufzugeben und sich offen zur Partei der demokratischen Reform zu erklären.

In einer proletarischen Partei trifft eine solch offenkundige Penetration bürgerlicher Einflüsse unvermeidlich auf den erbitterten Widerstand jener, die das proletarische Herz der Organisation repräsentieren. In der deutschen Partei trat den opportunistischen Tendenzen am famosesten Rosa Luxemburg mit ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution entgegen, doch der Aufstieg linker Faktionen war ein internationales Phänomen.

Zunächst schienen die Schlachten, die von Luxemburg, Lenin und anderen angeführt wurden, erfolgreich zu sein. Die Revisionisten wurden nicht nur von der Roten Rosa, sondern auch vom „Papst" des Marxismus, Karl Kautsky, verdammt.

Nichtsdestotrotz erwiesen sich die Siege der Linken als zerbrechlicher, als sie zunächst erschienen. Die Ideologie der Demokratie drang langsam in die gesamte Bewegung ein; selbst Engels blieb nicht davon ausgenommen. In seiner 1895er Einführung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich von Marx wies Engels richtigerweise darauf hin, dass eine simple Flucht auf die Barrikaden und in den Straßenkampf nicht mehr ausreichte, um das alte Regime ins Wanken zu bringen, und dass das Proletariat das Kräftegleichgewicht massiv zu seinem Gunsten beeinflussen müsse, ehe es zum Angriff bläst. Dieser Text wurde von der Führung der deutschen Partei so verzerrt, dass es den Anschein hatte, als sei Engels gegen jegliche proletarische Gewalt. Doch die Opportunisten waren, wie Luxemburg später hervorhob, nur deswegen dazu in der Lage gewesen, weil es in der Tat Schwächen in Engels‘ Argumentation gab: Die Schaffung einer politischen Kraft des Proletariats wurde mehr oder weniger mit dem allmählichen Wachstum der sozialdemokratischen Parteien und ihres Einflusses auf der parlamentarischen Bühne identifiziert.

Dieser Fokus auf den parlamentarischen Gradualismus wurde besonders von Kautsky theoretisiert, der unbestritten gegen die offenen Revisionisten opponierte, aber in wachsendem Maße für ein konservatives „Zentrum" stand, das eine Scheineinheit der Partei höher bewertete als die programmatische Klarheit. In solch folgenreichen Werken wie Die soziale Revolution setzte Kautsky die proletarische Machtergreifung mit der Erringung der parlamentarischen Mehrheit gleich, auch wenn er klar machte, dass auch in solch einer Lage die Arbeiterklasse dazu bereit sein müsse, den Widerstand der Konterrevolution zu unterdrücken. Diese politische Strategie ging auch mit einem ökonomischen „Realismus" einher, der den wahren Inhalt des sozialistischen Programms - die Abschaffung der Lohnarbeit und der Warenproduktion - aus den Augen verlor und stattdessen den Sozialismus als staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens betrachtete.

Der Artikel in der nächsten Ausgabe der Internationalen Revue wird die zweite Artikelserie zusammenfassen, die die Zeit zwischen 1905 und dem Ende der ersten großen internationalen revolutionären Welle umfasst. Zunächst wird er aufzeigen, wie die Frage von Form und Inhalt der Revolution durch eine scharfe Debatte über die neuen Formen des Klassenkampfes geklärt wurde, die zu entstehen begannen, als sich der Kapitalismus dem Scheitelpunkt zwischen seiner aufsteigenden und seiner dekadenten Epoche näherte.

 

CDW, 11. Dezember 2005

 

Theoretische Fragen: 

  • Kommunismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [9]

Editorial: Finanzkrise: Von der Liquiditätskrise zur Liquidierung des Kapitalismus

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Der Sommer 2007 war ein erneutes Beispiel dafür, wie der Kapitalismus in immer schneller wiederkehrende Krisen stürzt: die imperialistische Barbarei mit den andauernden Blutbädern unter Zivilisten im Irak; die Verwüstungen aufgrund der Klimaerwärmung, welche ihre Ursachen in der unaufhörlichen Jagd nach Profit hat; und eine erneute ökonomische Krise, welche eine noch stärkere Verarmung der Weltbevölkerung ankündigt. Auf der anderen Seite entwickelt die Arbeiterklasse, welche als einzige Klasse fähig ist, die Menschheit zu retten, ein immer größeres Misstrauen gegenüber dem Kapitalismus. Wir wollen hier aber auf die ökonomische Krise eingehen, die dramatischen Ereignisse im Immobiliensektor in den USA, welche die ganze internationale Finanzwelt und Ökonomie erschüttert hat.

Die Blase platzt

Die Krise wurde ausgelöst durch den Fall der Immobilienpreise in den USA, begleitet von einem Rückgang in der Bauindustrie und der Unfähigkeit zahlreicher Schuldner, die gestiegenen Zinsen zu bezahlen und Kredite abzustottern, welche heutzutage unter dem Namen „Subprime" oder Risikoanleihen bekannt sind. Von diesem Epizentrum aus haben sich die Erschütterungen auf das weltweite Finanzsystem ausgeweitet. Im August waren ganze Investmentfonds und Handelsbanken, welche Milliarden von Dollars in dieses riskante Geschäft gesteckt hatten, zusammengebrochen oder mussten gestützt werden. Selbst zwei „Hedge Funds" der amerikanischen Bear Sterns Bank verschwanden und mit ihnen eine Milliarde Dollar von Investoren. Die deutsche Bank ADF musste ebenfalls gerettet werden und die französische BNP Paribas wurde brutal erschüttert. Die Aktivitäten der Immobilienanleihen-Institute und anderer Banken waren stark gesunken, was zu einem Schwindel erregenden Sturz an allen großen Börsenplätzen führte und Milliarden von Dollar „akkumulierter Arbeit" zerstörte. Um dem Vertrauensverlust und dem Widerstand der Banken, neue Kredite zu gewähren, entgegenzusteuern, intervenierten die Zentralbanken - die amerikanische Notenbank FED und die Europäische Zentralbank EZB - und stellten neue Milliardenbeträge zu günstigeren Zinsen zur Verfügung. Dieses Geld war natürlich nicht für die hunderttausende von Leuten bestimmt, welche durch das „Subprime"-Fiasko das Dach über dem Kopf verloren hatten. Auch nicht für die Tausenden von Arbeitern, welche durch die Krise im Bausektor in die Arbeitslosigkeit geworfen wurden. Nein, sie waren für den Kreditmarkt selber bestimmt! Die Finanzinstitute welche enorme Mengen von Geldern verschwendet hatten wurden wieder aufgemöbelt, damit sie ihr Spekulantentum fortsetzen können. Doch all das löste die Krise natürlich nicht. In England führte es zur Farce.

Im September hatte die britische Staatsbank andere Zentralbanken kritisiert, weil sie riskanten und unvorsichtigen Investoren, welche die Krise beschleunigten, unter die Arme gegriffen hatten. Sie schlug eine andere Politik vor, die Schwarze Schafe bestraft und das Ausbrechen derselben Spekulationsprobleme verhindert soll. Doch schon am nächsten Tag machte Mervyn King, der Präsident der britischen Zentralbank, eine Kehrtwende. Die Bank musste den fünftgrößten Immobilienkreditgeber Englands, die Northern Rock Bank, retten. Deren „Unternehmensstrategie" bestand darin, auf dem Kreditmarkt mehr Geld auszuleihen, als den Leuten zur Verfügung zu stellen, welche Wohnungen zu höheren Zinsen kauften. Als die Kreditmärkte zusammenbrachen, ereilte die Northern Rock dasselbe Schicksal.

Auch noch nach der Nachricht von der Unterstützung der Bank bildeten sich enorme Schlangen vor deren Filialen: die Sparkontoinhaber wollten ihr Geld abheben, und in 3 Tagen wurden 2 Milliarden Pfund Sterling abgehoben. Dies war der erste Ansturm dieser Art vor einer englischen Bank seit 140 Jahren (1866). Um einem Ansteckungsrisiko vorzubeugen, musste die Regierung erneut intervenieren und eine hundertprozentige Garantie gegenüber den Kunden von Northern Rock und den Sparern anderer bedrohter Banken gewähren[1]. Am Ende war die „alte Dame der Threadneedle Street" - die Englische Zentralbank - gezwungen, in derselben Art und Weise wie andere Zentralbanken, welche sie zuvor kritisiert hatte, ungeheure Mengen von Geld ins zerbrechliche Bankensystem zu schleudern. Mit dem Resultat, dass die Glaubwürdigkeit der Leitung des Londoner Finanzzentrums, welches heute einen Viertel der britischen Wirtschaft ausmacht, ruiniert ist.

Der nächste Akt des ganzen Dramas, das zur Zeit der Redaktion dieses Artikels anhält, betrifft die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Wirtschaft im Allgemeinen. Die erste Zinssenkung der FED seit fünf Jahren, die eine größere Erhältlichkeit von Krediten zum Ziel hat, ist bisher kein Erfolg. Sie konnte den fortschreitenden Zusammenbruch des Immobilienmarktes in den USA nicht aufhalten und bietet auch für all die 40 anderen Länder, in denen das Platzen der Spekulationsblase droht, keine Perspektive. Es konnten damit auch nicht erschwerte Bedingungen für Kredite verhindert werden und damit Auswirkungen auf Investitionen und die Verschuldung der Haushalte im Allgemeinen. Ganz im Gegenteil führte es zu einem raschen Fall des Dollars, welcher verglichen mit anderen Devisen an einen Tiefpunkt gelangt ist, seit Nixon den Dollar 1971 entwertete. Gleichzeitig verzeichnen nun der Euro und Rohstoffe wie Öl oder Gold einen Rekordstand.

All dies sind Anzeichen eines Einbruchs der Weltwirtschaft, einer offenen Rezession und Inflation in der nächsten Zeit.

Oder anders ausgedrückt: Die Wachstumsperiode der letzten sechs Jahre, basierend auf Hypotheken, Konsum und der gewaltigen auswärtigen Verschuldung des US-amerikanischen Staatsbudgets ist zu Ende.

So präsentiert sich die gegenwärtige wirtschaftliche Lage. Die Frage lautet nun: Befindet sich die sich abzeichnende und von allen erwartete Rezession lediglich im Rahmen des unvermeidlichen Auf und Ab einer gesunden kapitalistischen Wirtschaft, oder ist sie Zeichen einer Zersetzung, einer internen Panne des Kapitalismus, welche sich durch immer heftiger werdende Erschütterungen ausdrückt?

Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, ist es zuerst notwendig, die Auffassung zu beleuchten, nach der das Anwachsen der Spekulation und die daraus entspringende Kreditkrise lediglich eine Abweichung eines ansonsten gesunden Systems seien und durch die Kontrolle des Staates oder eine bessere Regulation im Griff behalten werden könnten. Oder mit anderen Worten: Ist die gegenwärtige Krise das Produkt von unverantwortungsvollen Spekulanten?

Die Rolle des Kredits im Kapitalismus

Die Entwicklung des Bankensystems, der Börse und anderer Kreditmechanismen ist ein integraler Bestandteil der Entwicklung des Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert. Sie waren notwendig zur Anhäufung und Zentralisierung von Geldern und ermöglichten für eine breite industrielle Expansion die notwendigen Investitionen, welche selbst der reichste Einzelkapitalist nicht aufbringen konnte. Die Vorstellung vom Industrieunternehmer, der Kapital anhäuft, indem er sein eigenes Geld einsetzt oder riskiert, ist eine Fiktion. Die Bourgeoisie benötigt den Zugriff auf Kapital, das bereits auf den Kreditmärkten konzentriert ist. Auf den Finanzmärkten pokern die Vertreter der herrschenden Klasse nicht mit ihrem individuellen Eigentum, sondern mit bereits angehäuftem, sozialem Reichtum in Geldform.

Der Kredit spielte im Vergleich zu früheren Epochen eine wichtige Rolle in der Steigerung der Produktivkräfte und in der Bildung eines Weltmarktes.

Auf der anderen Seite war aufgrund der dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen der Kredit auch ein gewaltiger Faktor bei der Überproduktion und der Überschätzung der Möglichkeiten des Marktes, Produkte aufzunehmen, und wurde somit zu einem Katalysator der Spekulationsblase mit ihrer Konsequenz der Krise und Austrocknung des Kredits. Gleichzeitig mit der Verursachung sozialer Katastrophen haben die Börsen und das Bankensystem die ganzen individuellen Sittenlosigkeiten wie Habgier und Doppelzüngigkeit gefördert, welche bezeichnend sind für eine ausbeutende Klasse, die von der Arbeit anderer lebt: Vermögensdelikte, fiktive Zahlungen, skandalöse Sonderleistungen, goldene Fallschirme (Abgangsentschädigungen von CEOs), Hinterziehung, oder schlicht und einfach Diebstahl, usw.

Die Spekulation, die riskanten Schulden, die Schwindeleien, die Börsenkrisen und das Verschwinden unglaublicher Mengen von Mehrwert sind ein fester Bestandteil der Anarchie der kapitalistischen Produktion.

Die Spekulation ist in Wirklichkeit eine Folge und nicht eine Ursache der kapitalistischen Krisen. Wenn es heute so scheint, als dominierten die spekulativen Finanzaktivitäten die gesamte Wirtschaft, dann lediglich deshalb, weil die kapitalistische Überproduktion seit mehr als 40 Jahren eine stetig tiefer werdende Krise verursacht, in der der Weltmarkt vollkommen mit Produkten übersättigt ist und die Investition in die Produktion immer weniger lukrativ wird. Das Finanzkapital hat keine andere Wahl, als zu spekulieren - das ist die heutige „Kasinoökonomie"[2].

Ein Kapitalismus ohne finanzielle Exzesse ist unvorstellbar. Sie sind ein typischer Teil der kapitalistischen Tendenz, so zu produzieren als hätte der Markt keine Schranken, und der Unfähigkeit selbst eines Allan Greenspan, des ehemaligen Präsidenten der FED, zu erkennen, dass „der Markt überschätzt wird".

Der kürzliche Zusammenbruch des Immobilenmarktes in den USA und anderen Ländern ist eine Illustration des wahren Verhältnisses zwischen der Überproduktion und dem Kreditzwang.

Der Immobiliensektor zeigt den Anachronismus der kapitalistischen Produktion auf

Die Krise im Immobilienmarkt erinnert an die Beschreibung der kapitalistischen Krise wie sie schon Marx im Kommunistischen Manifest 1848 formuliert hatte: „In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre - die Epidemie der Überproduktion. (...) Weil sie zuviel Zivilisation, zuviel Lebensmittel, zuviel Industrie, zuviel Handel besitzt."

So ist Obdachlosigkeit heutzutage nicht Resultat eines Mangels an Wohnungen oder Häusern, sondern paradoxerweise eines Überflusses, und es gibt eine regelrechte Überfülle an leeren Wohnungen und Häusern. Die Bauindustrie hat grenzenlos gearbeitet in den letzten fünf Jahren. Doch gleichzeitig ist die Kaufkraft der amerikanischen Arbeiter zurückgegangen, weil der amerikanische Kapitalismus seinen Profit erhöhen wollte. Es ist ein Graben entstanden zwischen den neu auf den Markt geworfenen Häusern und der Fähigkeit der Leute, welche diese wirklich benötigen, sie sich auch zu leisten. Die riskanten Darlehen - sprich „Subprimes" - hatten den Zweck, neue Käufer zu finden, welche sich dies aber gar nicht leisten konnten. Eine Quadratur des Zirkels! Schlussendlich brach der Markt zusammen. Heute werden immer mehr Hauseigentümer aus ihren vier Wänden herausgeschmissen, weil sie die steigenden Zinsen nicht mehr bezahlen können, und der Immobilienmarkt wird dadurch noch mehr gesättigt. In den USA wird erwartet, dass 3 Millionen Leute ihr Haus verlieren werden, weil sie ihre „Subprime"-Anleihen nicht zurück bezahlen können. Auch in anderen Ländern, in denen die Immobilienblase geplatzt oder auf gutem Weg dazu ist, zeichnet sich eine ähnliche Tragödie ab. Die gesteigerte Bautätigkeit und Hypothekengewährung in den letzten 10 Jahren, weit davon entfernt, die Obdachlosigkeit zu reduzieren, hat ein angenehmes Wohnen für einen großen Teil der Bevölkerung unerschwinglich gemacht und Hauseigentümer in eine prekäre Lage gebracht[3].

Was die Führer des kapitalistischen Systems - die „Hedge-Fund"-Manager, die Finanzminister, die Leiter der Zentralbanken, usw. - kümmert, ist nicht die menschliche Tragödie, welche durch das „Subprime"-Debakel ausgelöst wurde, nicht die Hoffnungen auf ein besseres Leben (oder nur dann, wenn es zu einer Infragestellung des Kapitalismus führt), sondern die Unfähigkeit der Konsumenten, die Wucherzinse für ihre Kredite zu bezahlen.

Das „Suprime"-Debakel zeigt deutlich die Krise des Kapitalismus auf, seine in der Jagd nach Profit begründete Tendenz zu einer Überproduktion, gemessen an der Kaufkraft der Märkte. Es zeigt seine Unfähigkeit auf, trotz der immensen materiellen, technologischen und menschlichen Ressourcen, die elementaren Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen[4].

Auch wenn das kapitalistische System im Lichte der heutigen Krise noch so absurd, verschwenderisch und anachronistisch erscheint, versucht die herrschende Klasse sich und die ganze Bevölkerung zu beruhigen und behauptet, es sei alles niemals so schlimm wie die Krise von 1929.

Die heutige Lage: dasselbe Problem wie 1929

Der Krach der Wall Street im Jahre 1929 und die Große Depression ängstigen die Bourgeoisie nach wie vor, wie die Medienberichterstattung über die neuen Ereignisse beweist. Mit Leitartikeln, Hintergrundberichten und historischen Analogien wird versucht, uns zu überzeugen, dass die derzeitige Bankenkrise nicht zur selben Katastrophe führen werde, dass 1929 ein einmaliges Ereignis gewesen sei, das sich nur deshalb in eine Katastrophe verwandelt habe, weil falsche Entscheide gefällt worden seien.

Die „Experten" der Bourgeoisie schüren die Illusion, nach der die derzeitige Finanzkrise eine Art Wiederholung der Krachs des 19. Jahrhunderts sei, die in zeitlicher und räumlicher Ausdehnung vergleichsweise begrenzt waren. In Wirklichkeit hat die derzeitige Lage aber mehr gemeinsam mit 1929 als mit jener früheren Phase des kapitalistischen Aufstiegs; sie weist Eigenschaften auf, die typisch sind für die verhängnisvollen wirtschaftlichen und finanziellen Krisen der Niedergangsphase, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hat, einer Phase der Erschütterung der kapitalistischen Produktionsweise, eines Zeitalters der Kriege und der Revolutionen.

Die wirtschaftlichen Krisen des kapitalistischen Aufstiegs und die spekulativen Aktivitäten, die sie oft begleiteten oder ihr vorausgingen, stellten den Puls eines gesunden Systems dar und ebneten den Weg für eine neue kapitalistische Expansion durch ganze Kontinente, für wichtige technologischen Fortschritte, die Eroberung kolonialer Märkte, die Umwandlung der Handwerker und Bauern in Armeen von Lohnarbeitern usw.

Der Börsenkrach in New York im Jahre 1929, der die erste große Krise des dekadenten Kapitalismus einläutete, stellte alle Spekulationskrisen des 19. Jahrhunderts in den Schatten. Während der „verrückten 20er Jahre" hatten sich die Aktienwerte an der Börse von New York, der wichtigsten der Welt, verfünffacht. Der weltweite Kapitalismus hatte die Katastrophe des Ersten Weltkrieges nicht überwunden, und im Land, das das reichste der Welt geworden war, suchte die Bourgeoisie einen Ausweg in der Börsenspekulation.

Doch der „Schwarze Donnerstag", der 24. Oktober 1929, war der brutale Absturz. Die Panikverkäufe setzten sich am „Schwarzen Dienstag" der folgenden Woche fort. Und die Börse befand sich bis zum Jahre 1932 auf dem absteigenden Ast; mittlerweile hatten die Titel 89% von ihrem maximalen Wert von 1929 verloren. Sie sanken auf Niveaus, die seit dem 19. Jahrhundert nie mehr gesehen worden waren. Der Höchststand der Aktienwerte von 1929 wurde erst wieder im Jahre 1954 erreicht!

In dieser Zeit brach auch das amerikanische Bankensystem, das Geld für den Kauf von Titeln ausgeliehen hatte, zusammen. Diese Katastrophe kündigte die große Depression der Dreißiger Jahre an, die bisher tiefste Krise des Kapitalismus. Das amerikanische BIP wurde halbiert. 13 Millionen Arbeiter verloren praktisch ohne jede Absicherung die Arbeit. Ein Drittel der Bevölkerung sank in die bitterste Armut ab. Die Auswirkungen davon waren auf dem ganzen Planeten zu spüren.

Aber es folgte kein wirtschaftlicher Wiederaufschwung wie jeweils nach den Krisen des 19. Jahrhunderts. Die Produktion nahm erst wieder einen Anlauf, nachdem sie auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet worden war zur Vorbereitung des Blutbads zur Neuaufteilung des Weltmarktes, des Zweiten Weltkrieges; mit anderen Worten, nachdem die Arbeitslosen in Kanonenfutter verwandelt worden waren.

Die Rezession der Dreißiger Jahre schien die Folge von 1929 zu sein, aber in Wirklichkeit beschleunigte der Krach der Wall Street nur die chronische Überproduktionskrise des Kapitalismus in seiner Niedergangsphase, die der gemeinsame Wesenszug der Krise der Dreißiger Jahre und jener von heute ist, die im Jahre 1968 begonnen hat.

Die Bourgeoisie der 50er und 60er Jahre verkündete zur Genüge, dass sie das Problem der Krisen gelöst und dank den Gegenmitteln der staatlichen Eingriffe in die nationale und internationale Wirtschaft, der Defizitfinanzierung und der progressiven Besteuerung auf ein geschichtliches Kuriosum reduziert habe. Zu ihrer Bestürzung trat die weltweite Überproduktionskrise im Jahre 1968 doch wieder auf.

Seit 40 Jahren torkelt diese Krise von einer Rezession in die andere; von einer offenen Rezession in die nächste, die noch ernsthafter ist; von einer Fata Morgana in die folgende. Die Krise seit 1968 hat nicht die schroffe Form des Krachs von 1929 angenommen.

Im Jahre 1929 ergriffen die bürgerlichen Finanzexperten Maßnahmen, die die finanzielle Krise nicht eindämmen konnten. Diese Maßnahmen waren keine Fehler, sondern Methoden, die bei den früheren Einbrüchen des Systems funktioniert hatten, wie bei jenem von 1907 und der Panik, die er verursacht hatte; aber sie waren in der neuen Phase nicht mehr ausreichend. Der Staat lehnte es ab zu intervenieren. Die Zinssätze stiegen, man ließ die Währungsreserven zurückgehen, die Kredithindernisse sich verstärken und das Vertrauen ins Banken- und Kreditsystem sich in Luft auflösen. Die Smoot-Hawley-Zollgesetze stellten Schranken gegen Einfuhren auf, was den weltweiten Handel weiter verlangsamte und folglich die Rezession nur noch vertiefte.

In den 40 letzten Jahren hat die Bourgeoisie es verstanden, das staatliche Instrumentarium zu benützen, um die Zinssätze zu reduzieren, flüssige Mittel ins Bankensystem einzuspritzen und damit den Finanzkrisen entgegenzutreten. Sie war fähig, die Krise zu begleiten, aber zum Preis einer Überladung des kapitalistischen Systems mit Schuldenbergen. Der Niedergang war gradueller als in den Dreißiger Jahren; aber die Linderungsmittel wirken je länger je weniger, und das finanzielle System wird immer zerbrechlicher.

Das phänomenale Anwachsen der Schulden in der weltweiten Wirtschaft während des letzten Jahrzehnts wird auf dem Kreditmarkt durch das außergewöhnliche Wachstum der heute berühmt berüchtigten Hedge Funds veranschaulicht. Das geschätzte Kapital dieser Fonds ist von 491 Milliarden Dollar im Jahre 2000 auf 1745 Milliarden im 2007 angeschwollen[5]. Ihre komplizierten Finanztransaktionen, die mehrheitlich geheim und nicht reglementiert ablaufen, benutzen Schulden als eine handelbare Sicherheit auf der Jagd nach dem kurzfristigen Gewinn. Hedge Funds werden als dafür verantwortlich erachtet, dass sich faule Schulden im ganzen Finanzsystem verbreitet haben, womit sich die derzeitige Finanzkrise beschleunigt und ausgedehnt hat.

Der Keynesianismus, das System der Finanzierung mittels staatlicher Defizite mit dem Zweck, die Vollbeschäftigung aufrechtzuerhalten, hat sich mit der galoppierenden Inflation der Siebziger Jahre und der Rezessionen von 1975 und 1981 in Luft aufgelöst. Die Reaganomics und der Thatcherismus - Methoden, mit denen die Profite durch Reduzierung des sozialen Lohns sowie Senkung der Steuern erhöht und die nicht rentablen Unternehmen dem Konkurs überlassen wurden, was eine Massenarbeitslosigkeit verursachte - sind seit dem Börsenkrach von 1987, dem Skandal um Savings and Loans (Kreditgesellschaft für den Sozialwohnungsbau) und der Rezession von 1991 passé. Den asiatischen Drachen ging im Jahre 1997 die Luft aus, und sie hinterließen gewaltige Schulden. Die Internet-Revolution, die „New Economy", hat sich als nicht nachhaltig erwiesen, und der Aktienboom erlitt im Jahre 1999 ebenfalls Schiffbruch. Der Immobilienboom, das gewaltige Aufblähen des Konsumkredites in den letzten fünf Jahren, die gigantische Auslandverschuldung der Vereinigten Staaten zur Herstellung einer Nachfrage für die weltweite Wirtschaft und die „wunderbare" Expansion der chinesischen Wirtschaft - all das wird auch in Frage gestellt.

Man kann nicht genau vorhersagen, wie die Weltwirtschaft ihren Niedergang fortsetzen wird, doch unausweichlich wird es zu immer größeren Störungen und einer immer härteren Sparpolitik kommen.

Der Kapitalismus hat die Vorbedingungen für den Sozialismus geschaffen

Im Dritten Band des Kapital argumentiert Karl Marx, dass das durch den Kapitalismus entwickelte Kreditsystem in embryonaler Form eine neue Produktionsweise innerhalb der alten hervorgebracht hat. Indem der Reichtum ausgeweitet und vergesellschaftet, aus den Händen der individuellen Mitglieder der Bourgeoisie genommen wurde, bereitete der Kapitalismus den Weg für eine Gesellschaft, in der die Produktion zentralisiert und von den Produzenten selbst kontrolliert und wo das bürgerliche Eigentum als ein historischer Anachronismus abgeschafft werden könnte: „Das Kreditwesen beschleunigt daher die materielle Entwicklung der Produktivkräfte und die Herstellung des Weltmarkts, die als materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen, die historische Aufgabe der kapitalistischen Produktionsweise ist. Gleichzeitig beschleunigt der Kredit die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs, die Krisen, und damit die Elemente der Auflösung der alten Produktionsweise."[6]

Seit nunmehr einem Jahrhundert sind die Voraussetzungen reif für die Abschaffung der bürgerlichen Herrschaft und der kapitalistischen Ausbeutung. Da es bis jetzt keine radikale Antwort des Proletariats gibt, die dazu führen könnte, den Kapitalismus weltweit zu überwinden, spitzen sich die Widersprüche dieses kranken Systems, insbesondere die Wirtschaftskrise, immer mehr zu. Wenn heute der Kredit immer noch eine Rolle bei der Entwicklung dieser Widersprüche spielt, so geht es dabei nicht mehr um die Eroberung des Weltmarktes, denn der Kapitalismus hat schon seit langem die Herrschaft seiner Produktionsverhältnisse auf den ganzen Planeten ausgedehnt. Die massive Verschuldung aller Staaten hat es aber dem Kapitalismus tatsächlich erlaubt, einen brutalen Absturz der Wirtschaft zu vermeiden, was aber nicht umsonst geschah. So war die verrückte Flucht nach vorn in den allgemeinen und massiven Einsatz des Kredits anfänglich während Jahrzehnten ein Faktor der Abdämpfung des unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den hinfällig gewordenen kapitalistischen Produktionsverhältnissen, doch werden „die gewaltsamen Ausbrüche dieses Widerspruchs" brutal beschleunigt, so dass das gesellschaftliche Gebilde wie noch nie erschüttert wird. Doch werden solche Erschütterungen allein noch keine Bedrohung für die Spaltung der Gesellschaft in Klassen darstellen. Sie werden es erst, sobald sie dazu beitragen, das Proletariat in Bewegung zu setzen.

Die Revolutionäre haben immer hervorgehoben, dass die Krise den Prozess der Bewusstwerdung darüber, in welcher Sackgasse die derzeitige Welt steckt, beschleunigen wird. Sie wird langfristig immer mehr Teile der Arbeiterklasse in Kämpfe stoßen, die es ihr erlauben, Erfahrungen zu sammeln. Die Herausforderung dieser künftigen Erfahrungen ist die Fähigkeit der Arbeiterklasse, sich gegenüber allen Kräften der Bourgeoisie zu verteidigen und zu behaupten, Vertrauen in ihre eigenen Kräfte zu gewinnen und sich je länger je mehr das Bewusstsein anzueignen, dass sie die einzige Kraft der Gesellschaft darstellt, die fähig ist, den Kapitalismus zu beseitigen.

Como, 29/10/2007



[1] In der britischen Wirtschaftszeitschrift The Economist wurde diese Garantie als ein Bluff betitelt.

[2] „Und es gibt keine Weisheiten von ‚Globalisierungsgegnern‘ und anderen Gegnern der ‚Verfinanzung‘ der Wirtschaft, die daran auch nur das Geringste ändern könnten. Diese politischen Strömungen möchten einen ‚sauberen‘, ‚gerechten‘ Kapitalismus, der insbesondere die Spekulation unterbindet. In Tat und Wahrheit ist Letztere keineswegs Auswuchs eines ‚schlechten‘ Kapitalismus, der seine Verantwortung dafür ‚vergessen‘ habe, in wirklich produktive Sektoren zu investieren. Wie Marx schon im 19. Jahrhundert festgestellt hat, ist die Spekulation eine Folge der Tatsache, dass die Kapitalbesitzer angesichts des Mangels an zahlungskräftigen Absatzmärkten für ihre produktiven Investitionen es vorziehen, ihr Kapital zwecks Gewinnmaximierung kurzfristig in eine gigantische Lotterie zu stecken, eine Lotterie, die heute den Kapitalismus in ein weltumspannendes Kasino verwandelt hat. Der Wunsch, dass der Kapitalismus heutzutage auf die Spekulation verzichtet, ist so realistisch wie der Wunsch, dass aus Tigern Vegetarier werden." (Resolution zur internationalen Lage, 17. Kongress der IKS, siehe in dieser Nummer)

[3] Benjamin Bernanke, der Präsident der FED sprach von Hypothekarschuldnern als „Delinquenten". Mit anderen Worten: „Kriminelle gegen den Reichtum". Die „Kriminellen" wurden gebüßt - durch die Erhöhung der Zinsen!

[4] Wir können hier nicht auf die Frage der Obdachlosigkeit auf der Welt eingehen. Laut der UNO-Kommission für Menschenrechte leben 1 Milliarde Menschen ohne angemessene und 100 Millionen ganz ohne Unterkunft.

[5] www.mcclatchydc.com [10]

[6] 27. Kapitel, Die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion.

 

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [5]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [11]

Interne Debatte der IKS: Marxismus und Ethik (Teil II)

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In der vorherigen Ausgabe unserer Internationalen Revue begannen wir mit der Veröffentlichung großer Auszüge aus einem Orientierungstext über den Marxismus und die Ethik, der Gegenstand interner Diskussionen in unserer Organisation war und ist. In den veröffentlichten Auszügen lasen wir:

„Wir haben stets darauf bestanden, dass die Statuten nicht eine Kollektion von Regeln sind, die festlegen, was erlaubt ist und was nicht, sondern eine Orientierung für unser Verhalten und unsere Haltung, die eine in sich zusammenhängende Sammlung von moralischen Werten (besonders bezüglich des Verhältnisses unter den Mitgliedern und gegenüber der Organisation) zusammenfasst. Daher verlangen wir von jedem, der Mitglied der Organisation werden will, eine tiefgehende Übereinstimmung mit diesen Werten.

Doch die Statuten als integraler Bestandteil unserer Plattform regeln nicht allein, wer unter welchen Umständen Mitglied der IKS werden kann. Sie bedingen auch den Rahmen und den Geist des militanten Lebens der Organisation und jedes ihrer Mitglieder.

Die Bedeutung, die die IKS stets diesen Verhaltensprinzipien zugemessen hat, wird von der Tatsache veranschaulicht, dass sie nie zögerte, diese Prinzipien zu verteidigen, selbst wenn sie dabei eine Organisationskrise riskierte. Indem sie so verfährt, stellt sich die IKS bewusst und unerschütterlich in die Tradition des Kampfes von Marx und Engels in der Ersten Internationale, des Bolschewismus und der Italienischen Fraktion des Kommunistischen Linken. Indem sie so verfuhr, war sie in der Lage gewesen, eine Reihe von Krisen zu überstehen und fundamentale Verhaltensprinzipien der Klasse aufrechtzuerhalten.

Jedoch wurde das Konzept der proletarischen Moral mehr implizit denn explizit hochgehalten, wurde es eher in empirischer Manier als theoretisch verallgemeinert in die Praxis umgesetzt. Angesichts massiver Vorbehalte der neuen Generation von Revolutionären nach 1968 gegenüber jeglichen Moralkonzepten, welche im Allgemeinen als notwendigerweise reaktionär betrachtet wurden, hielt es die Organisation für wichtiger, die Verhaltensweisen der Arbeiterklasse zu berücksichtigen, statt diese sehr allgemeine Debatte zu einer Zeit zu eröffnen, die noch nicht reif genug dafür war.

Fragen der Moral waren nicht das einzige Gebiet, wo die IKS auf diese Weise verfuhr. In den frühen Tagen der Organisation existierten ähnliche Vorbehalte gegenüber der Notwendigkeit der Zentralisierung oder der Intervention der Revolutionäre, der führenden Rolle der Organisation bei der Entwicklung von Klassenbewusstsein, der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Demokratismus oder der Anerkennung der Aktualität der Auseinandersetzung mit dem Opportunismus und Zentrismus."

Dieser erste Artikel mit Auszügen des Textes behandelte folgende Themen:

- das Problem des Zerfalls und des Vertrauensverlustes im Proletariat und in der Menschheit insgesamt;

- die Ursachen für die Vorbehalte unter den Revolutionären gegenüber dem Konzept der proletarischen Moral nach 1968;

- die Natur der Moral;

- die Ethik, das heißt, die vor-marxistische Theorie der Moralität;

- der Marxismus und die Ursprünge der Moral;

- der Kampf des Proletariats gegen die bürgerliche Moral;

- die proletarische Moral.

In dieser Ausgabe werden wir mit der Veröffentlichung von Auszügen fortfahren und an den Kampf erinnern, der vom Marxismus gegen verschiedene Formen und Manifestationen der bürgerlichen Moral geführt wurde. Ferner werden wir auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung des Proletariats mit den Auswirkungen des Zerfalls der kapitalistischen Gesellschaft besonders auf seine Perspektive hinweisen, nämlich die Wiederaneignung eines sehr wesentlichen Elements seines Kampfes und seiner historischen Perspektive - die Solidarität.

Der marxistische Kampf gegen den ethischen Idealismus

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts behauptete die Bernsteinsche Strömung in der Zweiten Internationale, dass der Anspruch des Marxismus, eine wissenschaftliche Vorgehensweise zu sein, die Rolle der Ethik im Klassenkampf ausschließe. Davon ausgehend, dass sich wissenschaftliche und ethische Vorgehensweise gegenseitig negieren, befürwortete diese Strömung den Verzicht auf Erstere zugunsten Letzterer. Sie schlug die „Vervollständigung" des Marxismus durch die Ethik von Kant vor. Hinter ihrer Praxis, die Gier des einzelnen Kapitalisten zu verdammen, steckte die Entschlossenheit des bürgerlichen Reformismus, die fundamentale Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Kommunismus zu begraben.

Doch weit entfernt davon, die Ethik auszuschließen, führte die wissenschaftliche Vorgehensweise des Marxismus erstmals eine wirklich wissenschaftliche Dimension im gesellschaftlichen Denken und damit in die Moral ein. Der Marxismus entwirrte das Puzzle der Geschichte, weil er verstand, dass das wichtigste gesellschaftliche Verhältnis das zwischen der lebendigen Arbeitskraft und den toten Produktionsmitteln ist. Der Kapitalismus öffnete den Weg zu dieser Erkenntnis, so wie er den Weg zum Kommunismus ebnete, indem er die Ausbeutungsmechanismen entpersonalisierte.

In Wahrheit stellte der Ruf nach einer Rückkehr zur Ethik von Kant einen theoretischen Rückfall weit hinter den bürgerlichen Materialismus dar, der bereits die sozialen Ursprünge von „gut und böse" begriffen hatte. Seither hat jeder Fortschritt im gesellschaftlichen Wissen dieses Verständnis bekräftigt und vertieft. Dies trifft nicht nur auf den Fortschritt in der Wissenschaft zu, wie im Falle der Psychoanalyse, sondern auch auf die Künste. Wie Rosa Luxemburg schrieb: „Wie für Hamlet durch das Verbrechen seiner Mutter alle Bande der Menschheit aufgelöst, die Welt aus den Fugen ist, so für Dostojewski angesichts der Tatsache, dass ein Mensch einen Menschen ermorden kann. Er findet keine Ruhe, er fühlt die Verantwortung, die auf ihm wie auf jeden von uns für dies Entsetzliche lastet. Er muss sich die Psyche des Mörders klarmachen, seinen Leiden, seinen Qualen bis in die verborgenste Falte seines Herzens nachspüren. Er hat diese Foltern alle durchkostet und ist geblendet durch die furchtbare Erkenntnis: Der Mörder ist selbst das unglücklichste Opfer der Gesellschaft (...) Die Romane Dostojewskis sind die furchtbarste Anklage gegen die bürgerliche Gesellschaft, der er ins Gesicht schleudert: Der wahre Mörder, der Mörder der Menschenseelen bist du!"[1]

Diesen Standpunkt vertrat auch die junge proletarische Diktatur in Russland. Sie rief die Strafgerichte dazu auf, „vollkommen frei (zu sein) vom Geist der Revanche. Sie können nicht Rache an Leuten nehmen, nur weil sie in der bürgerlichen Gesellschaft gelebt haben."[2]

Nicht zuletzt dieses Verständnis, dass wir alle Opfer unserer Umstände sind, macht die marxistische Ethik zum fortgeschrittensten Ausdruck des moralischen Fortschritts bis heute. Diese Vorgehensweise schafft nicht die Moral ab, wie die Bourgeoisie behauptet, oder beseitigt die individuelle Verantwortung, wie es der kleinbürgerliche Individualismus gerne hätte. Stattdessen stellt sie einen gewaltigen Fortschritt darin dar, die Moral auf Verständnis statt auf Schuld - jenes Schuldgefühl, das den moralischen Fortschritt behindert, indem es die innere Persönlichkeit vom Mitmenschen abschneidet - zu stützen. Sie ersetzt den Hass von Menschen - diese Hauptquelle von anti-sozialen Trieben - durch die Empörung und die Revolte gegen gesellschaftliche Verhältnisse und Verhaltensweisen.

Die reformistische Kant-Nostalgie war in Wirklichkeit der Ausdruck einer Erosion des Kampfwillens. Die idealistische Interpretation der Moral versöhnte sich auf emotionaler Ebene mit der herrschenden Klasse, indem sie die Rolle der Moral bei der Umwandlung der gesellschaftlichen Verhältnisse leugnete. Doch das höchste Ideal der Menschheit, der innere Frieden und Einklang mit der umgebenden gesellschaftlichen und natürlichen Welt, kann nur durch einen beständigen Kampf erreicht werden. Die erste Bedingung des menschlichen Glücks ist die Kenntnis darüber, was notwendig ist, ist das freiwillige Dienen für eine große Sache.

Kant verstand den widersprüchlichen Charakter der bürgerlichen Moral weitaus besser als die bürgerlichen Utilitaristen wie Bentham.[3] Insbesondere begriff er, dass ungezügelter Individualismus selbst in der positiven Form des Strebens nach persönlichem Glück zur Auflösung der Gesellschaft führen kann. Die Tatsache, dass es innerhalb des Kapitalismus nicht nur Gewinner im Konkurrenzkampf geben kann, bewirkt unvermeidlich die Trennung zwischen Pflicht und Neigung. Kants Beharren auf den Vorrang der Pflicht korrespondiert mit der Auffassung, dass das höchste Gut der bürgerlichen Gesellschaft nicht das Individuum, sondern der Staat und besonders die Nation ist. In der bürgerlichen Moralität besitzt der Patriotismus einen viel höheren Stellenwert als die Menschenliebe. In der Tat lauerte hinter dem Mangel an Empörung innerhalb der Arbeiterbewegung über den Reformismus bereits die Erosion des proletarischen Internationalismus.

Für Kant ist eine moralische Handlung, die vom Pflichtgefühl motiviert wird, von größerem ethischem Wert als jene, die mit Begeisterung, Leidenschaft und Freude ausgeübt wird. Hier ist der ethische Wert mit dem Verzicht, mit der Idealisierung der Selbstaufopferung durch die nationalistische und staatliche Ideologie aufs Engste verknüpft. Das Proletariat lehnt diesen unmenschlichen Opferkult um seiner selbst willen, den die Bourgeoisie von der Religion geerbt hat, rigoros ab. Auch wenn der Kampfwille notgedrungen die Leidensbereitschaft mit einschließt, hat die Arbeiterbewegung niemals aus solch einem notwendigen Übel eine moralische Qualität gemacht. Tatsächlich haben schon vor dem Marxismus die besten Beiträge zur Ethik stets die pathologischen und unmoralischen Konsequenzen solch einer Vorgehensweise unterstrichen. Denn im Gegensatz zu dem, was die bürgerliche Ethik glaubt, heiligt die Selbstaufopferung nicht jedes unwerte Ziel.

Wie Franz Mehring betonte, repräsentierte selbst Schopenhauer, der seine Ethik auf das Mitgefühl statt auf die Pflicht stützte, im Verhältnis zu Kant einen Fortschritt.[4]

Die bürgerliche Moral, unfähig, sich die Überwindung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Egoismus und Altruismus auch nur vorzustellen, bezieht Stellung zugunsten des einen gegen den anderen oder sucht nach einem Kompromiss zwischen beiden. Sie ist nicht in der Lage zu begreifen, dass das Individuum selbst einen sozialen Charakter besitzt. Entgegen der idealistischen Moral vertritt der Marxismus den moralischen Idealismus der Freuden spendenden Aktivität als einen der wichtigsten Aktivposten in der Erhebung gegen die niedergehende Klasse.

Eine andere Attraktion der Kantschen Ethik bestand für den Opportunismus darin, dass ihre Formulierung des „kategorischen Imperativs" eine Art Kodex in Aussicht stellte, mit dem sämtliche moralischen Konflikte automatisch gelöst werden können. Nach Kant ist die Gewissheit, dass man im Recht ist, ein Merkmal der moralischen Handlungsweise (...) Auch hier drückt sich der Wille aus, den Kampf zu umgehen.

Der dialektische Charakter der Moral, der die Tugend und Untugend im konkreten Leben nicht immer leicht unterscheidbar macht, wird verleugnet. Wie Josef Dietzgen betonte, kann die Vernunft den Verlauf einer Handlung nicht im Voraus bestimmen, da jedes Individuum und jede Situation einmalig und unvorhersehbar sind. Es müssen komplexe moralische Probleme studiert werden, um zu einem Verständnis und zu einer kreativen Lösung zu gelangen. Dies kann gelegentlich eine besondere Untersuchung oder die Etablierung eines spezifischen Organs erforderlich machen, wie die Arbeiterbewegung lange Zeit verstanden hat.[5]

In Wahrheit sind moralische Konflikte ein unvermeidlicher Bestandteil des Lebens - nicht nur innerhalb der Klassengesellschaft. Beispielsweise können verschiedene ethische Prinzipien (...) oder verschiedene Ebenen der Sozialisation des Menschen (die Verantwortung gegenüber der Klasse, der Familie, dem persönlichen Gleichgewicht, etc.) miteinander in Konflikt treten. Dies erfordert die Bereitschaft, mit der momentanen Ungewissheit zu leben, um eine wirkliche Prüfung zu erlauben und der Versuchung zu widerstehen, das eigene Gewissen zum Schweigen zu bringen; es erfordert die Fähigkeit, seine eigenen Vorurteile zu hinterfragen, vor allem aber eine rigorose, kollektive Methode der Klärung.

Im Kampf gegen den Neo-Kantianismus zeigte Kautsky, wie der Beitrag Darwins über den biologischen, animalischen Ursprung des Gewissens das stärkste Bollwerk der idealistischen Moral zerschlug. Diese unsichtbare Kraft, diese kaum hörbare Stimme, die nur in den Tiefen der Persönlichkeit vernehmbar ist, war stets der Kern der ethischen Kontroverse gewesen. Die idealistische Moral war im Recht, wenn sie darauf bestand, dass das Gewissen nicht durch die Angst vor der öffentlichen Meinung oder vor Sanktionen durch die Mehrheit erklärt werden kann. Im Gegenteil, das Gewissen kann uns zwingen, uns der öffentlichen Meinung und Repression zu widersetzen oder unser Handeln zu bedauern, obwohl es auf allgemeine Zustimmung stößt. „Daher seine geheimnisvolle Natur, diese Stimme in uns, die mit keinem äusserlichen Anstoss, keinem sichtbaren Interesse zusammenhängt; dieser Dämon oder Gott, den seit Sokrates und Plato bis Kant jene Ethiker in sich empfanden, die es ablehnten, die Ethik aus der Selbstliebe oder der Luft abzuleiten. Sicher ein geheimnisvoller Drang, aber nicht geheimnisvoller als die Geschlechtsliebe, die Mutterlieb, der Selbsterhaltungstrieb, das Wesen des Organismus überhaupt und so viele andere Dingen, die nur der Welt der ´Erscheinungen´ angehören und die niemand als Produkt einer übersinnlichen Welt ansehen wird. Weil das Sittengesetz ein tierischer Trieb ist, der den Trieben der Selbsterhaltung und Fortpflanzung ebenbürtig, deshalb seine Kraft, deshalb sein Drängen, dem wir ohne zu überlegen gehorchen, deshalb unsere rasche Entscheidung in einzelnen Fällen...".[6]

Diese Schlussfolgerungen sind seitdem von der Wissenschaft bestätigt worden, zum Beispiel durch Freud, der darauf bestand, dass die entwickeltsten und sozialisiertesten Tiere grundsätzlich einen ähnlichen psychischen Apparat wie der Mensch besitzen und an vergleichbaren Neurosen leiden. Doch Freud hat nicht nur unser Verständnis in diesen Fragen vertieft. Wegen der Vorgehensweise der Psychoanalyse, die nicht nur untersucht, sondern auch eingreift, therapiert, teilt sie mit dem Marxismus das Anliegen einer fortschreitenden Entwicklung des moralischen Apparates des Menschen.

Freud unterschied zwischen den Trieben („Es"), dem „Ego", das ihn die Umwelt kennen lernen lässt und die Existenz sichert (eine Art Realitätsprinzip), und dem „Über-Ich", das das Gewissen enthält und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft gewährt. Obwohl Freud manchmal polemisch behauptete, das das Gewissen „nichts anderes als gesellschaftliche Furcht" sei, macht seine ganze Auffassung, wie Kinder die Moral der Gesellschaft verinnerlichen, deutlich, dass dieser Prozess von der emotionalen Liebe zu den Eltern und deren Akzeptanz als nachahmenswerte Beispiele abhängt.[7] (...)

Freud untersuchte auch die Interaktion zwischen bewussten und unbewussten Faktoren des Gewissens selbst. Das Über-Ich entwickelt die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren. Das Ego kann und muss seinerseits in der Lage sein, über die Reflexionen des Über-Ichs nachzudenken. Erst durch diese „Doppelreflexion" wird der Verlauf einer Handlung zu einem bewussten Akt des Menschen.

Dies entspricht der marxistischen Sichtweise, dass der moralische Apparat des Menschen auf sozialen Triebkräften beruht, dass er aus unbewussten, halbbewussten und bewussten Komponenten besteht, dass mit dem Fortschreiten der Menschheit die Rolle der bewussten Faktoren wächst, bis mit dem revolutionären Proletariat die Ethik, auf einer wissenschaftlichen Methode basierend, immer mehr zur Richtschnur des moralischen Verhaltens wird, und dass im Gewissen selbst der moralische Fortschritt untrennbar mit der Stärkung des Bewusstseins zu Lasten der Schuldgefühle verknüpft ist.[8] Der Mensch kann in wachsendem Maße Verantwortung übernehmen, und dass nicht nur gegenüber seinem Gewissen, sondern auch hinsichtlich der Inhalte seiner eigenen moralischen Werte und Überzeugungen.

Der marxistische Kampf gegen den ethischen Utilitarismus

Trotz seiner Schwächen repräsentierte der bürgerliche Materialismus, besonders in seiner utilitaristischen Form - mit dem Konzept, dass die Moral Ausdruck realer, objektiver Interessen ist - , einen enormen Fortschritt in der ethischen Theorie. Er ebnete den Weg für ein historisches Verständnis der moralischen Entwicklung. Indem er den relativen Übergangscharakter aller moralischen Systeme enthüllte, versetzte er der religiösen und idealistischen Vision eines ewigen, unveränderlichen, vermeintlich Gott gegebenen Kodex‘ einen schweren Schlag.

Wie wir gesehen haben, zog die Arbeiterklasse bereits sehr früh ihre eigenen, sozialistischen Schlüsse aus dieser Vorgehensweise. Obgleich frühe sozialistische Theoretiker wie Robert Owen oder William Thompson weit über die Philosophie eines Jeremy Bentham - den sie als Ausgangspunkt benutzten - hinausgingen, übte die utilitaristische Vorgehensweise selbst nach dem Erscheinen des Marxismus einen starken Einfluss innerhalb der Arbeiterbewegung aus. Die Frühsozialisten revolutionierten Benthams Theorie, indem sie seine Hauptvoraussetzungen auf gesellschaftliche Klassen statt auf Individuen anwandten und so den Weg zum Verständnis des gesellschaftlichen Klassencharakters der Geschichte der Moral öffneten. Und die Erkenntnis, dass Sklavenhalter nicht denselben Wertekatalog haben wie Kaufleute oder dass Wüstennomaden dieselbe Moral haben wie Bergschäfer, ist bereits nachdrücklich von der im Kielwasser der kolonialen Expansion entstandenen Anthropologie bestätigt worden. Der Marxismus hat von diesen vorbereitenden Arbeiten profitiert, so wie er auch von den Studien Morgans oder Maurers, die die „Genealogie der Moral" ins Licht gerückt haben, profitiert hat.[9] Doch trotz des Fortschritts, den er verkörperte, ließ dieser Utilitarismus auch in seiner proletarischen Form eine Reihe von Fragen ungelöst.

Erstens: Wenn die Moral nichts anderes ist als die Kodifizierung der materiellen Interessen, wird die Moral selbst überflüssig und verschwindet als gesellschaftlicher Faktor. Der britische Radikalmaterialist Mandeville hatte bereits in diesem Zusammenhang behauptet, dass die Moral nichts als Heuchelei sei, die dazu diene, die eigentlich Interessen der herrschenden Klassen zu verbergen. Später sollte Nietzsche etwas unterschiedliche Schlussfolgerungen aus derselben Prämisse ziehen: dass die Moral das Mittel der schwachen Masse sei, um die Herrschaft der Eliten zu verhindern, so dass die Befreiung Letzterer das Eingeständnis erfordere, dass für sie alles erlaubt sei. Doch wie Mehring betonte, ist die angebliche Abschaffung der Moral in Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse" nichts anderes als die Etablierung einer neuen Moral - eine Moral des reaktionären Kapitalismus in seinem Hass auf das sozialistische Proletariat, eine Moral, die sich von den Fesseln des kleinbürgerlichen Anstandes und der großbürgerlichen Respektabilität befreit.[10] Insbesondere beinhaltet die Identität von Interesse und Moral, dass, wie die Jesuiten bereits behauptet hatten, der Zweck die Mittel heiligt.[11]

Zweitens: Indem die gesellschaftlichen Klassen als „kollektive Individuelle" postuliert werden, die lediglich ihre eigenen Interessen verfolgen, erscheint die Geschichte als bedeutungsloses Hauen und Stechen, als eine Angelegenheit, die vielleicht für die verwickelten Klassen wichtig ist, aber nicht für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Diese Sichtweise stellt einen Rückschritt gegenüber Hegel dar, der (wenn auch in einer mystifizierten Form) nicht nur die Relativität aller Moral bereits verstanden hatte, sondern auch den progressiven Charakter emporstrebender ethischer Systeme, die gegen die bestehende Moral verstießen. (In diesem Sinn erklärte Hegel: „Man kann der Meinung sein etwas Grossartiges zu sagen wenn man behauptet: Der Mensch ist von Natur aus gut. Doch man vergisst, dass man etwas viel Grösseres sagt mit der Aussage: Der Mensch ist von Natur aus schlecht."[12]

Drittens: Die utilitaristische Herangehensweise führt zu einem sterilen Rationalismus, der die sozialen Gefühle aus dem ethischen Leben tilgt.

Die negativen Konsequenzen dieser bürgerlichen, utilitaristischen Überbleibsel wurden in dem Moment sichtbar, als mit der Ersten Internationale die Arbeiterbewegung begann, die Sektenphase zu überwinden. Die Untersuchung des Komplotts der Allianz gegen die Internationale - insbesondere die Kommentare von Marx und Engels über Bakunins „Revolutionskatechismus" - enthüllen, dass die „alleszerstörenden Anarchisten (...) die Anarchie in die Moral ein (führen), indem sie die Unsittlichkeit der Bourgeoisie aufs äußerste übertreiben". Der Bericht, der vom Haager Kongress 1872 in Auftrag gegeben wurde, zählt die einzelnen Elemente aus Bakunins Anschauung auf: Der Revolutionär hat keine persönlichen Interessen, Angelegenheiten, Gefühle oder Neigungen; er hat nicht nur mit der bürgerlichen Ordnung gebrochen, sondern auch mit der Moral und den Sitten der gesamten zivilisierten Welt; er sieht in allem, was den Triumph der Revolution fördert, eine Tugend und in allem, was sie behindert, eine Laster; er ist stets bereit, alles zu opfern, einschließlich seinen eigenen Willen und seine Persönlichkeit; er unterdrückt alle Gefühle der Freundschaft, Liebe oder Dankbarkeit; er zögert niemals, Menschen, falls nötig, zu liquidieren; er kennt keinen anderen Wertekanon als den Maßstab der Nützlichkeit.

Tief empört über dieses Vorgehen, nannten Marx und Engels dies die Moral der Gosse, des Lumpenproletariats. Genauso grotesk wie infam und autoritärer als der primitivste Kommunismus, wird die Revolution bei Bakunin „zu einer Reihe von erst einzelnen individuellen, dann Massenmorden; die einzige Verhaltensregel ist die gesteigerte Jesuitenmoral...".[13]

Wie wir wissen, hat die Arbeiterbewegung in ihrer Gesamtheit die Lehren aus dem Kampf gegen den Bakunismus nicht allzu tief assimiliert. In seinem „Historischen Materialismus" präsentierte Bucharin die ethischen Normen als bloßes Regelwerk. Die Taktik ersetzte die Moral. Noch konfuser war die Haltung von Lukacs gegenüber der Revolution. Nachdem er ursprünglich das Proletariat als die Verwirklichung des moralischen Idealismus von Kant und Fichte dargestellt hatte, wandte Lukacs sich dem Utilitarismus zu. In „Was bedeutet revolutionäres Handeln?" (1919) erklärte er: „Die Herrschaft der Gesamtheit über die Teile bedeutet (...) die entschlossene, zu allem bereite Selbstaufopferung (...) Derjenige ist ein Revolutionär (...), der zu allem bereit ist, wenn es um die Verwirklichung dieser Interessen geht."

Doch die Stärkung der utilitaristischen Moral nach 1917 in der UdSSR war vor allem eine Widerspiegelung der Bedürfnisse des Übergangsstaates. In seiner „Moral und Klassennormen" präsentierte Preobraschenski die revolutionäre Organisation als eine Art moderne Klosterordnung. Er wollte sogar den Geschlechtsverkehr den Prinzipien einer erbhygienischen Selektion unterordnen, und zwar in einer Welt, in welcher der Unterschied zwischen Individuum und Gesellschaft abgeschafft worden sei und Emotionen den Befunden der Naturwissenschaften unterworfen seien. Selbst Trotzki war nicht frei von diesem Einfluss, vertrat er doch in „Ihre Moral und unsere" faktisch den Standpunkt, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Es ist sicherlich richtig, dass jede Gesellschaftsklasse dazu neigt, das „Gute" und „Sittliche" in ihrem Interesse zu interpretieren. Nichtsdestotrotz sind Interessen und Moral nicht identisch. Der Einfluss der Klassen auf gesellschaftliche Werte ist äußerst vielgestaltig und verkörpert die Stellung einer gegebenen Klasse im Produktionsprozess und im Klassenkampf, ihre Traditionen, Ziele und Zukunftserwartungen, ihren Anteil an der Kultur. All dies manifestiert sich in der Form der Lebensweise, der Emotionen, der Intuitionen und Bestrebungen.

Im Gegensatz zur utilitaristischen Vermengung von Interessen und Moral (oder „Pflicht", wie er hier formuliert) unterscheidet Dietzgen zwischen beiden. „Das Interesse ist mehr das konkrete, gegenwärtige, handgreifliche Heil; die Pflicht dagegen das erweiterte, auch auf die Zukunft bedachte, allgemeine Heil (...) verlangt die Pflicht dagegen, dass wir nicht nur einen Teil, auch das Ganze, nicht nur gegenwärtige, nächste, auch das entfernte, künftige, nicht nur das leibliche, auch das geistige Wohl im Auge halten. Die Pflicht kümmert sich auch um das Herz, um die sozialen Bedürfnisse, die Zukunft, das Seelenheil, kurz um die Interessen im Großen und Ganzen und schärft uns ein, dem Überflüssigen zu entsagen, um das Notwendige zu erlangen und zu erhalten."[14]

In Reaktion auf die idealistische Befürwortung einer unveränderlichen Moral geht der soziale Utilitarismus ins andere Extrem, indem er so einseitig auf ihren Übergangscharakter beharrt, dass er die Existenz gemeinsamer Werte, die die Gesellschaft zusammenhalten, und den ethischen Fortschritt aus den Augen verliert. Die Kontinuität des Gemeinschaftsgefühls ist jedoch keine metaphysische Fiktion.

Dieser „übertriebene Idealismus" sieht die einzelnen Klassen und ihren Kampf, aber „nicht den totalen gesellschaftlichen Prozess, die Verbindung zwischen den verschiedenen Episoden, versagt also darin, die unterschiedlichen Stufen der moralischen Entwicklung als Teile eines in Wechselbeziehungen stehenden Prozesses zu unterscheiden. Er besitzt keinen allgemeinen Standard, um die verschiedenen Regeln zu würdigen, ist unfähig, über die unmittelbaren und temporären Erscheinungen hinauszugehen. Er setzt die verschiedenen Erscheinungsformen nicht durch die Mittel des dialektischen Denkens zu einer Einheit zusammen."[15]

Bezüglich des Verhältnisses zwischen Zweck und Mittel lautet die korrekte Formulierung nicht, dass der Zweck die Mittel heiligt, sondern dass der Zweck die Mittel beeinflusst und die Mittel ihrerseits den Zweck beeinflussen. Beide Seiten des Gegensatzes bestimmen sich wechselseitig und bedingen einander. Mehr noch, sowohl der Zweck als auch die Mittel sind Glieder in einer historischen Kette, wo jeder Zweck umgekehrt ein Mittel ist, um ein weiterreichendes Ziel anzustreben. Daher muss eine methodische und ethische Rigorosität Anwendung finden, die den ganzen Prozess erfasst; eine Methode, die sich auch auf die Vergangenheit und Zukunft und nicht nur auf das Unmittelbare bezieht. Mittel, die nicht einem gegebenen Zweck entsprechen, dienen lediglich dazu, ihn zu deformieren und von ihm abzulenken. Das Proletariat kann zum Beispiel die Bourgeoisie nicht besiegen, indem es ihre Waffen benutzt. Die Moral des Proletariats richtet sich sowohl nach der gesellschaftlichen Realität als auch nach sozialen Emotionen. Daher lehnt es sowohl das dogmatischen Ausschließen von Gewalt als auch das Konzept der moralischen Gleichgültigkeit gegenüber den angewandten Mitteln ab.

In seinem falschen Verständnis der Verknüpfung von Mittel und Zweck meint Preobraschenski auch, dass das Schicksal der einzelnen Teile - und insbesondere der Individuen - unwichtig sei und bedenkenlos dem Interesse des Ganzen geopfert werden könne. Dies war jedoch nicht die Haltung von Marx, der erkannte, dass die Pariser Kommune zu früh kam, und sich dennoch aus Solidarität mit ihr verbündete, und auch nicht die Haltung von Eugen Levine aus der noch jungen KPD, der der dahinscheidenden Münchener Räteregierung beitrat - deren Ausrufung sich die KPD noch widersetzt hatte - , um ihre Verteidigung zu organisieren und so die Zahl der proletarischen Opfer zu minimieren. Das einseitige Kriterium des Klassennutzens dagegen lässt faktisch Spielraum für eine sehr bedingte Klassensolidarität.

Wie Rosa Luxemburg in ihrer Polemik gegen Bernstein betonte, besteht der prinzipielle Widerspruch im Herzen der proletarischen Bewegung darin, dass der tägliche Kampf innerhalb des Kapitalismus stattfindet, während das Ziel außerhalb desselben liegt und einen fundamentalen Bruch mit jenem System darstellt. Infolgedessen ist der Gebrauch von Gewalt und Täuschung gegen den Klassenfeind notwendig und das Auftreten von Klassenhass und anti-sozialen Aggressionen kaum zu vermeiden. Doch das Proletariat ist moralisch nicht gleichgültig gegenüber solchen Manifestationen. Auch wenn es selbst Gewalt anwendet, darf es niemals vergessen, dass - wie Pannekoek sagte - sein Ziel darin besteht, die Köpfe aufzuklären, und nicht darin, sie zu zerschmettern. Und wie Bilan[16] aus den russischen Erfahrungen schloss, sollte, wo immer es geht, der Gebrauch von Gewalt gegen andere nicht-ausbeutende Schichten vermieden werden und muss gänzlich und prinzipiell aus den Reihen der Arbeiterklasse ausgeschlossen werden. Selbst unter den Begleitumständen des Bürgerkriegs gegen den Klassenfeind muss sie von der Notwendigkeit überzeugt sein, dem Aufkommen anti-sozialer Gefühle wie Rache, Grausamkeit, Zerstörungswut entgegenzuwirken, da diese zur Brutalisierung führen und das Bewusstsein trüben. Solche Gefühle signalisieren das Eindringen fremder Klasseneinflüsse. Es kam nicht von ungefähr, dass Lenin nach der Oktoberrevolution erkannte, dass die Hebung des kulturellen Bildungsgrades der Massen die - nach der Ausdehnung der Weltrevolution - höchste Priorität haben sollte. Wir sollten uns auch vergegenwärtigen, dass es die Erkenntnis von der Grausamkeit und moralischen Indifferenz Stalins war, die Lenin (in seinem Testament) befähigte, die von ihm ausgehende Gefahr zu erkennen.

Die Mittel, die vom Proletariat angewendet werden, müssen soweit wie möglich sowohl mit seinen Zielen als auch mit den sozialen Emotionen korrespondieren, die seinem Klassencharakter entsprechen. Es war nicht zuletzt im Namen dieser Gefühle, dass das Programm der KPD vom 14. Dezember 1918 zwar resolut die Notwendigkeit der Klassengewalt vertrat, aber gleichzeitig den Gebrauch von Terror ablehnte.

„Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors, sie hasst und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte."[17]

Im Gegensatz dazu ist die Eliminierung der emotionalen Seite der Moral durch ein mechanistisches, utilitaristisches Vorgehen typisch bürgerlich. Gemäß diesem Vorgehen ist der Gebrauch von Lügen und Irreführungen moralisch höher zu bewerten, sofern diese der Erlangung eines gegebenen Zieles dienen. Doch die Lügen, die von den Bolschewiki in Umlauf gesetzt wurden, um die Repression von Kronstadt zu rechtfertigen, erodierten nicht nur das Vertrauen der Klasse in die Partei, sondern untergruben auch die Überzeugung der Bolschewiki selbst. Die Sichtweise, dass der Zweck die Mittel heiligt, leugnet praktisch die ethische Überlegenheit der proletarischen Revolution über die Bourgeoisie. Sie vergisst: Je mehr die Belange einer Klasse mit dem Wohl der gesamten Menschheit verknüpft sind, desto mehr kann diese Klasse auf ihre moralische Stärke bauen.

Das in der Welt des Business geläufige Motto, dass nur der Erfolg zählt, findet keine Anwendung auf die Arbeiterklasse. Das Proletariat ist die erste revolutionäre Klasse, deren endgültiger Sieg von einer Reihe von Niederlagen vorbereitet wird. Die unschätzbaren Lektionen, aber auch das moralische Beispiel der großen Revolutionäre und der großen Arbeiterkämpfe sind die Vorbedingungen für den künftigen Sieg.

Der Kampf gegen die Auswirkungen des kapitalistischen Zerfalls

In der gegenwärtigen historischen Periode ist die Bedeutung ethischer Fragen größer denn je. Die deutliche Tendenz zur Auflösung der soziale Bande und des Denkens in Zusammenhängen hat notgedrungen besonders negative Auswirkungen auf die Moral. Darüber hinaus ist die ethische Desorientierung innerhalb der Gesellschaft eine zentrale Komponente des Problems im Zentrum des Zerfalls der sozialen Bande. Die Blockade, die aus der Antwort der Bourgeoisie auf die Krise des Kapitalismus und der Antwort des Proletariats, zwischen Weltkrieg und Weltrevolution resultiert, ist direkt mit dem Bereich der gesellschaftlichen Ethik verknüpft. Die Überwindung der Konterrevolution durch eine neue und ungeschlagene Generation des Proletariats nach 1968 drückte nicht zuletzt die historische Diskreditierung des Nationalismus aus, vor allem in jenen Ländern, wo sich die stärksten Sektoren der Arbeiterklasse befanden. Doch andererseits sind die massiven Arbeiterkämpfe nach 1968 nicht von einer dementsprechenden Entwicklung der politischen und theoretischen Dimension des proletarischen Kampfes begleitet worden, insbesondere der ausdrücklichen und bewussten Bejahung des Prinzips des proletarischen Internationalismus. Als Folge ist keine der beiden Hauptklassen der zeitgenössischen Gesellschaft im Moment in der Lage, ihr eigenes Klassenideal einer sozialen Gemeinschaft durchzusetzen.

Im Allgemeinen ist die herrschende Moral in der Gesellschaft die Moral der herrschenden Klasse. Genau aus diesem Grunde muss jede dominante Moral, um den Interessen der herrschenden Klasse zu dienen, gleichzeitig Elemente von allgemeinem moralischen Interesse enthalten, die die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zusammenhalten. Eines dieser Elemente ist die Entwicklung einer Perspektive oder eines Ideals der sozialen Gemeinschaft. Solch ein Ideal ist ein unerlässlicher Faktor bei der Zügelung anti-sozialer Triebkräfte.

Wie wir gesehen haben, ist der Nationalismus das spezifische Ideal der bürgerlichen Gesellschaft. Dies entspricht der Tatsache, dass der Nationalstaat die höchste Einheit ist, die der Kapitalismus erreichen kann. Als der Kapitalismus in seine dekadente Phase trat, hörte jedoch der Nationalstaat definitiv auf, ein Vehikel des Fortschritts in der Geschichte zu sein, und wurde faktisch zum Hauptinstrument der gesellschaftlichen Barbarei. Schon lange bevor dies eintrat, war der Totengräber des Kapitalismus, die Arbeiterklasse - eben weil sie die Trägerin eines höheren, internationalistischen Ideals ist - , in der Lage gewesen, den betrügerischen Charakter der nationalen Gemeinschaft bloßzustellen. Obgleich die Arbeiter 1914 zunächst diese Lehre vergessen hatten, sollte der Erste Weltkrieg letztendlich die Haupttendenz nicht nur in der bürgerlichen Moral, sondern in der Moral aller ausbeutenden Klassen enthüllen. Diese besteht in der Mobilisierung der mutigsten und selbstlosesten sozialen Instinkte der ausgebeuteten, arbeitenden Klassen zu Gunsten der engstirnigsten und schmutzigsten Anliegen.

Doch ungeachtet ihres betrügerischen und immer barbarischeren Charakters ist die Nation das einzige Ideal, welches die Bourgeoisie vorbringen kann, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. Dieses Ideal allein entspricht der heutigen Realität der staatlichen Strukturen in der bürgerlichen Gesellschaft. Daher sind all die anderen Ideale, die heute vorhanden sind - die Familie, die Lokalität, die religiöse, kulturelle oder ethnische Gemeinschaft, die Lifestyle-Szene oder die Gang - im Allgemeinen Ausdrücke des sich auflösenden Gesellschaftslebens, der Verfaulung der Klassengesellschaft.

Aber dies trifft genauso auf jene moralischen Anliegen zu, die sich an die gesamte Gesellschaft zu richten versuchen, dies jedoch auf der Grundlage des Interklassismus, der Klassen übergreifenden Aktion tun: der Humanitarismus, die Ökologie, „eine andere Globalisierung". Indem sie die Verbesserung des Individuums auf der Basis einer erneuerten Gesellschaft postulieren, bilden sie demokratistische Ausdrücke derselben individualistischen Fragmentierung der Gesellschaft. Überflüssig zu sagen, dass diese Ideologien ganz hervorragend der herrschenden Klasse in ihrem Bemühen passen, die Entwicklung einer proletarischen, internationalistischen Klassenalternative zum Kapitalismus abzublocken.

Innerhalb der Gesellschaft des Zerfalls können wir gewisse Züge mit direkten Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Werte identifizieren.

Erstens: Der Mangel an Perspektiven tendiert dazu, den Fokus des menschlichen Verhaltens auf die Gegenwart und die Vergangenheit zu richten. Wie wir gesehen haben, ist ein zentraler Bestandteil im rationalen Kern der Moral die Verteidigung der langfristigen Interessen gegen das Gewicht des Unmittelbaren. Die Abwesenheit einer langfristigen Perspektive begünstigt somit die Entsolidarisierung zwischen den Individuen und Gruppen der zeitgenössischen Gesellschaft, aber auch und besonders zwischen den Generationen. Sie mündet in der Neigung zur Pogrommentalität, d.h. zum zerstörerischen Hass gegen einen Sündenbock, der für das Verschwinden einer idealisierten, besseren Vergangenheit verantwortlich gemacht wird. Auf der Bühne der Weltpolitik können wir diese Tendenz in der Entwicklung des Antisemitismus, der antiwestlichen Haltung oder des Anti-Islamismus, in der Vervielfachung „ethnischer Säuberungen", im Aufstieg des politischen Populismus gegen Immigranten und in der Ghettomentalität unter den Immigranten selbst beobachten. Diese Mentalität neigt dazu, das gesellschaftliche Leben insgesamt zu durchdringen, wie die Entwicklung des Mobbings als allgemeines Phänomen veranschaulicht.

Zweitens: Die Entwicklung der gesellschaftlichen Ängste neigt zur Lähmung sowohl der sozialen Instinkte als auch des kohärenten Denkens - die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Solidarität und vor allem der Klassensolidarität heute. Diese Ängste sind das Resultat der gesellschaftlichen Atomisierung, die jedem Individuum das Gefühl verleiht, es sei allein mit seinen Problemen. Diese Einsamkeit färbt auf die Art und Weise ab, wie der Rest der Gesellschaft gesehen wird und macht die Reaktion anderer menschlicher Wesen immer unkalkulierbarer, gefährlicher und feindlicher. Diese Ängste - die in allen irrationalen Denkrichtungen aufblühen, die sich der Vergangenheit und der Leere zuwenden - sollten daher von jenen Ängsten unterschieden werden, die aus der wachsenden gesellschaftlichen Unsicherheit resultieren, welche von der Wirtschaftskrise ausgelöst wurde, und die zu einem mächtigen Impuls für eine Gegenreaktion wie die Klassensolidarität werden können.

Drittens: Der Mangel an Perspektiven und die Auflösung der sozialen Bande machen für zahllose Menschen das Leben sinnentleert. Diese nihilistische Atmosphäre ist prinzipiell für die Gesellschaft unerträglich, da sie der bewussten und sozialen Essenz der Menschheit widerspricht. Sie führte somit zu einer Reihe von eng miteinander verknüpften Phänomenen, von denen die wichtigsten die Entwicklung einer neuen Religiosität und einer Todessehnsucht sind.

In Gesellschaften, die hauptsächlich auf Naturalwirtschaft beruhen, ist die Religion vor allem Ausdruck der Rückständigkeit, der Ignoranz und der Angst vor den Kräften der Natur. Im Kapitalismus nährt sich die Religion hauptsächlich aus der gesellschaftlichen Entfremdung - aus der Angst vor den gesellschaftlichen Kräften, die unerklärlich und unkontrollierbar geworden sind. In der Epoche des kapitalistischen Zerfalls ist es vor allen Dingen der allgegenwärtige Nihilismus, der religiöse Sehnsüchte antreibt. Während die traditionelle Religion, so reaktionär ihre Rolle zumeist gewesen ist, immer noch Bestandteil einer kommunitarischen Weltsicht war und die modernisierte Religion der Bourgeoisie die Adoption dieser traditionellen Weltsicht in die Perspektiven der kapitalistischen Gesellschaft darstellte, speist sich der Mystizismus des kapitalistischen Zerfalls aus dem Nihilismus. Ob in der Form der reinen Zersplitterung esoterischer Seelenwanderer, des berüchtigten „Sich-selbst-Findens" außerhalb jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhangs oder in der Form der Festungsmentalität von Sekten und des religiösen Fundamentalismus, die die Auslöschung der Persönlichkeit und die Liquidierung der individuellen Verantwortung anbieten - all diese Tendenz sind, auch wenn sie behaupten, Antworten zu geben, in Wahrheit nichts anderes als extreme Ausdrücke dieses Nihilismus.

Darüber hinaus erwecken dieser Mangel an Perspektiven und die Auflösung der sozialen Bande den Anschein, als raube die biologische Tatsache des Todes dem individuellen Leben jegliche Bedeutung. Die daraus resultierende Morbidität (von der der Mystizismus heute zu einem beträchtlichen Umfang profitiert) drückt sowohl die unverhältnismäßig große Angst vor dem Tod als auch eine pathologische Sehnsucht nach ihm aus. Erstere konkretisiert sich zum Beispiel in der „hedonistischen" Mentalität der „Spaßgesellschaft" (deren Motto lauten könnte: „Esst, trinkt und seid fröhlich, denn morgen sterben wir"); Letztere endet mittels Kulten wie den Satanismus in Weltsekten und in der stetig wachsenden Verherrlichung der Gewalt, der Zerstörung und des Märtyrertums (wie im Falle der Selbstmordattentäter).

Der Marxismus hat sich als revolutionäre, materialistische Weltanschauung des Proletariats stets durch seine tiefe Zuwendung zur Welt und seine leidenschaftliche Bejahung des Wertes des menschlichen Lebens ausgezeichnet. Gleichzeitig hat sein dialektischer Standpunkt Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein als Teil einer unzertrennlichen Einheit verstanden. Weder hat er den Tod ignoriert, noch hat er dessen Rolle im Leben überbewertet. Die Menschheit ist Teil der Natur. Als solches sind das blühende Leben, aber auch Krankheit, Siechtum und Tod genauso Bestandteile ihrer Existenz wie die aufgehende Sonne oder der Fall der Blätter im Herbst. Doch der Mensch ist ein Produkt nicht nur der Natur, sondern auch der Gesellschaft. Als Erbe der Errungenschaften der menschlichen Kultur und als Träger ihrer Zukunft ist das revolutionäre Proletariat selbst mit den gesellschaftlichen Quellen einer wirklichen Stärke verbunden, deren Wurzeln die Klarheit des Gedankens sowie Brüderlichkeit, Geduld und Humor, Freude und Zuneigung, die reale Sicherheit eines gut begründeten Vertrauens sind.

Die Solidarität und die Perspektive des Kommunismus heute

Für die Arbeiterklasse ist die Ethik nicht etwas Abstraktes, das außerhalb ihres Kampfes steht. Die Solidarität, das Fundament ihrer Klassenmoral, ist gleichzeitig die erste Vorbedingung ihrer Fähigkeit, sich selbst im Kampf als Klasse zu bestätigen.

Heute sieht sich das Proletariat der Aufgabe gegenüber, seine Klassenidentität zurückzuerobern, die nach 1989 einen Rückschlag erlitten hatte. Diese Aufgabe ist nicht zu trennen vom Kampf um die Wiederaneignung seiner Traditionen der Solidarität.

Die Solidarität ist nicht nur eine zentrale Komponente des Tageskampfes der Arbeiterklasse, sondern trägt auch den Keim der künftigen Gesellschaft in sich. Diese beiden Aspekte, die sich auf Vergangenheit und Zukunft beziehen, beeinflussen sich wechselseitig. Die Wiederentdeckung der Klassensolidarität in den Arbeiterkämpfen ist ein wesentlicher Aspekt der gegenwärtigen Dynamik des Klassenkampfes und öffnet den Weg zu einer neuen revolutionären Perspektive. Und solch eine Perspektive wird, wenn sie sich auftut, umgekehrt zu einem mächtigen Faktor bei der Wiederverstärkung der Solidarität in den unmittelbaren Kämpfen des Proletariats sein.

Diese Perspektive ist also entscheidend angesichts der Probleme, mit denen die Dekadenz und der Zerfall des Kapitalismus die Arbeiterklasse konfrontiert. Zum Beispiel die Frage der Immigration: Im emporstrebenden Kapitalismus war die Position der Arbeiterbewegung, insbesondere der Linken, gleichbedeutend mit der Verteidigung der offenen Grenzen und der Bewegungsfreiheit der Arbeit. Dies war Teil des Minimalprogramms der Arbeiterklasse. Heute ist die Wahl zwischen offenen und geschlossenen Grenzen eine falsche Alternative, da nur die Abschaffung aller Grenzen diese Frage lösen kann. Unter den Bedingungen des Zerfalls neigt das Thema der Migration dazu, die Klassensolidarität auszuhöhlen und die Arbeiter gar mit der Pogrommentalität zu infizieren. Angesichts dieser Situation ist die Perspektive einer weltweiten Gemeinschaft, die auf Solidarität fußt, der wirksamste Faktor bei der Verteidigung des proletarischen Internationalismus.

Unter der Voraussetzung, dass die Arbeiterklasse nach einer langen Periode wachsender Kämpfe und politischer Denkprozesse ihre Klassenidentität wiedererlangen kann, kann die Anerkennung der tatsächlichen Unterminierung der sozialen Emotionen, Beziehungen und Verhaltensweisen durch den heutigen Kapitalismus zu einem Faktor werden, der das Proletariat dazu drängt, seine eigenen Klassenwerte zu entwickeln und bewusst zu formulieren. Die Empörung der Arbeiterklasse über das Verhalten, das vom zerfallenden Kapitalismus provoziert wird, und das Bewusstsein darüber, dass allein der proletarische Kampf eine Alternative bilden kann, sind von zentraler Bedeutung für das Proletariat, um seine revolutionäre Perspektive neu zu bekräftigen.

Die revolutionäre Organisation hat eine unverzichtbare Rolle in diesem Prozess zu spielen, nicht nur durch die Propagierung dieser Klassenprinzipien, sondern auch und vor allem dadurch, dass sie selbst ein lebendiges Beispiel für ihre Praktizierung und Verteidigung gibt.

Abgesehen davon ist die Verteidigung der proletarischen Moral ein unverzichtbares Instrument im Kampf gegen den Opportunismus und somit bei der Verteidigung des Programms der Arbeiterklasse. Entschlossener denn je müssen sich die Revolutionäre durch einen kompromisslosen Kampf gegen fremdes Klassenverhalten in die Tradition des Marxismus stellen.

„Der Bolschewismus hat den Typ des wahren Revolutionärs geschaffen, der den historischen, mit der bestehenden Gesellschaft nicht zu versöhnenden Zielen die Bedingungen seines persönlichen Daseins, seine Ideen, seine sittlichen Kriterien unterwirft. Die nötige Distanz zur bürger-lichen Ideologie wurde in der Partei durch die wachsame Unver-söhnlichkeit, deren Inspirator Lenin war, aufrechterhalten. Er wurde nicht müde, mit der Lanzette zu arbeiten, um jene Bindun-gen zu zerschneiden, die die kleinbürgerliche Umgebung zwi-schen Partei und offizieller öffentlicher Meinung schuf. Gleich-zeitig lehrte Lenin die Partei, sich eine eigene öffentliche Meinung zu formen, die sich auf Gedanken und Gefühle der emporsteigen-den Klasse stützt. So schuf sich die bolschewistische Partei durch Auslese und Erziehung in ständigem Kampfe nicht nur ihr poli-tisches, sondern auch ihr moralisches, von der bürgerlichen öffent-lichen Meinung unabhängiges und dieser unversöhnlich entgegen-gesetztes Milieu. Nur dies allein hat den Bolschewiki ermöglicht, die Schwankungen in den eigenen Reihen zu überwinden und durch die Tat jene kühne Entschlossenheit zu entwickeln, ohne die der Oktobersieg nicht möglich gewesen wäre."[18]



[1] R. Luxemburg, Einleitung zu W. Korolenko - Die Geschichte meines Zeitgenossen, geschrieben im Strafgefängnis Breslau im Juli 1918.

[2] Bucharin und Preobraschenski, Das ABC des Kommunismus. Kommentare zum Programm des 8. Parteikongresses, 1919. Kapitel IX Proletarische Justiz, §74: Proletarische Strafmethoden.

[3] Jeremy Bentham (1748-1832) war ein britischer Philosoph, Jurist und Reformer. Er war ein Freund von Adam Smith und Jean-Baptiste Say, zwei der wichtigsten Ökonomen der Bourgeoisie zu einer Zeit, als Letztere noch eine revolutionäre Klasse war. Er beeinflusste „klassische" Philosophen wie John Stuart Mill, John Austin, Herbert Spencer, Henry Sidgwick und James Mill. Er unterstützte die Französische Revolution von 1789 und unterbreitete zahlreiche Vorschläge bezüglich der Etablierung der Rechtssprechung, der Judikative, von Gefängnissen, der politischen Organisationen des Staates und bezüglich der Kolonialpolitik („Emanzipiert eure Kolonien"). Die junge französische Republik ernannte ihn am 23. August 1792 zum Ehrenbürger. Sein Einfluss machte sich im Code civile (auch bekannt als „Code Napoleon", der noch heute die zivile Rechtssprechung in Frankreich beherrscht) bemerkbar. Der Gedanke von Bentham ging von folgendem Prinzip aus: Individuen können sich ihre Interessen nur im Verhältnis zu Strafe und Belohnung vorstellen. Sie versuchen, ihr Glück zu maximieren, was sich in einem Mehr an Belohnungen als an Strafe ausdrückt. Jedes Individuum muss gemäß einer hedonistischen Logik verfahren. Jede Handlung hat eine Zeitlang positive und negative Auswirkungen mit unterschiedlicher Intensität; also muss das Individuum jene Handlung begehen, die ihm die meiste Freude einbringt. Er gab dieser Doktrin 1781 den Namen Utilitarismus.

Bentham stellte eine Methode, „Die Kalkulation des Glücks und der Strafe", vor, die beabsichtigte, die Quantität an Freude und Strafe wissenschaftlich zu bestimmen, die durch unsere vielfältigen Handlungen geprägt sind. Es gibt sieben Kriterien:

- Dauer: eine lange und andauernde Freude ist nützlicher als eine vorübergehende Freude.

- Intensität: eine intensive Freude ist nützlicher als eine schwache Freude.

- Gewissheit: eine Freude ist nützlicher, wenn man sicher ist, dass sie wahr wird.

- Nähe: eine unmittelbare Freude ist nützlicher als eine Freude, die sich erst langfristig äußert.

- Ausdehnung: eine Freude, die mehrmals genossen wird, ist nützlicher als eine einzelne Freude.

- Fruchtbarkeit: eine Freude, die zu weiteren Freuden führt, ist nützlicher als eine einfache Freude.

- Reinheit: eine Freude, die nicht zu Leiden führt, ist nützlicher als eine Freude, die ein Risiko birgt.

- Theoretisch wird die moralischste Handlung jene sein, die die größte Zahl der Kriterien erfüllt.

[4] FranzMehring: Zurück zu Schopenhauer!, in: Neue Zeit, 1908/09.

[5] So hatten die meisten politischen Organisationen des Proletariats neben Organen der Zentralisierung, die sich mit den „laufenden Angelegenheiten" befassen, Organe wie die Kontrollkommission, die sich aus erfahrenen Mitgliedern zusammensetzten, welchen das größte Vertrauen entgegengebracht wurde und besonders mit heiklen Fragen beauftragt wurden, die sensible Aspekte des Verhaltens der Militanten innerhalb wie außerhalb der Organisation berührten.

[6] Karl Kautsky, Ethik und materialistische Geschichtsauffassung., Kapitel Die sozialen Triebe.

[7] Bestätigt von der Beobachtung von Anna Freud, dass aus dem KZ befreite Waisen, während sie eine Art von rudimentärer egalitärer Solidarität unter ihresgleichen etablierten, kulturelle und moralische Standards gegenüber der Gesamtgesellschaft nur akzeptierten, wenn sie in kleineren „Familien"-Einheiten gruppiert waren, die jeweils von einer erwachsenen Respektsperson geleitet wurden, denen gegenüber die Kinder Zuneigung und Bewunderung entwickeln konnten.

[8] Kautskys Buch über die Ethik ist die erste verständliche marxistische Studie dieser Frage und auch sein Hauptbeitrag zur sozialistischen Theorie. Jedoch überschätzt er die Bedeutung des Beitrags von Darwin. Als Folge davon unterschätzt er die spezifisch menschlichen Faktoren der Kultur und des Bewusstseins, indem er zu einer statischen Sichtweise neigt, in der unterschiedliche Gesellschaftsformationen eigentlich unveränderliche soziale Impulse mehr oder weniger begünstigen oder behindern.

[9] Siehe zum Beispiel Paul Lafargue, Vom Ursprung der Ideen, 1885, wieder veröffentlicht in: Neue Zeit, 1899/1900.

[10] Franz Mehring: Über die Philosophie des Kapitalismus, 1891. Wir sollten hinzufügen, dass Nietzsche der Theoretiker der deklassierten Abenteurer und ihres Verhaltens ist.

[11] Die Vorhut der Konterrevolution gegen den Protestantismus, die Jesuiten, zeichnete sich durch die Aneignung der Methoden der Bourgeoisie bei ihrer Verteidigung gegen die Feudalkirche aus. Sie drückte daher schon sehr früh die Niederträchtigkeit der bürgerlichen Moral aus, lange bevor die bürgerliche Klasse in ihrer Gesamtheit (die damals noch eine revolutionäre Rolle spielte) die hässlichsten Seiten ihrer Klassenherrschaft enthüllte. Siehe zum Beispiel F. Mehring, Deutsche Geschichte vom Ausgange des Mittelalters, 1910.

[12] Eine Bemerkung am Rande: Die vielleicht geeignetste Antwort auf die uralte Frage, ob die Menschheit gut oder böse ist, kann vielleicht gegeben werden, indem man aus Die heilige Familie von Marx und Engels zitiert, wo sie im Kapitel über Fleur de Marie aus dem Roman von Eugene Sue, Das Geheimnis von Paris schreiben: „Die Menschheit ist nicht gut oder böse, sie ist menschlich".

[13] Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation - Bericht über das Treiben Bakunins, 1873, Kapitel VIII: Die Allianz in Russland, MEW Bd. 18, S. 407.

[14] J. Dietzgen: Das Wesen der Kopfarbeit, 1869

[15] Henriette Roland-Holst: Communisme en moraal, 1925. Kapitel V Der ‚Sinn des Lebens‘ und die Aufgabe des Proletariats (eigene Übersetzung). Trotz einiger wesentlicher Schwächen enthält dieses Buch vor allem eine exzellente Kritik an der utilitaristischen Moral.

[16] Französischsprachige Zeitschrift der Linken Fraktion der Italienischen Kommunistischen Partei (später die italienische Fraktion der Internationalen Kommunistischen Linken).

[17] Was will der Spartakusbund?, in: Ges. Werke Bd. 4, S. 440 ff. Hier und in anderen Schriften von Rosa Luxemburg finden wir ein tiefes Verständnis der Klassenpsychologie des Proletariats. (Eine leicht veränderte englische Übersetzung dieser Passage kann man in Selected Political Writings of Rosa Luxemburg, Monthly Review Press, 1971, lesen).

[18] Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Kapitel: Lenin ruft zum Aufstand (Ausgabe: Fischer-Taschenbuch Bd. 2.2. S. 831)

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [5]

Theoretische Fragen: 

  • Arbeiterklasse [6]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Marxismus: die Theorie der Revolution [9]

Resolution zur internationalen Lage 2007

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Dekadenz und Zerfall des Kapitalismus

1 Einer der wichtigsten Faktoren, die das derzeitige Leben der kapitalistischen Gesellschaft prägen, ist ihr Eintritt in die Zerfallsphase. Die IKS hat bereits seit dem Ende der achtziger Jahre auf die Ursachen und Wesenszüge dieser Zersetzungsphase der Gesellschaft hingewiesen. Sie hat insbesondere die folgenden Tatsachen hervorgehoben:

a) Die Phase des Zerfalls des Kapitalismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Dekadenzperiode dieses Systems, die mit dem Ersten Weltkrieg eröffnet wurde (wie dies die große Mehrheit der Revolutionäre zu jenem Zeitpunkt erkannt hatte). In diesem Zusammenhang behält sie die Haupteigenschaften bei, die der Dekadenz des Kapitalismus eigen sind, wobei aber neue, bislang unbekannte Merkmale im gesellschaftlichen Leben hinzukommen.

b) Sie stellt die letzte Phase dieses Niedergangs dar, in der sich nicht nur die verhängnisvollsten Erscheinungen der vorhergehenden Phasen häufen, sondern das gesamte gesellschaftliche Gebäude am lebendigen Leib verfault.

c) Praktisch alle Aspekte der menschlichen Gesellschaft sind durch den Zerfall betroffen, auch und besonders jene, die für ihr Schicksal entscheidend sind, wie die imperialistischen Konflikte und der Klassenkampf. In diesem Sinn und vor dem Hintergrund der Zerfallsphase mit all ihren Begleiterscheinungen ist die gegenwärtige internationale Lage unter ihren hauptsächlichen Gesichtspunkten zu untersuchen, nämlich unter den Gesichtspunkten der wirtschaftlichen Krise des kapitalistischen Systems, der Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse insbesondere auf der imperialistischen Bühne und schließlich unter dem Gesichtspunkt des Kampfes zwischen den zwei wesentlichen Gesellschaftsklassen, der Bourgeoisie und dem Proletariat.
 

2 Paradoxerweise ist die wirtschaftliche Lage des Kapitalismus am geringfügigsten vom Zerfall beeinträchtigt. Dies verhält sich hauptsächlich deshalb so, weil es gerade diese wirtschaftliche Lage ist, die in letzter Instanz die anderen Aspekte des Lebens dieses Systems bestimmt, einschließlich jener, die sich aus dem Zerfall ergeben. Ähnlich wie schon die Produktionsweisen, die dem Kapitalismus vorausgegangen waren, ist auch die kapitalistische Produktionsweise nach der Epoche ihres Aufstiegs, die Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht hatte, zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Epoche ihres Niedergangs eingetreten. Die eigentlichen Ursachen dieser Dekadenz sind, wie auch bei den früheren Wirtschaftsordnungen, die wachsenden Spannungen zwischen den sich entwickelnden Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Was konkret den Kapitalismus angeht, dessen Entwicklung durch die Eroberung außerkapitalistischer Märkte bedingt ist, so war der Erste Weltkrieg das erste bedeutende Anzeichen seiner Dekadenz. Als die koloniale und wirtschaftliche Eroberung der Welt durch die kapitalistischen Metropolen abgeschlossen war, waren diese dazu gedrängt, sich um die bereits verteilten Märkte zu streiten. In der Folge trat der Kapitalismus in eine neue Periode seiner Geschichte ein, die 1919 von der Kommunistischen Internationale als Ära der Kriege und der Revolutionen bezeichnet wurde. Das Scheitern der revolutionären Welle, die aus dem Ersten Weltkrieg entstanden war, ebnete so den Weg zu wachsenden Erschütterungen der kapitalistischen Gesellschaft: die große Rezession der dreißiger Jahre und ihre Folge, der Zweite Weltkrieg, der noch viel mörderischer und barbarischer war als der Erste Weltkrieg. Die darauffolgende Phase, von einigen bürgerlichen „Experten" als die „glorreichen Dreißig" bezeichnet, ließ die Illusion aufkommenen, dass der Kapitalismus seine zerstörerischen Widersprüche überwunden habe, eine Illusion, der selbst Strömungen erlegen waren, die sich auf die kommunistische Revolution beriefen. Ende der 1960er Jahre folgte auf diese „Wohlstandsära", die sowohl auf zufälligen Umständen als auch auf spezifischen Gegenmaßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise beruhte, erneut die offene Krise der kapitalistischen Produktionsweise, die sich Mitte der 70er Jahre noch verschärfte. Diese offene Krise des Kapitalismus deutete wieder auf die Alternative, die schon von der Kommunistischen Internationale angekündigt worden war: Weltkrieg oder Entwicklung der Arbeiterkämpfe mit der Perspektive der Überwindung des Kapitalismus. Der Weltkrieg ist im Gegensatz zu dem, was bestimmte Gruppen der Kommunistischen Linken denken, keineswegs eine „Lösung" der Krise, die es dem Kapitalismus erlauben würde, „sich zu regenerieren" und dynamisch einen neuen Zyklus zu beginnen. Die Sackgasse, in der sich dieses System befindet, die Zuspitzung der Spannungen zwischen den nationalen Sektoren des Kapitalismus führt auf der militärischen Ebene unweigerlich in die Flucht nach vorn, an deren Ende der Weltkrieg steht. Tatsächlich haben sich infolge der wachsenden wirtschaftlichen Zwänge des Kapitalismus die imperialistischen Spannungen ab den 1970er Jahren zugespitzt. Aber sie konnten nicht in dem Weltkrieg münden, da sich die Arbeiterklasse 1968 von ihrer historischen Niederlage wieder erholt hatte und sich gegen die ersten krisenbedingten Angriffe zur Wehr setzte. Trotz ihrer Fähigkeit, die einzig mögliche Perspektive (sofern man hier von „Perspektive" sprechen kann) der Bourgeoisie zu vereiteln, und trotz einer seit Jahrzehnten ungekannten Kampfbereitschaft, konnte aber auch die Arbeiterklasse ihre eigene Perspektive, die kommunistische Revolution, nicht in Angriff nehmen. Genau diese Konstellation, in der keine der beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft ihre Perspektive durchsetzen kann, in der sich die herrschende Klasse darauf beschränken muss, tagtäglich und sukzessiv das Versinken ihrer Wirtschaft in einer unüberwindbaren Krise zu „verwalten", ist die Ursache für den Eintritt des Kapitalismus in seine Zerfallsphase.
 

3 Eines der deutlichsten Anzeichen der fehlenden historischen Perspektive ist die Entwicklung des „Jeder-für-sich", das alle Ebenen der Gesellschaft, vom Individuum bis zu den Staaten, betrifft. Doch wäre es falsch zu meinen, dass es seit dem Beginn der Zerfallsphase im wirtschaftlichen Leben des Kapitalismus eine prinzipielle Änderung gegeben habe. Denn das „Jeder-für-sich", die Konkurrenz aller gegen alle gehört seit eh und je zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise. Mit Eintritt in seine Dekadenzphase konnte der Kapitalismus diese Eigenschaften nur durch eine massive Intervention des Staates in die Wirtschaft bändigen; solche Staatsinterventionen begannen im Ersten Weltkrieg und wurden in den 1930er Jahren insbesondere mit den faschistischen und keynesianischen Programmen reaktiviert. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieser Staatsinterventionismus durch die Etablierung von internationalen Organisationen wie den IWF, die Weltbank und die OECD ergänzt, denen später die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgte (die Vorläuferin der heutigen Europäischen Union). Zweck dieser Institutionen war es, zu verhindern, dass die wirtschaftlichen Widersprüche in einer allgemeinen Auflösung münden, wie dies nach dem „Schwarzen Donnerstag" von 1929 der Fall gewesen war. Trotz aller Reden über den „Triumph des Liberalismus" und das „Gesetz des freien Marktes" verzichten die Staaten heute weder auf Interventionen in die Wirtschaft noch auf Strukturen, die die Aufgabe haben, die internationalen Beziehungen wenigstens ansatzweise zu regulieren. Im Gegenteil: in der Zwischenzeit sind weitere Institutionen geschaffen worden, wie beispielsweise die Welthandelsorganisation. Doch weder jene Programme noch diese Organisationen haben es erlaubt, die Krise des Kapitalismus zu überwinden, auch wenn sie das Tempo derselben beträchtlich gebremst hatten. Trotz ihrer Reden über die „historischen" Wachstumsraten der Weltwirtschaft und die außergewöhnlichen Leistungssteigerungen der beiden asiatischen Riesen, Indien und insbesondere China, ist es der Bourgeoisie nicht gelungen, mit der Krise fertig zu werden.

Wirtschaftskrise: Kopf voran in die Verschuldung

4 Die Gründe für die Wachstumsraten im weltweiten Bruttosozialprodukt im Laufe der letzten Jahre, welche die Bourgeois und ihre intellektuellen Lakaien in Euphorie versetzen, sind grundsätzlich nicht neu. Es sind dieselben wie jene, die verhindert haben, dass die Sättigung der Märkte, die den Ausbruch der Krise Ende der 1960er Jahre bewirkte, die weltweite Wirtschaft vollständig erdrosselt hatte; sie lassen sich unter dem Begriff der wachsenden Verschuldung subsummieren. Gegenwärtig stellt die gewaltige Verschuldung der amerikanischen Wirtschaft - sowohl in ihrem Staatsbudget als auch in ihrer Handelsbilanz - die wichtigste „Lokomotive" für den weltweiten Wachstum dar. Effektiv handelt es sich dabei um eine Flucht nach vorn, die weit entfernt davon ist, die Widersprüche des Kapitalismus zu lösen und uns nur eine noch schmerzhaftere Zukunft beschert, mit einer brutalen Verlangsamung des Wachstums, wie dies seit mehr als dreißig Jahren immer wieder der Fall gewesen war. Schon jetzt lösen die Gewitterwolken, die sich im Immobiliensektor in den Vereinigten Staaten - einer wichtigen Triebkraft der nationalen Ökonomie - mit der Gefahr von katastrophalen Bankenpleiten zusammenbrauen, große Sorgen in den maßgeblichen Wirtschaftskreisen aus. Diese Sorgen werden verstärkt durch die Aussicht auf andere Pleiten, die von „Hedgefonds" (spekulative Fonds) ausgehen, wie das Beispiel von Amaranth im Oktober 2006 veranschaulicht hat. Die Bedrohungslage ist um so ernsthafter, als diese Gebilde, deren Zweck darin besteht, kurzfristig große Profite zu machen, indem mit den Kursänderungen bei den Währungen oder den Rohstoffen spekuliert wird, keineswegs Heckenschützen des internationalen Finanzsystems sind. Vielmehr platzieren die „seriösesten" Finanzinstitute einen Teil ihrer Guthaben in diesen „Hedgefonds". So sind die in diesen Fonds investierten Summen derart gewaltig, dass sie dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt eines Landes wie Frankreich gleichkommen, wobei sie wiederum einem noch sehr viel beträchtlicheren Kapitalverkehr als „Transmissionsriemen" dienen (etwa 700.000 Milliarden Dollar im Jahr 2002, das heißt 20 Mal mehr als die Transaktionen von Gütern und Dienstleistungen, also der „realen" Produkte). Und es gibt keine Weisheiten von „Globalisierungsgegnern" und anderen Gegnern der „Verfinanzung" der Wirtschaft, die daran auch nur das Geringste ändern könnten. Diese politischen Strömungen möchten einen „sauberen", „gerechten" Kapitalismus, der insbesondere die Spekulation unterbindet. In Tat und Wahrheit ist Letztere keineswegs Auswuchs eines „schlechten" Kapitalismus, der seine Verantwortung dafür „vergessen" habe, in wirklich produktive Sektoren zu investieren. Wie Marx schon im 19. Jahrhundert festgestellt hat, ist die Spekulation eine Folge der Tatsache, dass die Kapitalbesitzer angesichts des Mangels an zahlungskräftigen Absatzmärkten für ihre produktiven Investitionen es vorziehen, ihr Kapital zwecks Gewinnmaximierung kurzfristig in eine gigantische Lotterie zu stecken, eine Lotterie, die heute den Kapitalismus in ein weltumspannendes Kasino verwandelt hat. Der Wunsch, dass der Kapitalismus heutzutage auf die Spekulation verzichtet, ist so realistisch wie der Wunsch, dass aus Tigern Vegetarier werden.
 

5 Die außergewöhnlichen Wachstumsraten, die gegenwärtig Länder wie Indien und insbesondere China erleben, stellen in keiner Weise einen Beweis für einen „frischen Wind" in der Weltwirtschaft dar, selbst wenn sie im Laufe der letzten Zeit beträchtlich zum erhöhten Wachstum derselben beigetragen haben. Die Grundlage dieses außergewöhnlichen Wachstums in beiden Ländern wiederum ist paradoxerweise die Krise des Kapitalismus. In der Tat resultiert die wesentliche Dynamik dieses Wachstums aus zwei Faktoren: den Ausfuhren und den Investitionen von Kapital, das aus den höchstentwickelten Ländern stammt. Wenn der Handel dieser Länder sich immer mehr auf Güter verlagert, die in China statt in den „alten" Industrieländern hergestellt werden, so geschieht dies, weil sie zu sehr viel niedrigeren Preisen verkauft werden können, was immer mehr zum obersten Gebot wird, je gesättigter die Märkte sind und je schärfer die Handelskonkurrenz wird. Gleichzeitig erlaubt dieser Prozess dem Kapital, die Kosten der Arbeitskraft in den Industrieländern zu vermindern. Der gleichen Logik gehorcht auch das Phänomen der „Auslagerung", des Transfers der Industrieproduktion der großen Unternehmen in Länder der Dritten Welt, wo die Arbeitskräfte unvergleichlich billiger sind als in den höchstentwickelten Ländern. Es ist übrigens festzustellen, dass die chinesische Wirtschaft einerseits von diesen „Auslagerungen" auf ihr eigenes Territorium profitiert, andererseits aber selbst dazu tendiert, genauso gegenüber Ländern zu verfahren, wo die Löhne noch niedriger sind.
 

6 Das „zweistellige Wachstum" Chinas (insbesondere seiner Industrie) findet vor dem Hintergrund einer hemmungslosen Ausbeutung der Arbeiterklasse dieses Landes statt, die oft Lebensbedingungen kennt, die mit jenen der englischen Arbeiterklasse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichbar sind - Arbeitsbedingungen, die von Engels 1844 in seinem bemerkenswerten Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England angeprangert wurden. Für sich genommen sind diese Bedingungen kein Kennzeichen des Bankrotts des Kapitalismus, denn dieses System hat sich einst mithilfe einer ebenso barbarischen Ausbeutung des Proletariats aufgemacht, die Welt zu erobern. Und doch gibt es grundlegende Unterschiede zwischen dem Wirtschaftswachstum und den Bedingungen der Arbeiterklasse in den ersten kapitalistischen Ländern des 19. Jahrhunderts einerseits und denjenigen im heutigen China andererseits:

- in den Erstgenannten hat die Erhöhung der Zahl der Industriearbeiter in dem einen Land nicht mit einer Verminderung in dem anderen korrespondiert; vielmehr haben sich die Industriesektoren in Ländern wie England, Frankreich, Deutschland oder den Vereinigten Staaten parallel entwickelt. Gleichzeitig haben sich die Lebensbedingungen des Proletariats insbesondere dank seines Widerstandes während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stetig verbessert;

- was das heutige China betrifft, so wächst die Industrie dieses Landes (wie die anderer Länder der Dritten Welt) auf Kosten zahlreicher Industriesektoren, die in den alten kapitalistischen Ländern verschwinden; gleichzeitig sind die „Auslagerungen" Waffen eines allgemeinen Angriffs auf die Arbeiterklasse dieser Länder, eines Angriffs, der begonnen hat, lange bevor die „Auslagerungen" zur gängigen Praxis geworden sind. Doch die Auslagerungen von Produktionsstätten erlaubt es der Bourgeoisie, den Angriff in puncto Arbeitslosigkeit, berufliche Dequalifizierung, Verelendung und Senkung des Lebensstandards zu intensivieren.

Somit ist das „chinesische Wunder" und anderer Länder der Dritten Welt weit entfernt davon, einen „frischen Wind" für die kapitalistische Wirtschaft darzustellen. Es ist nichts anderes als eine Variante des niedergehenden Kapitalismus. Darüber hinaus stellt die extreme Exportabhängigkeit der chinesischen Wirtschaft einen empfindlichen Punkt im Falle eines Nachfragerückgangs dar, eines Rückgangs, der unweigerlich kommen wird, insbesondere wenn die amerikanische Wirtschaft gezwungen wird, etwas Ordnung in die schwindelerregende Schuldenwirtschaft zu bringen, die es ihr momentan erlaubt, die Rolle der „Lokomotive" der weltweiten Nachfrage zu spielen. So wie das „Wunder" der asiatischen „Tiger" und „Drachen", die durch zweistellige Wachstumsraten geglänzt hatten, 1997 ein schmerzhaftes Ende fand, wird das heutige „chinesische Wunder", auch wenn es andere Ursachen hat und über wesentlich ernsthaftere Trümpfe verfügt, früher oder später unweigerlich in der historischen Sackgasse der kapitalistischen Produktionsweise landen.

Die Zuspitzung der imperialistischen Spannungen und des Chaos

7 In keinem Land dieser Erde kann die Wirtschaft den Zwangsläufigkeiten der Dekadenz entgehen. Und das mit gutem Grund, denn die Dekadenz geht vor allem von der ökonomischen Frage aus. Dennoch äußern sich heute die deutlichsten Zeichen des Zerfalls nicht auf der ökonomischen Ebene. Vielmehr zeigen sie sich im politischen Bereich der kapitalistischen Gesellschaft, in den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Sektoren der herrschenden Klasse und insbesondere in den imperialistischen Auseinandersetzungen. So trat das erste bedeutende Anzeichen für den Eintritt des Kapitalismus in die Zerfallsphase auf der Ebene der imperialistischen Konflikte auf: des Zusammenbruchs des imperialistischen Ostblocks Ende der 1980er Jahre, der sehr schnell auch die Auflösung des westlichen Blocks nach sich zog. Es sind heute also vor allem die politischen, diplomatischen und militärischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Staaten, in denen sich das „Jeder-für-sich", das Hauptmerkmal der Zerfallsphase, äußert. Das Blocksystem im Kalten Krieg beinhaltete zwar die Gefahr eines dritten Weltkrieges (der allerdings nicht ausbrach, weil seit Ende der 1960er Jahre die internationale Arbeiterklasse im Weg stand); gleichzeitig ermöglichte jedoch die Existenz der Blöcke, dass die imperialistischen Spannungen gewissermaßen in „geordnete Bahnen" gelenkt wurden, vor allem durch die Kontrolle, die in beiden Lagern durch die jeweils führende Macht ausgeübt wurde. Seit 1989 ist die Situation eine völlig andere. Zwar hat sich die akute Gefahr eines Weltkrieges vermindert, doch gleichzeitig fand eine wahre Entfesselung imperialistischer Rivalitäten und lokaler Kriege unter direkter Beteiligung der größeren Mächte statt, allen voran der USA. Das weltweite Chaos, das seit dem Ende des Kalten Krieges um sich griff, zwang die USA, ihre Rolle als „Weltpolizist", die sie seit Jahrzehnten spielt, noch zu verstärken. Jedoch führt dies keineswegs zu einer Stabilisierung der Welt; den USA geht es nur noch darum, krampfhaft ihre führende Rolle aufrechtzuerhalten. Eine Führungsrolle, die vor allem durch die ehemaligen Verbündeten permanent in Frage gestellt wird, da die Grundvoraussetzung der ehemaligen Blöcke, die Bedrohung durch den anderen Block, nicht mehr existiert. In Ermangelung der „sowjetischen Gefahr" bleibt das einzige Mittel für die USA zur Durchsetzung ihrer Disziplin das Ausspielen ihrer größten Stärke - der absoluten militärischen Überlegenheit. Dadurch wird die Politik der USA selbst zu einem der stärksten Zerrüttungsfaktoren der Welt. Seit Beginn der 1990er Jahre häufen sich die Beispiele dafür: Der erste Golfkrieg 1991 hatte zum Ziel, die sich auflösenden Verbindungen zwischen den Ländern des ehemaligen Westblocks wieder fester zu schnüren (es ging nicht, wie vorgetäuscht, um die „Verteidigung des verletzten Völkerrechts" und gegen die Besetzung Kuwaits durch den Irak). Kurz darauf zerrissen die Bande unter den Ländern des ehemaligen westlichen Blocks gänzlich: Deutschland schürte das Feuer in Jugoslawien, indem es Slowenien und Kroatien ermunterte, ihre Unabhängigkeit zu erklären. Frankreich und Großbritannien bildeten erneut, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine „Große Allianz", indem sie gemeinsam die imperialistischen Interessen Serbiens unterstützten, und die USA spielten sich als die Beschützer der Muslime Bosniens auf.
 

8 Die Niederlage der US-Bourgeoisie während der 1990er Jahre in den verschiedenen Militäroperationen, mit denen sie ihre Führungsrolle verankern wollte, hat sie dazu gezwungen, einen neuen „Feind" der „freien Welt" und der Demokratie zu suchen, mit dem sie die Großmächte, vor allem aber ihre ehemaligen Verbündeten, hinter sich scharen konnte: Sie fand ihn im islamistischen Terrorismus. Die Attentate des 11. September 2001, die in den Augen eines Drittels der amerikanischen Bevölkerung und der Hälfte der Einwohner von New York vom amerikanischen Staat wahrscheinlich so gewollt oder sogar vorbereitet wurden, dienten als Anlass für den neuen Kreuzzug. Fünf Jahre später ist das Ergebnis dieser Politik offenkundig. Wenn die Attentate des 11. September es den USA noch erlaubt hatten, Länder wie Frankreich und Deutschland in ihre Intervention in Afghanistan einzubinden, so hatte es nicht mehr dazu gereicht, diese in das Abenteuer im Irak 2003 zu zwingen. Im Gegenteil hatten diese beiden Länder zusammen mit Russland ein kurzfristiges Bündnis gegen die Intervention im Irak geschmiedet. Auch jene „Verbündete", die anfangs der „Koalition" angehörten, die im Irak intervenierte, wie Spanien und Italien, haben mittlerweile das sinkende Schiff verlassen. Die US-Bourgeoisie hat keines ihrer zu Beginn groß angekündigten Ziele erreicht: weder die Zerstörung von „Massenvernichtungswaffen" im Irak noch die Errichtung einer friedlichen „Demokratie" in diesem Land oder die Stabilisierung und Rückkehr des Friedens in der gesamten Region unter der Ägide der USA, die Zurückdrängung des Terrorismus oder die Akzeptanz der militärischen Interventionen ihres Regimes in der US-Bevölkerung.

Das Geheimnis der „Massenvernichtungswaffen" hatte sich schnell gelüftet: Es wurde klar, dass die einzigen im Irak vorhandenen Massenvernichtungswaffen von der „Koalition" selbst mitgebracht worden waren. Dies enthüllte die Lügen, mit denen die Bush-Administration ihre Intervention in dieses Land rechtfertigen wollte. Bezüglich der Zurückdrängung des Terrorismus gilt festzustellen, dass die Invasion im Irak ihm keineswegs die Flügel gestutzt hat, sondern im Gegenteil zu dessen Verstärkung beigetragen hat, sei es im Irak selbst oder in anderen Teilen der Welt so wie auch in den Metropolen des Kapitalismus, wie aus den Anschlägen im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London ersichtlich wird.

Aus der geplanten Errichtung einer friedlichen „Demokratie" im Irak ist lediglich die Installation einer Marionetten-Regierung geworden, die ohne die massive Unterstützung der US-Truppen nicht die geringste Kontrolle über das Land ausüben könnte. Eine „Kontrolle", die sich ohnehin nur auf einige „Sicherheitszonen" beschränkt und den Rest des Landes der gegenseitigen Massakrierung der schiitischen und sunnitischen Bevölkerungsteile sowie den Terroranschlägen überlassen hat, die seit der Entmachtung Saddam Husseins Tausende von Menschenleben gefordert haben.

Stabilität und Frieden im Mittleren und Nahen Osten waren noch nie so weit entfernt wie heute. Im 50-jährigen Konflikt zwischen Israel und Palästina hat es in den vergangenen Jahren eine neuerliche Zuspitzung der Situation als Ganzes sowie der Zusammenstöße unter den Palästinensern zwischen Fatah und Hamas gegeben; auch der ohnerhin schon beträchtliche Gesichtsverlust der israelischen Regierung wird immer dramatischer. Zweifellos ist der Autoritätsverlust des amerikanischen Riesen in der Region infolge seiner bitteren Niederlage im Irak eng mit dem Chaos und dem Scheitern des „Friedensprozesses", dem er Paten stand, verknüpft.

Dieser Autoritätsverlust ist auch Grund für die vermehrten Schwierigkeiten der NATO-Truppen in Afghanistan und für en Kontrollverlust der Regierung Karzai gegenüber den Taliban.

Überdies ist die zunehmende Dreistigkeit, die der Iran bei der Vorbereitung seiner Atomwaffenproduktion an den Tag legt, eine direkte Konsequenz aus dem Versinken der USA im irakischen Sumpf, was Letzteren weitere militärische Interventionen verunmöglicht.

Und schlussendlich haben sich die Anstrengungen der US-Bourgeoisie, das „Vietnam-Syndrom" endlich zu überwinden, also den Widerstand innerhalb der heimischen Bevölkerung gegen die Entsendung von Soldaten auf das Schlachtfeld aufzuheben, gerade in ihr Gegenteil verkehrt. Nachdem die Emotionen, die durch die Attentate des 11. September geschürt wurden, zunächst die nationalistischen Aufwallungen, den Willen zur „nationalen Einheit" und die Entschlossenheit, sich am „Kampf gegen den Terrorismus" zu beteiligen, gestärkt hatten, sind mittlerweile die Zweifel am Krieg und an der Entsendung von amerikanischen Truppen wieder erheblich gewachsen.

Heute steckt die US-Bourgeoisie im Irak in einer regelrechten Sackgasse. Einerseits haben die USA nicht die militärischen, wirtschaftlichen und politischen Mittel, um in diesem Land irgendeine „Ordnung" wiederherzustellen. Andererseits können die USA es sich nicht erlauben, sich aus dem Irak zurückzuziehen, die Niederlage ihrer Politik offen einzugestehen und den Irak einer totalen Zerstückelung sowie die gesamte Region einer wachsenden Destabilisierung zu überlassen.
 

9 Die Regierungsbilanz von Bush junior ist sicher eine der katastrophalsten in der Geschichte der USA. Die Beförderung der so genannten „Neokonservativen" an die Staatsspitze 2001 war ein regelrechtes Desaster für die US-Bourgeoisie. Weshalb hat die führende Bourgeoisie der Welt diese Bande von Abenteurern und Stümpern dazu berufen, ihre Interessen zu vertreten? Was war der Grund für die Blindheit der herrschenden Klasse des stärksten kapitalistischen Landes der Welt? Tatsächlich war die Beauftragung der Bande um Cheney, Rumsfeld und Konsorten mit den Regierungsgeschäften keineswegs eine ebenso simple wie gigantische „Fehlbesetzung" durch die US-Bourgeoisie. Wenn sich die Lage der USA auf dem imperialistischen Terrain noch sichtbarer verschlechtert hat, so ist dies vor allem Ausdruck der Sackgasse, in der sich dieses Land schon zuvor durch den zunehmenden Verlust ihrer Führungsrolle befand, und des allgemein herrschenden „Jeder-für-sich" in den internationalen Beziehungen, das die Zerfallsphase kennzeichnet.

Dies beweist die Tatsache, dass die erfahrenste und intelligenteste Bourgeoise der Welt, die herrschende Klasse Großbritanniens, sich in das Irak-Abenteuer ziehen ließ. Ein anderes Beispiel für den Hang zu Unheil bringenden imperialistischen Schritten von Seiten der „fähigsten" Bourgeoisien - jener, die bisher meisterlich ihre militärische Stärke ausspielen konnten - ist, eine Nummer kleiner, das katastrophale militärische Abenteuer Israels im Libanon im Jahr 2006. Eine Offensive, die grünes Licht aus Washington erhalten hatte und die Hisbollah schwächen sollte, aber im Gegenteil eine Stärkung dieser Gruppierung zur Folge hatte.

Die zunehmende Zerstörung der Umwelt

10 Das militärische Chaos, das sich über die Erde ausbreitet und ganze Gebiete in einen Abgrund der Verwüstung stürzt - vor allem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika - ist keineswegs der einzige Ausdruck der historischen Sackgasse, in der sich der Kapitalismus befindet, und letztlich auch nicht die größte Bedrohung für die Gattung Mensch. Heute wird immer deutlicher, dass die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Systems und seiner Funktionsweise auch die Zerstörung der Umwelt, die die Entwicklung der Menschheit erst ermöglichte, mit sich bringt. Der anhaltende Ausstoß von Treibhausgasen im heutigen Ausmaß und die Erwärmung des Planeten werden nie dagewesene klimatische Katastrophen auslösen (Orkane, Verwüstungen, Überschwemmungen, usw.), die mit schrecklichen menschlichen Leiden (Hunger, Vertreibung von Millionen von Menschen, Überbevölkerung in den bisher am meisten verschonten Regionen, usw.) einhergehen. Angesichts der unübersehbaren Anzeichen der Umweltzerstörung können die Regierungen und die führenden Teile der Bourgeoisie die Dramatik der Lage und die sich abzeichnenden Katastrophen nicht länger vor der Bevölkerung verheimlichen. Darum präsentieren sich die Bourgeoisien und fast alle bürgerlichen Parteien der Industrieländer im grünen Gewand und versprechen, Maßnahmen zu ergreifen, um die aufkommenden Katastrophen von der Menschheit abzuwenden. Doch mit dem Problem der Umweltzerstörung verhält es sich ähnlich wie mit den Kriegen: Alle Teile der herrschenden Klasse sind gegen den Krieg, und dennoch ist diese Klasse seit dem Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz unfähig, einen Frieden zu garantieren. Hier handelt es sich keinesfalls um eine Frage des guten oder schlechten Willens (auch wenn in den Fraktionen, die den Krieg am eifrigsten anfeuern, die schmutzigsten Interessen zu finden sind). Selbst die „pazifistischsten" Führer der herrschenden Klasse können der objektiven Logik nicht entfliehen, die ihren „humanistischen" Anwandlungen und der „Vernunft" keinen Raum lässt. Im gleichen Maße ist der von den Spitzen der herrschenden Klasse plakativ zur Schau gestellte „gute Wille", die Umwelt zu schützen, angesichts der Zwänge der kapitalistischen Wirtschaft wirkungslos. Meist handelt es sich eh nur um Lippenbekenntnisse, mit denen möglichst viele Wählerstimmen erschlichen werden sollen. Sich dem Problem des Ausstoßes von Treibhausgasen ernsthaft zu stellen würde beträchtliche Veränderungen in der Industrie, der Energieproduktion, dem Transportwesen und den Wohnverhältnissen erfordern und massive Investitionen in diese Sektoren nach sich ziehen. Es würde überdies die gewichtigen ökonomischen Interessen der großen Masse der Unternehmer, aber auch des Staates selbst in Frage stellen. Konkret: Jeder Staat, der die notwendigen Maßnahmen ergreifen würde, um einen wirkungsvollen Beitrag zur Lösung des Problems beizusteuern, fände sich sofort und massiv in seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem internationalen Markt eingeschränkt. Die Staaten verhalten sich bezüglich der Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung so wie die Fabrikanten gegenüber den Lohnerhöhungen der Arbeiter: Sie sind alle dafür... solange die anderen davon betroffen sind. So lange die kapitalistische Produktionsweise besteht, ist die Menschheit dazu verdammt, unter einer immer dickeren Rußschicht zu leiden, die dieses System in seiner Agonie über den Erdball zieht, ein Phänomen, das das System selbst zu bedrohen beginnt.

Wie die IKS schon vor mehr als 15 Jahren hervorgehoben hat, bedeutet der zerfallende Kapitalismus eine Bedrohung für das Überleben der Menschheit. Die von Engels Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Alternative „Sozialismus oder Barbarei" ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer schrecklichen Realität geworden. Was uns das 21. Jahrhundert in Aussicht stellt, ist in der Tat „Sozialismus oder Zerstörung der Menschheit". Und das ist die Herausforderung, vor der die einzige Klasse in der Gesellschaft steht, die den Kapitalismus überwinden kann, die Arbeiterklasse.

Die Perspektive des Klassenkampfes und die Entwicklung des Klassenbewusstseins

11 Mit dieser Aufgabe ist die Arbeiterklasse konfrontiert, seit sie 1968 wieder auf die historische Bühne getreten war und damit der schlimmsten Konterrevolution in ihrer Geschichte ein Ende bereitet hatte. Ihr Wiederauftreten verhinderte, dass der Kapitalismus seine Lösung für die offene Wirtschaftskrise, den Weltkrieg, durchsetzen konnte. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten fanden Kämpfe der Arbeiterklasse mit all ihren Höhen und Tiefen, Fortschritten und Rückschlägen statt; Kämpfe, die es der Arbeiterklasse erlaubten, Erfahrungen zu sammeln, vor allem über die Rolle der Gewerkschaften als Saboteure des Klassenkampfes. Doch gleichzeitig wurde die Arbeiterklasse zunehmend dem Gewicht des Zerfalls ausgesetzt, was vor allem erklärt, dass die Ablehnung der klassischen Gewerkschaften vom Rückzug in den Korporatismus begeleitet war, eine Folge des Jeder-gegen-Jeden, das selbst im Klassenkampf seinen Ausdruck findet. Es war tatsächlich der Zerfall des Kapitalismus, der durch seine spektakulärste Äußerung, den Zusammenbruch des Ostblocks und der stalinistischen Regimes 1989, dieser ersten Reihe von Arbeiterkämpfen ein Ende bereitet hatte. Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das „Ende des Kommunismus", den „endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus" und das „Ende des Klassenkampfes", ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Diese Ratlosigkeit machte sich aber nicht lediglich aufgrund der Ereignisse Ende der 1980er Jahre breit, sondern auch angesichts ihrer Folgeerscheinungen wie den ersten Golfkrieg 1991 und den Krieg in Ex-Jugoslawien. Diese Ereignisse widerlegten zwar klar und deutlich die euphorischen Erklärungen von US-Präsident Bush senior nach dem Ende des Kalten Krieges, dass nun eine „Ära des Friedens und Wachstums" angebrochen sei, doch bewirkten sie angesichts der allgemeinen Ratlosigkeit in der Klasse keine Weiterentwicklung des Bewusstseins. Im Gegenteil hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ.

Doch auch in den 90er Jahren hatte die Arbeiterklasse den Kampf nicht völlig aufgegeben. Die anhaltenden Angriffe des kapitalistischen Systems zwangen sie zur Gegenwehr. Doch diese Kämpfe wiesen nicht die Dimension, das Bewusstsein und die Fähigkeit auf, den Gewerkschaften so entgegenzutreten, wie dies noch in der vorangegangenen Periode der Fall gewesen war. Erst im Laufe des Jahres 2003 begann sich das Proletariat vor allem in Gestalt der großen Mobilisierungen in Frankreich und Österreich gegen die Angriffe auf die Altersrenten wieder von den Rückschlägen nach 1889 zu erholen. Seither hat sich die Tendenz zur Wiederaufnahme des Klassenkampfes und zur Weiterentwicklung des Bewusstseins bestätigt. Überall in den zentralen Ländern haben Arbeiterkämpfe stattgefunden, auch in den wichtigsten wie in den USA (Boeing und öffentlicher Verkehr in New York 2005), in Deutschland (Daimler und Opel 2004, Spitalärzte im Frühling 2006, Deutsche Telekom im Frühling 2007), Großbritannien (Londoner Flughafen im August 2005, öffentlicher Dienst im Frühling 2006), Frankreich (Studenten und Schüler gegen den CPE im Frühling 2006), aber auch in einer eine ganze Reihe von peripheren Ländern wie Dubai (Bauarbeiter im Frühling 2006), Bangladesh (Textilarbeiter im Frühling 2006), Ägypten (Textil- und Transportarbeiter im Frühling 2007).
 

12 Engels schrieb einst, dass die Arbeiterklasse ihren Kampf auf drei Ebenen führt: auf der ökonomischen, der politischen und der theoretischen Ebene. Erst wenn wir die Welle von Kämpfen nach 1968 und jene seit 2003 auf diesen Ebenen vergleichen, können wir die Perspektive der gegenwärtigen Phase ausmachen.

Die Kämpfe nach 1968 hatten eine große politische Bedeutung: Sie stellten das Ende der Periode der Konterrevolution dar. Sie riefen auch einen theoretischen Denkprozess hervor, der das Wiederauftauchen von linkskommunistischen Strömungen begünstigte, von denen die Gründung der IKS 1975 der wichtigste Ausdruck war. Die Arbeiterkämpfe vom Mai 1968 in Frankreich und der „Heiße Herbst" 1969 in Italien ließen angesichts ihrer politischen Forderungen vermuten, dass eine Politisierung der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene bevorsteht. Doch diese Erwartungen wurden nicht erfüllt. Die Identität, die sich innerhalb der Klasse durch diese Kämpfe entwickelte, war vielmehr von ökonomischen Kategorien geprägt und weniger eine Identifizierung mit ihrer politischen Kraft innerhalb der Gesellschaft. Die Tatsache, dass diese Kämpfe die herrschende Klasse daran hinderten, den Weg zu einem dritten Weltkrieg einzuschlagen, wurde von der Arbeiterklasse (inklusive der Mehrheit der revolutionären Gruppierungen) nicht wahrgenommen. Der Massenstreik in Polen 1980 hatte, auch wenn er einen (seit dem Ende der revolutionären Welle nach dem Ersten Weltkrieg) neuen Höhepunkt in puncto Organisationskraft der Arbeiterklasse darstellte, eine entscheidende Schwäche: Die einzige „Politisierung", die stattfand, war die Annäherung an bürgerlich-demokratische Ideen und an den Nationalismus.

Die IKS hatte schon damals folgende Feststellungen gemacht:

- das langsame Tempo der Wirtschaftskrise machte es im Gegensatz zum imperialistischen Krieg, aus dem die erste globale revolutionäre Welle hervorgegangen war, möglich, den Niedergang des Systems zu verschleiern, was Illusionen über die Fähigkeit des Kapitalismus schürte, der Arbeiterklasse ein gutes Leben zu sichern;

- es existierte aufgrund der traumatischen Erfahrung mit dem Stalinismus ein Misstrauen gegenüber den revolutionären politischen Organisationen (unter den Arbeitern in den Ländern des Ostblocks hatte dies gar große Illusionen über die „Vorteile" der traditionellen bürgerlichen Demokratie hervorgerufen);

- der organische Bruch hatte die revolutionären Organisationen von ihrer Klasse abgeschnitten.

 

13 Die Situation, in der sich heute die neue Welle von Klassenkämpfen entfaltet, ist eine völlig andere:

- nahezu vierzig Jahre der offenen Krise und Angriffe gegen die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und vor allem die wachsende Arbeitslosigkeit und Prekarisierung haben die Illusionen weggefegt, „dass es uns morgen besser gehen wird": Die alten und auch die jungen Generationen werden sich immer bewusster, dass es ihnen morgen noch schlechter ergehen wird als heute;

- das Andauern der immer barbarischeren kriegerischen Auseinandersetzungen sowie die Bedrohung durch die Umweltzerstörung erzeugen eine (wenn auch noch konfuse) Ahnung, dass sich diese Gesellschaft grundsätzlich ändern muss. Das Auftauchen der Antiglobalisierungs-Bewegung mit ihrer Parole: „Eine andere Welt ist möglich" stellt dabei ein Gegengift dar, das von der bürgerlichen Gesellschaft verbreitet wird, um diese Ahnungen auf falsche Bahnen zu lenken;

- das Trauma, das durch den Stalinismus und die nach seinem Zerfall vor fast zwanzig Jahren ausgelösten Kampagnen verursacht wurde, klingt langsam ab. Die Arbeiter der neuen Generation, die heute ins aktive Leben treten und sich damit auch potenziell am Klassenkampf beteiligen, befanden sich zur Zeit der schlimmsten Kampagnen über den so genannten „Tod des Kommunismus" noch im Kindesalter.

Diese Bedingungen bewirken eine Reihe von Unterschieden zwischen der heutigen Welle von Kämpfen und jener, die 1989 endete.

Auch wenn sie eine Reaktion auf ökonomische Angriffe sind, die ungleich heftiger und allgemeiner sind als jene, die das spektakuläre und massive Auftauchen der ersten Welle verursacht hatten, so haben die aktuellen Kämpfe in den zentralen Ländern des Kapitalismus noch nicht denselben massiven Charakter. Dies vor allem aus zwei Gründen:

- das historische Wiederauftauftauchen der Arbeiterklasse Ende der 1960er Jahre hatte die herrschende Klasse überrascht. Heute dagegen ist dies nicht mehr der Fall. Die Bourgeoisie unternimmt alles Mögliche, um der Arbeiterklasse zuvorzukommen und die Ausdehnung der Kämpfe vor allem durch ein systematisches mediales Ausblenden zu verhindern;

- der Einsatz von Streiks ist heute viel heikler, weil das Gewicht der Arbeitslosigkeit als Druckmittel gegen die Arbeiterklasse wirkt und Letztere sich auch bewusst ist, dass der Spielraum der Bourgeoisie zur Erfüllung von Forderungen immer kleiner wird.

Dieser letzte Aspekt ist jedoch nicht nur ein Faktor, der die Arbeiter vor massiven Kämpfen zurückschrecken lässt. Er erfordert auch ein tiefes Bewusstsein über das endgültige Scheitern des Kapitalismus, das eine Bedingung dafür ist, dass sich ein Bewusstsein über die Notwendigkeit der Überwindung dieses Systems bildet. In einer gewissen Weise sind die Hemmungen der Arbeiterklasse, sich in den Kampf zu stürzen, durch das schiere Ausmaß der Aufgaben bedingt, mit denen die kämpfende Klasse konfrontiert wird, nämlich mit nichts Geringerem als die proletarische Revolution.

Auch wenn die ökonomischen Kämpfe der Klasse momentan weniger heftig sind als die Kämpfe nach 1968, enthalten sie eine gewichtigere politische Dimension. Bereits jetzt machen sich die Kämpfe, die wir seit 2003 erleben, mehr und mehr die Frage der Solidarität zu eigen, eine Frage von höchster Wichtigkeit, da sie das wirksamste „Gegengift" zum für den gesellschaftlichen Zerfall typischen „Jeder-für-sich" darstellt und vor allem weil sie in ihrem Kern die Fähigkeit des Weltproletariates ausmacht, nicht nur die gegenwärtigen Kämpfe zu entfalten, sondern auch den Kapitalismus zu überwinden:

- der spontane Streik der Daimler-Arbeiter in Bremen gegen die Angriffe auf die Belegschaft ihres Betriebes in Stuttgart;

- der Solidaritätsstreik der GepäckarbeiterInnen in einem Londoner Flughafen gegen die Entlassungen von Angestellten eines Catering-Unternehmens, und dies trotz der Illegalität des Streiks;

- der Streik der Transportangestellten in New York aus Solidarität mit der jungen Generation, die die Direktion unter schlechteren Konditionen einstellen wollte.
 

14 Die Frage der Solidarität stand auch im Zentrum der Bewegung gegen das CPE-Gesetz in Frankreich im Frühjahr 2006, die sich - unter hauptsächlicher Beteili-
gung von StudentInnen und OberschülerInnen - voll und ganz auf dem Terrain der Arbeiterklasse befand:

- aktive Solidarität der Studierenden besser gestellter Universitäten mit den StudentInnen anderer Universitäten;

- Solidarität gegenüber den Kindern der Arbeiterklasse in den Vorstädten, deren Revolten im Herbst 2005 die miserablen Lebensbedingungen und die fehlenden Perspektiven, die ihnen der Kapitalismus bietet, ans Licht gebracht hatten;

- Solidarität unter den verschiedenen Generationen: zwischen jenen, die vor der Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen stehen, und jenen, die sich bereits in einem Lohnarbeitsverhältnis befinden; zwischen jenen, die nun in den Klassenkampf eintreten, und jenen, die bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt haben.
 

15

Diese Bewegung war auch beispielhaft für die Fähigkeit der Klasse, ihre Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen, mit Vollversammlungen und ihnen gegenüber verantwortlichen Streikkomitees (dies haben wir auch während des Streiks in den Metallbetrieben im spanischen Vigo Frühjahr 2006 gesehen, wo tägliche Vollversammlungen aller beteiligten Belegschaften auf der Straße abgehalten wurden). Die extreme Schwäche der Gewerkschaften im studentischen Milieu hatte dies ermöglicht; die Gewerkschaften konnten ihre traditionelle Rolle als Saboteure des Klassenkampfes nicht ausüben, eine Rolle, die sie bis zur Revolution verkörpern werden. Ein Beispiel für die arbeiterfeindliche Rolle der Gewerkschaften ist die Tatsache, dass die jüngsten Kämpfe oft in Ländern stattfanden, in denen die Gewerkschaften noch sehr schwach vertreten sind (wie in Bangladesh) oder direkt als Organe des Staates auftreten (wie in Ägypten).
 

16 Die Bewegung gegen das CPE-Gesetz, die in jenem Land stattfand, in dem auch die erste und spektakulärste Manifestation des historischen Wiedererwachens der Arbeiterklasse stattgefunden hatte, der Generalstreik in Frankreich 1968, deutet noch auf andere Unterschiede zwischen der heutigen Welle von Klassenkämpfen und der vorangegangenen hin:

- 1968 waren die Studentenbewegung und die Kämpfe der Arbeiterklasse, auch wenn sie sich zeitlich überschnitten und eine gegenseitige Sympathie vorhanden war, Ausdruck von zwei verschiedenen Realitäten zurzeit des Eintritts des Kapitalismus in seine offene Krise: einerseits eine Revolte des intellektuellen Kleinbürgertums in Gestalt der Studenten gegen die Degradierung ihres Status‘ innerhalb der Gesellschaft, andererseits ein ökonomischer Kampf der Arbeiterklasse gegen die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen. Die Bewegung der StudentInnen im Jahr 2006 war eine Bewegung der Arbeiterklasse und zeigte klar auf, dass die Veränderungen in der Arbeitswelt in den entwickeltsten Ländern (Vergrößerung des tertiären Sektors auf Kosten des industriellen Sektors) die Fähigkeit der Arbeiterklasse, Klassenkämpfe zu führen, nicht in Frage stellen;

- in der Bewegung von 1968 wurde die Frage der Revolution tagtäglich diskutiert. Doch dieses Interesse ging hauptsächlich von den StudentInnen aus, von denen sich die große Mehrheit bürgerlichen Ideologien hingab: dem Castrismus aus Kuba oder dem Maoismus aus China. In der Bewegung von 2006 wurde die Frage der Revolution viel weniger diskutiert, dafür herrschte aber ein viel klareres Bewusstsein darüber, dass nur die Mobilisierung und Einheit der gesamten Arbeiterklasse ein wirkungsvolles Mittel sind, um den Angriffen der Bourgeoise entgegenzutreten.
 

17 Diese letzte Frage führt uns zum dritten Aspekt des Klassenkampfes, den Engels formuliert hatte: zum theoretischen Kampf, zur Entwicklung des Bewusstseins innerhalb der Arbeiterklasse über die grundsätzlichen Perspektiven ihres Kampfes und zum Auftauchen von Elementen und Organisationen, die ein Produkt dieser Anstrengungen sind. Wie 1968 geht heute die Zunahme der Arbeiterkämpfe mit einem vertieften Nachdenken einher. Dabei stellt das Auftauchen neuer Leute, die sich den Positionen der Kommunistischen Linken zuwenden, lediglich die Spitze des Eisbergs dar. Jedoch bestehen auch hier erhebliche Unterschiede zwischen dem heutigen Denkprozess und den Reflexionen nach 1968. Damals setzte das Nachdenken aufgrund massiver und spektakulärer Kämpfe ein, wohingegen der heutige Denkprozess nicht darauf wartet, bis die Arbeiterklasse Kämpfe derselben Dimension entfacht. Dies ist ein Resultat der unterschiedlichen Bedingungen, mit denen das Proletariat heute - im Gegensatz zu denen Ende der 1960er Jahre - konfrontiert ist: Ein Charakteristikum der Kampfwelle, die 1968 begann, bestand darin, dass sie aufgrund ihrer Ausbreitung das Potenzial einer proletarischen Revolution erahnen ließ. Ein Potenzial, das infolge der schlimmen Konterrevolution und der Illusionen, die das „Wachstum" des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg produziert hatte, aus den Köpfen verschwunden war. Heute ist es nicht die Möglichkeit einer Revolution, die den Denkprozess nährt, sondern - angesichts der katastrophalen Perspektive des Kapitalismus - ihre Notwendigkeit. Aus diesem Grund vollzieht sich alles langsamer und weniger sichtbar als in den 1970er Jahren. Der ganze Prozess ist jedoch viel nachhaltiger und nicht so abhängig von Schwankungen im Kampf der Arbeiterklasse.

Der Enthusiasmus für die Revolution, der sich 1968 und in den darauffolgenden Jahren ausgedrückt hatte, trieb die Mehrheit der Menschen, die an eine Revolution glaubten, in die Arme linksextremistischer Gruppen. Nur eine kleine Minderheit, die den radikalen kleinbürgerlichen Ideologien und der Momentbezogenheit der Studentenbewegung weniger stark ausgesetzt war, konnte sich den Positionen des Linkskommunismus annähern und seinen Organisationen beitreten. Die Schwierigkeiten, auf welche die Arbeiterklasse angesichts diverser Gegenoffensiven der herrschenden Klasse gestoßen war, und der gesellschaftliche Kontext, der noch Illusionen in die Überlebensfähigkeit des Kapitalismus erlaubte, ließen reformistische Ideologien wiederaufleben, die vor allem die „extremen" Gruppen links des offiziellen, diskreditierten Stalinismus förderten. Heute, nach dem Zusammenbruch des Stalinismus, nehmen die linken Gruppen seinen frei gewordenen Platz ein. Die „Etablierung" dieser Gruppierungen im politischen Spiel der Bourgeoisie löst eine Gegenreaktion ihrer ehrlichsten Anhänger aus, die auf der Suche nach Klassenpositionen sind. Aus diesem Grund drückt sich das Nachdenken in der Arbeiterklasse nicht nur durch das Auftauchen junger Leute aus, die sich dem Linkskommunismus zuwenden, sondern auch durch Ältere, die bereits Erfahrungen in Organisationen der bürgerlichen Linken gesammelt haben. Dies ist ein sehr positives Phänomen, das uns verspricht, dass die revolutionären Kräfte, die unvermeidlich aus den Kämpfen der Arbeiterklasse auftauchen, nicht mehr so einfach sterilisiert und eingebunden werden können, wie dies im Laufe der 1970er Jahre noch der Fall gewesen war, und dass sie sich vermehrt den Positionen und Organisationen der Kommunistischen Linken anschließen.

Die Verantwortung der revolutionären Organisationen, und vor allem der IKS, besteht darin, aktiver Teil in diesem Denkprozess innerhalb der Klasse zu sein. Dies nicht nur durch aktive Interventionen in den sich entwickelnden Klassenkämpfen, sondern auch durch die Stimulierung der Gruppen und Einzelpersonen, die sich diesem Kampf anschließen wollen.

 

IKS

Aktuelles und Laufendes: 

  • Arbeiterkampf [12]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Internationale Kommunistische Strömung [5]

Theoretische Fragen: 

  • Politische Ökonomie [11]

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/1556

Links
[1] https://en.internationalism.org/ir/122_16congres [2] https://en.internationalism.org/wr/292_brazil_forums.html [3] https://en.internationalism.org/wr/295_eks_basicpositions [4] https://en.internationalism.org/node/1772 [5] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/internationale-kommunistische [6] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse [7] https://de.internationalism.org/en/tag/2/39/die-revolution-re-organisation [8] https://de.internationalism.org/en/tag/3/45/kommunismus [9] https://de.internationalism.org/en/tag/2/24/marxismus-die-theorie-der-revolution [10] https://www.mcclatchydc.com/ [11] https://de.internationalism.org/en/tag/3/49/politische-konomie [12] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterkampf