Am Ende des ersten Teils dieser Artikelserie (Internationale Revue 34) haben wir gesehen, dass die Entwicklung des zionistischen Nationalismus und seine Manipulation durch die Briten im Kampf gegen ihre imperialistischen Rivalen um die Vorherrschaft im Nahen Osten am Ende des Ersten Weltkrieges einen neuen Faktor der Destabilisierung in dieser Region darstellten.
In diesem Artikel beabsichtigen wir zu untersuchen, wie es dazu kam, dass der arabische und der zionistische Nationalismus eine zunehmend wichtige Rolle im Nahen Osten spielten, beide als Faustpfand im komplexen Kräfteverhältnis zwischen den imperialistischen Grossmächten und als Bedrohung der Arbeiterklasse in der Phase nach der Russischen Revolution.
Der Zionismus als Mittel der Spaltung in der Arbeiterklasse
Die kapitalistische Klasse hat stets versucht, die ethnischen, kulturellen und religiösen Unterschiede in der Arbeiterklasse zu benutzen und gar zu verschärfen, "zu teilen und zu herrschen".
Es trifft durchaus zu, dass in den meisten Ländern der Kapitalismus in seiner aufsteigenden Phase fähig war, unterschiedliche ethnische und religiöse Gruppen durch die Proletarisierung ihrer Mitglieder gesellschaftlich zu integrieren. So wurden die rassischen, ethnischen und religiösen Spaltungen in der Bevölkerung wesentlich verringert. Aber der moderne Zionismus ist tief geprägt durch seine Entstehung am Ende dieser aufsteigenden Phase, als die Epoche der Nationalstaatenbildung zu Ende ging und es keinen "Lebensraum"1 für die Entstehung neuer Nationen gab, als das Überleben des Kapitalismus nur noch durch Krieg und Zerstörung möglich war.
Als 1897 der Erste Zionistenkongress in Basel die Forderung nach einem jüdischen Nationalterritorium erhob, lehnte der linke Flügel der Zweiten Internationalen die Bildung neuer territorialer Einheiten bereits ab.
1903 lehnte die SDRAP (Sozialdemokratische Russische Arbeiterpartei) die Existenz einer unabhängigen, separaten jüdischen Organisation in ihren Reihen ab und verlangte, dass sich diese Organisation – "Der Bund" (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterverband in Litauen, Polen und Russland) – mit der russischen Territorialpartei verschmilzt. Der Zweite Kongress der RSDAP 1903 setzte die Frage des Bundes nicht nur als ersten Punkt, noch vor der Debatte über die Statuten, auf die Tagesordnung, sondern "wies jegliche Möglichkeit föderaler Beziehungen zwischen der RSDAP und dem Bund als prinzipiell unzulässig zurück". Der Bund seinerseits lehnte damals die Bildung einer "jüdischen nationalen Heimstatt" in Palästina ab.
Der linke Flügel der Zweiten Internationalen vor dem Ersten Weltkrieg wandte sich somit deutlich gegen die Bildung eines jüdischen Staates in Palästina.
Die Geburt des politischen Zionismus fiel mit dem Anstieg der jüdischen Einwanderung in den Nahen Osten und vor allem in Palästina zusammen. Die erste grosse jüdische Siedlerwelle kam nach den Pogromen und der Repression im zaristischen Russland 1882 in Palästina an; die zweite Flüchtlingswelle aus Osteuropa nach der Niederlage der revolutionären Kämpfe von 1905 in Russland. 1850 lebten 12'000 Juden in Palästina, 1882 35'000 und 1914 90'000.
Grossbritannien plante nun, die Zionisten als zuverlässige Verbündete gegen seine europäischen Widersacher, besonders Frankreich, und gegen die arabische Bourgeoisie einzusetzen. Grossbritannien befand sich in einer Position, die es ihm erlaubte, sowohl den Zionisten als auch der aufkommenden panarabischen Bourgeoisie Versprechungen zu machen, wobei es voll auf die Karte des "Teile und herrsche" setzte – eine Politik, die Grossbritannien bis zum Beginn des II. Weltkrieges erfolgreich praktizierte. Während des Ersten Weltkrieges wurde sowohl den Zionisten als auch den ersten panarabischen Nationalisten, als Belohnung für ihre Unterstützung Grossbritanniens im Krieg, der Erhalt Palästinas versprochen. Die Balfour-Deklaration von 1917 sicherte dies den Zionisten just in dem Moment zu, als T.E. Lawrence ("Lawrence von Arabien") vom britischen Auswärtigen Amt den arabischen Stammesführern dasselbe versprach, als Dank für die Inszenierung des arabischen Aufstands gegen das kollabierende Osmanische Reich.
Als Grossbritannien von Völkerbund 1922 das "Palästina-Mandat" erhielt, waren von 650'000 Einwohnern Palästinas 560'000 Muslime und Christen sowie 85'000 Juden. Die Zionisten versuchten nun, so schnell wie möglich die Zahl der jüdischen Ansiedler zu vergrössern, indem sie den Zustrom gemäss ihrer imperialistischen Ziele regulierten. Ein "Kolonialbüro" wurde eingerichtet, um die Ansiedlung der Juden in Palästina zu fördern.
Der Zionismus war aber nicht ausschliesslich ein Instrument der britischen Interessen im Nahen Osten: Er verfolgte auch sein eigenes kapitalistisches Expansionsprojekt, die Errichtung eines eigenen jüdischen Staates – ein Projekt, das im dekadenten Kapitalismus nur auf Kosten der regionalen Widersacher durchgesetzt werden kann und unvermeidlich mit Krieg und Zerstörung verknüpft ist.
Der moderne Zionismus ist also ein typischer Ausdruck der Dekadenz dieses Systems. Er ist eine Ideologie, die nicht ohne militärische Mittel verwirklicht werden kann. Mit anderen Worten: Ohne Krieg, ohne vollständige Militarisierung, ohne Ausgrenzung und ohne "Eindämmungspolitik" ist der Zionismus unmöglich.
Indem sie also die Bildung einer jüdischen Heimstatt unterstützten, haben die englischen "Beschützer" nichts anderes getan, als grünes Licht für die ethnische Säuberung, für die gewaltsame Deportation der ansässigen Bevölkerung zu geben. Diese Politik ist zur ständigen und weit verbreiteten Praxis in allen durch Krieg zerrissenen Ländern geworden. Sie ist zu einem klassischen Merkmal der Dekadenz geworden.2
Obwohl die Politik der ethnischen Säuberung und der Rassentrennung nicht auf das Gebiet des ehemaligen osmanischen Reiches beschränkt war, wurde diese Region dennoch zu einem Zentrum dieser mörderischen Praktiken. Der Balkan hat während des ganzen 20. Jahrhunderts unter der Folge von ethnischen Säuberungen und Massakern gelitten – alle durch die europäischen Mächte und die USA unterstützt und manipuliert. Die herrschende Klasse in der Türkei führte einen schrecklichen Völkermord an den Armeniern durch – das Blutbad, in dem 1'500'000 Armenier durch türkische Truppen getötet wurden, begann 1915 und ging nach dem Ersten Weltkrieg weiter. Im Krieg zwischen Griechenland und der Türkei (März 1921 bis Oktober 1922) wurden 1,3 Millionen Griechen aus der Türkei vertrieben und 450'000 Türken aus Griechenland.
Das zionistische Vorhaben, eine eigene territoriale Einheit zu schaffen, basierte notwendigerweise auf Rassentrennung, Teilung, Zwietracht, Deportation, kurz: auf militärischen Schrecken und Vernichtung – dies alles lange, bevor der zionistische Staat 1948 proklamiert wurde.
Der Zionismus ist eine besondere Form des Kolonialismus, die nicht auf der Ausbeutung der lokalen Arbeitskraft beruht, sondern auf deren Ausgrenzung und Vertreibung. Arabische Arbeiter sollten nicht Teil der "jüdischen Gemeinschaft" sein, sondern wurden auf der Grundlage der Parole "Jüdisches Öl, jüdische Arbeit, jüdische Waren!" rigoros ausgeschlossen.
Die Gesetze, die das britische Protektorat einführte, legten fest, dass die jüdischen Siedler ihr Land den arabischen Grundbesitzern abkauften. Die Besitzrechte waren vor allem in den Händen reicher arabischer Grundbesitzer, für die das Land hauptsächlich ein Spekulationsobjekt bedeutete. Darüber hinaus akzeptierten sie es, die palästinensischen Tagelöhner und Pachtbauern zu vertreiben, wenn dies die neuen Besitzer wünschten. So haben viele Bauern und Landwirtschaftsarbeiter sowohl ihr Land als auch ihre Arbeit verloren. Die Errichtung jüdischer Siedlungen bedeutete nicht nur ihre Vertreibung aus dem Land, sondern auch ihr Sturz in noch grösseres Elend.
Die Zionisten untersagten den Weiterverkauf des Landes an Nicht-Juden, wenn jüdische Siedler es einmal gekauft hatten. Es war nicht nur eine Ware, ein Stück jüdischer Privatbesitz, sondern es war Teil des zionistischen Territoriums geworden, das wie eine Eroberung militärisch verteidigt werden musste.
In der Wirtschaft wurden die arabischen Arbeiter aus ihren Jobs gedrängt. Die zionistische Gewerkschaft Histadrut tat in enger Zusammenarbeit mit anderen zionistischen Organisationen alles, um die arabischen Arbeiter daran zu hindern, ihre Arbeitskraft den jüdischen Kapitalisten zu verkaufen. So wurden die palästinensischen Arbeiter in die Kollision mit den jüdischen Einwanderern gedrängt, die ebenfalls Arbeit suchten.
Die Errichtung einer jüdischen Heimstatt, wie es das britische "Protektorat" versprochen hatte, bedeutete nichts anderes als andauernde militärische Konfrontationen zwischen den Zionisten und der arabischen Bourgeoisie – mit der Arbeiterklasse und den Bauern, die auf dieses blutige Terrain gezogen wurden.
Was war die Haltung der Kommunistischen Internationalen zur imperialistischen Situation im Nahen Osten und zur Bildung einer "jüdischen Heimstatt"?
Rosa Luxemburg hatte während des I. Weltkriegs festgestellt: "In der Epoche dieses entfesselten Imperialismus kann es keine nationalen Kriege mehr geben. Die nationalen Interessen sind nur eine Verschleierung mit dem Ziel, die arbeitenden Volksmassen in den Dienst ihres Todfeindes zu stellen: des Imperialismus". (Junius-Broschüre, Entwurf vom Spartakusbund, im Januar 1916 angenommen.)
Als die russischen Arbeiter im Oktober 1917 die Macht ergriffen hatten, versuchten die Bolschewiki, den Druck, den die Bourgeoisie mit ihren Weissen Armeen auf die Arbeiterklasse ausübten, zu verringern und die Unterstützung der "schuftenden Massen" der Nachbarländer mit der Parole der "nationalen Selbstbestimmung" zu gewinnen – eine Position der SDRAP, die von der Strömung um Rosa Luxemburg bereits vor dem I. Weltkrieg kritisiert wurde (s. die Artikel in Internationalen Review 34, 37, 42, engl., franz. und span. Ausgabe). Anstatt den Druck der Bourgeoisie zu schwächen und die "schuftenden Massen" hinter sich zu scharen, hatte die bolschewistische Politik eine gegenteilige, verhängnisvolle Wirkung. Rosa Luxemburg schreibt in ihrer Broschüre Zur russischen Revolution: "Während Lenin und Genossen offenbar erwarteten, dass sie als Verfechter der nationalen Freiheit ‚bis zur staatlichen Absonderung Finnlands, die Ukraine, Polen, Litauen, die Baltenländer, die Kaukasier usw. zu ebenso vielen treuen Verbündeten der russischen Revolution machen würden, erlebten wir das umgekehrte Schauspiel: Eine nach der anderen von diesen ‚Nationen‘ benutzte die frische geschenkte Freiheit dazu, sich als Todfeindin der russischen Revolution gegen sie mit dem deutschen Imperialismus zu verbünden und unter seinem Schutze die Fahne der Konterrevolution nach Russland selbst zu tragen (…). Statt die Proletarier in den Randländern vor jeglichen Separatismus als rein bürgerlichen Fallstrick zu warnen und die separatistischen Bestrebungen mit eiserner Hand, deren Gebrauch in diesem Falle wahrhaft im Sinne und Geist der proletarischen Diktatur lag, im Keime zu ersticken, haben sie vielmehr die Massen in allen Randländern durch ihre Parole verwirrt und der Demagogie der bürgerlichen Klassen ausgeliefert. Sie haben durch diese Förderung des Nationalismus den Zerfall Russlands selbst herbeigeführt, vorbereitet und so den eigenen Feinden das Messer in die Hand gedrückt, das sie der russischen Revolution ins Herz stossen sollten." (Zur russischen Revolution, Dietz Verlag Berlin 1979)
Als die revolutionäre Welle zurückzuweichen begann, begann der Zweite Kongress der Kommunistischen Internationale im Juli 1920 eine opportunistische Position zur nationalen Frage zu entwickeln, in der Hoffnung, die Unterstützung der Arbeiter und Bauern in den Kolonialländern zu gewinnen. Die Unterstützung angeblich "revolutionärer" Bewegungen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht "bedingungslos", sondern folgte gewissen Kriterien. Punkt 11 der "Thesen über die nationale Frage", die vom Kongress verabschiedet wurden, unterstreicht: "Es ist notwendig, die Bestrebungen der Unabhängigkeitsbewegungen, die in Tat und Wahrheit weder kommunistisch noch revolutionär sind, energisch zu bekämpfen, um die kommunistischen Ansichten hervorzuheben: Die Kommunistische Internationale darf die revolutionären Bewegungen in den Kolonien und rückständigen Ländern nur unter der Bedingung unterstützen, dass die Elemente der reinsten und wahrhaftigsten kommunistischen Parteien gruppiert sind und sich über ihre vorrangigen Aufgaben im Klaren sind: Ihre Aufgabe, die bürgerliche und demokratische Bewegung zu bekämpfen. Die Kommunistische Internationale muss dabei zeitlich begrenzte Beziehungen eingehen und auch Bündnisse mit den revolutionären Bewegungen in den Kolonien und rückständigen Ländern eingehen, dies allerdings ohne jemals mit ihnen zu fusionieren und indem sie immer den unabhängigen Charakter der proletarischen Bewegung – sogar in ihrer embryonalen Form – bewahren".
Punkt 12 der Thesen fährt fort: "Es ist notwendig, den arbeitenden Massen aller Länder und vor allem der rückständigen Länder und Nationen, unermüdlich den von den imperialistischen Mächten mit Hilfe der herrschenden Klassen in den unterdrückten Ländern aufgezogenen Schwindel zu enthüllen. Sie tun, als ob sie die Existenz politische unabhängiger Staaten unterstützen – die in Tat und Wahrheit ökonomisch und militärisch Vasallen sind. Ein schlagendes Beispiel für diesen Schwindel (…) ist die Angelegenheit der Zionisten in Palästina (…). Bei der gegenwärtigen internationalen Sachlage gibt es kein Wohl für die schwachen und unterdrückten Völker ausserhalb der Union der sowjetischen Republiken".
Als aber die Isolierung der Russischen Revolution wuchs und die Komintern3 und die bolschewistische Partei immer opportunistischer wurden, wurden die anfänglichen Kriterien für die Unterstützung bestimmter "revolutionärer Bewegungen" fallen gelassen. Auf ihrem 4. Kongress im November 1922 führte die Internationale die katastrophale Politik der "Einheitsfront" ein, wobei sie darauf bestand: "Die grundlegende gemeinsame Aufgabe aller national-revolutionären Bewegungen besteht darin, die nationale Einheit und die politische Autonomie zu verwirklichen". ("Allgemeine Thesen über die Frage des Orients", Faksimile, Maspero). Während die Kommunistische Linke, vor allem die Gruppe um Bordiga, einen erbitterten Kampf gegen die Politik der "Einheitsfront" führte, erklärte die Kommunistische Internationale: "Die Weigerung der Kommunisten in den Kolonien, sich am Kampf gegen die imperialistische Unterdrückung zu beteiligen, und dies unter dem Vorwand der alleinigen ‚Verteidigung‘ der Klasseninteressen, ist Ausdruck des übelsten Opportunismus, der die proletarische Revolution im Orient nur in Verruf bringen kann".(idem).
Doch es war die Internationale, die dem Opportunismus verfiel. Dieser opportunistische Kurs wurde bereits im September 1920 in Baku auf dem Kongress der Völker des Orients sichtbar, kurz nach dem Zweiten Kongress der Kommunistischen Internationalen. Der Kongress von Baku richtete sich vor allem an die nationalen Minderheiten in den Nachbarländern der belagerten Sowjetrepublik, wo der britische Imperialismus damit drohte, seinen Einfluss auszuweiten und damit neue Sprungbretter für bewaffnete Interventionen gegen Russland zu schaffen.
"Als Folge eines ungeheuren und barbarischen Blutbades erschien der britische Imperialismus als alleiniger, allmächtiger Herrscher Europas und Asiens" ("Manifest" des Kongresses der Völker des Orients). Indem sie von der falschen Voraussetzung ausging, dass "der britische Imperialismus, indem er alle Widersacher geschwächt und geschlagen hat, allmächtiger Beherrscher Europas und Asiens geworden ist", unterschätzte die Kommunistische Internationale die neue Ebene der imperialistischen Rivalitäten, die durch den Eintritt des Kapitalismus in seine Dekadenz entfesselt wurden.
Hatte nicht der Erste Weltkrieg gezeigt, dass alle Länder, ob gross oder klein, imperialistisch geworden waren? Der Kongress von Baku konzentrierte sich stattdessen ausschliesslich auf den britischen Imperialismus: "Grossbritannien, letzte imperialistische Vormacht Europas, hat seine schwarzen Schwingen über den islamischen Ländern des Orients ausgebreitet, es versucht, die Völker des Orients zu unterwerfen, um sie zu versklaven und daraus Beute zu schlagen. Sklaverei! Schreckliche Sklaverei, Verfall, Unterdrückung und Ausbeutung, das bringt Grossbritannien den Völkern des Orients. Verteidigt Euch, Völker des Orients! (…) Bereitet Euch vor für den Kampf gegen den gemeinsamen Feind, den britischen Imperialismus!" (idem).
Die Politik der Unterstützung der "national-revolutionären" Bewegungen und der Appell an eine "anti-imperialistische Front" bedeutete konkret, dass Russland und die bolschewistische Partei, die zunehmend vom russischen Staat vereinnahmt wurde, Bündnisse mit nationalistischen Bewegungen eingingen.
Schon 1920 drängte Kemal Atatürk4 Russland dazu, eine anti-imperialistische Front mit der Türkei zu bilden. Kurz nach der Niederwerfung des Kronstädter Arbeiteraufstandes im März 1921 und dem Beginn des Krieges zwischen Griechenland und der Türkei unterzeichnete Moskau ein Freundschaftsabkommen zwischen Russland und der Türkei. Nach wiederholten Kriegen unterstützte zum ersten Mal eine russische Regierung die Existenz der Türkei als Nationalstaat.
Die Arbeiter und Bauern Palästinas wurden ebenfalls in die Sackgasse des Nationalismus gestossen: "Wir betrachten die nationalistische arabische Bewegung als eine wichtige Kraft, die den englischen Kolonialismus bekämpft. Es ist unsere Pflicht, alles zur Unterstützung dieser Bewegung in ihrem Kampf gegen den Kolonialismus zu tun".
Die Kommunistische Partei Palästinas, gegründet 1922, rief zur Unterstützung des Muftis Hafti Amin Hussein auf. 1922 war Letzterer zum Mufti Jerusalems und Präsidenten des obersten islamischen Rates geworden: Er war einer derjenigen gewesen, die am lautesten die Bildung eines unabhängigen palästinensischen Staates forderten.
Ob 1922 in der Türkei, in Persien oder 1927 in China – diese Politik der Kommunistischen Internationalen war verheerend für die Arbeiterklasse. Wegen ihrer Unterstützung der lokalen Bourgeoisien drängte die Komintern die Arbeiter in die blutigen Arme einer sich selbst als "fortschrittlich" gerierenden Bourgeoisie. Dass Ausmass der Ablehnung des proletarischen Internationalismus‘ zeigt sich in einem Aufruf der Kommunistischen Internationalen von 1931, die damals zu einem Werkzeug des russischen Stalinismus geworden war: "Wir rufen alle Kommunisten auf, einen Kampf um nationale Unabhängigkeit und nationale Einheit zu führen, nicht nur innerhalb der engen Grenzen, die der Imperialismus und die Interessen der herrschenden Familienclans eines jeglichen arabischen Landes willkürlich geschaffen haben, sondern diesen Kampf für die Einheit des gesamten Orients auf breiter panarabischer Front zu führen."
Der Kampf innerhalb der Kommunistischen Internationalen zwischen den opportunistischen Konzessionen gegenüber den "nationalen Befreiungsbewegungen" und der Verteidigung des proletarischen Internationalismus wird an der Opposition verschiedener jüdischer Delegationen zum Kongress von Baku ersichtlich.
Eine "Delegation der Bergjuden" konnte noch einen wahrhaften Widerspruch in Worten zum Ausdruck bringen, indem sie erklärte: "Nur der Sieg der Unterdrückten über die Unterdrücker führt uns zum heiligen Ziel: die Bildung einer kommunistischen jüdischen Gesellschaft in Palästina". Die Abordnung der kommunistischen jüdischen Partei (Poale Zion, vorher dem jüdischen Bund angegliedert) rief zur "Besiedlung und Kolonisierung Palästinas nach kommunistischen Prinzipien" auf.
Das Zentralbüro der jüdischen Sektionen der kommunistischen Partei Russlands widersetzte sich entschlossen den gefährlichen Illusionen über die Errichtung einer jüdischen kommunistischen Gemeinschaft in Palästina und der Art und Weise, wie die Zionisten das jüdische Projekt für ihre eigenen imperialistischen Interessen einsetzten. Gegen die Spaltung der jüdischen und arabischen Arbeiter unterstrich die jüdische Sektion der russischen kommunistischen Partei: "Unter Zuhilfenahme des zionistischen Lakaien des Imperialismus zielt die britische Politik darauf ab, einen Teil des jüdischen Proletariats vom Kommunismus wegzuziehen, indem in ihm nationalistische Gefühle und Sympathien für den Zionismus geweckt werden (…) Wir verurteilen auch scharf die Versuche gewisser linkssozialistischer jüdischer Gruppen, den Kommunismus mit dem Festhalten an der zionistischen Ideologie zu verbinden. Wir sehen dies im Programm der so genannten Jüdischen Kommunistischen Partei (Poale Zion). Wir glauben, dass es in den Reihen der Kämpfer für die Rechte und Interessen der Arbeiterklasse keinen Platz für Gruppen gibt, die den nationalistischen Hunger der jüdischen Bourgeoisie auf die eine oder andere Art hinter der Maske des Kommunismus verbergen, indem sie die zionistische Ideologie unterstützen. Sie benutzen kommunistische Parolen, um bürgerlichen Einfluss auf die Arbeiterklasse auszuüben. Wir stellen fest, dass in der gesamten Zeit, in der die jüdische Arbeiterbewegung existierte, die zionistische Ideologie dem jüdischen Proletariat fremd war (…) Wir erklären, dass die jüdischen Massen die einzige Möglichkeit für ihre sozioökonomische und kulturelle Entwicklung nicht in der Erschaffung eines ‚nationalen Zentrums‘ in Palästina sehen, sondern in der Errichtung der Diktatur des Proletariats und der Bildung von sozialistischen Sowjetrepubliken in den Ländern, in denen sie leben." (Kongress von Baku, September 1920, eigene Übersetzung).
Doch während die Spannungen zwischen den jüdischen Siedlern und den palästinensischen Arbeitern und Bauern zunahmen, führte der Niedergang der Kommunistischen Internationale, als sie sich dem russischen Staat unterwarf, zur Spaltung zwischen der zunehmend stalinistischen Kommunistischen Internationalen und der Kommunistischen Linken in der palästinensischen und in anderen Fragen. Während die Kommunistische Internationale die palästinensischen Arbeiter dazu drängte, "ihre eigene" Bourgeoisie gegen den Imperialismus zu unterstützen, verstand die Kommunistische Linke die Auswirkungen der englischen Politik des Teile und Herrsche und die verheerenden Folgen der Komintern-Position, die die Arbeiterklasse in eine Sackgasse führte: "Der englischen Bourgeoisie ist es gelungen, die Klassengegensätze zu verstecken. Die Araber sehen nur gelbe und weisse Rassen und betrachten die Juden als Schützlinge der weissen Rasse" (Proletarier, Mai 1925, Zeitschrift der Kommunistischen Arbeiterpartei Deuschlands, KAPD).
"Für den wahren Revolutionär gibt es natürlich keine ‚Palästinafrage‘, sondern nur den Kampf aller Ausgebeuteten des Nahen Ostens, arabische und jüdische Arbeiter inbegriffen, und dieser Kampf ist Teil des allgemeinen Kampfes aller Ausgebeuteten der ganzen Welt für die kommunistische Revolution" (Bilan, Nr. 31, 1936, Bulletin der italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken).5
(Fortsetzung folgt)
D.
Fußnoten:
1 Der "Lebensraum" war eine Rechtfertigung Hitlers für die Expansion der "arischen Rasse" im Osten, der von slawischen "Untermenschen" besiedelt war.
2 Folgt man der Logik der ethnischen Säuberung, müssten Deutsche und Kelten Europa verlassen und nach Indien und Zentralasien zurückkehren, wo sie einst herkamen; die Lateinamerikaner spanischer Herkunft müssten zur iberischen Halbinsel zurückgeschickt werden. Diese absurde Logik kennt keine Grenzen: Die Südamerikaner müssten alle Südamerikaner europäischer oder anderer Herkunft verjagen, die Nordamerikaner alle afrikanischen Sklaven deportieren, nicht zu reden von sämtlichen europäischen Bevölkerungsgruppen, die im 19. Jahrhundert einwanderten. Wir müssten uns in der Tat fragen, ob nicht die ganze menschliche Spezies zur afrikanischen Wiege zurückkehren sollte, von wo sie einst ihre Emigration begann…?
Seit dem 2. Weltkrieg gab es eine unaufhörliche Folge von Vertreibungen: Drei Millionen Deutsche wurden aus der ehemaligen tschechischen Republik vertrieben; der Balkan war ständiger Schauplatz ethnischer Säuberungen; die Spaltung von Indien und Pakistan 1947 führte zur grössten Vertreibung aller Zeiten, und zwar in beide Richtungen; in den 1990er-Jahren lieferte Ruanda mit den Massakern zwischen Hutus und Tutsis ein besonders blutiges Beispiel: Binnen drei Monate wurden zwischen 300'000 und einer Million Menschen massakriert.
3 d.h. die Kommunistische Internationale.
4 Kemal Atatürk, geboren 1881 in Saloniki, militärischer Held im Ersten Weltkrieg nach seinem Erfolg gegen den alliierten Angriff auf Gallipoli 1915, organisierte 1919 die nationale republikanische türkische Partei und stürzte den letzten osmanischen Sultan. Später spielte er eine wichtige Rolle bei der Gründung der ersten türkischen Republik 1923 nach dem Krieg gegen Griechenland und blieb bis zu seinem Tod 1938 Präsident. Unter seiner Herrschaft zerschlug der türkische Staat die Macht der religiösen Schulen und unternahm ein umfassendes "Europäisierungsprogramm", einschliesslich der Ersetzung der arabischen durch die lateinische Schrift.
5 s. die zwei Arikel aus Bilan 30 und 31, Der Konflikt Juden/Araber: Die Position der Internationalisten in den 30er-Jahren, in: Revue Internationale Nr.31.
Wir veröffentlichen untenstehend Auszüge eines längeren Artikels der Genossen des Nucleo Comunista Internacional (NCI) aus Argentinien, der eine vertiefte Analyse der Piquetero-Bewegung macht, wobei er deren arbeiterfeindlichen Charakter und die Lügen der linken Gruppen aller Schattierungen anprangert, die "sich der Irreführung der Arbeiterklasse durch falsche Erwartungen gewidmet haben, um ihr glauben zu machen, dass die Ziele und Mittel der Piquetero-Bewegung dem Voranschreiten der eigenen Kämpfe dienen könne."
Diese Aufgabe der Irreführung, der Verfälschung von Ereignissen und der Behinderung des Proletariats daran, die wirklichen Lehren aus dieser Bewegung zu ziehen und sich somit gegen die Fallen des Klassenfeindes zu wappnen – eine Aufgabe, zu der die halb-anarchistische Gruppe GCI(1) einen unschätzbaren Beitrag liefert – wird von den Genossen des NCI deutlich entlarvt.
Der bürgerliche Ursprung und Charakter der Piquetero-Bewegung
Allgemein herrscht die Ansicht vor, dass viele Arbeitslosenorganisationen ihren Ursprung in der Armut, der Arbeitslosigkeit und im Hunger haben, die sich im Laufe der letzten fünf oder sechs Jahre in den grossen Slums von Gross-Buenos Aires, Rosario, Cordoba etc. verschlimmert haben. Das ist nicht der Fall. Der Ursprung der Piquetero-Bewegung liegt in den so genannten "Manzaneras", die von der Gattin des damaligen Gouverneurs der Provinz Buenos Aires, Eduardo Duhalde, gelenkt wurden. Diese hatten eine doppelte Funktion: einerseits die soziale und politische Kontrolle sowie die Ermöglichung einer Mobilisierung ausgedehnter Schichten der verzweifelten Armen zur Unterstützung der von Duhalde repräsentierten bürgerlichen Fraktion und andererseits die Kontrolle über die Verteilung von Nahrungsmitteln an Arbeitslose (ein Ei und ein halber Liter Milch täglich), da es zu diesem Zeitpunkt noch keine Arbeitslosenprojekte, Hilfsprogramme usw. gab. Mit dem exponentiellen Wachstum der Arbeitslosigkeit und den damit einhergehenden Protesten verschwanden die Manzaneras jedoch von der Bühne. Es entstand ein Vakuum, das es zu füllen galt. Eine ganze Reihe von Organisationen, vorwiegend dirigiert von der katholischen Kirche, linken politischen Strömungen usw., sprangen in die Lücke. Der Letzte, der auf der Bühne erschien, war die maoistische Revolutionäre Kommunistische Partei mit ihrer Coriente Clasista y Combativa (Klassenkämpferische Strömung); die Trotzkisten des Partido Obrero (PO) hatten ihren eigenen Apparat für die Arbeitslosen errichtet Polo Obrero (Arbeiterpol), gefolgt von anderen Strömungen.
Diese ersten Organisationen erhielten ihre Feuertaufe in Buenos Aires, bei den Massenblockaden der strategischen Route 3, die Buenos Aires mit Patagonien im äussersten Süden des Landes verbindet. Sie forderten mehr Arbeitslosenunterstützung: Gelder, die von den Konsultativräten kontrolliert und verwaltet werden sollten, in denen die Gemeinden, die Piqueteros, die Kirche, oder, um es anders auszudrücken, der bürgerliche Staat vertreten waren.
Die "Arbeitsprojekte" und die verschiedenen Beihilfen erlaubten es somit der Bourgeoisie, mit Hilfe der mannigfaltigen Piquetero-Organisationen, ob sie nun Peronisten, Trotzkisten, Guevaristen, Stalinisten oder Gewerkschafter der CTA(2) waren, soziale und politische Kontrolle über die Arbeitslosen auszuüben. Diese Organisationen begannen, in die von der Arbeitslosigkeit, dem Hunger und der Marginalisierung am stärksten betroffenen Arbeiterquartiere auszuschwärmen. Die Verbreitung dieser Strukturen wurde vor allem mit Geldern des bürgerlichen Staates ausgeführt. Sie verlangten nur zwei Dinge von den Arbeitslosen, damit diese in den Genuss der Beihilfen und Nahrungsmittelpakete (5 kg) kommen: sich hinter den Fahnen der Organisationen zu mobilisieren und an politischen Aktionen teilzunehmen, sofern diese Organisationen eine politische Struktur besassen, sowie für die Vorschläge der Gruppe zu stimmen, der sie "angehörten". All dies geschah unter der Androhung, das Anrecht auf ihre erbärmlichen Beihilfen von 150 Peso (50 Dollars) pro Monat zu streichen.
Jedoch endeten hier die Verpflichtungen der Arbeitslosen gegenüber der Bewegung keineswegs. Sie mussten eine ganze Reihe von weiteren Pflichten gegenüber den Arbeitslosenorganisationen erfüllen, wobei die Erfüllung dieser Verpflichtungen in einem Heft festgehalten wurde: Jene, die durch die Teilnahme an Treffen und Demonstrationen sowie durch die Zustimmung zu den offiziellen Positionen die höchste Punktzahl erzielten, behielten ihre Beihilfen, während jene, die den offiziellen Positionen nicht zustimmten, Punkte verloren oder eventuell das Recht verwirkten, an den Projekten teilzunehmen. Darüber hinaus nehmen diese Organisationen den Arbeitslosen unter dem Vorwand von "Beiträgen" eine fixe Geldsumme ab. Dieses Geld wird zur Bezahlung der Offiziellen dieser Organisationen, zur Bezahlung von Lokalmieten (Versammlungsräume) benutzt, die von den Arbeitslosenorganisationen und den politischen Gruppen, von denen sie abhängen, gebraucht werden. Die Übergabe dieser Beiträge ist obligatorisch: Eigens zu diesem Zweck begleiten so genannte "Schiedsrichter" eines jeden Bezirkslokals der vielfältigen Arbeitslosenorganisationen die Arbeitslosen zur Bank, wo sie sofort nach Erhalt ihrer Unterstützung den Beitrag übergeben müssen.
Vor den Klassen übergreifenden Ereignissen vom 19. und 20. Dezember 2001 wurde die so genannte Piquetero-Versammlung vom trotzkistischen Polo Obrero, von der maoistischen Coriente Clasista y Combativa und von der Federacion de Tierra y Vivienda (Unterkunft und Wohnungswesen) dominiert.
Die Positionen, die von diesen und den folgenden Versammlungen angenommen wurden, demonstrieren klar das Wesen der diversen Piquetero-Gruppen als Apparate im Dienst des bürgerlichen Staates. Auch der Bruch zwischen dem Polo Obrero und den beiden anderen Strömungen, der zur Bildung des Bloque Piquetero führte, hat nichts an diesem Wesen verändert.
Der Partido Obrero sagt, dass das Ziel der Arbeitslosen oder des "Piquetero-Subjekts", wie der Partido Obrero es gerne in ihrer Monatszeitschrift Prensa Obreara nennt, es sei, die Piquetero-Bewegung in eine Bewegung der Massen zu verwandeln, wobei sie unter Letzteren die Massen der Arbeitslosen, der aktiven Arbeiter und aller Mittelschichten, die in die Arbeiterklasse und zu den Besitzlosen geworfen wurden, verstanden. Das bedeutet, dass die Arbeiterklasse sich in eine breite, Klassen übergreifende Front einreihen und nicht auf dem eigenen Terrain, sondern auf einem ihr völlig fremden Feld kämpfen soll. Das zeigt die Richtigkeit der (auch von uns vertretenen) Position der IKS auf, die die Ereignisse vom 19. und 20. Dezember als eine Klassen übergreifende Revolte klassifizierte.
Der Partido Obrero bemäntelt ihre Worte nicht, wie der schamlose Paragraph auf ihrem 13. Kongress beweist, wenn er sagt: "Wer immer die Ernährung der Massen kontrolliert, kontrolliert die Massen…" Mit anderen Worten: Trotz der Deklamationen des Partido Obrero über seine Nahrungsmittelkontrolle als Mittel, die Kontrolle der Bourgeoisie über die Massen zu beenden, zeigt sie dasselbe Verhalten wie die Bourgeoisie, nämlich die Kontrolle über die Arbeitsprojekte, die Kontrolle über die Nahrungsmittelpakte und somit die Kontrolle über die Arbeitslosen. Das ist nicht nur die Haltung des PO, sondern der Gesamtheit der Strömungen und Gruppen in der Piquetero-Bewegung.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Arbeitslosenbewegungen, die die Massenmedien auf nationaler oder internationaler Ebene in Beschlag genommen und die zur Phantasmagorie einer beginnenden "Revolution", der Existenz von "Arbeiterräten" usw. im radikalisierten Kleinbürgertum geführt haben, ein völliger Schwindel sind.
Wenn man wie der PO der Auffassung ist, dass die Piquetero-Bewegung der bedeutendste Ausdruck der Arbeiterbewegung seit dem Cordobazo(3) und den anderen Kämpfen zu jener Zeit sei, dann diskreditiert man die Letzteren, die weder ein Volksaufstand noch in irgendeiner Weise Klassen übergreifend waren, sondern ganz im Gegenteil Arbeiterkämpfe, aus denen Arbeiterkomitees mit verschiedensten Funktionen (Verteidigungskomitees, Solidaritätskomitees usw.) hervorgingen.
Man mag einwenden, dass dies die Position der Führung der Piquetero-Bewegung und ihrer Organisationen sei, dass aber der dynamische Prozess des Piquetero-Phänomens viel wichtiger sei: ihre Kämpfe, ihre Demonstrationen, ihre Initiativen.
Die Antwort darauf ist einfach und dieselbe, die wir in Revolucion Comunista(4) Nr. 2 in unserer Kritik an der Position des IBRP(5) über den "Argentinazo" vom 19. und 20. Dezember gaben: dass es sich bei den Positionen dieser Strömung um idealistisches Wunschdenken handelt. Die Piquetero-Organisationen sind nicht mehr, als was ihre Führer, ihre Chefs sind. Die restlichen Piqueteros, mit ihren maskierten Gesichtern und den brennenden Reifen, sind Gefangene der 150 Peso pro Monat und der fünf Kilo Nahrungsmittel, die ihnen der bürgerliche Staat auf dem Wege dieser Organisationen zugesteht. Und all dies muss, wie wir bereits weiter oben gesagt haben, unter der Androhung des Verlustes der genannten "Beihilfen" getan werden.
Zusammengefasst stellen die Piqueteros absolut keine Entwicklung des Bewusstseins dar, sondern sind ganz im Gegenteil ein Rückschritt im Arbeiterbewusstsein, da diese Organisationen der Arbeiterklasse eine fremde Ideologie einimpfen: Wer immer die Nahrungsmittel verwaltet, verwaltet das Bewusstsein, wie der PO es nennt. Diese bürgerliche Position, diese perverse Logik kann nur zur Niederlage der Arbeiterklasse und der Arbeitslosen führen, denn die Funktion des Linksextremismus ist es, die Arbeiterklasse zu besiegen und ihre Klassenautonomie auszulöschen, gleich, wie "revolutionär" seine Parolen klingen.
Ungenauigkeiten, Halbwahrheiten und Mystifikationen helfen dem Weltproletariat nicht; im Gegenteil, sie verschlimmern die Irrtümer und Beschränktheiten der kommenden Kämpfe. Genau das macht die GCI, wenn sie in ihrer Revue Communisme (Nr. 49, 50 und 51) schreibt: "Das erste Mal in der Geschichte Argentiniens gelang es der revolutionären Gewalt des Proletariats, eine Regierung zu stürzen." Und weiter: "Die Verteilung von enteigneten Waren an das Proletariat und die aus diesen Produkten hergestellten Volksmahlzeiten… Zusammenstösse mit der Polizei und anderen Kräften des Staates, wie die gedungenen peronistischen Strassenbanden, besonders am Tag der Amtseinsetzung des Präsidenten Duhalde…" Die GCI sät mit ihrer Haltung und mit ihren Lügen Verwirrung in der internationalen Arbeiterklasse und hindert sie so daran, die nötigen Lehren aus den Ereignissen in Argentinien 2001 zu ziehen.
Die GCI fährt mit der Verfälschung der Tatsachen fort, wenn sie im Zusammenhang mit dem Aufstieg Duhaldes von einem Kampf der "Bewegung" des Proletariats gegen die peronistischen Strassenbanden spricht. Das ist falsch, dies ist eine Lüge. Bei diesen Zusammenstössen prallten Fraktionen des bürgerlichen Staatsapparates aufeinander, auf der einen Seite der Peronismus und auf der anderen Seite der linksextremistische MST6, der PCA7 und andere, weniger wichtige trotzkistische und guevaristische Gruppen. Die Arbeiterklasse fehlte an diesem Tag.
Einen Augenblick lang könnte man vielleicht annehmen, dass die "Irrtümer" der GCI auf ein Übermass an revolutionärem Enthusiasmus und guten Willen zurück zu führen seien. Wenn man aber den Rest der Zeitschrift liest, kann man sehen, dass dies nicht der Fall ist. Ihre Rolle ist es, Verwirrung zu stiften, was den Interessen der Bourgeoisie dient. Die GCI belügt die internationale Arbeiterklasse und nährt die Mystifikation der Piqueteros, wenn sie sagt: "Die Behauptung des Proletariats in Argentinien wäre ohne die Piquetero-Bewegung nicht möglich gewesen, der Speerspitze der proletarischen Assoziation im letzten Jahrzehnt." Und: "In Argentinien hat die Entwicklung dieser Klassenmacht in den letzten Monaten solch ein Potenzial, dass sich ihr die noch Arbeitenden anschliessen (…) In den letzten Jahren ist ein grosser Kampf durch die Streikposten, die Versammlungen und die koordinierenden Strukturen der Piqueteros koordiniert und artikuliert worden." Es wäre Besorgnis erregend, wenn solche Behauptungen aus dem politisch-proletarischen Milieu kämen, jedoch erstaunt es uns nicht, sie von der GCI zu hören, einer halb-anarchistischen Gruppe, die sich auf die kleinbürgerlichen und rassistischen Positionen Bakunins bezieht. Was uns allerdings beunruhigt, das sind die von ihrer Presse verbreiteten Lügen.
Wie wir bereits oben gesagt haben, ist die Piquetero-Bewegung (abgesehen von Patagonien und Norte de Salta) Erbin der Manzaneras, und die Assoziationstümelei, die von den Streikposten generiert wurde, ist nichts anderes als eine Verpflichtung, die all jenen aufgezwungen wird, die vom "Arbeitsprojekt" oder von Beihilfen nutzniessen, um den Anspruch auf die Krümel nicht zu verlieren, die ihnen der bürgerliche Staat hinwirft. Unter ihnen existiert keine Solidarität, ganz im Gegenteil, hier herrscht das "Jeder für sich selbst und gegen den Anderen", das Trachten nach Beihilfen zum Schaden und auf Kosten des Hungers der Anderen.
Deshalb können wir in keiner Weise die Streikposten als etwas grossartig Bedeutsames für die Arbeiterklasse einordnen, und es ist eine schamlose Lüge, von einer "Koordination" der beschäftigten Arbeiter mit den Piqueteros zu sprechen. Die GCI fährt mit ihrer Verlogenheit fort, wenn sie sagt, dass "das generalisierte Assoziationstum des Proletariats in Argentinien ohne Zweifel die erste Bestätigung für die zunehmenden Autonomie des Proletariats ist (…) die direkte Aktion, eine mächtige Organisation gegen die bürgerliche Legalität, die Aktion ohne die Vermittlung der Vermittlung (…) ein Angriff gegen das Privateigentum (…) dies sind ausserordentliche Bestätigungen der Tendenz des Proletariats, sich zu einer die herrschende Ordnung zerstörenden Kraft zu formieren…" Diese Behauptungen sind zweifelsohne eine klare Demonstration ihrer offenen Absicht, die internationale Arbeiterklasse zu täuschen, um sie daran zu hindern, die notwendigen Lehren zu ziehen. Die GCI erweist der Bourgeoisie und der herrschenden Klasse einen grossen Dienst. Sie kann die Arbeiterklasse nicht beschwindeln, ohne die Bedeutung von Ereignissen, Aktionen und Parolen zu verzerren: Der Schlachtruf "Weg mit ihnen allen" (d.h. die Politiker) ist kein revolutionärer Aufruf, sondern vielmehr ein Aufruf an alle, nach einer "ehrlichen bürgerlichen Regierung" zu suchen.
Man muss sich die Frage stellen, was die GCI eigentlich unter Proletariat versteht. Für diese Gruppe wird das Proletariat nicht durch die Rolle definiert, die es in der kapitalistischen Produktion spielt, d.h. gemäss der Frage, ob es die Produktionsmittel besitzt oder seine Arbeitskraft verkauft. Für die GCI ist das Proletariat eine Kategorie, die neben den Arbeitslosen (die in der Tat Teil der Arbeiterklasse sind) auch das Lumpenproletariat und andere nicht ausbeutende Schichten umfasst, wie wir in ihrer Publikation Comunismo, Nr. 50 sehen können.
Die Position der GCI, das Lumpenproletariat in eine Kategorie mit der Arbeiterklasse zu stecken, bedeutet nichts weniger als den verschleierten Versuch, es als ein neues revolutionäres Subjekt zu präsentieren, um die Arbeitslosen von der Arbeiterklasse zu trennen. Weit entfernt davon, gegen die Linke zu sein, ähneln viele Positionen der GCI jenen des argentinischen Linksextremismus, wie des Partido Obrero, der seinerseits eine Unterkategorie der Arbeiter, die "Piquetero-Arbeiter", kreiert hat. Und wir sehen dies auch, wenn die GCI versucht, ihre Auffassung (die halb anarchistisch und "guerillaistisch" ist und nichts mit Marxismus zu tun hat) über dieses proletarische Subjekt darzulegen, und über die Lumpen sagt, dass sie "die entschlossensten Elemente gegen das Privateigentum" seien, da sie auch die verzweifeltsten Elemente seien.
Angesichts dieser Formulierung stellt sich die Frage: Ist das Lumpenproletariat eine von der Arbeiterklasse abgesonderte gesellschaftliche Schicht? Für die GCI ist dies nicht der Fall, für sie sind die Lumpen der bedrängteste Sektor des Proletariats. Dabei setzt die GCI das Lumpenproletariat mit den Arbeitlosen gleich, was absolut falsch ist. Dies bedeutet absolut nicht, dass die Bourgeoisie nicht versucht, diese abgesonderten Teile von Arbeitern ohne Arbeit durch die Isolation zu demoralisieren, sie zu verlumpen, damit sie ihr Klassenbewusstsein verlieren. Es gibt jedoch einen grossen Unterschied zwischen dem und der Auffassung der GCI, da die Annahme, so rührend sie sein mag, dass das Lumpenproletariat der verzweifeltste Teil der Arbeiterklasse sei und dass diese Verzweiflung dazu führe, "das Privateigentum nicht zu respektieren", falsch ist. Das Lumpenproletariat ist vollständig in der kapitalistischen Gesellschaft des "Nimm, was du kannst und jeder für sich selbst" integriert. Was seine "Respektlosigkeit vor dem Privateigentum" angeht, so ist dies nichts anders als Ausdruck der Verzweiflung dieser Gesellschaftsschicht.
Die unterschwellige Ankündigung der GCI über das Ende des Proletariats ist nichts anderes als ein Echo auf die Ideologien und Theorien, die von der Bourgeoisie in den 1990er-Jahren verbreitet wurden, wenn sie sagt, dass diese zukunftslosen Gesellschaftsschichten Teil des Proletariats seien. Sie leugnet das Wesen der Arbeiterklasse als die einzig revolutionäre Klasse in unserer Epoche und als die einzige Klasse, die die Perspektive des Kommunismus und der Zerstörung des Ausbeutungssystems des Kapitalismus besitzt.
Es ist falsch, die Revolte von 2001 als proletarisch und revolutionär zu charakterisieren. Es ist eine Lüge zu behaupten, die Arbeiterklasse habe das Privateigentum herausgefordert. Die assoziativen Strukturen, auf die sich die GCI bezieht, sind integraler Bestandteil des Staatsapparats, um die Arbeiterklasse zu spalten und aufzulösen, denn wie auch immer die Strukturen der Piqueteros beschaffen sein mögen, sie haben nie über die Zerstörung des Privateigentums nachgedacht noch haben sie eine kommunistische Perspektive aufgestellt.
In Wahrheit wird der ganze Wirbel, den die GCI über die Streikposten und Piquetero-Gruppen veranstaltet, dazu benutzt, die Arbeiterklasse zu spalten und den revolutionären Charakter des Proletariats zu leugnen. Die GCI benutzt eine marxistische Phraseologie, doch ist diese Gruppe nichts anderes als eine Deformation der bürgerlichen Ideologie.
Darüber hinaus hat die GCI einen offenen Angriff gegen die IKS und ihre Position bezüglich der Ereignisse von 2001 lanciert. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Position, die die IKS gegenüber den Ereignissen in Argentinien eingenommen hat, die einzige ist, die im Stande ist, die richtigen Lehren aus diesem Volksaufstand zu ziehen, wohingegen jene des IBRP allein auf dem Fetisch der "neuen Avantgarden" und der "radikalisierten Massen in den peripheren Ländern" basiert. Die GCI hat (wie die Interne Fraktion der IKS) eine nicht-proletarische und anarchistisch-kleinbürgerliche Position angenommen.(...)
Unsere kleine Gruppe hat dieselben Lehren aus der Klassen übergreifenden Revolte in Argentinien gezogen wie die Genossen der IKS. Wir haben uns weder von den Drittwelt-Auffassungen des IBRP noch von der angeblich proletarisch-revolutionären Aktion des Lumpenproletariats, wie sie die GCI vertritt, blenden lassen.
Es ist absurd, die Klassen übergreifende Rebellion in Argentinien mit der Russischen Revolution von 1917 gleichzustellen. Was haben Bezüge auf Kerenski in der Analyse der Erhebung von 2001 zu suchen? Die Antwort lautet: Nichts. (…) Die Analogie in der Antwort der GCI ist offensichtlich. Es geht hier nicht um Irrtümer, überstürzte Analysen oder idealistische Sichtweisen, ganz im Gegenteil, sie ist schlicht und einfach das Produkt ihrer Ideologie, die sie zur materialistischen Dialektik und zum historischen Materialismus auf Abstand hält. Sie macht sich anarchistische Positionen zu Eigen, die eine schwer verdauliche Mischung sind. In ihrer oberflächlichen Terminologie übernimmt sie die kleinbürgerliche Ideologie der verzweifelten und zukunftslosen Mittelschichten.
In diesem Zusammenhang lohnt sich ein Blick auf die Positionen der IFIKS.(8) Obwohl diese Gruppe behauptet, die "wahre IKS" und die "einzige Nachfolgerin des revolutionären Programms der IKS" zu sein, zeigt sie klar, dass sie lediglich eine Nachbeterin der fehlerhaften Analysen des IBRP bezüglich Argentinien ist. Die Antwort dieser Gruppe auf einen von uns publizierten Artikel in Revolucion Comunista gibt eine gute Vorstellung über ihre Positionen.
"… im Gegensatz zu allen anderen kommunistischen Kräften hat die IKS die Wirklichkeit der Arbeiterkämpfe in Argentinien bestritten (…) wir denken, dass die Bewegung in Argentinien eine Bewegung der Arbeiterklasse war (…) Eine schematische Sichtweise geht davon aus, dass das Proletariat der peripheren Länder nichts anderes zu tun habe als zu warten, bis die Arbeiter der zentralen Länder den Weg zur Revolution öffnen. Offensichtlich hat eine solche Sichtweise Auswirkungen und Konsequenzen auf die Orientierungen und selbst auf die militante Haltung gegenüber den Kämpfen. Bereits in den 70er-Jahren zeigte sich in der Presse der IKS dieses unkorrekte, vulgäre, mechanische Unverständnis. Heute denken wir, dass diese Sichtweise mit aller Macht in den gegenwärtigen Positionen der IKS, mit der absoluten und daher idealistischen Vision über den Zerfall, zurückgekehrt ist, was ‚unsere‘ Organisation dazu verleitete, eine indifferente, defätistische und gar denunziatorische Position gegenüber den Kämpfen der argentinischen Arbeiter 2001 und 2002 einzunehmen. (siehe die IKS-Presse zur damaligen Zeit)"(9)
Diese langen Ausführungen aus der Publikation der IFIKS zeigen klar dieselben Irrtümer wie jene des IBRP, hinter dem die IFIKS und auch die GCI auf prinzipienlose Art und Weise hinterher rennen. Sie alle stimmen darin überein, dass der Volksaufstand in Argentinien ein Arbeiterkampf gewesen sei. Nichts könnte falscher sein.
Wahr ist, dass sich die Position der IKS und unserer kleinen Gruppe von denen der anderen kommunistischen Strömungen, insbesondere vom IBRP, unterscheidet. Doch dies ist nicht, wie die IFIKS fälschlicherweise behauptet, eine defätistische Position. Wir sind es leid zu wiederholen, dass es notwendig ist, die Lehren aus den Kämpfen zu ziehen, um keine Fehler zu begehen oder dem Impressionismus anheim zu fallen, wie es offensichtlich diesen Gruppen bezüglich der Piquetero-Erfahrung passiert ist. Wenn man sagt, dass es am 19. Dezember 2001 in Argentinien keinen Arbeiterkampf gegeben hat, heisst dies überhaupt nicht, dass man ein Deserteur des Klassenkampfes ist, wie die IFIKS uns unterstellt. Ihre Auffassung ist typisch für das verzweifelte Kleinbürgertum, das um jeden Preis Arbeiterkämpfe dort sehen will, wo es in der Realität keine gibt.
Die hoch industrialisierten Länder weisen weit günstigere Bedingungen für die revolutionären Arbeiterkämpfe auf als die peripheren Nationen. Die Bedingungen für eine proletarische Revolution, verstanden als Bruch mit der herrschenden Klasse, sind in Ländern, in denen die Bourgeoisie am stärksten ist und die Produktivkräfte einen hohen Entwicklungsstand erreicht haben, weitaus günstiger. (…)
Wie die GCI hat die IFIKS nichts anderes als eine Politik der Verleumdung und Beleidigung der IKS betrieben. Und diese Vorgehensweise hat sie dazu geführt, das Unleugbare zu leugnen und das Inakzeptable zu akzeptieren – an erster Stelle, dass der Kampf 2001 in Argentinien ein Arbeiterkampf gewesen sei – sowie die Mystifikation zu verbreiten, dass die Arbeitslosenbewegung, die "Streikposten" usw. Klassenorgane seien, obwohl die konkrete Praxis des Klassenkampfes das Gegenteil demonstriert.
Die Piquetero-Strömungen, die in ihrer Gesamtheit ca. 200'000 beschäftigungslose Arbeiter kontrollieren, sind streng genommen keine Gewerkschaften, aber sie weisen Eigenschaften von solchen auf: Mitgliederbeiträge, blinder Gehorsam gegenüber jenen, die die "Arbeitsprojekte" verwalten bzw. die Lebensmittel verteilen, und vor allem ihr permanenter Charakter. Es ist vollständig gleichgültig, ob sie von linken Parteien oder von der CTA (wie im Fall der FTV) kontrolliert werden. So haben nach den frühen Kämpfen der Arbeitslosen 1996 und 1997 in Patagonien, wo sich die Arbeitslosen in Komitees, Versammlungen usw. selbst organisierten, die linken Parteien es verstanden, als Organe des Kapitals in die Kämpfe der beschäftigten und arbeitslosen Arbeiter zu infiltrieren und sie zu sterilisieren.
Jedoch könnte man einwenden: "Könnten diese Strömungen nicht durch Aktionen der Basis regeneriert werden? Meint ihr etwa, dass die Arbeitslosen vom Kampf ablassen sollen?" Die Antwort ist ganz einfach: NEIN. Die Piquetero-Organsiationen sind Anhängsel der linken Parteien, ob sie nun "unabhängig" sind oder der verlängerte Arm der Hauptgewerkschaften, wie im Falle der CTA für die FTV und ihren offiziellen Führer D‘Elia. Sie sind untrennbarer Bestandteil des Kapitals, des bürgerlichen Apparates. Ihr Zweck ist die Spaltung und Zersplitterung der Kämpfe, die Sterilisierung der Kämpfe der Arbeitslosen, bis diese in einen integralen Bestandteil der urbanen Landschaft umgewandelt sind, ohne revolutionäre Perspektive und isoliert von ihrer Klasse.
Wir sagen keinesfalls, dass die Arbeitslosen vom Kampf ablassen sollen, im Gegenteil: Sie müssen ihr Engagement verdoppeln. Dennoch ist es notwendig, ständig zu erklären, dass die unbeschäftigten Arbeiter ihre Forderungen und Reformen innerhalb des Systems nicht durchsetzen können. Deshalb müssen die Arbeitslosen Seite an Seite mit den Beschäftigten gegen das System kämpfen. Dafür ist es aber notwendig, dass sie aus ihrer Isolation nicht nur gegenüber den Beschäftigten, sondern auch untereinander heraustreten. Eine Isolation, die die Bourgeoisie geschickt durch die linken Parteien und den Piquetero-Strömungen mit ihren eigenen, separaten Gruppen geschaffen hat und mit der sie Spaltungen unter den Arbeitslosen bewirkt hat, die eine Denkweise fördert, die in dem Nachbarn oder Genossen im Bezirk einen potenziellen Gegner und Feind sieht, der dir deine Beihilfen und Nahrungsmittel nehmen könnte.
Diese Falle muss kaputt gemacht werden. Die Arbeitslosen müssen ihre vom Kapitalismus aufgezwungene Isolation durchbrechen und sich mit der gesamten Klasse vereinen, derer sie ein Teil sind. Dazu ist allerdings eine Änderung der Organisationsform notwendig: nicht mit den Mitteln permanenter Organe, sondern indem man dem Beispiel der Arbeiter in Patagonien 1997 oder in Norte de Salta folgt, als Einheit in der Klasse bestand und die Organisation des Kampfes durch Generalversammlungen mit rückrufbaren Mandaten geschah, auch wenn sie letztendlich unter die Kontrolle der linksextremistischen Parteien gerieten.
Dennoch bleibt die Erfahrung aus diesen Kämpfen gültig, da die Arbeitslosen gegen die elenden Beihilfen, die ihnen gegeben werden, gegen die Preissteigerungen im Öffentlichen Dienst usw. kämpfen müssen, was auf gewisse Weise derselbe Kampf ist wie jener, der von den Beschäftigten für Lohnerhöhungen geführt wird. Sie müssen sich unterstützend am Klassenkampf beteiligen und ihre Kämpfe in einen integralen Bestandteil des allgemeinen Kampfes gegen das Kapital umwandeln.
Die Piquetero-Strömungen haben das Wort "Piquetero" geschaffen, um eine Spaltung nicht nur gegenüber den Beschäftigten, sondern auch gegenüber jenen Arbeitslosen zu vollziehen, die nicht in diesen Organisationen sind. Durch die Schaffung neuer gesellschaftlicher Kategorien und neuer gesellschaftlicher Subjekte wie die "Arbeitslosen-Piqueteros" versuche diese Gruppen von Arbeitslosen, Millionen von beschäftigten und arbeitslosen Arbeiter zu spalten und auszuschliessen, was nur der herrschenden Klasse nützt.
Wie im Falle der Zapatistas waren und sind die Piqueteros Instrumente im Dienste des Kapitals. Ihre "Mode" der Kopfschützer, der in Brand gesteckten Autoreifen mitten auf den Strassen ist nur eine "Vermarktung" durch den Kapitalismus, um der Klasse in ihrer Gesamtheit zwei Dinge zu sagen: Einerseits gibt es Millionen von Arbeitslosen, die bereit sind, die Jobs der Beschäftigten für weniger Geld zu übernehmen und auf diese Weise die Entwicklung des Klassenkampfes zu lähmen, und andererseits zeigt das Programm, das die vielfältigen Piquetero-Gruppen aufstellen – mehr Nahrungsmittelpakete und 150 Pesos im Monat an Beihilfen, echte Arbeit in kapitalistischen Fabriken –, dass ausserhalb des Kapitalismus nichts möglich sei, selbst wenn man von einer Arbeiter- und Volksregierung spricht.
Für die arbeitslosen Arbeiter ist es deshalb notwendig, mit den Fallen der Bourgeoisie und mit den Piquetero-Organisationen zu brechen, indem sie sie fallenlassen, da diese zusammen mit den Gewerkschaften und den linken Parteien Bestandteil des Kapitals sind. Entgegen dem, was der Linksextremismus sagt, sind die Arbeitslosen Arbeiter und nicht "Piqueteros". Solch eine Bezeichnung bedeutet die Spaltung der Arbeitslosen von der Gesamtheit der Arbeiterklasse und ihre Transformation in eine Kaste; dies ist der Inhalt der Positionen der Linken des Kapitals.
Die Arbeiter und die Arbeitslosen müssen zur Klasseneinheit streben, da beide Sektoren derselben Gesellschaftsklasse angehören: der Arbeiterklasse. Es gibt keine Lösung innerhalb dieses Systems, da es bankrott ist. Einzig die proletarische Revolution kann dieses System zerstören, das nur Armut, Hunger, Marginalisierung bringt. Dies ist die Herausforderung.
Buenos Aires, 16. Juni 2004
Fußnoten:
1 Groupe Communiste Internationale.
2 Central de los Trabajadores Argentinos, die ihre eigene Gewerkschaft für die Arbeitslosen unter dem Namen Federación de Tierra y Vivienda aufgestellt hat.
3 Arbeiteraufstand in der Industriestadt Cordoba, Argentinien, 1969.
4 die Zeitschrift des NCI.
5 Internationales Büro für die Revolutionäre Partei, s. https://www.ibrp.org [3]
6 Movimiento Socialista de los Trabajadores, die unter dem Namen Izquierda Unida im Parlament sitzt.
7 Partido Comunista de la Argentina (argentinische Stalinisten).
8 die selbsternannte „Interne Fraktion der IKS“; siehe https://www.internationalism.org/links.html [4]
9 IFIKS-Bulletin, Nr. 22, 23. Dezember 2003; unsere Übersetzung.
In seinem Kampf gegen den „Fatalismus“, der angeblich der marxistischen Idee der Dekadenz innewohnt, enthüllt Battaglia seine eigene Sicht des historischen Materialismus: „Der widersprüchliche Aspekt der kapitalistischen Produktion, die Krisen, die daraus herrühren, die Wiederholung des Akkumulationsprozesses, der zeitweise unterbrochen wird, der aber frisches Blut aus der Zerstörung des Übermasses an Kapital und Produktionsmitteln erhält, führt nicht automatisch zu seiner Zerstörung. Entweder interveniert der subjektive Faktor, der im Klassenkampf seinen materiellen Angelpunkt und in der Krise seine ökonomisch bestimmende Voraussetzung hat, oder das Wirtschaftssystem reproduziert sich selbst, indem es all seine Widersprüche einmal mehr und auf einer höheren Stufe aufwirft, ohne auf diese Weise die Bedingungen für seine Selbstzerstörung zu schaffen.“ Für Battaglia fährt der Kapitalismus, solange er nicht vom Klassenkampf zerstört worden ist, also fort, „frisches Blut aus der Zerstörung des Übermasses an Kapital und Produktionsmittel“ zu beziehen, womit sich „das Wirtschaftssystem selbst reproduziert, indem es all seine Widersprüche einmal mehr und auf einer höheren Stufe aufwirft“. Hier befindet sich Battaglia im krassen Gegensatz zur Ansicht von Marx über die Dekadenz einer Produktionsweise, insbesondere des Kapitalismus: „Über einen gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke für das Kapital; also das Kapitalverhältnis eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit.“14
In seinem zweiten Entwurf des Briefes an Vera Sassulitsch (MEW 19, S. 398) zog Marx in Betracht, dass „...das kapitalistische Systems im Westen im Verblühen ist, und nur noch eine ‚archaische‘ Formation sein wird,“ und im Kapital teilt er uns mit, dass der Kapitalismus „altersschwach wird und sich mehr und mehr überlebt. (siehe oben Fsn 5). Die Begriffe, die Marx benutzt, um die Dekadenz des Kapitalismus zu beschreiben, sind unzweideutig: „altersschwach“, „im Verblühen“, „eine Schranke für die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit“ etc. Und dennoch meint Battaglia sagen zu können, dass „die Dekadenz (…) bedeutungslos ist, wenn wir die Überlebensfähigkeit einer Produktionsweise in Betracht ziehen“ (Internationalist Communist, Nr. 21)
Mit diesen wenigen Erinnerungen an die marxistische Definition der Dekadenz wird der Leser allein den Unterschied zwischen der von Marx entwickelten historischen und materialistischen Sicht der Dekadenz des Kapitalismus und Battaglias eigener Sichtweise beurteilen können, wonach der Kapitalismus, auch wenn er sicherlich Krisen und wachsende Widersprüche durchläuft,15 sich kontinuierlich erneuert (es sei denn, der Klassenkampf interveniert), „frisches Blut“ erhält und „sich selbst reproduziert, indem er all seine Widersprüche einmal mehr und auf einer höheren Stufe aufwirft“. Es trifft zu, dass Battaglia vorgibt, keine Kenntnis davon zu haben, dass Marx über die Dekadenz schrieb – „bis hin zu der Tatsache, dass das Wort selbst nirgendwo in den drei Bänden, die das Kapital bilden, auftaucht“ (Internationalist Communist, Nr. 21, S. 23) – und dass Marx die Idee der Dekadenz nur ein einziges Mal in seinem gesamten Werk erwähnte: „Marx beschränkte sich selbst darauf, den Kapitalismus lediglich in jener historischen Phase als fortschrittlich zu definieren, als er die Wirtschaftswelt des Feudalismus eliminierte und sich selbst als mächtiges Entwicklungsmittel der Produktionsmittel vorstellte, die von der vorherigen Wirtschaftsform gehemmt worden waren, doch ging er niemals weiter in der Definition des Kapitalismus, ausgenommen in der berühmten Einleitung zu ‚Ein Beitrag zur Kritik der politischen Ökonomie‘“16. Nach unserer Auffassung würde Battaglia, statt hochtrabende Exkommunikationen gegen die Begriffe der Dekadenz und des Zerfalls zu verkünden, die dem Marxismus fremd seien, besser daran tun zu berücksichtigen, was Marx über Weitling feststellen musste: „Ignoranz ist kein Argument.“ Dann sollten die Genossen von Battaglia zu ihren Klassikern zurückgehen, insbesondere zum Kapital, das sie offensichtlich als ihre Bibel betrachten.17 Was uns anbelangt, so verweisen wir den Leser auf die Beschreibung des Marx'schen Konzeptes der Dekadenz in der Internationalen Revue Nr. 34.
Der Prozess der Dekadenz, wie ihn Marx definiert hat, geht weit über eine blosse „kohärente ökonomische Erklärung“ hinaus: Er korrespondiert an erster Stelle mit der historischen Alterung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (Lohnarbeit, Leibeigenschaft, Sklaventum, Stammesgesellschaft etc.) auf der Grundlage verschiedener Produktionsweisen (Kapitalismus, Feudalismus, Sklavenhaltergesellschaften, die asiatische Produktionsweise etc.). Der Eintritt in eine Periode der Dekadenz bedeutet, dass sich die eigentlichen Fundamente einer Produktionsweise in der Krise befinden. Das Sekret, die versteckte Gründung einer neuen Produktionsweise, ist „Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird. (...) Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens…“ und dies „.das innerste Geheimnis, die verborgne Grundlage der ganzen gesellschaftlichen Konstruktion“ 18 Marx hätte nicht ausdrücklicher sein können. „Hiermit war aber nachgewiesen, dass die Reichtumserwerbung der heutigen Kapitalisten ebensogut in der Aneignung von fremder, unbezahlter Arbeit besteht, wie die der Sklavenbesitzer oder der die Fronarbeit ausbeutenden Feudalherren, und dass sich alle diese Formen der Ausbeutung nur unterscheiden durch die verschiedene Art und Weise, in der die unbezahlte Arbeit angeeignet wird.“19 Die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse sind also mehr als blosse „ökonomische Mechanismen“: Sie sind vor allem gesellschaftliche Verhältnisse zwischen Klassen, da sie den verschiedenen Formen, die die Auspressung von Mehrwert annimmt (Lohnarbeit, Sklaverei, Leibeigentum, Zins etc.), erst die materielle Form verleiht. Wenn eine Produktionsweise in die Dekadenz eintritt, bedeutet dies, dass sich diese spezifischen Verhältnisse zwischen den Klassen in der Krise befinden, dass sie historisch ungeeignet sind. Dies ist der eigentliche Kern des historischen Materialismus in einer Welt, die Battaglia, besessen von seiner „kohärenten ökonomischen Erklärung“, völlig unerschlossen bleibt.
Wie Battaglia sagt: „Auch die Evolutionstheorie ist nicht gültig, der zu Folge der Kapitalismus historisch durch eine progressive Phase und eine dekadente Phase gekennzeichnet ist, falls keine kohärente ökonomische Erklärung gegeben wird (...) Die Untersuchung der Dekadenz unterscheidet entweder diese Mechanismen, die die Verlangsamung des Verwertungsprozesses des Kapitals regulieren, von all den Konsequenzen, die diese mit sich bringen, oder bleibt in einer falschen Perspektive gefangen, die aufgeblasene Prophezeiungen macht (…) Doch das Auflisten dieser ökonomischen und gesellschaftlichen Phänomene, sofern sie identifiziert und beschrieben worden sind, kann für sich genommen nicht als eine Demonstration der dekadenten Phase des Kapitalismus betrachtet werden. Sie sind lediglich Symptome, und die vorrangige Ursache, die sie zum Leben verhilft, muss im Gesetz der Profitkrise gesucht werden.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32) Einerseits wird hier die Folgerung geäussert, dass heute keine kohärente ökonomische Erklärung der Dekadenz existiert, andererseits verfügt Battaglia vorbeugend, dass jene Phänomene, die klassischerweise dafür benutzt worden waren, um die Dekadenz einer Produktionsweise zu charakterisieren, irrelevant sind.
Bevor wir uns mit einer spezifisch ökonomischen Erklärung befassen, sollten wir darauf hinweisen, dass der Begriff der Dekadenz bedeutet, dass die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zu eng geworden sind, um die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu gewähren, und dass die Kollision zwischen den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und den Produktivkräften jeden Aspekt der Gesellschaft betrifft. Die marxistische Analyse der Dekadenz bezieht sich nicht auf eine quantitative ökonomische Ebene ausserhalb der gesellschaftlichen und politischen Mechanismen einer gegebenen Gesellschaftsform. Im Gegenteil, sie bezieht sich auf die qualitative Ebene jenes Verhältnisses, das die Produktionsverhältnisse an die Entwicklung der Produktivkräfte bindet: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“20 Die Ära der Dekadenz der alten Gesellschaft wird nicht mit einer Blockade der Entwicklung der Produktivkräfte eröffnet, sondern mit einem endgültigen und unumkehrbaren „Konflikt“. Marx ist sehr genau bei diesem Kriterium: „Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um.“ Um genau zu sein, heisst dies, dass eine Gesellschaft niemals ihr Leben aushaucht, bevor die Weiterentwicklung der Produktivkräfte definitiv von den herrschenden Produktionsverhältnissen gehemmt wird. Die Dekadenz kann als eine Reihe von Funktionsstörungen definiert werden, deren Auswirkungen sich von dem Moment an häufen, wenn das System seine Entwicklungskapazitäten ausgeschöpft hat. Vom marxistischen Standpunkt aus wird die Periode der Dekadenz einer Gesellschaft nicht durch einen völligen und permanenten Stopp im Wachstum der Produktivkräfte charakterisiert, sondern durch quantitative und qualitative Umbrüche, die von diesem konstanten Konflikt zwischen obsoleten Produktionsverhältnissen und der Weiterentwicklung der Produktivkräfte verursacht werden.
Wann immer Marx versuchte, die Kriterien für den Eintritt des Kapitalismus in seine dekadente Periode festzulegen, gab er niemals irgendeine präzise ökonomische Erklärung, sondern höchstens dieses oder jenes allgemeine Kriterium in Zusammenhang mit seiner Krisenanalyse (s. unseren Artikel in der letzten Ausgabe von Internationale Revue). Es wird möglicherweise Battaglia nicht erfreuen, aber Marx benötigte keine nationalen Statistiken oder die ökonomische Wiedergenesung der Profitabilität, die Battaglia benutzt,21 um sich für die Reife des Kapitalismus oder für seine Alterung auszusprechen. Dasselbe trifft auf die anderen Produktionsweisen zu; Marx und Engels machten wenig Gebrauch von den präzisen ökonomischen Mechanismen, um den Eintritt in die Dekadenz zu erklären. Sie charakterisierten diese historischen Wendepunkte auf der Grundlage eindeutig qualitativer Kriterien: das Auftauchen eines allgegenwärtigen Prozesses der Behinderung der Entwicklung der Produktivkräfte, eine qualitative Entwicklung von Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen der herrschenden Klasse und den ausgebeuteten Klassen, die Überzogenheit des Staatsapparates, die Geburt einer neuen revolutionären Klasse, die in sich die neuen gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse trägt und eine Übergangsperiode herbeiführt, die Vorbote revolutionärer Erschütterungen ist, etc. (s. unseren Artikel in der letzten Ausgabe).
Dies war auch die Methode, die von der Kommunistischen Internationalen angenommen wurde, die nicht wartete, bis alle Komponenten einer „kohärenten ökonomischen Erklärung“ entdeckt waren, um im Ausbruch des I. Weltkrieges die Eröffnung der Periode der kapitalistischen Dekadenz zu identifizieren.22 Der Krieg und eine ganze Reihe anderer qualitativer Kriterien auf anderen Ebenen (gesellschaftlich, ökonomisch und politisch) brachte die KI zur Erkenntnis, dass der Kapitalismus seine historische Mission vollendet hatte. Die gesamte kommunistische Bewegung stimmte dieser Diagnose zu, auch wenn es wichtige Unstimmigkeiten gab, wie jene über ihre wirtschaftlichen Ursachen und die politischen Auswirkungen. Die ökonomischen Erklärungen variierten zwischen jener, die von Rosa Luxemburg auf der Basis der Sättigung des Weltmarkts vertreten wurde,23 und Lenins Erklärung auf der Grundlage seiner Argumente, die er in “Der Imperialismus – das höchste Stadium des Kapitalismus” entwickelt hatte.24
Und dennoch waren alle, auch Lenin, davon überzeugt, dass die „Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie“ zu Ende war und dass die Welt in die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie” eingetreten war.25 In der Tat hatten die Differenzen etwas mit der Analyse der ökonomischen Ursachen der Dekadenz zu tun, vertrat doch Lenin, obwohl tief überzeugt von der Tatsache, dass die kapitalistische Produktionsweise in die Dekadenz eingetreten war, dennoch den Gedanken, dass der Kapitalismus “im grossen und ganzen (...) bedeutend schneller als früher” wächst.26 Trotzki hingegen, der auf derselben theoretischen Grundlage wie Lenin arbeitete, kam kurz darauf zu der Schlussfolgerung, dass die Entwicklung der Produktivkräfte zum Stillstand gekommen ist, während die Italienische Linke behauptete: „Der Krieg von 1914–18 markierte den äussersten Punkt in der Expansionsphase des kapitalistischen Regimes (…) In der letzten Phase des Kapitalismus, in jener seines Niedergangs, wird die historische Entwicklung grundsätzlich durch den Klassenkampf geregelt“ (Manifest des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, in: Octobre, Nr. 3, April 1938)
Es mag unlogisch erscheinen, die Dekadenz einer Produktionsweise auf der Grundlage ihrer Ausdrücke zu identifizieren, und nicht auf der Grundlage einer Untersuchung ihrer ökonomischen Fundamente, wie Battaglia dies gern möchte, da Erstere „in letzter Instanz“ nichts anderes als das Produkt Letzterer sind. Dies ist jedoch die Art und Weise, wie Revolutionäre – einschliesslich Marx und Engels – in der Vergangenheit gearbeitet haben, nicht weil es im Allgemeinen einfacher ist, die Überbau-Strukturen in einer Dekadenzphase zu erkennen, sondern weil hier die ersten Ausdrücke zuerst historisch in Erscheinung treten. Ehe sie auf der quantitativen ökonomischen Ebene als Hemmnis der Weiterentwicklung der Produktivkräfte auftrat, erschien die Dekadenz des Kapitalismus vor allem als ein qualitatives Phänomen auf der sozialen, politischen und ideologischen Ebene durch die Verschlimmerung der Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse, die zum I. Weltkrieg führten, durch den Verrat der Sozialdemokratie und das Überlaufen der Gewerkschaften zum kapitalistischen Lager, durch den Ausbruch eines Proletariats, fähig zum Sturz des bürgerlichen Rechts und zur Etablierung der ersten Massnahmen zur Kontrolle durch die Arbeiterklasse. Auf der Grundlage dieser Charakteristiken identifizierten die Revolutionäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz.27 .
Auch wartete Marx nicht auf die „kohärenten ökonomischen Erklärungen“, die im Kapital enthalten sind, um im Kommunistischen Manifest das Urteil über die historisch veraltete Natur des Kapitalismus zu fällen: „Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehen, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums. Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.“ (Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 468)
Battaglia weigert sich also, die Dekadenz einer Produktionsweise entsprechend der Methode zu definieren, die von unseren Vorgängern, angefangen bei Marx und Engels, angewandt wurden. Offensichtlich unter dem Eindruck, marxistischer als Marx zu sein, denken die Genossen, sie könnten sich als Materialisten profilieren, indem sie pausenlos wiederholen, dass das Konzept der Dekadenz ökonomisch definiert werden müsse, wenn es nicht für null und nichtig erklärt werden soll. Indem es so verfährt, demonstriert Battaglia, dass sein Materialismus von vulgärster Art ist, wie ihnen Engels mitgeteilt hätte, der sich in seinem Brief an J. Bloch sehr ungehalten darüber äusserte: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichts sagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schliesslich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, dass wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades. Dass von den jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Es ist aber leider nur zu häufig, dass man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig.“28 Ob es darum geht, die Dekadenz zu definieren, die Ursachen der Kriege zu erklären, das Gleichgewicht der Kräfte oder die gegenwärtige Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft zu analysieren, stets ist der Vulgärmaterialismus die Handelsmarke von Battaglia.29 Und nebenbei sei bemerkt, dass Battaglias Ausflucht in eine „kohärente ökonomische Erklärung“ der Dekadenz des Kapitalismus kaum all jenen Revolutionären gerecht wird, die bereits eine solche Erklärung angeboten haben, von Rosa Luxemburg über die italienische Fraktion30 bis hin zur IKS und gar zur CWO, deren erste Broschüre den Titel trägt „Die ökonomischen Fundamente der Dekadenz“! Es ist charakteristisch für den Marxismus, dass er von den früheren theoretischen Errungenschaften der Arbeiterbewegung ausgeht, um sie zu vertiefen oder zu kritisieren und Alternativen vorzuschlagen… Doch die marxistische Methode gehört nicht zu den Stärken von Battaglia: In der Annahme, dass die revolutionäre Kohärenz erst mit ihnen beginnt, ziehen es die Genossen vor, ganz von vorn anzufangen.
Nachdem es Zweifel über den Wert des (angeblich „fatalistischen“) Konzepts der Dekadenz gesät hat, nachdem es voller Entschiedenheit erklärt hat, dass es keine kohärente ökonomische Erklärung der Dekadenz gibt und dass ohne diese ohne sie wertlos ist, und nach der Umdefinierung der marxistischen Methode geht Battaglia dazu über, die Hauptausdrücke der Dekadenz zu leugnen: „…. es ist absolut unzureichend, sich auf die Tatsache zu beziehen, dass in der dekadenten Phase die Wirtschaftskrise und Kriege ähnlich wie die Angriffe gegen die Arbeitskraft weltweit in einem beständigen und verheerenden Rhythmus auftreten. Auch in der progressiven Phase (…) traten punktuell Krisen und Kriege auf, genauso wie Angriffe gegen die Bedingungen der Arbeitskraft. Ein ausdrückliches Beispiel hierfür sind die Kriege zwischen den grossen Kolonialmächten Ende des 18. Jahrhunderts und während des gesamten 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Diesem Beispiel könnten noch weitere hinzugefügt werden, indem man die sozialen Angriffe und die häufigen militärischen Attacken gegen Klassenrevolten und Aufstände auflistet, die ebenfalls in dieser Periode stattfanden.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32) Mit anderen Worten: alle Kriege und Krisen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bedeuten nichts – sie haben stets existiert!
Mit unglaublicher Sorglosigkeit sowohl gegenüber dem Marxismus als auch gegenüber der schlichten historischen Realität wirft Battaglia mir-nichts-dir-nichts alle theoretischen Errungenschaften der vergangenen Arbeiterbewegung über Bord. Was sagt uns Battaglia? Dass Kriege und Krisen immer existiert haben – was so selbstverständlich wie banal ist. Doch welch Verwirrung stiftet Battaglia damit? Dass es folglich keinen qualitativen Bruch in der Geschichte des Kapitalismus gebe – und das ist schlichtweg blind!
Wenn Battaglia jeglichen qualitativen Bruch in der Entwicklung einer Produktionsweise leugnet, dann lehnt es die Analyse von Marx und Engels ab, die die Existent einer jeden Produktionsweise in zwei qualitativ unterschiedliche Phasen aufteilten. Für jeden, der des Lesens kundig ist, demonstriert die von Marx und Engels benutzte Sprache ohne die leiseste Zweideutigkeit, dass es zwei gesonderte historische Perioden innerhalb einer Produktionsweise gibt: „Über eine gewissen Punkt hinaus wird die Entwicklung…“, Auf einem gewissen Punkt angelangt…“, „kapitalistische System im Westen im Verblühen ist“ etc. Im ersten Artikel dieser Reihe haben wir ebenfalls gesehen, dass Marx und Engels in jeder Produktionsweise, die sie definierten (Urkommunismus, die asiatische Produktionsweise, Sklaverei, Feudalismus und Kapitalismus), eine Phase der Dekadenz ausfindig machten und dass sie diese Phase als qualitativ unterschiedlich zu der ihr vorausgehenden Phase anerkannten. In einem Artikel über die feudale Produktionsweise mit dem Titel „Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie“ (Friedrich Engels: Über den Verfall des Feudalismus und das Aufkommen der Bourgeoisie, MEW Bd. 21, S. 392) demonstrierte Engels die Macht des historischen Materialismus, indem er die feudale Dekadenz durch ihre wesentlichen Ausdrücke definierte: stagnierende Produktivkräfte, ein aufgeblähter (monarchischer) Staat, die qualitative Zuspitzung von Konflikten innerhalb der herrschenden Klasse und zwischen der herrschenden Klasse und den ausgebeuteten Klassen, das Herauskristallisieren eines Übergangs zwischen den alten und neuen Produktionsverhältnissen etc. Dasselbe trifft auf Marx' Definition der kapitalistischen Dekadenz zu, das heisst, in einer Periode, „…die wachsende Unangemessenheit der produktiven Entwicklung der Gesellschaft zu ihre bisherigen Produktionsverhältnissen…“,31 und er betrachtet diese Konflikte, Krisen und Erschütterungen als qualitativ verschieden gegenüber der vorausgehenden Periode, da er solche Begriffe wie „…an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet,“, „altersschwach“, etc. benutzt.
Es ist nur ein Minimum an historischen Kenntnissen notwendig, um die Absurdität von Battaglias Behauptung zu begreifen, dass es keinen qualitativen Bruch zwischen dem Aufstieg und der Dekadenz gebe, der seinen Ausdruck in den Krisen, Kriegen und sozialen Kämpfen findet.
1. Während der Aufstiegsphase des Kapitalismus nahmen seine Wirtschaftskrisen sicherlich sowohl in der Tiefe als auch im Ausmass zu. Doch man muss schon Battaglias Nerven (oder Ignoranz) besitzen, um zu glauben, dass die enorme Krise in den 1930er-Jahren als blosse Fortsetzung der Krisen im 19. Jahrhundert betrachtet werden kann! Beginnen wir damit, dass Battaglia ganz einfach vergisst, wie die Revolutionäre zu jener Zeit die relative Verminderung der Krisen in den letzten 20 Jahren (1894 – 1914) der kapitalistischen Aufstiegsperiode (die das Wachstum des Reformismus begünstigte) konstatierte die Kommunistische Internationale stellte fest: „Die den zwei Dezennien vor dem Krieg waren eine Epoche einer besonders mächtigen Entwicklung. Die Perioden des Aufschwungs zeichneten sich durc lange Dauer und hohe Intensität, die Perioden der Depression durch ihre kurze Dauer aus.“32 Dies passt kaum mit Battaglias „Theorie“ der ständigen Verschlimmerung der Wirtschaftskrisen zusammen. Darüber hinaus benötigt man schon eine gehörige Portion Chuzpe, um zu übersehen, dass die Krise der 1930er-Jahre alle Proportionen der Krisen des 19. Jahrhunderts sprengt, sowohl hinsichtlich ihrer Dauer (knappe zehn Jahre), ihrer Tiefe (Halbierung der Industrieproduktion) als auch hinsichtlich ihres Ausmasses (internationaler denn je). Noch schlimmer: Während die Krisen des kapitalistischen Aufstiegs durch die Steigerung der Produktion und eine Ausweitung des Weltmarktes gelöst wurden, wurde die Krise in den 1930er-Jahren nie überwunden und endete im II. Weltkrieg. Battaglia verwechselt hier die Herzschläge eines wachsenden Organismus mit dem Todesröcheln desselben in seinen letzten Zügen. Was die gegenwärtige Krise anbelangt, so dauert sie nun bereits 30 Jahre, und das Schlimmste kommt noch.
2. Was die sozialen Konflikte betrifft, so trifft es sicherlich zu, dass die gesamte Aufstiegsperiode wachsende Spannungen zwischen den Klassen erlebte, die in allgemeinen politischen Streiks (für das allgemeine Wahlrecht und den 8-Stunden-Tag) und im Massenstreik in Russland 1905 ihren Höhepunkt fanden. Doch man wäre mit Blindheit geschlagen, würde man übersehen, dass die revolutionären Bewegungen zwischen 1917–23 aus ganz anderem Holz geschnitzt waren. Es waren keine lokalen oder nationalen Bewegungen oder gar Aufstände, sondern eine sechsjährige internationale Welle, deren Dauer alle Bewegungen des 19. Jahrhunderts in den Schatten stellte. Es gibt auch einen qualitativen Unterschied: Diese Bewegungen waren zumeist nicht ökonomisch, sondern direkt revolutionär und stellten keine Forderungen nach Reformen, sondern nach der Machtergreifung auf.
3. Was schliesslich den Krieg anbetrifft, so ist der Gegensatz noch frappierender. Während des 19. Jahrhunderts bestand die Funktion des Krieges darin, die Einheit jeder kapitalistischen Nation (nationale Unabhängigkeitskriege) und/oder die für ihre Entwicklung notwendige territoriale Expansion (Kolonialkriege) sicherzustellen. In diesem Sinne war der Krieg trotz der Katastrophen, die er mit sich brachte, ein Moment in der Weiterentwicklung des Kapitalismus; seine Kosten waren einfach eine notwendige Ausgabe für die Erweiterung des Marktes und somit der Produktion. Daher betrachtete Marx bestimmte Kriege als fortschrittlich. Die Kriege jener Periode waren im Allgemeinen :
a) begrenzt auf zwei oder drei benachbart
Länder;
b) von geringer Dauer;
c) ohne grössere Schäden;
d) ein Kampf zwischen stehenden Armeen, die nur einen kleinen Teil der Wirtschaft oder der Bevölkerung mobilisierten;
e) ausgeführt wegen der rationalen Aussicht auf ökonomischem Gewinn;
Sowohl für Sieger als auch für Besiegte bedeuteten sie eine neue wirtschaftliche Expansion. Der deutsch-französische Krieg 1870 ist ein typisches Beispiel hierfür: Er war ein entscheidender Schritt zur Bildung der deutschen Nation; mit anderen Worten, er legte die Fundamente für eine gewaltige Expansion der Produktivkräfte und für die Schaffung des grössten Sektors des europäischen Industrieproletariats. Ferner dauerte dieser Krieg weniger als ein Jahr und verursachte relativ wenig Opfer. Auch bildete er kein ernstes Handicap für das besiegte Land. Während der Aufstiegsperiode waren Kriege im Wesentlichen das Produkt eines expandierenden Systems:
a) 1790–1815: Kriege der Französischen Revolution und des napoleonischen Reiches (die zum Sturz der Feudalmächte in ganz Europa beitrugen);
b) 1850–1873: der Krimkrieg, der amerikanische Bürgerkrieg, Kriege der nationalen Einheit (Deutschland, Italien), mexikanischer und deutsch-französischer Krieg;
c) 1895–1913: spanisch-amerikanischer, russisch-japanischer und Balkankrieg.
Bis 1914 gab es ein Jahrhundert lang keinen richtig grossen Krieg. Die meisten Kriege zwischen den Grossmächten blieben verhältnismässig kurz, dauerten allenfalls Monate oder gar nur Wochen (der Krieg zwischen Preussen und Österreich 1866). Zwischen 1871 und 1914 wurde kein europäisches Land Opfer einer Invasion. Es hat keinen Weltkrieg gegeben. Zwischen 1815 und 1914 wurde kein Krieg zwischen den Grossmächten ausserhalb ihrer Nachbarregionen geführt. All dies änderte sich 1914, als ein Zeitalter des Abschlachtens eingeläutet wurde. 33
In der Dekadenzperiode sind die Kriege das Produkt eines Systems, dessen Dynamik nur in eine Sackgasse führen kann. In einer Periode, in der es nicht mehr um die Schaffung wirklich unabhängiger Nationalstaaten geht, sind alle Kriege imperialistisch. Die Kriege zwischen den Grossmächten a) neigen dazu, Weltkriege zu werden, weil ihre Wurzeln in der Schrumpfung des Weltmarktes im Verhältnis zu den Erfordernissen der Kapitalakkumulation liegen; b) dauern weitaus länger an; c) sind immens zerstörerisch; d) mobilisieren die gesamte Weltwirtschaft und die gesamte Bevölkerung der Krieg führenden Länder; e) haben vom Standpunkt des globalen Kapitals jede fortschrittliche wirtschaftliche Funktion verloren und sind völlig irrational geworden. Sie sind nicht mehr Elemente in der Entwicklung der Produktivkräfte, sondern Mittel zu ihrer Zerstörung. Sie sind nicht mehr Momente in der Expansion der Produktionsweise, sondern Zuckungen eines sterbenden Systems. In der Vergangenheit endeten Kriege mit einem klaren Gewinner, und der Ausgang des Krieges beeinflusste nicht die künftige Entwicklung der Protagonisten, wohingegen in den beiden Weltkriegen sowohl Sieger als auch Besiegte vom Krieg ausgezehrt wurden, zugunsten eines dritten Gangsters, den Vereinigten Staaten. Die Sieger waren nicht im Stande, die Besiegten zu zwingen, Kriegsreparationen zu zahlen (im Gegensatz zum riesigen Lösegeld in Gold, das nach 1870 von Frankreich an Preussen gezahlt wurde). Dies zeigt, wie in der Dekadenzperiode die Expansion der einen Macht nur zum Ruin Anderer führen kann. Früher garantierte die Militärmacht die Eroberungen ökonomischer Positionen. Heute steht die Wirtschaft in wachsendem Masse zu Diensten der Militärstrategie. Die Teilung der Welt in rivalisierende Imperialisten und die daraus resultierenden militärischen Konflikte zwischen ihnen sind zu permanenten Aspekten in der Existenz des Kapitalismus geworden. Dies war das Ergebnis der Analyse unserer Vorgänger, der Italienischen Linken: „Seit der Eröffnung der imperialistischen Phase des Kapitalismus zu Beginn des Jahrhunderts schwankt die Evolution zwischen dem imperialistischen Krieg und der proletarischen Revolution. In der Epoche des kapitalistischen Wachstums öffneten Kriege den Weg zur Ausweitung der Produktivkräfte durch die Zerstörung überholter Produktionsverhältnisse. In der Dekadenzphase haben Kriege keine andere Funktion als die Vernichtung des überschüssigen Reichtums…“ (Resolution über die Bildung des Internationalen Büros der Fraktionen der Kommunistischen Linken, in: Octobre,
Nr. 1, Februar 1938, S. 5) Battaglia lehnt heute diese Analyse ab und behauptet dennoch, Erbe der Italienischen Linken zu sein.
All dies ist in den Analysen der Revolutionäre des letzten Jahrhunderts enthalten,34 und Battaglia amüsiert sich lediglich darüber, indem es versucht, unsere Vorgänger mit der sarkastischen Frage zu ignorieren: „Und wann, folgt man dieser Art, die Frage zu stellen, trat der Übergang von der progressiven zur dekadenten Phase auf? Am Ende des 19. Jahrhunderts? Nach dem Ersten Weltkrieg? Nach dem zweiten?“. Battaglia weiss – oder sollte es wissen – sehr gut, dass für die gesamte kommunistische Bewegung, einschliesslich der Mitgefährten des IBRP, die Communist Workers Organisation, der I. Weltkrieg den Eintritt des Kapitalismus in die Dekadenz bedeutete: „Zurzeit der Bildung der Komintern 1919 wurde es offensichtlich, dass die Epoche der Revolution erreicht war, und ihre Gründungskonferenz erklärte dies.“35
In diesem Artikel haben wir versucht aufzuzeigen, dass es nichts Fatalistisches an der marxistischen Sichtweise der kapitalistischen Dekadenz gibt und dass die Geschichte des Kapitalismus nicht ein endloser Kreis von Wiederholungen ist. Im nächsten Artikel werden wir unsere Kritik an Battaglia fortsetzen und vor allem auf all die Folgen hinweisen, die eintreten, wenn sich vom Begriff der Dekadenz auf der Ebene des politischen Kampfes des Proletariats abwendet.
C.Mcl.
Fußnoten:
1 s. International Review Nrn. Nr. 48, 49, 50, 54, 56, 58 und 60 (engl., frz., span. Ausgabe). Und auf Deutsch: Die Dekadenz verstehen in: Internationale Revue Nrn. 10–12. Und unserer Website.
2 Veröffentlicht auf Italienisch in Prometeo, Nr. 8, Reihe VI (Dezember 2003) und auf Englisch in Revolutionary Perspectives, Nr. 32, dritte Serie, Summer 2004. Eine französische Version ist über die IBRP-Website erhältlich. Weitere Referenzen zur Dekadenztheorie können im Artikel Kommentare über die jüngste Krise der IKS, in Internationalist Communist, Nr. 21, gefunden werden.
3 s. International Review Nrn. 111, 115 und besonders 118. (engl., frz., span. Ausgabe).
4 Die Communist Workers Organisation war mit Battaglia Comunista Mitbegründer des IBRP.
5 In ihrer Einführung zum Artikel von Prometeo schreibt die CWO: „Wir veröffentlichen unten einen Text der Genossen von Battaglia Comunista, der einen Beitrag zur Debatte über die kapitalistische Dekadenz darstellt. Der Begriff der Dekadenz ist ein Teil von Marxens Analyse der Produktionsweisen. Der klarste Ausdruck dafür wird in dem berühmten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie gegeben, wo Marx feststellt: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“ (Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, S. 9) Zurzeit der Bildung der Komintern 1919 schien es, dass die Epoche der Revolution erreicht war, und ihre Gründungskonferenz erklärte dies. 85 Jahre später erschient dies zumindest fraglich. Innerhalb des 20. Jahrhunderts haben die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse trotz der von zwei Weltkriegen verursachten unerhörten Zerstörung und Leiden die Produktivkräfte in die Lage versetzt, sich in nie gekannter Weise weiterzuentwickeln, und Hunderte von Millionen neuer Arbeiter in die Reihen des Proletariats eingegliedert. Kann unter diesen Umständen argumentiert werden, dass diese Verhältnisse in dem allgemeinen Sinn, den Marx unterstrichen hat, eine Fessel der Produktivkräfte sind? Die CWO hat früher argumentiert, dass nicht die Abwesenheit von Wachstum der Produktivkräfte, sondern die allgemeinen Unkosten, die mit einem solchen Wachstum verbunden sind, betrachtet werden müssen, wenn man die Dekadenz beurteilt. Solch ein Argument öffnet, während es das massive Wachstum der Produktivkräfte anerkennt, die Tür für eine subjektive Beurteilung der allgemeinen Unkosten, die ein solches Wachstum ermöglicht haben. Der Text weiter unten streitet für eine wissenschaftliche Herangehensweise besonders an die Frage der ökonomischen Definition der Dekadenz. Wir hoffen, weitere Texte über dieses Thema in Zukunft veröffentlichen zu können.“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32, unsere Hervorhebung) Wir werden später in dieser Reihe auf die Argumente zurückkommen, die die CWO vorbringt, um den Begriff der Dekadenz, wie er von Marx definiert wurde, in Frage zu stellen: die Dynamik in der Entwicklung der Produktivkräfte, das numerische Wachstum der Arbeiterklasse und die Bedeutung der beiden Weltkriege. Im Moment muss die Veröffentlichung dieser Einführung ausreichen, um unseren Lesern eine Ahnung von dem Entwicklungsgang im Denken der CWO zu geben, die in der Vergangenheit die marxistische Definition der Dekadenz stets als einen zentralen Angelpunkt ihrer Plattform betrachtet hat. In der Tat trug die erste Broschüre der CWO den Titel Die ökonomischen Fundamente der kapitalistischen Dekadenz. Sollen wir heute daraus den Schluss ziehen, dass die ökonomischen Fundamente dieser Broschüre nicht wissenschaftlich waren?
6 Karl Marx: Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 273.
7 Karl Marx: Brief an V. I. Sassulitsch, . MEW Bd. 19, S. 387.
8 Karl Marx: Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 252.
9 s. Revolutionary Perspectives, Nr. 32, oben zitiert.
10 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte,in: MEW Bd. 8, S. 115.
11 Rosa Luxemburg, Junius-Broschüre (Die Krise der Sozialdemokratie),in: Werke Bd. 4, S. 61.
12 Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 462.
13 Diese Thesen wurden in Paris von der Imprimerie spéciale de la Librairie du Travail unter dem Titel Plattform der Linken veröffentlicht. Eine andere französische Übersetzung ist über die Edition Programme Communiste erhältlich: Die Krise des Kapitalismus bleibt offen, und ihre weitere Verschlimmerung ist unvermeidlich, veröffentlicht in der Anthologie Nr. 7 von Texten der Parti Communiste International mit dem Titel Die Verteidigung der Kontinuität des kommunistischen Programms.
14 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 635.
15 Wir sollten unsere Leser darauf hinweisen, dass sich nicht einmal Battaglia dessen sicher ist! Anscheinend sind sich die Genossen nicht einmal sicher, ob der Kapitalismus an wachsenden Krisen und Widersprüchen leidet: „Die Verkürzung der Aufschwungsphase der Akkumulation könnte ebenfalls als ein Aspekt der ‚Dekadenz‘ betrachtet werden, doch die Erfahrungen aus dem letzten Zyklus zeigen, dass die Verkürzung der aufsteigenden Phase nicht notwendigerweise die Beschleunigung des Gesamtzyklus der Akkumulation, Krise, Krieg, neue Akkumulation, mit sich bringt.“ (Internationalist Communist, Nr. 21)
16 Revolutionary Perspectives, Nr. 32.
17 In Internationalist Communist, Nr. 21, sagt das IBRP, dass es „ein internationales Dokument/Manifest verteilte (…) (das) neben einem dringenden Aufruf zur internationalen Partei auch beabsichtigt, eine seriöse Einladung an all jene zu sein, die behaupten, zur kommunistischen Avantgarde zu gehören.“ Wenn das IBRP wirklich ernst genommen werden will, dann muss es anfangen, die Fundamente des historischen Materialismus zu begreifen und Polemiken auf der Grundlage wirklich politischer Argumente zu führen, statt Selbstgespräche zu führen und Bannsprüche zu fällen, deren Ursprung in einem Anfall typisch bordigistischen Grössenwahns liegen, welcher sie einbilden lässt, die einzigen Wächter der marxistischen Wahrheit und weltweit der einzige revolutionäre Umgruppierungspol zu sein.
18 Karl Marx Das Kapital, MEW Bd. 25, S. 799/800.
19 Friedrich Engels, Karl Marx, in: MEW Bd. 19, S. 105–106.
20 Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW Bd. 13, S. 9.
21 „In einfachen Begriffen betrifft das Dekadenzkonzept allein die fortschreitenden Schwierigkeiten beim Verwertungsprozess des Kapitals (…) Die stetig wachsenden Schwierigkeiten im Verwertungsprozess des Kapitals haben zu ihrer Voraussetzung den tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate (…) Selbst Ende der 60er-Jahre waren entsprechend der Statistiken, die von internationalen Wirtschaftsorganisationen wie der IWF, die Weltbank und auch das Massachusetts Institute für Technologie sowie jüngst in den Untersuchungen von Ökonomen des marxistischen Gebiets, wie Ochoa und Mosley, herausgegeben wurden, die Profitraten in den USA 30% niedriger als in den 50er-Jahren…“ (Revolutionary Perspectives, Nr. 32)
22 „2. Die Niedergangsperiode des Kapitalismus
Nach Abschätzung der ökonomischen Weltlage konnte der 3. Kongress mit vollkommener Bestimmtheit konstatieren, dass der Kapitalismus nach Erfüllung seiner Mission, die Entwicklung der Produktion
zu fördern, in unversöhnlichen Widerspruch zu den Bedürfnissen nicht nur der gegenwärtigen historischen Entwicklung, sondern auch der elementarsten menschlichen Existenzbedingungen geraten ist. Im letzten imperialistischen Kriege spiegelte sich dieser fundamentale Widerspruch wider, der durch den Krieg noch verschärft wurde und der die Produktions- und Zirkulationsverhältnisse den schwersten Erschütterungen aussetzte. Der überlebte Kapitalismus ist in das Stadium getreten, in dem die Zerstörungsarbeit seiner zügellosen Kräfte die schöpferischen, wirtschaftlichen Errungenschaften, die das Proletariat noch in den Fesseln kapitalistischer Knechtschaft geschaffen hat, lähmt und vernichtet. (…) Was der Kapitalismus heute durchmacht, ist nichts anderes als sein Untergang. Der Zusammenbruch des Kapitalismus ist unabwendbar.“ (Thesen über die Taktik der Komintern des 4. Kongresses, in: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen,
Bd. 2, S. 9, Intarlit 1984).
23 „Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischer Kraft, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet. Er ist aber zugleich die erste, die allein, ohne andere Wirtschaftsformen als ihr Milieu und ihren Nährboden, nicht zu existieren vermag, die also gleichzeitig mit der Tendenz, zur Weltform zu werden, an der inneren Unfähigkeit zerschellt, eine Weltform der Produktion zu sein. Er ist ein lebendiger historischer Widerspruch in sich selbst, seine Akkumulationsbewegung ist der Ausdruck, die fortlaufende Lösung und zugleich Potenzierung des Widerspruchs. Auf einer gewissen Höhe der Entwicklung kann dieser Widerspruch nicht anders gelöst werden als durch die Anwendung der Grundlagen des Sozialismus – derjenigen Wirtschaftsform, die zugleich von Hause aus Weltform und in sich ein harmonisches System, weil sie nicht auf die Akkumulation, sondern auf die Befriedigung der Lebensbedürfnisse der arbeitenden Menschheit selbst durch die Entfaltung aller Produktivkräfte des Erdrundes gerichtet sein wird.“ (R. Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, in: Werke Bd. 5, S. 411)
24 Aus allem, was über das ökonomische Wesen des Imperialismus gesagt wurde, geht hervor, dass er charkterisiert werden muss, als Übergangskapitalismus (...) Es ist eben der Parasitismus und die Fäulnis des Kapitalismus, die seineinem höchsten geschichtlichen Stadium, d. h. dem Imperialismus eigen sind (...) Der Imperialismus ust de Vorabend der sozialen Revolution. Das hat sich 1917 im Weltmasstab bestätigt.” (W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in LW Bd. 22, S. 307 und 198).
25 „…Die russischen Sozialchauvinisten (an ihrer Spitze Plechanow) berufen sich auf die Taktik von Marx im Kriege von 1870; die deutschen Sozialchauvinisten (vom Schlage der Lensch, David und Co.) berufen sich auf die Erklärungen von Engels im Jahre 1891, in denen er von der Pflicht der deutschen Sozialisten spricht, im Falle eines gleichzeitigen Krieges gegen Russland und Frankreich das Vaterland zu verteidigen (…) Alle diese Berufungen sind eine empörende Fälschung der Auffassungen von Marx und Engels zugunsten der Bourgeoisie und der Opportunisten (…) Wer sich jetzt auf Marx' Stellungnahme zu den Kriegen in der Epoche der fortschrittlichen Bourgeoisie beruft und Marx' Worte „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ vergisst – diese Worte, die sich gerade auf die Epoche der reaktionären, überlebten Bourgeoisie beziehen, auf die Epoche dersozialistischen Revolution –, der fälscht Marx schamlos und ersetzt die sozialistische Auffassung durch die bürgerliche.“ (W. I. Lenin, Sozialismus und Krieg, in: LW Bd. 21, S. 295 ff.)
26 „Es wäre ein Fehler, zu glauben, dass diese Fäul-nistendenz ein rasches Wachstum des Kapitalismus ausschliesst; durchaus nicht, einzelne Industriezweige, einzelne Schichten der Bourgeoisie und einzelne Länder offenbaren in der Epoche des Imperialismus mehr oder minder stark bald die eine, bald die andere dieser Tendenz. Im grossen und ganzen wächst der Kapitalismus bedeutend schneller als früher, aber dieses Wachstum wird nicht nur im allgemeinen immer ungleichmässiger, sondern die Ungleichmässigkeit äussert sich auch im besonderen in der Fäulnis der kapitalkräftigsten Länder (England).“ (W. I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: LW Bd. 22, S. 305.)
27 „Wenn der Kapitalismus einmal in die Dekadenz eingetreten ist, wenn er bewiesen hat, dass er in eine historische Sackgasse geraten ist, sind es deshalb hauptsächlich politische Faktoren, die den Zeitpunkt des Kriegsausbruchs bestimmen.“ s. Bericht über die internationale Lage für den 9. Internationalen Kongress, in: International Review Nr. 67 (frz., engl., span. Ausgabe).
28 Engels an Bloch, 21. September 1890, in: MEW Bd. 37, S. 462 ff.
29 In diesen Fragen siehe unsere Kritik an Battaglia Comunista's politischen Positionen in International Review, Nr. 36, Die 1980er sind nicht die 1930er-Jahre; Nr. 41, Welche Methode zum Verständnis des Klassenkampfes; Nr. 50, Antwort an Battaglia über den historischen Kurs; Nr. 79, Die Auffassung des IBRP über die Dekadenz des Kapitalismus und die Kriegsfrage; Nr. 82, Antwort an das IBRP: der Charakter des imperialistischen Krieges; Nr. 83, Antwort an das IBRP: Theorien der historischen Krise des Kapitalismus; Nr. 86, Hinter der Globalisierung der Wirtschaft die Verschlimmerung der kapitalistischen Krise Nr. 108, Polemik mit dem IBRP: der Krieg in Afghanistan – Strategie oder Ölprofite?
30 s. den Artikel aus Bilan, Nr. 10–11, 1934, Krisen und Zyklen in der Wirtschaft des dekadenten Kapitalismus, in” Internationale Review, Nr. 27 und 28.
31 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, S. 635
32 s. Thesen zur Weltlage und die Aufgaben der Kommunistische Internationale des 3. Weltkongresse, in: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd. 2, S. 9, Intarlit (1984).
33 Dies wurde von Engels lange vor dem Ende des 19. Jahrhunderts vorausgesagt: Friedrich Engels sagt einmal: „Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein „Rückfall in die Barbarei” auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein grosser Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d. h. der bewussten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder – Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluss des klassenbewussten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluss in die Waagschale wirft.“ (R. Luxemburg, Juniusbroschüre – Die Krise der Sozialdemokratie, in: Gesammelte Werke Bd. 4, S. 62).
34 „Eine neue Epoche ist geboren: die Epoche der Auflösung und des Zusammenbruchs des Kapitalismus, die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats“ (Richtlinien des 1. Kongresses der Kommunistischen Internationale).
„Der theoretisch klare Kommunismus muss dagegen den Charakter der gegenwärtigen Epoche richtig einschätzen. (Höhepunkt des Kapitalismus; imperialistische Selbstverneinung und Selbstvernichtung; ununterbrochenes Anwachsen des Bürgerkriegen usw.)“ (Leitsätze über die Kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus des 2. Kongresses der Kommunistischen Internationale)
„Die III. Kommunistische Internationale, gegründet im März 1919 in der Hauptstadt der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, Moskau, erklärt feierlich vor der ganzen Welt, dass sie es auf sich nimmt, das grosse Werk, welches von der I. Internationalen Arbeiter-Assoziation begonnen wurde, fortzusetzen und zu Ende zu führen. (…) Die III. Kommunistische Internationale bildete sich beim Ausbruch des imperialistischen Krieges 1914–1918, in welchem die imperialistische Bourgeoisie der verschiedenen Länder 20 Millionen Menschen opferte. (…) „Gedenke des imperialistischen Krieges!” das ist das erste, womit die Kommunistische Internationale sich an jeden Werktätigen wendet, wo er auch leben mag, in welcher Sprache er auch sprechen mag. . Gedenke dessen, dass dank des Bestehens der kapitalistischen Ordnung ein kleines Häuflein von Imperialisten die Möglichkeit hatte, im Verlauf von vier langen Jahren die Arbeiter der verschiedenen Länder zu zwingen, einander den Hals abzuschneiden! Gedenke dessen, dass der Krieg .der Bourgeoisie über Europa und die ganze Welt die fürchterlichste Hungersnot und das entsetzlichste Elend, heraufbeschwor! Gedenke dessen, dass ohne den Sturz des Kapitalismus die Wiederholung von derartigen Raubkriegen nicht nur möglich, sondern unvermeidlich ist. (…) Die Kommunistische Internationale stellt sich zum Ziel: mit allen Mitteln, auch mit den Waffen in der Hand, für den Sturz der internationalen Bourgeoisie und für die Schaffung einer internationalen Sowjetrepublik, als Übergangsstufe zur vollen Vernichtung des Staates, zu kämpfen. Die Kommunistische Internationale hält die Diktatur des Proletariats für das einzige Mittel, welches -die Möglichkeit gibt, die Menschheit von den Greueln des Kapitalismus zu befreien. (Statuten der Kommunistischen Internationale vom 2. Kongress)
Alle drei Zitate in: Manifeste, Leitsätze, Thesen und Resolutionen, Bd. 2, S. 9, Intarlit (1984).
35 Die Einführung der CWO zu Battaglias Artikel in Revolutionary Perspectives, Nr. 32.
Der NCI(5) war das Ziel einer furiosen Offensive, die vom "Dreierbündnis" des Opportunismus (das Internationale Büro für die Revolutionäre Partei – IBRP), der Parasiten (die so genannte "Interne Fraktion" der IKS – IFIKS) und eines merkwürdigen, grössenwahnsinnigen Abenteurers, der gleichzeitig Gründer, oberster Führer und einziges Mitglied eines "Zirkels kommunistischer Internationalisten" ist und der für sich selbst die "Kontinuität" mit dem NCI beansprucht, den er aus guten Gründen zerstört haben will, wie er behauptet.(6)
In diesem Artikel werden wir untersuchen, wie der NCI entstand, wie er den Kontakt zur IKS herstellte, wie sich seine Beziehungen zu unserer Organisation entwickelten und welche Lehren wir dieser Erfahrung entnehmen können. Wir werden uns auch damit befassen, worin die Perspektiven für unsere künftige Arbeit bestehen, jetzt, wo wir den grotesken Betrüger entlarvt haben, dessen Manöver die Unterstützung des IBRP genossen, das versuchte, ihn zu benutzen, um die IKS anzugreifen, selbst wenn es bedeutete, den im Werden begriffenen NCI zu zerstören.
Diese Analyse hat ein doppeltes Ziel: zum einen für den Kampf einer Handvoll Militanter einzutreten, die Ausdruck des Beitrages des argentinischen Proletariats zum allgemeinen Kampf des Weltproletariats sind; zum anderen einige Lehren aus dieser Suche nach einem internationalen kommunistischen Zusammenhang zu ziehen und sowohl die Hindernisse und Schwierigkeiten auf diesem Weg als auch die Stärken, auf wir uns verlassen können, näher zu beleuchten.
Die Geburt des NCI: erste Kontakte mit der IKS
In einem Brief (12. November 2003), der den politischen Werdegang des NCI und seiner Mitglieder erläuterte, stellte sich der NCI selbst als "eine kleine Gruppe von Genossen mit unterschiedlichem politischen Hintergrund, mit unterschiedlichen Aktivitäten in der Massenbewegung und unterschiedlicher politischer Verantwortung (dar). Doch wir alle teilen dieselben politischen Wurzeln: die argentinische Kommunistische Partei (…) Während der 90er-Jahre traten einige von uns der Partito Obrero und der Partito de Trabajadores bei (zwei trotzkische Organisationen, d.Red.), während Andere Zuflucht in gewerkschaftlichen Aktivitäten suchten. Der erste Kern tauchte im Grunde in der Abspaltung einer kleinen Fraktion der PTS, die LOI, auf; nach mehreren Diskussionen im Verlaufe des Jahres 2'000 und Anfang 2003 (Januar – Februar) entschieden wir uns aufgrund prinzipieller Unterschiede, uns nicht mit dieser trotzkistischen Strömung zu vereinigen." Daraufhin begann ein schwieriger Prozess, der die Genossen dazu führte, sich "dank des Internet mit Euren Positionen und jenen der anderen Strömungen vertraut (zu machen), die jenem Milieu angehören, das als Kommunistische Linke bekannt ist. Wir teilten die Dokumente, die meisten von der IKS und dem IBRP, unter uns auf und lasen sie bis Ende 2002".
Verlaufe des Jahres 2003 führte dieses Studium der Positionen der verschiedenen linkskommunistischen Strömungen die Genossen zu den Positionen der IKS: "Was uns an der IKS am meisten fesselte, waren nicht nur Eure programmatischen Fundamente, sondern auch – unter all den Dokumenten, die wir auf Eurer Website zu Rate zogen – die Debatten mit den russischen Genossen, die Frage des historischen Kurses, die Theorie der Dekadenz des Kapitalismus, die Positionen, die die Partei und ihr Verhältnis zur Klasse betreffen, die Analyse der Situation in Argentinien und die Debatte mit dem IBRP über die Parteifrage."
Dieses Studium führte die Gruppe dazu, programmatische Positionen anzunehmen, die sich stark an die Plattform der IKS anlehnen, eine Zeitung herauszugeben (Revolución Comunista, vier Ausgaben zwischen Oktober 2003 und März 2004) und im Oktober 2003 den Kontakt zur IKS herzustellen.
Der Appell des NCI an das politische Milieu des Proletariats
Dann begann ein zweigleisiger Prozess: auf der einen Seite mehr oder weniger systematische Diskussionen über die IKS-Positionen und auf der anderen Seite eine Intervention gegenüber dem Proletariat in Argentinien, die sich auf die brennenden Tagesfragen konzentrierte: vor allem zu verstehen, ob die Ereignisse im Dezember 2001 in Argentinien ein Schritt vorwärts im proletarischen Kampf oder ein Aufstand ohne jegliche Perspektive waren. Ein Artikel, der am zweiten Jahrestag dieser Ereignisse verfasst wurde, stellt klar und deutlich fest, dass "das Hauptziel dieses Schriftstücks ist, die Irrtümer offen zu legen, die von vielen Strömungen in der Presse, in Flugblättern, Broschüren etc. verbreitet wurden, in denen die Ereignisse in Argentinien zwei Jahre zuvor als etwas beschrieben wurden, was sie nicht waren, nämlich ein proletarischer Kampf."
Wir führten übers Internet eine Diskussion über die Gewerkschaftsfrage, die es dem NCI ermöglichte, die Überbleibsel der linksextremistischen Vision einer "Arbeit in den Gewerkschaft, um die Basis gegen die Führung in Stellung zu bringen", zu klären und hinter sich zu lassen. Die Diskussion war brüderlich und aufrichtig, und zu keiner Zeit wurde unsere Kritik als "Drangsalierung" oder "Bannfluch" betrachtet.(7)
Im Dezember 2003 richtete das NCI einen Appell an das politische Milieu zur Abhaltung von internationalen Konferenzen, "mit der präzisen Absicht, einen Pol der Zusammenarbeit und Information zu schaffen, wo die mannigfaltigen Organisationen ihre politischen Divergenzen auf programmatischer Ebene debattieren können und was es ermöglichen könnte, gemeinsame Aktionen gegen die Feinde der Arbeiterklasse, gegen die Bourgeoisie, zu unternehmen, ob durch die Publizierung gemeinsamer Dokumente oder durch die Organisierung von öffentlichen Treffen der fortgeschrittensten Elemente des Proletariats, die deutlich machen, sowohl was uns zu trennt als auch was uns verbindet, oder durch anderen Initiativen, die vorgeschlagen werden."
Es war der IKS klar, dass dieser Appell dem vorherrschenden Sektierertum und der Unverantwortlichkeit der Mehrheit der Gruppen der Kommunistischen Linken vor den Kopf stossen würde. Dennoch unterstützten wir diese Initiative insoweit, als sie auf der Offenheit der Diskussion und der Konfrontation von Positionen basierte und von der Bereitschaft gekennzeichnet war, gemeinsame Aktionen gegen den kapitalistischen Feind zu unternehmen: "Wir begrüssen Euren Vorschlag, eine neue Konferenz der Gruppen der Kommunistischen Linken abzuhalten (ein ‚neues Zimmerwald‘, wie Ihr es genannt habt). Die IKS hat stets diese Perspektive vertreten und sich begeistert an den drei Konferenzen beteiligt, die Ende der 1970er und Anfang der 1980er veranstaltet worden waren. Unglücklicherweise sind, wie Ihr sicherlich wisst, die anderen Gruppen der Kommunistischen Linken der Auffassung, dass solche Konferenzen angesichts der tiefen Uneinigkeit unter den mannigfaltigen Gruppen der Kommunistischen Linken nicht auf der Tagesordnung stünden. Wir sind nicht dieser Auffassung, doch wie das Sprichwort sagt: ‚Es braucht nur einen, um sich scheiden zu lassen, aber zwei, um zu heiraten‘. Es ist klar, dass es in der gegenwärtigen Periode keinen Zweifel über die Notwendigkeit einer ‚Heirat‘ (d.h. die Umgruppierung in einer einzigen Organisation) zwischen den verschiedenen Strömungen der Kommunistischen Linken gibt."
In diesem allgemeinen Rahmen stellten wir eine Orientierung vor, um die Arbeit der kleinen Gruppen, die in etlichen Ländern auf der Grundlage von Klassenpositionen erschienen sind bzw. dabei sind, sich ihnen zu nähern, anzuleiten: "Dies bedeutet nicht, dass eine ‚Heirat‘ in der gegenwärtigen Periode unmöglich ist. In Wirklichkeit ist sie, wenn zwei Organisationen zu einer programmatischen Übereinstimmung auf der Basis einer gemeinsamen Plattform kommen, nicht nur möglich, sondern eine Notwendigkeit: Das Sektierertum, von dem viele Gruppen der Kommunistischen Linken betroffen sind (und das zum Beispiel zur Zersplitterung der bordigistischen Gruppierungen in einer Vielfalt von Denkschulen führte, deren programmatische Differenzen schwer nachzuvollziehen sind), ist der Preis, den die Kommunistische Linke noch immer für die fürchterliche Konterrevolution zahlt, welche die Arbeiterklasse in den 1920er-Jahren getroffen hatte" (unser Brief vom 25. November 2003).
Erstes Treffen mit dem NCI
Abgesehen von der IKS kamen die einzigen anderen Antworten auf den Appell(8) von der Internationalen Kommunistischen Partei (Il Partito, bekannt als die "Florenzer PCI") und vom IBRP. Beide waren deutlich ablehnend.
Die Antwort des IBRP erklärte definitiv: "Vor allem sind wir überrascht, dass 23 Jahre nach dem Ende des Zyklus‘ von Internationalen Konferenzen der Kommunistischen Linken (ursprünglich einberufen von der PCInt Italiens), die demonstriert hatten, was wir weiter unten ausführlicher erklären werden, Ihr solch einen Vorschlag mit genau derselben Unaufrichtigkeit vorbringt, wo die Situation eine völlig andere ist."
Wie konnten es diese Neulinge wagen vorzuschlagen, was bereits 23 Jahre zuvor vom IBRP erledigt worden war?(9) Die anmassende Geringschätzung (dieselbe, die Marx bei Proudhon feststellte(10)) gegenüber solchen ersten Bemühungen von Elementen der Klasse durch das IBRP ist wirklich entmutigend!(11) Gerade weil dies aus dem Munde des "einzigen gültigen Pols der Umgruppierung" kommt, um den endlos wiederholten Ausdruck ihrer Bewunderer, die IFIKS, zu benutzen!
Was Il Partito anbelangt, so schiebt sie einfach jede erdenkliche Meinungsverschiedenheit (mit einer Gruppe, die gerade erst ins Leben getreten ist!) vor, angefangen mit der Parteifrage, und dies mit einer Argumentation, die so schwach ist, dass sie schon ans Lächerliche grenzt: "Der vielleicht klarste Punkt ist die Konzeption der Partei. Unsere Partei meint, dass wir die Fortsetzung der historischen Partei sind, die von Marx und Engels geschaffen worden war und die seither niemals aufgehört hat zu existieren trotz der schwierigen Epochen, die sie erlebt hat, und dass die Fackel der marxistischen Lehre dank Organisationen wie die Italienische Kommunistische Linke oder die russische bolschewistische Partei nie erloschen war." Dabei geht es dem NCI gerade darum, die marxistische Lehre am Leben zu erhalten. Doch Il Partito ist jeder Grund gut genug, um eine politische Konfrontation zu vermeiden!
Wie wir aus diesen beiden Antworten ersehen können, wäre es um die Perspektive für neu entstandene Gruppen in der Tat schlecht bestellt, wenn das Lager der Kommunistischen Linken sich allein aus jenen Organisationen zusammensetzen würde, die diese Antworten verfassten. Sie betrachten neue Gruppen aus der luftigen Höhe ihres sektiererischen Schutz-
walls und bieten keine andere Perspektive an als die Integration als Gruppe in die "internationale Umgruppierung" des IBRP oder die individuelle Integration in die PCInt. Diese Positionen sind Lichtjahre entfernt von jenen, die Marx, Engels, Lenin, die Dritte Internationale oder die italienische Fraktion der Kommunistischen Linken vertreten hatten.(12)
Nach dem Scheitern ihres Appells war es also wenig überraschend, dass die Genossen des NCI beschlossen, näher an die IKS zu rücken. Dies veranlasste uns, im April 2004 eine Delegation nach Buenos Aires zu schicken, die viele Diskussionen mit den Mitgliedern des NCI führte, über Themen wie die Gewerkschaftsfrage, die Dekadenz des Kapitalismus, das Funktionieren revolutionärer Organisationen, die Rolle ihrer Statuten und die Einheit der drei Komponenten des politischen Programms des Proletariats: politische Positionen, Funktionsweise und Verhalten. Wir schlugen vor, ein allgemeines Treffen abzuhalten, und die Genossen des NCI beschlossen, regelmässige Diskussionen über die Dekadenz und den Zerfall des Kapitalismus, über die Statuten und unsere Texte über die Organisation und ihre Funktionsweise etc. mit der Zielrichtung zu führen, der IKS beizutreten: "Im Anschluss an den internationalen Besuch der IKS sind die Mitglieder des Kerns einmütig zur Auffassung gelangt, dass dieser Besuch unsere Erwartungen weit übertroffen hat, nicht nur bezüglich des Grades an Übereinstimmung, den wir erreicht haben, sondern auch durch die wichtigen Fortschritte, zu die uns dieser Besuch verhalf (…) So ermöglichte uns dieser Besuch, auch wenn unsere Absicht bereits vorher die Integration in die IKS war, nicht nur diese internationale Strömung als solche konkret kennen zu lernen, sondern auch ihre internationalistische Haltung." (Resolution des NCI, 23. April 2004)
Die Gefahr der Gurus
Im Anschluss an den Besuch unserer Delegation stimmte die Gruppe unserem Vorschlag zu, sich an der Presse der IKS zu beteiligen, indem sie Artikel über die Situation in Argentinien schrieb. Diese Beiträge waren sehr positiv, besonders ein Artikel, der die Piquetero-Bewegung denunzierte und der sich als sehr nützlich erwies, um die pseudo-revolutionären Mythen der Linksextremisten und der "Antiglobalisierungsgruppen" blosszustellen.(13)
Unter den Themen, die mit dem NCI debattiert wurden, wollen wir besonders auf die Debatte über das Verhalten hinweisen, das innerhalb einer proletarischen Organisation herrschen und von dem Charakter der zukünftigen Gesellschaft, für die sie kämpft, inspiriert sein sollte. Rechtfertigt der Zweck die Mittel? Können wir zum Kommunismus gelangen, einer Gesellschaft der freien Gemeinschaft aller menschlichen Wesen, während wir gleichzeitig Verleumdungen, Spitzeldienste, Manipulation, Diebstahl – Praktiken, die jeden Ansatz einer solchen Gemeinschaft zunichte machen – begehen? Sollte der kommunistische Militante edelmütig sein Bestes für die Sache der menschlichen Emanzipation geben oder kann er zur Sache beitragen und gleichzeitig nach seinem persönlichen Profit oder nach persönlicher Macht trachten, indem er andere als Bauernopfer benutzt, die seinen eigenen spezifischen Zielen dienen?
Diese Diskussionen provozierten eine intensive Debatte im NCI über die Frage des Verhaltens der IFIKS, die die Gruppe dazu führte, am 22. Mai 2004 eine Resolution anzunehmen, die diese Bande von Schurken verurteilte und die, "nachdem sie die Publikationen sowohl der IKS als auch der Internen Fraktion der IKS gelesen hat, die Auffassung vertritt, dass Letztere ein Verhalten an den Tag legen, das der Arbeiterklasse und der Kommunistischen Linken fremd ist."(14)
Trotz dieser Fortschritte begann sich dennoch ein Problem bemerkbar zu machen. In einem Brief, geschrieben nach unserem Besuch, wiesen wir bei der Einschätzung seiner Resultate darauf hin, dass "eine kommunistische Organisation nicht ohne eine kollektive und einheitliche Funktionsweise existieren kann. Regelmässige Treffen, mit Strenge und Bescheidenheit durchgeführt, ohne extravagante Ansprüche, aber mit Hartnäckigkeit und intellektueller Strenge abgehalten, sind die Fundamente dieses kollektiven, auf Einheit und Solidarität fussenden Lebens. Selbstverständlich steht das Kollektiv nicht in einem Gegensatz zur Entwicklung der individuellen Initiative und Beiträge. Die bürgerliche Sichtweise des ‚Kollektivs‘ ist genau genommen die einer Summe von Klonen, in der jeglicher Geist einer individuellen Initiative systematisch erstickt wird. Das entsprechende Pendant dieser falschen Sichtweise wurde vom Stalinismus zum einen und von den liberalen Demokraten und Libertären zum anderen entwickelt. Die marxistische Sichtweise ist die eines kollektiven Rahmens, der die individuelle Initiative, Verantwortung und Beiträge ermutigt und entwickelt. Jeder sollte sein Bestes geben, in Übereinstimmung mit dem berühmten Satz von Marx in der Kritik des Gothaer Programms: ‚jeder nach seinen Fähigkeiten‘."
Die Praxis eines Mitglieds des Kerns, den wir B. nennen werden, stand jedoch in völligem Gegensatz zu dieser Orientierung. Angefangen damit, dass er den Zugang zu Computern und zum Internet sowie zur Korrespondenz nach aussen völlig monopolisierte, wobei er auch von dem Vertrauen profitierte, das ihm die anderem Mitglieder der Gruppe entgegenbrachten, wenn er die meisten ihrer Texte ausarbeitete. Darüber hinaus – und im Gegensatz zu den Orientierungen, die während des Aprilbesuchs beschlossen wurden – entwickelte er eine organisatorische Praxis, die darin bestand, so weit wie möglich allgemeine Treffen der Gruppe, wo sich sämtliche Militante artikulieren und über ihre Aktivitäten entscheiden können, zu vermeiden. An Stelle solcher Treffen traf er sich getrennt zumeist mit einem oder zwei Genossen, was ihm erlaubte, ihre gesamten Aktivitäten zu kontrollieren. Diese Praxis ist typisch für bürgerliche Gruppen, wo sich der "Führer", der "Politkommissar" getrennt mit allen Mitgliedern trifft, um sie zu spalten und in Unkenntnis zu halten, was vor sich geht. Dies führte, wie uns die Genossen des NCI später bestätigten, zu einer Situation, in der sie selbst nicht richtig wussten, wer Mitglied der Gruppe war und welche Aufgaben von Bürger B. an Leute verteilt wurden, die sie nicht einmal selbst kannten.(15)
Ein anderes Element in der Taktik dieses Individuums bestand darin, die Entwicklung jeglicher ernsthafter Diskussionen während der raren, mehr oder weniger allgemeinen Treffen zu vermeiden. Die Genossen haben sich beunruhigt gezeigt über die Interventionen des Bürger B., der Diskussionen unter dem Vorwand abbrach, man müsse noch zu "jemand anderen" gehen. Um die Treffen so weit wie möglich von jeglichem Inhalt zu befreien, ermutigte B. zu grösstmöglichem informellen Charakter: Treffen wurden auf gemeinsame Essen reduziert, an denen auch Familienangehörige und Freunde, die nicht der Gruppe angehörten, teilnahmen.
Diese organisatorische Praxis hat nichts mit dem Proletariat zu tun und ist typisch für bürgerliche Gruppen. Sie verfolgt zwei Absichten: Einerseits hält sie die meisten Genossen in einem Zustand der politischen Unterentwicklung, indem sie ihnen die Mittel vorenthält, die ihnen ermöglichen würden, ihr eigenes Urteil weiter zu entwickeln; auf der anderen Seite und entsprechend dem, was wir gerade beschrieben haben, wandelt sie die Genossen in Manövriermasse für die Politik des "grossen Führers" um. In Wahrheit beabsichtigte Bürger B., seine "Genossen"16 als Sprungbrett zu benutzen, um zu einer "Persönlichkeit" innerhalb des politischen Milieus des Proletariats zu werden.
Der Kampf um die Verteidigung der Organisation
Die Pläne dieses Individuums wurden von zwei Faktoren durchkreuzt, die es in seiner arroganten Kalkulation nicht vorhergesehen hatte: zum einen die organisatorische Kohärenz und Beharrlichkeit der IKS und zum anderen die Tatsache, dass die anderen Genossen des NCI trotz ihrer begrenzten Mittel und trotz der obskuren Manöver von Bürger B. grosse Anstrengungen unternahmen, die ihnen schliesslich zu politischer Unabhängigkeit verhalfen.
Ende Juli 2004 unternahm Bürger B. ein dreistes Manöver: Er forderte die sofortige Mitgliedschaft in der IKS und setzte diese Forderung trotz des Widerstands der anderen Genossen durch, die, auch wenn sie ebenfalls beabsichtigten, der IKS beizutreten, fühlten, dass sie sich zunächst einem tief greifenden Assimilierungs- und Klärungsprozess der neuen Ideen unterziehen müssen: Die militante Aktivität der Kommunisten kann nur auf einem soliden Fundament errichtet werden.
Dies versetzte Bürger B. in eine peinliche Lage: Seine "Genossen" waren dabei, klassenbewusste Elemente zu werden, statt nützliche Idioten in seinem ehrgeizigen Plan zu sein, internationaler "Führer" zu werden. Als eine IKS-Delegation Ende August Argentinien besuchte, bestand er darauf, dass sie sofort die Integration des NCI in die IKS verkünden solle. Die IKS wies dieses Ansinnen zurück. Wir haben nichts mit hastigen und voreiligen Integrationen am Hut, die lediglich Gefahr laufen, militante Energien zu vergeuden. Eine Bilanz unseres Besuchs ziehend, schrieben wir: "Während unseres Besuchs habt Ihr die Frage Eurer Integration gestellt. Selbstverständlich reagieren wir mit dem natürlichen Enthusiasmus von Kämpfern für die proletarische Sache, wenn andere Genossen an unserem Kampf teilnehmen wollen (…) Doch wir müssen uns klar darüber sein, dass wir die Frage der Integration neuer Militanter oder der Bildung neuer Sektionen nicht auf derselben Ebene wie ein kommerzielles Unternehmen stellen, das mit allen Mitteln versucht, in einem neuen Markt Fuss zu fassen, oder wie eine linkskapitalistische Gruppe, die nach neuen Anhängern für ihre Politik innerhalb des Staatskapitalismus sucht, (sondern als) ein allgemeines Problem des internationalen Proletariats betrachten, das auf der Grundlage historischer und globaler Kriterien behandelt werden muss (…) Die zentrale Orientierung unserer Delegation bestand darin, mit Euch über das ganze Ausmass der Folgen der militanten Aktivitäten eines Kommunisten zu diskutieren und was es bedeutet, eine vereinte und zentralisierte kommunistische Organisation aufzubauen. (Dies) ist keine technische Frage; sie erfordert eine hartnäckige, kollektive Beständigkeit. Sie kann niemals Früchte tragen, wenn sie nur einem momentanen Impuls folgt (…) was uns angeht, so ist es unsere Absicht, Militante in ihrem unabhängigen Urteil zu schulen, wie auch immer ihre persönlichen oder intellektuellen Fähigkeiten sind, damit sie in der Lage sind, kollektiv am Aufbau und der an der Verteidigung der internationalen Organisation teilzunehmen".
Dies passte Bürger B. nicht in den Kram. "Darüber hinaus ist es höchst wahrscheinlich, dass er bereits im Geheimen Kontakt zur IFIKS aufgenommen hat, während er gleichzeitig fortfuhr, uns mit seinem Begehren zu täuschen, die Integration des NCI in die IKS zu beschleunigen".(17) Dieses Individuum änderte sein Verhalten über Nacht, ohne wenigstens die Ehrlichkeit zu besitzen, seine "Meinungsverschiedenheiten" auszudrücken.
Der Grund ist simpel: Seine Absicht war nicht die Klärung, sondern einfach sein eigener persönlicher Erfolg als ein "internationaler Führer". Nachdem ihm aufging, dass er nicht in der Lage war, seine Ambitionen in der IKS zu befriedigen, entschloss er sich, nach einer ihm angenehmeren Gesellschaft Ausschau zu halten.
Auch zögerte er nicht, zu Intrigen und zum Doppelspiel zu greifen, um eine "Sensation" zu schaffen. Über Nacht verhalf er einem "Zirkel Internationaler Kommunisten" zum Leben, dessen einziges Mitglied er selbst war, wobei er die Unverfrorenheit besass, in diesen "Zirkel" die Mitglieder des NCI – die bar jeder Kenntnis darüber waren – und seine "sehr engen Kontakte" zu ""integrieren". Dieser "Zirkel" schlug vor, dieselbe Methode zu nutzen (die bereits von Stalin praktiziert worden war), um das Verschwinden des NCI sicherzustellen: Er präsentierte sich selbst als die einzig wahre Nachfolge des NCI.(18)
Diese Manöver, die, wie wir gesagt haben, von dem widerwärtigen Bündnis zwischen dem Opportunismus des IBRP und den Parasiten der IFIKS19ermutigt wurden, wurden auf unser Betreiben zusammen mit dem NCI aufgedeckt und entschärft. Die Genossen des NCI waren durch die Manöver des Bürgers B. isoliert gewesen; trotz aller Schwierigkeiten, die damit verbunden waren, stellten wir den Kontakt zu ihnen wieder her. "Durch Telefonanrufe bei den anderen Genossen des NCI (eine Vorgehensweise, die in den Worten des Bürgers B. angeblich die ‚ekelhafte Methode der IKS‘ war) erfuhren wir, dass sie völlig ahnungslos über die Existenz des ‚Zirkels‘ waren, dessen angebliche Mitglieder sie waren! Sie hatten überhaupt keine Ahnung von der Existenz der widerwärtigen ‚Erklärungen‘ des ‚Zirkels‘ gegen die IKS, die angeblich – um die Worte dieser ‚Erklärungen‘ zu gebrauchen – ‚kollektiv‘, ‚einmütig‘ und ‚nach Konsultierung aller Mitglieder‘ des NCI angenommen wurden. All dies ist vollkommen unwahr." ("Präsentation der Erklärung des NCI")
Sobald der Kontakt wiederhergestellt war, organisierten wir einen Besuch, um mit den Genossen des NCI zu diskutieren und Perspektiven für die Zukunft auszuarbeiten. Wir wurden von den Genossen herzlich und brüderlich empfangen. Während unseres Aufenthaltes beschlossen die Genossen, ihre Erklärung vom 27. Oktober an alle Sektionen des IBRP und den anderen Gruppen der Kommunistischen Linken zu senden, um der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen: Im Gegensatz zur Falschinformation, mit der das IBRP hausieren ging (vor allem in seiner italienischen Presse), hat das NCI nicht mit der IKS gebrochen!
Bei etlichen Gelegenheiten riefen die Genossen des NCI Bürger B. an, um ihn zu bitten, zu kommen und sein Verhalten gegenüber dem NCI und der IKS-Delegation zu erläutern. Doch der Herr verweigerte sich einer solchen Begegnung. Auf frischer Tat ertappt, zog dieses feige Individuum es vor, sich wie ein Kaninchen in seinem Bau zu verkriechen.
Trotz des Schocks über die Lügen und Manöver, die von diesem üblen Individuum in ihrem Namen verübt wurden, drückten die Genossen des NCI ihre Absicht aus, ihre politischen Aktivitäten fortzusetzen, soweit sie dazu in der Lage waren. Dank des brüderlichen Empfangs durch den NCI und seines politischen Engagements war die IKS in der Lage, eine zweite öffentliche Veranstaltung in Buenos Aires (5. November) über ein von den Genossen des NCI ausgewähltes Thema zu veranstalten. (20)
Trotz der fürchterlichen materiellen Probleme, mit denen sie in ihrem täglichen Leben konfrontiert sind, erklärten die Genossen unserer Delegation fest entschlossen ihre Absicht, mit ihren militanten Aktivitäten fortzufahren und insbesondere die Diskussion mit der IKS fortzusetzen. Jene Genossen, die arbeitslos sind, beabsichtigen, Arbeit zu finden, nicht nur um sich selbst und ihre Kinder zu ernähren, sondern auch um der politischen Unterentwicklung, in der sie vom Bürger B. gehalten worden waren, zu entkommen (vor allem haben sie ihren Wunsch ausgedrückt, zum Kauf eines PC beizutragen). Indem sie mit Bürger B. und seinen bürgerlichen Methoden brachen, haben sich die Genossen des NCI als wahre Militante der Arbeiterklasse verhalten.
Perspektiven
Die Erfahrungen des NCI sind voller Lehren. An erster Stelle sei genannt, dass der NCI durch die Annahme von programmatischen Positionen, die eng an jenen der IKS angelehnt sind, die Einheit des Weltproletariats und seiner Avantgarde demonstriert hat. Die Arbeiterklasse verteidigt die gleichen Positionen in jedem Land, ungeachtet der politischen Entwicklungen, der imperialistischen Positionen oder der politischen Regimes. Innerhalb dieses einheitlichen Rahmens waren die Genossen in der Lage, Beiträge von allgemeinem Interesse für das gesamte Proletariat zu leisten (Charakter der Piquetero-Bewegung, der sozialen Revolte in Argentinien und Bolivien etc.), und nahmen am internationalen Kampf zur Verteidigung proletarischer Prinzipien teil: ihre klare Denunzierung des Haufens von Ganoven, der sich selbst IFIKS nennt, die Erklärung zur Verteidigung des NCI und proletarischer Verhaltensregeln etc.
Zweitens hat diese Erfahrung ein Schlaglicht auf die Gefahr geworfen, die "Gurus" für die Entfaltung von Gruppen und Genossen auf der Suche nach Klassenpositionen darstellen können. Dieses Phänomen ist alles andere als spezifisch argentinisch,21 es ist ein internationales Phänomen, dem wir in der Vergangenheit oft begegnet sind: Individuen, oftmals brillant, die eine Gruppe als ihr "persönliches Eigentum" betrachten und die aufgrund ihres Misstrauens gegenüber den wirklichen Fähigkeiten der Arbeiterklasse und wegen ihres Durstes nach persönlicher Anerkennung versuchen, die anderen Genossen ihrer persönlichen Kontrolle zu unterwerfen, indem sie deren Entwicklung blockieren und sie zur politischen Unmündigkeit verdammen. Solche Elemente spielen anfangs oft eine dynamische Rolle beim Streben nach revolutionären Positionen, und sei es nur dadurch, dass sie sich an die Spitze der Annäherung und des Denkprozesses seitens der anderen Genossen stellen. Doch im Allgemeinen scheitern solche Elemente, wenn sie nicht gründlich ihre eigene vergangene Herangehensweise in Frage stellen, daran, ihre Annäherung konsequent zu Ende führen, da dies den Verlust ihres eigenen Status als "Guru" bedeuten würde. Eine andere Konsequenz ist der rapide Verlust von Mitgliedern der Gruppe in Folge der Atmosphäre, die in der Gruppe durch die Forderung des Gurus nach Unterwerfung unter seiner eigenen Subjektivität entsteht; dies führt zur Demoralisierung der Anderen, die häufig unter dem ernüchternden Eindruck jegliche politische Aktivität aufgeben, dass politische Positionen schön und gut sein mögen, dass aber die organisatorische Praxis, die menschlichen Beziehungen und das persönliche Verhalten nicht im Mindesten mit dem unterdrückerischen Universum der linken und linksextremistischen Gruppen gebrochen haben.
Drittens hat diese Erfahrung etwas sehr viel Wichtigeres gezeigt: Es ist möglich, diese Gefahr zu bekämpfen und zu bannen. Heute haben die Genossen nicht ohne Schwierigkeiten einen Prozess der Klärung, der Entwicklung ihres eigenen Selbstvertrauens und ihrer kollektiven Kapazitäten begonnen, mit dem Ziel der künftigen Integration in die IKS. Was auch immer das endgültige Ergebnis dieses Kampfes sein wird, der NCI hat demonstriert, dass trotz all der Bemühungen des Gurus, ihre politische Entwicklung zu bremsen, die Genossen sich für die proletarische Sache organisieren und kämpfen können.
Schliesslich entwickelt sich –
und dies ist nicht am unwichtigsten – dank der aktiven Bemühungen der Genossen
um die politischen Positionen der IKS ein Milieu für die proletarische Debatte
in Argentinien. Es wird von grösstem Wert sein für die Klärung und militante
Einbeziehung von proletarischen Elementen, die in diesem Land und in anderen
Ländern Lateinamerikas auftauchen.
C. Mir (3. Dezember 2004)
Fußnoten:
1 s. International Review Nr. 119 (frz., engl., span. Ausgabe).
2 Ebenda.
3 s. die Artikelreihe 1903–1904: The birth of Bolshevism, in: Internationale Review Nr. 116–118 (frz., engl., span. Ausgabe).
4 s. den Artikel Die marxistische und die opportunistische Sichtweise in der Politik des Parteiaufbaus, in: Internationale Revue Nr. 26.
5 Für weitere Informationen siehe die Präsentation der Erklärung des NCI vom 27. Oktober 2004; auf Englisch auf unserer Website: https://en.internationalism.org./ir/119_imposture.html [10].
6 s. den Artikel ‚Circulo de Comunistas internacionalistas‘: Hochstapelei oder Realität? auf unserer Website: https://en.Internationalism.org/ir/119_imposture.html [11].
7 Als ein Beispiel dieser linksextremistischer Überbleibsel weisen wir auf den Gebrauch des Begriffs „Gewerkschaftsbürokratie“ hin, der dazu neigt, die Tatsache zu verbergen, dass die Gewerkschaft als Organisation, von Kopf bis Fuss, ein verlässlicher Diener des Kapitals und ein Feind der Arbeiterklasse ist. In demselben Sinne ermöglicht die Idee, dass die Gewerkschaften „Mittler“ zwischen Kapital und Arbeit sind, ihnen, sich als irgendwie neutrale Organisationen geltend zu machen, die zwischen den beiden wesentlichen Klassen der Gesellschaft, der Bourgeoisie und dem Proletariat, stünden.
8 Die Kopien davon sind uns vom NCI zugesandt worden.
9 Die Art und Weise, wie das IBRP die Dynamik der Konferenzen „auflöste“, bestand darin, sie durch den Gebrauch eines sektiererischen Manövers kaputt zu machen. In: International Review, Nr. 22, (frz., engl., span. Ausgab).
10 Siehe die berühmte Streitschrift von K. Marx Das Elend der Philosophie, in: MEW 4, S. 63 ff.
11 Ist es auch nur im Entferntesten vorstellbar, dass Marx und Engels gleichermassen geantwortet hätten, als die französischen und englischen Arbeiter zu jenem Treffen aufriefen, das die Erste Internationale 1864 ans Tageslicht verhalf, und zwar aus dem Grund, dass sie sich bereits 1848 mit dieser Frage beschäftigt hätten?
12 In einem Brief an die Genossen, der zur Einschätzung des Resultats ihres Appells verfasst wurde, boten wir eine detaillierte Erklärung der Umgruppierungsmethoden an, die die Revolutionäre in der gesamten Geschichte der Arbeiterbewegung benutzt haben, um aufzuzeigen, wie die vielfältigen internationalen Organisationen des Proletariats geschmiedet wurden.
13 Siehe den Artikel über die Piquetero-Bewegung in dieser Ausgabe der Internationalen Revue.
14 Der Text der Resolution kann auf Englisch auf unserer Website vorgefunden werden: https://en.internationalism.org./ir/119_nci_reso.html [12], in der es auch Links zum vollständigen Text als Anhang auf Spanisch gibt.
15 Dies erklärt einen augenscheinlichen Widerspruch in der Herkunft des NCI. Für die Genossen des NCI heute wurde der Nucleo erst im April 2004 gebildet, mit anderen Worten: nach dem ersten Besuch durch die IKS. Zuvor bedeutete die Funktionsweise, die Bürger B. erfolgreich in der Gruppe durchsetzte, und die geringe Kenntnis von den anderen Mitglieder dass der NCI zunächst viel mehr einem informellen Diskussionszirkel ähnelte. Erst nach unserem Besuch, wo wir auf der Wichtigkeit regelmässiger Treffen bestanden, begann der NCI für jedes seiner Mitglieder eine bewusste Existenz anzunehmen.
16 Seine Gerigschätzung gegenüber ihnen war besonders empörend: „Bürger B. verachtete die anderen Mitglieder des NCI, die Arbeiter sind, die in grosser Armut leben, während er selbst Angehöriger eines liberalen Berufes ist und damit prahlte, dass er das einzige Mitglied des NCI ist, das sich eine Reise nach Europa leisten kann“. Siehe unseren Artikel auf Spanisch: Der NCI hat nicht der IKS gebrochen auf unserer Website: https://en.internationalism.org./spanish/ap/180_nci.html [13].
17 s. die Präsentation der Erklärung des NCI“ auf unserer Website https://en.internationalism.org./ir/119_nci_pres.html [14].
18 All die Metamorphosen dieses „Zirkels“, dessen absurde internationale Reputation allein durch seine Beschützer, das IBRP und die IFIKS, aufgebläht wurde, sind in zwei Dokumenten demaskiert worden, die auf unserer spanischen Website (Circulo comunistas internacionalistas: una extrana aparicion und Una nueva… y extrana aparicion) und in einem Artikel auf Englisch (‘Circulo comunistas internacionalistas‘: Imposture or reality?) veröffentlicht wurden. Siehe: https://en.internationalism.org./ir/119_imposture.html [10].
19 Unsere Website hat eine ganze Reihe von Dokumenten veröffentlicht, insbesondere etliche Briefe an das IBRP, in denen auf die beklagenswerte Richtung hingewiesen wurde, in der diese Organisation abdriftet. Kaum hatte Bürger B. hinter dem Rücken der anderen Mitglieder des NCI seinen „Zirkel“ geformt, hatte das IBRP nichts Eiligeres zu tun, als ihm eine Öffentlichkeit anzubieten. Zunächst durch die Veröffentlichung einer italienischen Übersetzung eines Dokuments des „Zirkels“ über die Repression eines Arbeiterkampfes in Patagonien (was umso erstaunlicher ist, als dass das IBRP sich stets geweigert hat, auch nur das kleinste Dokument des NCI zu veröffentlichen) und schliesslich durch die dreisprachige Veröffentlichung (französisch, englisch und spanisch, aber nicht italienisch) einer „Erklärung“ des „Zirkels“, datiert vom 12. Oktober (Gegen die Ekel erregenden Methoden der IKS), die nichts anderes ist als eine Ansammlung von unerhörten Lügen und Verleumdungen gegen die IKS. Drei Wochen und drei Briefe der IKS später veröffentlichte das IBRP auf seiner Website wenigstens ein kleines Kommunique der IKS, das alle Anschuldigungen des „Zirkels“ von sich weist. Seither ist die äusserst verlogene und verleumderische Natur der Behauptungen des Bürgers B. wie auch das Lügengespinst seines „Zirkels“ ohne den Schatten eines Zweifels demonstriert worden. Und bis heute hat das IBRP – während es diskret das Werk von Bürger B. von seiner Website zurückzog – es nicht geschafft, auch nur die geringste Erklärung abzugeben, um die Wahrheit wieder gerade zu rücken. Es ist bemerkenswert, dass Bürger B.'s plötzliche Leidenschaft für das IBRP und dessen Positionen sowie für die IFIKS erst begann, als diesem kleinen Abenteurer gewahr wurde, dass er mit seinen Manövern bei der IKS auf Granit beissen würde. Diese Konvertierung, die noch schneller stattfand als die des St. Paulus auf dem Weg nach Damaskus, veranlasste das IBRP, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, sich hastig zum Sprecher von Bürger B. zu machen. Das IBRP sollte sich einst selbst fragen, wie es kommt (und das nicht nur einmal), dass Elemente, die ihre Unfähigkeit bewiesen haben, sich in die Kommunistische Linke zu integrieren, sich stets dem IBRP zuwandten, nachdem sie mit ihrer „Annäherung“ an die IKS gescheitert sind. Wir werden auf diese Frage in einer späteren Ausgabe dieser Revue zurückkommen.
20 s. unsere spanische Website: https://www.internationalism.org./spanish/ap/179_RPBA.html [15].
21 Auch wenn eingeräumt werden muss, dass die gespaltene Persönlichkeit und Arglist des Bürgers B. schon ans Pathologische grenzt
Wenn man für jedes Zeitalter der Menschheit eine charakteristische Unsitte nennen müsste, so wäre es beim Kapitalismus bestimmt die Scheinheiligkeit der herrschenden Klasse. Der berüchtigte mongolische Eroberer Tschingis Khan stapelte nach der Einnahme von Widerstand leistenden Städten die Schädel ihrer Bewohner zu Pyramiden auf, aber er gab nie vor, dass er dies zu ihrem Wohl tun würde. Es war der bürgerlichen und kapitalistischen Demokratie vorbehalten zu verkünden, dass der Krieg "humanitär" sei und dass man die Zivilbevölkerung bombardieren müsse, um genau dieser Bevölkerung den Frieden und die Freiheit zu bringen.
Der Tsunami vom Dezember 2004 traf die Küsten des Indischen Ozeans im Zeitpunkt, als sich die letzte Ausgabe der Internationalen Revue (frz./engl./span. Ausgabe) bereits beim Drucker befand. Da wir somit keine Stellungnahme über dieses bedeutende Ereignis der gegenwärtigen Weltlage1 in diese letzte Nummer einfügen konnten, gilt es dies hier nachzuholen. Schon 1902 – vor etwas mehr als 100 Jahren – stellte die Revolutionärin Rosa Luxemburg die Scheinheiligkeit der Grossmächte an den Pranger, die ihre "humanitäre Hilfe" der vom Vulkanausbruch von Martinique heimgesuchten Bevölkerung angedeihen liess, während sie umgekehrt nie einen Augenblick zögerten, die gleichen Leute zu massakrieren, wenn es darum ging, die Herrschaft auf die ganze Welt auszudehnen.2 Wenn wir heute die Reaktion der Grossmächte angesichts der Katastrophe betrachten, die sich Ende 2004 in Südasien ereignet hat, so müssen wir feststellen, dass sich die Dinge nicht zum Besseren verändert haben, im Gegenteil.
Heute wissen wir, dass die Zahl der direkt durch den Tsunami verursachten Toten 300'000 übersteigt, wobei vor allem diejenigen getroffen wurden, die ohnehin mittellos waren; hinzu kommen Hunderttausende von Obdachlosen. Ein solches Ausmass der Katastrophe ist keineswegs einfach "Schicksal". Man kann natürlich nicht den Kapitalismus beschuldigen, dass er das Seebeben verursacht habe, das zur gigantischen Flutwelle führte. Aber ihm sind die totale Nachlässigkeit und die Unverantwortlichkeit der Regierungen dieser Region der Welt und ihrer westlichen Doppelgänger anzulasten, die diese gewaltige menschliche Katastrophe nach sich zogen.3
Alle wussten, dass dieser Teil der Erde besonders erdbebengefährdet ist. "Die örtlichen Experten wussten jedenfalls, dass ein Drama im Anzug war. Im Dezember hatten indonesische Seismologen am Rande einer Physikertagung in Jakarta das Thema mit einem französischen Experten erörtert. Sie waren sich voll der Gefahr von Tsunamis bewusst, denn in diesem Teil der Erde kommt es ständig zu Beben" (Libération, 31.12.04).
Nicht nur die Experten waren im Bilde, sondern auch der ehemalige Direktor des Internationalen Tsunami-Informationszentrums in Hawaii, George Pararas-Carayannis, teilte mit, dass ein grösseres Beben zwei Tage vor der Katastrophe vom 26. Dezember stattgefunden habe. "Der Indische Ozean verfügt über eine Basisinfrastruktur, um Massnahmen gegen Beben zu treffen und Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen. Und niemand hätte überrascht sein sollen, denn am 24. Dezember war ein Beben mit der Grössenordnung von 8,1 auf der Richterskala gemessen worden. Allein dadurch hätten schon die Behörden gewarnt sein sollen. Aber es fehlt vor allem der politische Wille der betroffenen Länder und eine internationale Abstimmung entsprechend den Massnahmen, wie sie im Pazifik getroffen wurden" (Libération, 28.12.2004).
Niemand hätte überrascht sein dürfen und trotzdem ist das Schlimmste eingetreten, obwohl genügend Informationen über die sich abzeichnende Katastrophe verfügbar waren, um rechtzeitig zu handeln und das Massaker zu verhindern.
Dies ist keine Nachlässigkeit, sondern eine verbrecherische Haltung, die die tiefe Verachtung der herrschenden Klasse für die Bevölkerung und die Arbeiterklasse offenbart, die die Hauptopfer der bürgerlichen Politik der Regierungen vor Ort sind!
Dieses unverantwortliche Handeln der Regierungen verdeutlicht erneut die Lebensform dieser Räuberklasse, die das Leben und die Produktion in dieser Gesellschaft verwaltet. Wenn es darum geht, die Ausbeutung und den kapitalistischen Profit aufrechtzuerhalten, sind die bürgerlichen Staaten bereit, so viele Menschenleben, wie ihnen nötig scheint, zu opfern.
Der abgrundtiefe Zynismus der herrschenden Klasse und die Katastrophe, die die Weiterexistenz dieses tödlichen Ausbeutungssystems für die Menschheit bedeutet, werden noch offensichtlicher, wenn wir die Kosten eines Tsunami-Warnsystems vergleichen mit den gigantischen Summen, die für Rüstungsgüter nur schon in den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans, in so genannten "Entwicklungsländern", ausgegeben werden: Der Betrag von 20–30 Millionen Dollar, der nach Schätzungen nötig wäre, um ein System der Erkennung und der Vorwarnung in der Region einzurichten, entspricht gerade dem Preis von einem der 16 Flieger des Typs Hawk-309, die die indonesische Regierung in den 1990er-Jahren in Grossbritannien bestellte. Wenn wir die Militärbudgets von Indien (19 Milliarden Dollar), Indonesien (1,3 Milliarden Dollar) und Sri Lanka (540 Millionen Dollar – dies ist das kleinste und ärmste der drei Länder) betrachten, so springt ins Auge, wie dieses Wirtschaftssystem mit vollen Händen Geld ausgibt, um Tod zu säen, aber umgekehrt äusserst knauserig tut, wenn es darum geht, das Leben der Bevölkerung zu schützen.
Weitere Opfer sind angekündigt worden nach einem neuen Seebeben in der Region, das diesmal die indonesische Insel Nias getroffen hat. Die hohe Zahl der Toten und Verletzten ist auf das beim Häuserbau verwendete Material zurückzuführen, Betonblöcke, die den Erdstössen viel weniger widerstehen können als das Holz, das in der Region das herkömmliche Baumaterial ist. Aber eben, der Beton ist billig und das Holz teuer, und dies umso mehr, als dessen Export in die entwickelten Länder eine wichtige Einnahmequelle der indonesischen Kapitalisten, Mafiosi und Militärs ist. Diese neue Katastrophe mit der Rückkehr der westlichen Medien in die Region, die uns all die guten Taten der NGOs vor Ort zeigen wollen, offenbart auch, was die Folgen der grossen Solidaritätserklärungen waren, die die verschiedenen Regierungen nach dem Seebeben vom Dezember 2004 abgaben.
Was zunächst die Geldspenden betrifft, die die westlichen Regierungen versprachen, so ist das Missverhältnis zwischen den Rüstungsausgaben und dem Geld, das für Rettungszwecke zur Verfügung gestellt wird, noch schreiender als bei den Anrainerstaaten des Indischen Ozeans: Die Vereinigten Staaten, die zuerst an eine Hilfe in der Höhe von 35 Millionen Dollar dachten ("das, was wir im Irak jeden Morgen vor dem Frühstück ausgeben", wie der amerikanische Senator Patrick Leahy sagte), budgetieren Rüstungsausgaben für 2005/06 von 500 Milliarden Dollar, wobei die Kriegskosten in Afghanistan und Irak noch nicht mit eingerechnet sind. Und sogar hinsichtlich dieser erbärmlichen Hilfszusagen mussten wir darauf hinweisen, dass die westliche Bourgeoisie den Mund mit Versprechen voll nimmt, denen aber dann oft keine Taten folgen. "So hatte diese ‚internationale Gemeinschaft‘ im Dezember 2003 den Erdbebenopfern im Iran 115 Millionen $ zugesagt; bislang hat Teheran aber ganze 17 Mio. $ erhalten. Das Gleiche konnte man in Liberia beobachten: eine Milliarde Dollar wurden versprochen, weniger als 70 Mio. $ sind bislang eingetroffen."4 Die Asian Development Bank gibt heute bekannt, dass vom versprochenen Geld vier Milliarden Dollar immer noch fehlen, und BBC meldet: "Der srilankische Aussenminister Lakshman Kadigamar sagte, dass sein Land noch nichts von dem erhalten habe, was die Regierungen versprochen hätten." In Banda Aceh gibt es nach wie vor kein sauberes Wasser für die Bevölkerung (paradoxerweise sind die Flüchtlinge in ihren Barackenlagern die einzigen, denen die bei weitem ungenügenden Anstrengungen der NGOs zugute kommen). In Sri Lanka leben die Flüchtlinge aus der Region um Trincolamee (um nur ein Beispiel zu nennen) immer noch in Zelten und leiden an Durchfall und Windpocken; 65% der Fischerboote (von denen ein Grossteil der Bevölkerung der Insel abhängig ist) wurde durch den Tsunami zerstört, und sie sind immer noch nicht ersetzt worden.
Die Medien der Bourgeoisie erklären uns natürlich des Langen und Breiten, wie schwierig eine solche gross angelegte Hilfsaktion zu organisieren sei. Es ist sehr aufschlussreich, wenn man diese "Schwierigkeiten", der bedürftigen Bevölkerung zu helfen (was dem Kapital keinen Gewinn einbringt), vergleicht mit der eindrücklichen Logistik der amerikanischen Armee bei der Operation Wüstensturm: Erinnern wir uns daran, dass die Vorbereitung des Angriffs auf den Irak sechs Monate gedauert hat. In diesem Zeitraum wurde gemäss einem Artikel des Army Magazine5 folgendes in Bewegung gesetzt: "Das 22. Support Command erhielt mehr als 12'447 Raupenfahrzeuge, 102'697 Radfahrzeuge, 3,7 Milliarden Liter Treibstoff und 24 Tonnen Post in dieser kurzen Zeitspanne. Unter den Neuigkeiten im Vergleich zu früheren Kriegen sah man diesmal den Einsatz von Schiffen zum schnellen Verladen, den Transport mittels ultramoderner Container, ein effizientes System mit vereinheitlichtem Treibstoff und eine automatisierte Informationsverwaltung". Nun, immer wenn man uns über "logistische Schwierigkeiten" bei humanitären Operationen erzählt, sollten wir uns daran erinnern, welche Fähigkeiten der Kapitalismus zeigt, wenn es darum geht, imperialistische Interessen zu verteidigen.
Doch abgesehen davon, waren selbst die bescheidenen Geldbeträge und die elenden Dienste, die in die Region geschickt wurden, nicht gratis: Die Bourgeoisie gibt kein Geld ohne Gegenleistung aus. Wenn die westlichen Staaten ihre Hubschrauber, Flugzeugträger und Amphibienfahrzeuge in den Indischen Ozean sandten, so rechneten sie damit, an imperialistischem Einfluss in der Gegend zu gewinnen. Wie Condoleezza Rice vor dem amerikanischen Senat anlässlich ihrer Einsetzung als Staatssekretärin 6 unterstrich: "Ich bin einverstanden, wenn man sagt, dass der Tsunami eine wunderbare Gelegenheit geboten hat, um das Mitleid nicht nur der amerikanischen Regierung, sondern des amerikanischen Volkes zu zeigen, und ich denke, dass uns dies viel gebracht hat."7 Ebenso war der Entscheid der indischen Regierung, jede westliche Hilfe abzulehnen, voll und ganz durch den Wunsch begründet, "im Verein mit den Grossen mitzuspielen" und sich als regionale imperialistische Macht zu behaupten.
Wenn wir uns darauf beschränken würden, das obszöne Missverhältnis zwischen dem, was die Bourgeoisie zur Verbreitung des Todes ausgibt, und den immer elender werdenden Lebensbedingungen der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung festzustellen, würden wir nicht weiter gehen als all die guten Seelen, die die Demokratie verteidigen, als die NGOs jeder Couleur.
Aber auch die Grossmächte selber sind eingefleischte Verteidiger der Demokratie, und ihre über das Fernsehen verbreiteten Informationen bemühen sich, uns die Hoffnung zu vermitteln, dass sich dank dem unaufhaltsamen Vormarsch der Demokratie doch noch alles zum Guten wenden werde. Nach den Wahlen in Afghanistan durfte nun auch die Bevölkerung im Irak zum ersten Mal wählen, und Bush junior konnte den bewundernswerten Mut dieser Leute begrüssen, die einer wahrhaftigen Todesdrohung trotzten, um an die Urnen zu gehen und dem Terrorismus eine Absage zu erteilen. In der Ukraine folgte die "orangefarbene Revolution" dem Vorbild Georgiens und beseitigte das korrupte, Russland ergebene Regime durch den heldenhaften Juschtschenko. Im Libanon forderte die mobilisierte Jugend eine Aufklärung der Ermordung des oppositionellen Rafik Hariri und den Abzug der syrischen Truppen aus dem Land. In Palästina erteilten die Wahlen Mahmud Abbas einen klaren Auftrag, dem Terrorismus Einhalt zu gebieten und einen gerechten Frieden mit Israel abzuschliessen. Und in Kirgistan endlich fegte eine "Tulpenrevolution" den alten Präsidenten Akayev weg. Wir stehen also scheinbar vor einem wahrhaften Ausbruch der Demokratie, von "people power", der nun endlich die "Neue Weltordnung" bringen soll, die uns 1989 mit dem Einsturz der Berliner Mauer versprochen wurde.
Aber sobald wir etwas an der Oberfläche kratzen, verschwindet der rosafarbene Anstrich.
So spitzten die Wahlen im Irak nur den Machtkampf zwischen den verschiedenen Fraktionen der irakischen Bourgeoisie zu. Mit mühsamen Verhandlungen zwischen Schiiten und Kurden über die Machtaufteilung und den Grad an Autonomie, der dem kurdischen Teil des Landes gewährt werden soll, geht dieser Kampf weiter. Sie haben zwar einstweilen eine Vereinbarung über bestimmte Regierungsposten abschliessen können, haben aber umgekehrt die delikate Frage um Kirkuk, eine reiche Erdöl-Stadt im Norden des Iraks, auf die lange Bank schieben müssen; über diese Angelegenheit streiten sich Sunniten und Kurden, und sie wird auch weiterhin zu blutigen Zusammenstössen führen. Man kann sich auch fragen, wie weit die kurdischen Führer die irakischen Wahlen überhaupt Ernst nahmen, da sie am selben Tag eine "Umfrage" organisierten, nach der 95% der Kurden ein unabhängiges Kurdistan wünschten. "Die Selbstbestimmung ist ein Naturrecht unseres Volkes, und es hat ein Recht darauf, seine Wünsche zu äussern", sagte der kurdische Führer Barzani, "wenn die Zeit reif ist, wird die Selbstbestimmung Wirklichkeit".8 Die Lage der Kurden lässt für die Stabilität der Region Schlimmes befürchten, denn jeder Versuch von ihrer Seite, ihre Unabhängigkeit zu behaupten, wird von zwei angrenzenden Mächten mit bedeutenden kurdischen Minderheiten als unmittelbare Bedrohung aufgefasst: von der Türkei und dem Iran.
Die irakischen Wahlen stellten für die USA einen Medienerfolg dar, der den Widerstand der Rivalen, namentlich Frankreichs, auf der politischen Ebene beträchtlich dämpfte. Umgekehrt ist aber die Regierung Bush kaum entzückt über die Perspektive eines von Schiiten beherrschten Iraks, die mit dem Iran und somit indirekt auch mit Syrien und dessen Schergen im Libanon, dem Hisbollah, verbündet sind. In diesem Zusammenhang ist die Ermordung Rafik Hariris zu sehen und zu verstehen, des mächtigen politischen Führers und Geschäftsmanns im Libanon.
Die ganze westliche Presse – allen voran die amerikanische und französische – zeigten mit dem Finger auf Syrien. Doch alle Kommentatoren waren sich einig darüber, dass erstens Hariri kein wirklich Oppositioneller war (er war vielmehr Ministerpräsident unter syrischer Vormundschaft während 10 Jahren), und zweitens Syrien zuletzt Nutzniesser des Verbrechens ist; vielmehr war Syrien gezwungen, den Abzug all seiner Truppen bis zum 30. April anzukündigen.9 Umgekehrt sind diejenigen, die aus der Situation Nutzen ziehen, einerseits Israel, das den Einfluss der Hisbollah schwinden sieht, und andererseits die Vereinigten Staaten, die die Gelegenheit beim Schopf packten, um Syrien aus dem Land zu schicken. Heisst dies nun, dass die "demokratische Revolution", die diesen Rückzug ausgelöst hat, ein neues Gebiet des Friedens und des Wohlstands erobert hätte? Es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, wenn man weiss, dass die heutigen "Oppositionellen" (wie der drusische Führer Walid Dschumblat) nichts anderes als Kriegsherren sind, nämlich die zentralen Figuren des blutigen Libanon-Konflikts von 1975 bis 1990; schon mehrere Bombenanschläge sind in christlichen Gebieten des Libanons verübt worden, während der Hisbollah (mit seinen 20'000 Bewaffneten) Massendemonstrationen abhält.
Auch die erzwungene Absetzung des kirgisischen Präsidenten Akayev kündet nur noch mehr Elend und Unbeständigkeit an. Dieses Land, das zu den ärmsten Zentralasiens gehört und bereits russische und amerikanische Militärbasen auf seinem Territorium hat, sieht sich immer mehr mit Begehrlichkeiten Chinas konfrontiert. Abgesehen davon ist es eine bevorzugte Zwischenstation für den Drogentransport. Unter diesen Bedingungen ist der jüngste "demokratische" Umsturz nichts anderes als ein Moment in der Abrechnung, die die Grossmächte mit Stellvertretern betreiben.
Im 20. Jahrhundert stürzten die imperialistischen Rivalitäten den Planeten zweimal mit Weltkriegen in schreckliche Schlächtereien; darüber hinaus folgte nach 1945 ein Krieg dem anderen – Kriege, die die beiden grossen imperialistischen Blöcke, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren, einander lieferten, bis 1989 der russische Block zusammenbrach. Am Ende jedes Gemetzels verspricht uns die herrschende Klasse, dass dies nun der letzte Krieg gewesen sei: der Krieg von 1914–18 war der "allerletzte", der Krieg von 1939–45 sollte eine neue Phase des Wiederaufbaus und der von der UNO garantierten Freiheit eröffnen, das Ende des Kalten Krieges 1989 war angeblich der Beginn einer "Neuen Weltordnung" des Friedens und des Wohlstandes. Für den Fall, dass sich die Arbeiterklasse heute Fragen zum Stand dieser "Neuen Ordnung" (des Krieges und des Elends) stellt, erwarten uns in diesen Jahren 2004 und 2005 prunkvolle Triumphfeiern der Demokratie (Landung der Alliierten in der Normandie vom Juni 1944) wie auch Gedenkfeiern an die Schrecken des Nationalsozialismus (aus Anlass der Befreiung der Konzentrationslager). Man kann davon ausgehen, dass die demokratische Bourgeoisie umgekehrt wenig Klamauk zu den 20 Millionen Toten des russischen Gulags veranstalten wird, da doch die UdSSR ihr Verbündeter gegen Hitler war, und ebenso wenig zu den 340'000 Toten in Hiroshima und Nagasaki, zur Erinnerung an die Tage, als die grösste Demokratie der Welt das einzige Mal in der Geschichte die Waffe des Armageddon, die Atombombe, gegen ein bereits besiegtes Land einsetzte.10
Es gibt also keinen Grund, in diese bürgerliche Klasse auch nur einen Funken Vertrauen zu haben, die uns hoch und heilig verspricht, den Frieden und den Wohlstand zu verbreiten. Im Gegenteil: "Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reissende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit –, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt."11 Gegen diesen makabren Sabbat kann nur das Proletariat einen wirklichen Widerstand aufbauen, der auch tatsächlich fähig ist, dem Krieg ein Ende zu setzen, weil er dem Kapitalismus selber – dem wahren Kriegstreiber – ein Ende bereiten wird.
Gegen Ende des Vietnamkrieges war die amerikanische Armee nicht mehr kampftauglich. Die Soldaten – die meisten von ihnen einberufene – weigerten sich regelmässig, an die Front zu gehen und brachten "übereifrige" Offiziere um. Diese Demoralisierung war nicht die Folge einer militärischen Niederlage, sondern des Umstandes, dass es der amerikanischen Bourgeoisie im Gegensatz zum Krieg von 39–45 nicht gelungen war, das Proletariat für ihre imperialistischen Absichten zu gewinnen.
Bevor sich die Kriegstreiber im Pentagon zur Invasion in den Irak entschieden, überzeugten sie sich davon, dass das "Vietnamsyndrom" überwunden war. Und doch gibt es unter den amerikanischen Arbeitern in Uniform eine immer grössere Weigerung dagegen, ihr Leben für die militärischen Abenteuer ihrer Bourgeoisie hinzugeben: Seit dem Begin des Irakkrieges haben etwa 5'500 Soldaten desertiert, gleichzeitig fehlen bei der Reserve (die rund die Hälfte der Truppen stellt) etwa 5'000 Mann: Diese Gesamtheit von 10'500 Mann macht fast 8% der Truppenstärke im Irak von total 135'000 aus.
Für sich allein bildet dieser
passive Ungehorsam keine Zukunftsperspektive. Aber der alte Maulwurf des
Klassenbewusstseins fährt mit seiner Wühlarbeit fort, und das langsame Erwachen
des Arbeiterwiderstandes gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen
beinhaltet nicht nur Auflehnung, sondern auch die potentielle Zerstörung dieser
alten verfaulenden Welt – eine Umwälzung, die für immer die Kriege, das Elend
und alle Scheinheiligkeit beseitigen wird.
Jens, 9. April 2005
Fußnoten:
1 s. Weltrevolution Nr. 128 und www.internationalism.org/german: [18] Tödliche Flutwelle in Südasien – die wahre Katastrophe ist der Kapitalismus!
2 Rosa Luxemburg, Martinique, Gesammelte Werke Bd. 1/2, S. 249
3 Unmittelbar vor dem Ausbruch des Vulkans Pelée auf Martinique versicherten die staatlichen "Sachverständigen" der Bevölkerung, dass sie von ihm nichts zu befürchten hätten.
4.s. Weltrevolution Nr. 128 und www.internationalism.org/german: [18] Tödliche Flutwelle in Südasien – die wahre Katastrophe ist der Kapitalismus!
5 s. Offizielle Zeitschrift des Amerikanischen Armee-Vereins, s. https://www.ausa.org/www/armymag.nsf/ [19]
6 Das heisst als Aussenministerin.
7 s. Agence France Presse, 18.01.2005, https://www.commondreams.org/headlines05/0118-08.htm [20]
8 Zitiert nach Al Jazira: https://english.aljazeera.net/NR/exeres/350DA932-63C9-4666-9014-2209F872... [21]
9 Bis jetzt konnte die von der UNO geführte Untersuchung einzig feststellen, dass die Ermordung unbedingt die Beteiligung eines in der Region tätigen Geheimdienstes voraussetzte, d.h. der Israelis, der Franzosen, der Syrer oder der Amerikaner. Natürlich kann man auch die These nicht ausschliessen, dass die syrischen Geheimdienste schlicht unfähig waren.Die Ereignisse von 1905 fanden statt, als die Periode des Niedergangs des Kapitalismus heraufdämmerte. Dieser Niedergang setzte bereits Zeichen, auch wenn nur eine winzige Minderheit der Revolutionäre jener Zeit in der Lage war, seine Bedeutung für den tief greifenden Wandel zu erahnen, der sich in der Gesellschaft und in den Bedingungen des proletarischen Kampfes vollzog. Im Verlaufe dieser Ereignisse entfaltete die Arbeiterklasse massive Bewegungen über die Fabriken, Branchen und sonstigen Kategorien hinaus. Es gab keine gemeinsamen Forderungen, auch keine klare Unterscheidung zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen, wie dies zuvor mit dem Gewerkschaftskampf auf der einen und dem parlamentarischen Kampf auf der anderen Seite der Fall gewesen war. Es gab keine klaren Direktiven von den politischen Parteien oder den Gewerkschaften. Zum ersten Mal schuf die Dynamik einer Bewegung Organe, die Sowjets (oder: Arbeiterräte), welche zur Form werden sollten, in der sich das revolutionäre Proletariat in Russland 1917 und während der revolutionären Welle, die Europa im Anschluss an den Oktober erschütterte, organisieren und Macht ausüben sollte.
1905 nahm die Arbeiterbewegung an, dass die bürgerliche Revolution in Russland noch immer auf der Tagesordnung stand, da die russische Bourgeoisie nicht die politische Macht hatte, sondern dem feudalen Zarismus unterjocht blieb. Doch sollte die führende Rolle, die die Arbeiterklasse in diesen Ereignissen übernahm, diese Idee auf den Kopf stellen. Die reaktionäre Orientierung, die der parlamentarische und gewerkschaftliche Kampf im Begriff war anzunehmen, entsprechend dem Periodenwechsel, der stattgefunden hatte, war beileibe nicht deutlich und sollte es für eine geraume Zeit auch nicht werden. Doch die zweitrangige oder völlig nicht-existente Rolle, die die Gewerkschaften und das Parlament in der Bewegung in Russland spielten, war ein erstes ersichtliches Anzeichen dafür. Die Fähigkeit der Arbeiterklasse, die Leitung ihrer eigenen Zukunft zu übernehmen und sich selbst zu organisieren, weckte Zweifel an der Sichtweise der deutschen Sozialdemokratie und der internationalen Arbeiterbewegung, was die Aufgaben der Partei, ihre Funktion als Richtungsweisende Organisation der Arbeiterklasse anbelangte, und warf ein neues Licht auf die Verantwortlichkeiten der politischen Avantgarde der Arbeiterklasse. Viele Elemente, die später entscheidende Positionen der Arbeiterbewegung in der Phase der kapitalistischen Dekadenz bilden sollten, waren 1905 bereits vorhanden.
Die Revolution von 1905 war Gegenstand vieler Schriften innerhalb der Arbeiterbewegung zu jener Zeit, und die Fragen, die sie stellte, wurden heiss debattiert. Innerhalb des Rahmens einer kleinen Reihe von drei Artikeln wollen wir uns auf bestimmte Lehren konzentrieren, die uns als zentral für die Arbeiterbewegung heute und immer noch als völlig relevant erscheinen: der revolutionäre Charakter der Arbeiterklasse und die ihr innewohnende Fähigkeit, sich dem Kapitalismus historisch entgegenzustellen und der Gesellschaft eine neue Perspektive zu geben; der Charakter der Sowjets, "Die endgültige Form der Diktatur des Proletariats", wie Lenin sagte; die Fähigkeit der Arbeiterklasse, aus der Erfahrung zu lernen, die Lehren aus ihren Niederlagen zu ziehen, die Kontinuität ihrer historischen Schlacht und die Reifung der Bedingungen für die Revolution. Um so zu verfahren, müssen wir zunächst kurz zu den Ereignissen von 1905 zurückkehren, wobei wir uns auf jene beziehen, die Zeugen und Protagonisten zu dieser Zeit waren, wie Trotzki, Lenin, Rosa Luxemburg, und die in ihren Schriften imstande waren, nicht nur die allgemeinen politischen Lehren zu ziehen, sondern auch die intensiven Emotionen, die durch den Kampf in jenen Monaten geweckt wurden, zu vermitteln.(1)
Die Russische Revolution von 1905 ist eine besonders deutliche Veranschaulichung dessen, was der Marxismus meint, wenn er vom grundsätzlich revolutionären Charakter der Arbeiterklasse spricht. Sie zeigt die Fähigkeit des russischen Proletariats, von einer Situation, in der es ideologisch von den Werten der kapitalistischen Gesellschaft beherrscht wurde, zu einer Position zu gelangen, in welcher es durch eine massive Kampfbewegung sein Selbstvertrauen entfaltete, seine Solidarität entwickelte und seine historische Stärke entdeckte, bis hin zu dem Punkt, wo es Organe schuf, die es in die Lage versetzte, seine Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Dies ist ein lebendiges Beispiel für die materielle Kraft, zu der das Klassenbewusstsein des Proletariats wird, wenn es beginnt, sich zu regen. In den Jahren vor 1968 erzählte uns die westliche Bourgeoisie, dass das Proletariat "verbürgerlicht" sei, dass nichts mehr von ihm zu erwarten sei. Die Ereignisse in Frankreich 1968 und die gesamte internationale Welle von Kämpfen, die dem folgten, überführten dies als glatte Lüge. Sie beendeten die längste Periode einer Konterrevolution in der Geschichte, die durch die Niederlage der revolutionären Welle von 1917–23 eingeleitet worden war. Selbst nach dem Fall der Berliner Mauer hörte die Bourgeoisie nicht auf zu erklären, dass der Kommunismus tot und die Arbeiterklasse verschwunden sei – und die Schwierigkeiten, die Letztere erfuhr, schienen ihr Recht zu geben. Die Bourgeoisie hat stets ein Interesse, ihren eigenen Totengräber zu begraben. Doch die Arbeiterklasse existiert weiterhin – es gibt keinen Kapitalismus ohne Arbeiterklasse, und was 1905 in Russland stattfand, zeigt uns, wie sie von einer Situation der Unterwerfung und der ideologischen Konfusion unter dem kapitalistischen Joch in eine Lage gelangen kann, in welcher sie zum Subjekt der Geschichte wird, auf dem alle Hoffnungen ruhen, da sie die Zukunft der Menschheit in ihrem eigentlichen Dasein verkörpert.
Bevor wir uns der Dynamik der russischen Revolution von 1905 widmen, müssen wir kurz den internationalen und historischen Kontext in Erinnerung rufen, der Ausgangspunkt der Revolution war. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren von einer besonders ausgeprägten wirtschaftlichen Entwicklung in ganz Europa gekennzeichnet. Es waren die Jahre, in denen sich der Kapitalismus am dynamischsten entwickelte. Die Länder, die im kapitalistischen Sinne fortgeschritten waren, versuchten, in die rückständigen Regionen zu expandieren, sowohl um billige Arbeitskräfte und Rohstoffe zu erschliessen als auch um neue Märkte für ihre Produkte zu schaffen. In diesem Kontext wurde das zaristische Russland, ein Land, dessen Wirtschaft noch sehr rückständig war, zu einem idealen Objekt für den Import grosser Summen ausländischen Kapitals, um eine mittelständische und Grossindustrie zu errichten. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde die Wirtschaft vollständig umgewandelt: "Einen mächtigen Hebel der Industrialisierung des Landes bildeten die Eisenbahnen."2 Verglichen mit anderen Ländern mit soliderer Industriestruktur wie Deutschland und Belgien, zeigen die von Trotzki zitierten Daten der Industrialisierung Russlands, dass, obwohl die Zahl der Arbeiter im Verhältnis zur riesigen Bevölkerung immer noch relativ bescheiden war (1,9 Millionen verglichen mit 1,56 in Deutschland und 600'000 im winzigen Belgien), Russland dennoch eine moderne Industriestruktur hatte, ebenbürtig mit jener der anderen Weltmächte. Scheinbar aus dem Nichts wurde die kapitalistische Industrie Russlands nicht durch eine innere Dynamik, sondern mithilfe ausländischen Kapitals und ausländischer Technologie geschaffen. Trotzkis Daten zeigen, dass die Arbeitskraft in Russland weitaus konzentrierter als in anderen Ländern war, weil sie überwiegend zwischen den mittleren und grossen Unternehmen aufgeteilt war (38,5% in Unternehmen mit mehr als 1'000 Arbeitern und 49,5% in Unternehmen zwischen 51 und 1'000 Arbeitern, wohingegen es in Deutschland 10% resp. 46% waren). Diese Daten über die Wirtschaftsstruktur erklären die revolutionäre Vitalität eines Proletariats, das ansonsten unterging in einem zutiefst rückständigen Land, welches noch immer von der bäuerlichen Wirtschaft beherrscht wurde.
Darüber hinaus fielen die Ereignisse von 1905 nicht aus heiterem Himmel, sondern waren das Produkt von Ereignissen, die Russland vom Ende des 19. Jahrhunderts an fortlaufend schüttelten. Wie Rosa Luxemburg zeigt: "Dieser Januarmassenstreik in Petersburg spielte sich nun zweifellos unter dem unmittelbaren Eindruck jenes riesenhaften Generalstreiks ab, der kurz vorher, im Dezember 1904, im Kaukasus, in Baku, ausgebrochen war und eine Weile lang ganz Russland in Atem hielt. Die Dezemberereignisse in Baku waren aber ihrerseits nichts anderes als ein letzter und kräftiger Ausläufer jener gewaltigen Massenstreiks, die wie ein periodisches Erdbeben in den Jahren 1903 und 1904 ganz Südrussland erschütterten und deren Prolog der Massenstreik in Batum (im Kaukasus) im März 1902 war. Diese erste Massenstreikbewegung in der fortlaufenden Kette der jetzigen revolutionären Eruptionen ist endlich nur um vier bis fünf Jahre vor dem grossen Generalstreik der Petersburger Textilarbeiter in den Jahren 1896 und 1897 entfernt…"3
Der 9. Januar 20054 ist der 100. Jahrestag des so genannten "Blutigen Sonntags", der am Anfang einer Reihe von Ereignissen im alten zaristischen Russland stand, die das Jahr 1905 hindurch stattfanden und in einer blutigen Repression des Moskauer Aufstandes im Dezember mündeten. Die Aktivitäten der Klasse fanden praktisch pausenlos das ganze Jahr hindurch statt, obwohl die Kampfformen nicht immer dieselben waren und die Kämpfe nicht immer dieselbe Intensität besassen. Es gab drei bedeutende Momente während dieses revolutionären Jahres: die Monate Januar, Oktober und Dezember.
Im Januar 1905 wurden vier Arbeiter von den Putilow-Werken in St. Petersburg entlassen. Aus Solidarität mit ihnen begann eine Streikbewegung: Es wurde eine Petition für politische Freiheit, für das Recht auf Bildung und den Achtstundentag, gegen die Besteuerung etc. entworfen, die dem Zaren von einer Massendemonstration überreicht werden sollte. Es war die Repression dieser Demonstration, die zum Ausgangspunkt eines einjährigen revolutionären Grossbrandes werden sollte. In der Tat kam der revolutionäre Prozess in Russland auf einzigartige Weise in Fahrt. "Tausende von Arbeitern – wohlgemerkt keine Sozialdemokraten, sondern religionsfromme, kaiserfromme Leute – unter der Führung des Priesters Gapon gehen von allen Stadtteilen aus zum Zentrum der Hauptstadt, zum Platze vor dem Winterpalast, um dem Zaren eine Petition zu überreichen. Die Arbeiter gehen mit Heiligenbildern, und ihr damaliger Führer Gapon versichert dem Zaren schriftlich, er bürge ihm für die Unverletzlichkeit seiner Person und bitte ihn, vor dem Volk zu erscheinen."5 Im April 1904 war Pater Gapon der Spiritus Rector einer "Versammlung russischer Fabrik- und Büroarbeiter in der Stadt St. Petersburg", autorisiert von der Regierung und im geheimen Einverständnis mit dem Polizeioffizier Subatow.6 Wie Lenin sagte, bestand die Rolle dieser Organisation darin, die damalige Arbeiterbewegung zu umklammern und zu kontrollieren, so wie heute, wo dasselbe Ziel mit anderen Mitteln erreicht wird. Doch der Druck, der sich innerhalb des Proletariats aufgebaut hatte, hatte bereits den kritischen Punkt erreicht. "Der legale Arbeiterverein war Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit der Subatowleute. Und nun wächst die Subatowsche Bewegung über ihren Rahmen hinaus, und diese von der Polizei im Interesse der Polizei, zur Unterstützung der Selbstherrschaft, zur Demoralisierung des politischen Selbstbewusstsein der Arbeiter geschaffene Bewegung wendet sich gegen die Selbstherrschaft, wird zu einem Ausbruch des proletarischen Klassenkampfes."7 All dies nahm Gestalt an, als die Arbeiter am Winterpalast ankamen, um dem Zaren ihre Forderungen auszuhändigen, und von den Truppen attackiert wurden, die "die Menge mit der blanken Waffe an(greifen), es wird geschossen gegen die waffenlosen Arbeiter, die auf den Knien die Kosaken anflehten, sie zum Kaiser zu lassen. Nach polizeilichen Mitteilungen gab es mehr als tausend Tote, mehr als zweitausend Verwundete. Die Erbitterung der Arbeiter war unbeschreiblich."8 Die Petersburger Arbeiter hatten an den Zaren, den sie den "Kleinen Vater" nannten, appelliert, und sie waren ausser sich vor Zorn, als er ihre Petition mit bewaffneten Kräften beantwortete. Es war diese tiefe Empörung, die den revolutionären Kampf des Januars auslöste. Dieselbe Arbeiterklasse, die eben noch Pater Gapon und religiösen Ikonen gefolgt war und ihre Petition an den "Kleinen Vater des Volkes" gerichtet hatte, zeigte nun, im Moment der Revolution, eine unvorhergesehene Stärke. Der geistige Zustand des Proletariats veränderte sich in dieser Periode rapide; dies ist typisch für den revolutionären Prozess, in welchem die Proletarier, worin ihr Glauben und ihre Furcht auch immer bestand, entdecken und sich bewusst werden, dass ihre Einheit sie stark macht. "Von einem Ende bis zum anderen ging eine gewaltige Streikwoge über das Land, die seinen ganzen Körper erschütterte. Nach annähernder Schätzung umfasste der Streik 122 Städte und Dörfer, einige Bergwerke des Donezbassins und 10 Eisenbahnen. Die proletarischen Massen wurden bis in ihre Tiefen aufgewühlt. Der Streik zog gegen eine Million Menschen in seinen Bannkreis. Ohne Plan, oft ohne Forderungen, sich immer wieder erneuernd, nur dem Solidaritätsinstinkte gehorchend, beherrschte er fast zwei Monate lang das Land."9 Sich auf Streikaktionen aus Solidarität einzulassen, ohne eine spezifische Forderung zu stellen, da "der nach Millionen zählenden proletarischen Masse ganz plötzlich scharf und schneidend die Unerträglichkeit jenes sozialen und ökonomischen Daseins zum Bewusstsein kam.”10, war sowohl ein Ausdruck als auch ein aktiver Faktor bei der Reifung des Bewusstseins des russischen Proletariats darüber, dass es eine Klasse ist und dass es als solche seinen Klassenfeind konfrontieren muss.
Dem Generalstreik im Januar folgte eine Periode andauernder Kämpfe um ökonomische Forderungen, die überall im Land aufflackerten und wieder erloschen. Diese Periode war weniger spektakulär, aber ebenso wichtig. "Die verschiedenen Unterströme des sozialen Prozesses der Revolution durchkreuzen einander, hemmen einander, steigern die inneren Widersprüche der Revolution (…) nicht nur der Januarblitz des ersten Generalstreiks, sondern noch mehr das darauffolgende grosse Frühlings- und Sommergewitter der ökonomischen Streiks (spielten) eine grosse Rolle". Auch wenn es "keine Sensationsnachrichten vom russischen Kampfplatz" gab, "wird in der Wirklichkeit in der Tiefe des ganzen Reiches die ganze Maulwurfsarbeit der Revolution ohne Rast Tag für Tag und Stunde für Stunde fortgesetzt" (ebenda). In Warschau fanden blutige Konfrontationen statt. In Lodz wurden Barrikaden errichtet. Die Matrosen des Panzerkreuzers Potemkin meuterten auf dem Schwarzen Meer. Diese gesamte Periode bereitete die zweite, stärkere Periode der Revolution vor.
"Diese zweite revolutionäre Hauptaktion des Proletariats trägt schon einen wesentlich anderen Charakter als die erste im Januar. Freilich war auch hier der erste Anlass zum Ausbruch des Massenstreiks ein untergeordneter und scheinbar zufälliger: der Konflikt der Eisenbahner mit der Verwaltung wegen der Pensionskasse. Allein die darauf erfolgte allgemeine Erhebung des Industrieproletariats wird vom klaren politischen Gedanken getragen. Der Prolog des Januarstreiks war ein Bittgang zum Zaren um politische Freiheit, die Losung des Oktoberstreiks lautete: ‚Fort mit der konstitutionellen Komödie des Zarismus!‘ Und dank dem sofortigen Erfolg des Generalstreiks, dem Zarenmanifest vom 30. Oktober, fliesst die Bewegung nicht nach innen zurück, wie im Januar, um erst die Anfänge des ökonomischen Klassenkampfes nachzuholen, sondern ergiesst sich nach aussen, in eine eifrige Bestätigung der frisch eroberten politischen Freiheit. Demonstrationen, Versammlungen, eine junge Presse, öffentliche Diskussionen und blutige Massaker als das Ende vom Lied, darauf neue Massenstreiks und Demonstrationen…" (ebenda)
Im Oktober fand eine qualitative Änderung statt, die in der Bildung eines Sowjets in Petersburg ihren Ausdruck fand, welcher zu einem Meilenstein in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung werden sollte. Mit der Ausweitung des Druckarbeiterstreiks auf die Eisenbahnen und Telegrafenämter trafen die Arbeiter auf einer allgemeinen Versammlung die Entscheidung, einen Sowjet zu bilden, der zum zentralen Nervensystem der Revolution wurde. "Der Arbeiter-Delegiertenrat entstand als die Erfüllung eines objektiven, durch den Gang der Ereignisse erzeugten Bedürfnisses nach einer Organisation, die die Autorität darstellen könnte, ohne Traditionen zu haben, einer Organisation, die mit einem Male die zerstreuten, nach Hunderttausenden zählenden Massen umfassen könnte, ohne ihnen viele organisatorische Hemmungen aufzuerlegen, nach einer Organisation, die die revolutionären Strömungen innerhalb des Proletariats vereinigen, die einer Initiative fähig und automatisch sich selbst kontrollieren könnte…".11 Bald darauf wurden Sowjets auch in vielen anderen Städten gegründet.
Die Bildung der ersten Sowjets verlief unbemerkt von einem grossen Teil der internationalen Bewegung. Rosa Luxemburg, die auf der Basis der Revolution von 1905 so meisterhaft die neuen Kennzeichen des Kampfes des Proletariats in der Morgendämmerung einer neuen historischen Epoche – den Massenstreik – analysiert hatte, betrachtete die Gewerkschaften noch immer als die Organisationsform der Klasse.12 Es waren die Bolschewiki (wenn auch nicht sofort) und Trotzki, die den Fortschritt erkannten, den die Bildung dieser Organe für die Arbeiterbewegung darstellte, denn sie begriffen, dass die Sowjets tatsächlich Organe für die Machtergreifung sind. Wir werden diesen Punkt hier nicht weiter ausführen, da wir ohnehin beabsichtigen, uns mit ihm in einem anderen Artikel näher zu befassen.13 Wir wollen nur darauf hinweisen, dass von dem Moment an, wo der Kapitalismus in seine Epoche des Niedergangs getreten war, das Proletariat mit der unmittelbaren Aufgabe des Sturzes des Kapitalismus konfrontiert war. So führten zehn Monate des Kampfes, der sozialistischen Agitation, der Reifung des Bewusstseins, der Änderung des Gleichgewichts der Kräfte zwischen den Klassen ganz "natürlich" zur Schaffung von Organen zur Ausübung von Macht.
"Insgesamt waren die Sowjets ganz simple Streikkomitees, gleich jenen, die stets während wilder Streiks gebildet worden waren. Da die Streiks in Russland in den grossen Fabriken ausbrachen und sich sehr schnell auf die Städte und Provinzen ausbreiteten, mussten die Arbeiter permanent in Kontakt bleiben. Sie trafen sich am Arbeitsplatz und diskutierten, (…) sie sandten Delegationen zu anderen Fabriken (…) Doch diese Aufgaben waren tatsächlich viel breiter gefächert als in den gegenwärtigen Streiks. Die Arbeiter mussten sich wirklich von der schlimmen Unterdrückung durch den Zarismus befreien und waren sich darüber bewusst, dass durch ihre Tat die eigentlichen Fundamente der russischen Gesellschaft umgewandelt wurden. Es ging nicht nur um Löhne, sondern auch um all die allgemeinen, die Gesellschaft betreffenden Probleme. Sie mussten für sich selbst einen zuverlässigen Weg in den vielen Gebieten finden und sich mit politischen Fragen befassen. Als sich der Streik intensivierte und übers ganze Land ausbreitete, was Industrie und Transport zum Erliegen brachte und die Behörden lähmte, waren die Sowjets mit neuen Problemen konfrontiert. Sie mussten das gesellschaftliche Leben organisieren, auf die Aufrechterhaltung der Ordnung wie auf die effiziente Funktionsweise des lebenswichtigen öffentlichen Dienstes achten, kurz: Funktionen erfüllen, die gewöhnlich Sache der Regierung sind. Die Arbeiter führten die von ihnen getroffenen Entscheidungen auch aus."14
"Die Gärung nach dem kurzen Verfassungstraum und dem grausamen Erwachen führt endlich im Dezember zum Ausbruch des dritten allgemeinen Massenstreiks im ganzen Zarenreich. Diesmal sind der Verlauf und der Ausgang wieder ein ganz anderer als in den beiden früheren Fällen. Die politische Aktion schlägt nicht mehr in eine ökonomische um wie im Januar, sie erringt aber auch nicht mehr einen raschen Sieg wie im Oktober. Die Versuche der russischen Kamarilla mit der wirklichen politischen Freiheit werden nicht mehr gemacht, und die revolutionäre Aktion stösst somit zum ersten Male in ihrer ganzen Breite auf die starre Mauer der materiellen Gewalt des Absolutismus."15 Aufgeschreckt von der Bewegung des Proletariats, reihte sich die kapitalistische Bourgeoisie hinter dem Zaren ein. Der Regierung gelang es nicht, die liberalen Gesetze, die sie versprochen hatte, durch die Duma zu bringen. Die Führer des Petrograder Sowjet wurden inhaftiert. Doch in Moskau wurde der Kampf fortgesetzt: "Der Gipfel der Revolution 1905 bildete der Dezemberaufstand in Moskau. Die kleine Zahl der Aufständischen, nämlich der organisierten und bewaffneten Arbeiter – sie waren nicht zahlreicher als etwa achttausend – leistete während neun Tagen Widerstand der zaristischen Regierung, die der Moskauer Garnison kein Vertrauen schenken konnte, dieselbe vielmehr hinter Schloss und Riegel halten musste und nur dank der Ankunft des Semenowski-Regiments aus Petersburg den Aufstand zu unterdrücken imstande war".16
Das historische Hauptelement ist bereits umrissen worden, und wir wollen daher hier nur einen Punkt unterstreichen: Die Revolution von 1905 hatte nur einen Hauptprotagonisten, das russische Proletariat, und ihre ganze Dynamik folgte strikt der Logik dieser Klasse. Die gesamte internationale Arbeiterbewegung erwartete eine bürgerliche Revolution in Russland und glaubte, dass es die zentrale Aufgabe der Arbeiterklasse war, sich am Sturz des Feudalstaates zu beteiligen und auf eine Etablierung bürgerlicher Freiheiten zu drängen, wie dies in den Revolutionen von 1789 und 1848 der Fall gewesen war. Doch nicht nur, dass es der Massenstreik der Arbeiterklasse war, der das Ganze anschob, darüber hinaus führte seine Dynamik zur Schaffung von Machtorganen der Arbeiterklasse. Lenin selbst war sich klar genug darüber, als er sagte, dass es abgesehen von ihrem "bürgerlich demokratischen" Charakter und "nach ihrem sozialen Inhalt (…) eine proletarische (Revolution) war, nicht nur in dem Sinne, dass das Proletariat die führende Kraft, die Avantgarde der Bewegung darstellte, sondern auch in dem Sinne, dass das spezifische proletarische Kampfesmittel, nämlich der Streik, das Hauptmittel der Aufrüttelung der Massen und das am meisten Charakteristische im wellenmässigen Gang der entscheidenden Ereignisse bildete." (ebenda) Doch wenn Lenin vom Streik sprach, dürfen wir diesen nicht als 4, 8 oder 24-Stunden-Aktion verstehen, wie heute von den Gewerkschaften allerorten vorgeschlagen. Tatsächlich sollte das, was sich 1905 entwickelte und später Massenstreik genannt wurde, sollte dieses "Meer von Erscheinungen" – wie es Rosa Luxemburg bezeichnete – die spontane Ausweitung und Selbstorganisierung des Kampfes des Proletariats alle grossen Bewegungen von Kämpfen im 20. Jahrhundert charakterisieren. "Der rechte Flügel der Zweiten Internationalen, die Mehrheit, konnte, überrascht von der Gewalttätigkeit dieser Ereignisse, überhaupt nicht verstehen, was vor sich ging, sondern offenbarte seine lautstarke Missbilligung und Abscheu gegenüber der Entwicklung des Klassenkampfes – und liess somit den Prozess erahnen, der ihn in das Lager des Klassenfeindes führen sollte."17 Der linke Flügel, der die Bolschewiki, Rosa Luxemburg und Pannekoek mit einschloss, sah sich bald in seinen Positionen (gegen Bernsteins Revisionismus18 und den parlamentarischen Kretinismus) bestätigt, doch er musste grosse theoretische Anstrengungen unternehmen, um die veränderten Bedingungen im Leben des Kapitalismus vollständig zu begreifen – die Phase des Imperialismus und der Dekadenz – die den Wandel in den Zielen und Mitteln des Klassenkampfes bestimmten. Doch Luxemburg hatte bereits die Voraussetzungen dafür skizziert: "So erweist sich der Massenstreik also nicht als ein spezifisch russisches, aus dem Absolutismus entsprungenes Produkt, sondern als eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse ergibt (…) die heutige russische Revolution steht auf einem Punkt des geschichtlichen Weges, der bereits über den Berg, über den Höhepunkt der kapitalistischen Entwicklung hinweggeschritten ist."19
Der Massenstreik ist nicht einfach eine Bewegung der Massen, eine Art Volksaufstand, der "alle Unterdrückten" umfasst und als solcher positiv ist, wenn wir den Worten der linkskapitalistischen und anarchistischen Ideologie folgen. 1905 schrieb Pannekoek: "Nimmt man die Masse ganz im allgemeinen, das ganze Volk, so findet man, dass bei der gegenseitigen Aufhebung entgegengesetzter Auffassungen und Willen anscheinend nichts übrig bleibt als eine willenlose, launenhafte, zügellose, charakterlose, passive Masse, hin und her schwankend zwischen verschiedenen Antrieben, zwischen aufbäumendem Impuls und dumpfer Gleichgültigkeit – bekanntlich das Bild in dem die liberalen Schriftsteller am liebsten das Volk darstelle. (…) Denn zwischen der kleinsten Einheit, der Einzelpersonen, und dem ganzen Allgemeinen, in dem alle Unterschiede aufgehoben sind, der inerten Massen, kennen sie kein Zwischenglied; sie kennen nicht die Klassen. Demgegenüber ist es die Kraft der sozialistischen Geschichtslehre, dass sie in die unendliche Verschiedenheit der Persönlichkeiten Ordnung und System brachte durch die Verteilung der Gesellschaft in Klassen. (…) Unterscheidet man in der geschichtlichen Massenbewegung die besonderen Klassen, so tritt aus dem zuvor unentwirrbaren Nebelbild auf einmal ein übersichtlicher Kampf der Klassen hervor, mit seinen wechselnden Momenten, von Angriff, Rückzug, Verteidigung, Sieg und Niederlage."20
Während sich die Bourgeoisie und mit ihr die Opportunisten der Arbeiterbewegung mit Abscheu von der "unbegreiflichen" Bewegung in Russland 1905 abwandten, sei es an der revolutionären Linken gewesen, die Lehren aus der neuen Situation zu ziehen: "Daher sind die Massenaktionen eine natürliche folge der imperialistischen Entwicklung des modernen Kapitalismus und bilden immer mehr die notwendige Form des Kampfes gegen ihn. (...) Früher musste die Volkserhebung entweder das ganze Ziel erobern, oder sie waren gescheitert, wenn ihre Macht nicht dazu ausreichte. Unsere Massenaktionen (des Proletariats) können nicht scheitern; auch wenn das gesetzte Ziel nicht erreicht wird, sind sie nicht vergebens, und sogar zeitweilige Rückschläge bauen an dem zukünftigen Sieg mit."21
Der Massenstreik ist kein fertiges Rezept wie der von den Anarchisten propagierte "Generalstreik"22, er ist vielmehr der originäre Ausdruck der Arbeiterklasse, eine bestimmte Art, ihre Kräfte zu sammeln, um ihren revolutionären Kampf vorzubereiten. "Mit einem Wort: Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke einer kräftigeren Wirkung des proletarischen Kampfes, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution."23 Heute haben wir keine direkte oder indirekte Vorstellung, was ein Massenstreik ist, mit der Ausnahme des für die Älteren unter uns wohl bekannten Kampfes der polnischen Arbeiter 1980.24 So wenden wir uns einmal mehr Rosa Luxemburg zu, die einen soliden und klaren Rahmen anbietet: "… dass die Massenstreiks, von jenem ersten grossen Lohnkampf der Petersburger Textilarbeiter im Jahre 1896/1897 bis zu dem letzten grossen Massenstreik im Dezember 1905, ganz unmerklich aus ökonomischen in politische übergehen, so dass es fast unmöglich ist, die Grenzen zwischen beiden zu ziehen. Auch jeder einzelne von den grossen Massenstreiks wiederholt sozusagen im Kleinen die allgemeine Geschichte des russischen Massenstreiks und beginnt mit einem rein ökonomischen oder jedenfalls partiellen gewerkschaftlichen Konflikt, um die Stufenleiter bis zur politischen Kundgebung zu durchlaufen (…) Der Januarmassenstreik 1905 entwickelt sich aus dem internen Konflikt in den Putilow-Werken, der Oktoberstreik aus dem Kampf der Eisenbahner um die Pensionskasse, der Dezemberstreik endlich aus dem Kampf der Post- und Telegraphenangestellten um das Koalitionsrecht. Der Fortschritt der Bewegung im ganzen äussert sich nicht darin, dass das ökonomische Anfangsstadium ausfällt, sondern vielmehr in der Rapidität, womit die Stufenleiter zur politischen Kundgebung durchlaufen wird, und in der Extremität des Punktes, bis zu dem sich der Massenstreik voranbewegt (…) bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschliessen (…), vielmehr nur zwei ineinander geschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in " 25 Hier greift Rosa Luxemburg einen wichtigen Aspekt des revolutionären Kampfes des Proletariats auf: die unzertrennliche Einheit zwischen dem ökonomischen und politischen Kampf. Im Gegensatz zu jenen, die damals sagten, dass der politische Kampf hervorrage, dass er sozusagen der edle Aspekt in der Konfrontation des Proletariats mit der Bourgeoisie sei, erklärt Luxemburg klar und deutlich, wie sich der Kampf vom ökonomischen zum politischen Terrain entwickelt und dann mit Macht zum Terrain des ökonomischen Kampfes zurückkehrt. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Texte über die Revolution von 1905 und die Frühjahrs- und Sommerperiode liest. In der Tat sehen wir, wie das Proletariat am blutigen Sonntag mit einer politischen Demonstration begann, indem es um politische Rechte ersuchte, und sich dann, nach der schweren Repression, nicht etwa zurückzog, sondern vielmehr mit neuer Energie und Stärke auf die Bühne trat und sich für die Verteidigung seiner Arbeits- und Lebensbedingungen einsetzte. Aus diesem Grund gab es in den folgenden Monaten einen Anstieg in der Zahl der Kämpfe: "Hier wird um den Achtstundentag gekämpft, dort gegen die Akkordarbeit, hier werden brutale Meister auf dem Handkarren im Sack ‚hinausgeführt‘, anderswo gegen infame Strafsysteme, überall um bessere Löhne, hier und da um Abschaffung der Heimarbeit gekämpft." (ebenda). Diese Periode war auch von grosser Bedeutung, weil sie, wie Rosa Luxemburg betont, dem Proletariat die Gelegenheit gab, im Nachhinein all die Lehren des Prologs zum Januar zu verinnerlichen und ihre Ideen für die Zukunft zu klären. In der Tat: "Der plötzlich durch den elektrischen Schlag einer politischen Aktion wachgerüttelte Arbeiter greift im nächsten Augenblick vor allem zu dem Nächstliegenden: zur Abwehr gegen sein ökonomisches Sklavenverhältnis; die stürmische Geste des politischen Kampfes lässt ihn plötzlich mit ungeahnter Intensität die Schwere und den Druck seiner ökonomischen Ketten fühlen."(ebenda).
Ein besonders wichtiger Aspekt des revolutionären Prozesses in Russland 1905 war sein ausgesprochen spontaner Charakter. Die Kämpfe entstanden, entwickelten und verstärkten sich. Sie verhalfen neuen Kampfinstrumenten wie dem Massenstreik oder den Sowjets zur Entstehung, ohne dass es den revolutionären Parteien jener Zeit gelang, Schritt zu halten mit den Ereignissen oder gar zunächst die Folgen dessen völlig zu verstehen, was sich da ereignete. Die Stärke des Proletariats innerhalb der Bewegung zur Verteidigung seiner eigenen Interessen ist eindrucksvoll und enthält eine ausserordentliche Kreativität. Lenin erkannte dies in seiner Einschätzung der Revolution von 1905, die er ein Jahr darauf verfasste: "Vom Streik und von Demonstrationen zu einzelnen Barrikaden, von einzelnen Barrikaden zu massenweiser Errichtung von Barrikaden und zum Strassenkampf mit den Truppen. Über den Kopf der Organisationen hinweg ging der proletarische Massenkampf vom Streik zum Aufstand über. Darin liegt die allergrösste geschichtliche Errungenschaft der russischen Revolution, die im Dezember 1905 erreicht wurde, eine Errungenschaft, die wie alle vorangegangenen um den Preis des grössten Opfers erkauft wurde. Vom politischen Massenstreik wurde die Bewegung auf eine höhere Stufe gehoben. Sie zwang die Reaktion, in ihrem Widerstand bis zum letzten zu gehen, und brachte dadurch mit Riesenschritten den Augenblick nahe, in dem die Revolution im Gebrauch der Angriffsmittel ebenfalls bis zum letzten gehen wird. Die Reaktion kann nicht weiter gehen als bis zum Artilleriebeschuss von Barrikaden, Häusern und der Menschenmenge auf den Strassen. Die Revolution kann noch weiter gehen als bis zum Kampf der Moskauer Kampfgruppen, sie kann noch viel, viel weiter gehen, in die Breite und in die Tiefen (…) Den Wechsel in den objektiven Bedingungen des Kampfes, der den Übergang vom Streik zum Aufstand erforderte, hat das Proletariat früher als seine Führer gefühlt. Die Praxis ist, wie stets, der Theorie vorausgegangen."26
Diese Passage von Lenin ist besonders wichtig heute, wenn man bedenkt, dass viele Zweifel, die unter politisierten Elementen und, bis zu einem gewissen Umfang, auch innerhalb proletarischer Organisation vorhanden sind, mit dem Gedanken verknüpft sind, dass es dem Proletariat nie gelingen wird, sich aus seiner Apathie zu befreien, in die es manchmal zu fallen scheint. Was 1905 geschah, straft diesen Gedanken auf bemerkenswerte Weise Lügen, und das Erstaunen, das wir fühlen, wenn wir sehen, dass der Klassenkampf spontan war, drückt lediglich die Unterschätzung des tief greifenden Prozesses aus, der innerhalb der Klasse stattfindet, der unterirdischen Reifung des Bewusstseins, von dem Marx sprach, wenn er den "alten Maulwurf" erwähnte. Das Vertrauen in die Arbeiterklasse, in ihre Fähigkeit, eine politische Antwort auf die Probleme zu geben, die die Gesellschaft heimsuchen, ist eine Grundfrage in der gegenwärtigen Periode. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der ihm folgenden bürgerlichen Kampagne rund um das Scheitern des Kommunismus, fälschlicherweise auf das berüchtigte stalinistische Regime gemünzt, hat die Arbeiterklasse Schwierigkeiten, sich selbst als Klasse anzuerkennen und mit einem Ziel, einer Perspektive, einem Ideal, für das es sich zu kämpfen lohnt, zu identifizieren. Dieser Mangel an Perspektive bewirkt automatisch eine Dämpfung des Kampfgeistes, er schwächt die Überzeugung, die notwendig ist, um zu kämpfen, denn man kämpft nicht für Nichts, sondern nur, wenn man etwas anstrebt. Aus diesem Grund sind heute die Abwesenheit von Klarheit über die Perspektive und der Mangel an Überzeugung in sich selbst eng miteinander verknüpft. Solch eine Situation kann im Wesentlichen nur in der Praxis überwunden werden, durch die direkte Erfahrung der Arbeiterklasse über ihre Fähigkeiten und über die Notwendigkeit, für eine Perspektive zu kämpfen. Genau dies geschah in Russland 1905, als "In einigen Monaten sah es vollständig anders aus! Hunderte revolutionäre Sozialdemokraten wuchsen ‚plötzlich‘ zu Tausenden, Tausende wurden zu Führern von 2 bis 3 Millionen Bauern, die Bauernbewegung erzeugte Sympathie im Heere und führte zu Militäraufständen, zu bewaffneten Kämpfen eines Teiles des Heeres gegen einen anderen Teil. "27 Dies war nicht nur für das Proletariat in Russland notwendig, sondern auch für das Weltproletariat, einschliesslich des höchst entwickelten deutschen Proletariats.
"In der Revolution, wo die Masse selbst auf dem politischen Schauplatz erscheint, wird das Klassenbewusstsein ein praktisches, aktives. Dem russischen Proletariat hat deshalb ein Jahr der Revolution jene ‚Schulung‘ gegeben, welche dem deutschen Proletariat 30 Jahre parlamentarischen und gewerkschaftlichen Kampfes nicht künstlich geben können (…) Ebenso sicher wird aber umgekehrt in Deutschland in einer Periode kräftiger politischer Aktionen das lebendige, aktionsfähige revolutionäre Klassengefühl die breitesten und tiefsten Schichten des Proletariats ergreifen, und zwar um so rascher und um so mächtiger, je gewaltiger das bis dahin geleistete Erziehungswerk der Sozialdemokratie ist."28 Wir können, indem wir Rosa Luxemburg sinngemäss wiedergeben, gleichermassen sagen dass auch heute, in dieser Periode der tiefen internationalen Wirtschaftskrise und angesichts der offenkundigen Unfähigkeit der Bourgeoisie, dem Bankrott des kapitalistischen Systems etwas entgegen zu setzen, ein aktives und lebendiges revolutionäres Gefühl die reifsten Teile des Proletariats ergreifen wird, und dies wird besonders in den entwickelteren kapitalistischen Ländern geschehen, wo der Erfahrungsschatz der Klasse am reichsten und am tiefsten verwurzelt ist und wo die revolutionären Kräfte, obschon noch immer schwach, präsenter sind. Dieses Vertrauen, das wir heute in der Arbeiterklasse ausdrücken, ist weder ein Glaubensbekenntnis noch ein blindes, mystisches Vertrauen, sondern beruht exakt auf der Geschichte der Klasse und auf ihre gelegentlich überraschende Fähigkeit, aus der offensichtlichen Trägheit zu erwachen. Wie wir versucht haben aufzuzeigen, ist, obwohl es zutrifft, dass die dynamischen Prozesse, durch welche ihr Bewusstsein reift, oftmals verborgen und schwer zu durchschauen sind, es gewiss, dass diese Klasse historisch wegen ihrer Stellung in der Gesellschaft sowohl als ausgebeutete als auch als revolutionäre Klasse gefordert ist, jene Klasse zu konfrontieren, die sie unterdrückt, die Bourgeoisie. Mit der Erfahrung dieser Auseinandersetzung wird sie das Selbstvertrauen wieder entdecken, dessen sie heute entbehrt:
"Hier sind die Massen schon vorher organisiert, ihre Aktion ist im voraus überlegt und vorbereitet, und nach deren Abschluss bleibt die Organisation zusammen. (…) In unseren Massenaktionen handelt es sich nun allerdings auch um die Eroberung der Herrschaft, aber wir wissen, dass sie nur durch eine hochorganisierte, sozialistische Volksmasse möglich ist. (…) Die Befestigung der Klassenherrschaft, die wir ins Auge fassen, ist nur dadurch möchlich, das jetzt eine bleibende Volksmacht allmählich und unerschütterlich aufgebaut wird, bis zu dem Grade, dass sie die Staatsgewalt der Bourgeoisie durch ihre Wucht einfach zerdrückt und in nichts auflöst."29
Neben der Entwicklung des Selbstvertrauens der Arbeiterklasse gibt es ein weiteres entscheidendes Element im proletarischen Kampf: die Solidarität innerhalb ihrer Reihen. Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse, die einen wirklichen Sinn für Solidarität besitzt, da es in ihr keine divergierenden wirtschaftlichen Interessen gibt – anders als die Bourgeoisie, eine Klasse der Konkurrenz, für die sich die Solidarität lediglich innerhalb des nationalen Rahmens oder gegen ihren historischen Gegner, das Proletariat, ausdrückt. Die Konkurrenz innerhalb des Proletariats wird ihm vom Kapitalismus aufgezwungen, doch die Gesellschaft, die es mit seiner Zeugungskraft und mit seinem Dasein in die Welt setzt, ist eine Gesellschaft, die mit allen Teilungen Schluss macht, eine wirkliche menschliche Gemeinschaft. Die proletarische Solidarität ist eine fundamentale Waffe im proletarischen Kampf; sie stand am Anfang der riesigen Erhebungen in Russland 1905: "Der Funke, der den Brand entfachte, war einer der alltäglichen Zusammenstösse zwischen Arbeit und Kapital – ein Streik in einem Werk. Interessant jedoch ist, dass dieser Streik der 12'000 Putilow-Arbeiter, der am Montag dem, 3. Januar ausbrach, vor allem ein Streik der proletarischen Solidarität war. Der Anlass war die Entlassung von vier Arbeitern. ‚Als die Forderung, sie wieder einzustellen, nicht erfüllt wurde‘ schreibt uns am 7. Januar ein Genosse aus Pertersburg, ‚wurde die Arbeit sofort und sehr einmütig niedergelegt‘"30
Es ist kein Zufall, dass die Bourgeoisie heute versucht, den Begriff der Solidarität zu verzerren, indem sie ihn in einer "humanitären" Form präsentiert oder als "ökonomische Solidarität" aufbereitet, einer der Tricks der neuen, "alternativen" Antiglobalisierungsbewegung, die versucht, der allmählichen Bewusstwerdung entgegenzuwirken, die sich in der Tiefe der Gesellschaft über die Sackgasse, die der Kapitalismus für die Menschheit repräsentiert, entwickelt. Auch wenn die Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit sich noch nicht über die Macht ihrer Solidarität bewusst ist, die Bourgeoisie selbst hat die Lehren nicht vergessen, die das Proletariat in die Geschichte geprägt hat.
1905 war eine grosse Arbeiterbewegung, die aus den Tiefen der revolutionären Seele des Proletariats emporkam und die die schöpferische Macht der revolutionären Klasse zeigte. Heute hat das Proletariat trotz aller Schläge, die die Bourgeoisie in ihrem Todeskampf ausgeteilt hat, seine Fähigkeiten immer noch erhalten. Es liegt an den Revolutionären, ihre Klasse in die Lage zu versetzen, sich die grossen Erfahrungen ihrer vergangenen Geschichte wiederanzueignen und unermüdlich das theoretische und politische Terrain für die Entwicklung des Kampfes sowie des Bewusstseins der Klasse heute und morgen zu bereiten.
"Aber im Sturm der
revolutionären Periode verwandelt sich eben der Proletarier aus einem
Unterstützung heischenden vorsorglichen Familienvater in einen
‚Revolutionsromantiker‘, für den sogar das höchste Gut, nämlich das Leben,
geschweige das materielle Wohlsein im Vergleich mit den Kampfidealen geringen
Wert besitzt. Wenn aber die Leitung der Massenstreiks im Sinne des Kommandos
über ihre Entstehung und im Sinne der Berechnung und Deckung ihrer Kosten Sache
der revolutionären Periode selbst ist, so kommt dafür die Leitung bei
Massenstreiks in einem ganz anderen Sinne der Sozialdemokratie und ihren
führenden Organen zu (…) ist die Sozialdemokratie berufen, die politische
Leitung auch mitten in der Revolutionsperiode zu übernehmen. Die Parole, die
Richtung dem Kampfe zu geben, die Taktik des politischen Kampfes so
einzurichten, dass in jeder Phase und in jedem Moment des Kampfes die ganze
Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten, betätigten Macht des
Proletariats realisiert wird…"31 1905 waren die Revolutionäre (zu jener
Zeit Sozialdemokraten genannt) oft überrascht, überfordert von der Heftigkeit
der Bewegung, von ihrer Neuheit sowie von ihren schöpferischen Einfällen. Sie
waren nicht immer in der Lage, die passenden Losungen für, wie Rosa Luxemburg
sagt, "jede Phase, jeden Moment" zu finden, und sie begingen sogar ernste
Fehler. Doch die grundlegende revolutionäre Arbeit, die sie vor und während der
Bewegung leisteten, die sozialistische Agitation, die aktive Beteiligung an den
Kämpfen ihrer Klasse waren unerlässliche Faktoren der Revolution von 1905. Ihre
Fähigkeit, im Anschluss daran die Lehren aus diesen Ereignissen zu ziehen,
bereitete den Boden für den Sieg von 1917.
Ezechiele (5.12.2004)
Fußnoten:
1 Es ist innerhalb des Rahmens dieser Artikel nicht möglich, den ganzen Reichtum dieser Ereignisse oder sämtliche aufgeworfene Fragen zu schildern, und wir verweisen den Leser auf die historischen Dokumente selbst. Ausserdem haben wir eine Reihe von Punkten ausser Acht gelassen, wie die Diskussion über die bürgerlichen Aufgaben (gemäss der Menschewiki), den "demokratisch-bürgerlichen" Charakter (gemäss der Bolschewiki) der Russischen Revolution oder die "Theorie der permanenten Revolution" (laut Trotzki), die alle mehr oder weniger dazu neigen, die Aufgaben des Proletariats innerhalb des nationalen Rahmens und unter den Vorzeichen der Aufstiegsphase des Kapitalismus zu betrachten. Des Gleichen können wir nicht auf die Diskussion in der deutschen Sozialdemokratie, insbesondere zwischen Kautsky und Rosa Luxemburg über den Massenstreik, eingehen
2 Leo Trotzki: 1905.
3 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.103.
4 22. Januar, entsprechend dem alten Julianischen Kalender, der damals in Russland noch gültig war.
5 V. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 244.
6 Subatow war ein hochrangiger Polizeioffizier, der in Übereinstimmung mit der Regierung Arbeiterassoziationen gründete und damit bezweckte, die Konflikte innerhalb eines strikt ökonomischen Rahmens zu halten und sie von jeder Kritik an der Regierung abzuhalten.
7 V. I. Lenin: Der Petersburger Streik, in: LW Bd. 8,
S. 78.
8 V. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 244.
9 L. Trotzki: 1905.
10 R. Luxemburg: Massenstreik Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.112.
11 L. Trotzki: 1905
12 s. unseren Artikel Notes on the mass strike, in: International Review, Nr. 27 (frz., engl., span. Ausgabe).
13 s. unseren Artikel 1905 Revolution: Fundamental Lessons for the Proletariat, in: International Review, Nr. 43, (frz., engl., span. Ausgabe).
14 A. Pannekoek: Die Arbeiterräte (Entwurf von 1941–42), eigene Übersetzung.
15 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.123.
16 V. I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 258.
17 s. Die historische Bedingung der Generalisierung des Klassenkampfes, in: International Revue, Nr. 7.
18 Innerhalb der deutschen Sozialdemokratie förderte Bernstein die Idee vom friedlichen Übergang zum Sozialismus. Seine Strömung wurde als revisionistisch bezeichnet. Rosa Luxemburg kämpfte gegen sie als ein Ausdruck einer gefährlichen opportunistischen Verirrung, die die Partei betraf, in ihrem Pamphlet Sozialreform oder Revolution an.
19 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.149.
20 A. Pannekoek: Marxismus und Theologie, veröffentlicht in der Neuen Zeit 1905, zitiert in: Massenaktion und Revolution.
21 A. Pannekoek: Massenaktion und Revolution, Neue Zeit, 1912.
22 s. Die historischen Bedingungen der Generalisierung des Klassenkampfes, in: International Revue, Nr. 7.
23 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S. 128.
24 s. Polen 1980: Perspektive und Bedeutung der Kämpfe, in: Internationalen Revue Nr. 6.
25 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S. 127/128.
26 V. I. Lenin: Die Lehren des Moskauer Aufstand, in: LW Bd. 11, S. 158/159.
27 V.I. Lenin: Ein Vortrag über die Revolution von 1905, in: LW Bd. 23, S. 244.
28 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S. 145.
29 A. Pannekoek: Massenaktion und Revolution, Neue Zeit, 1912.
30 V.I. Lenin: Revolutionstage, in: LW Bd. 8, S. 102
31 R. Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Werke Bd. 2, S.133/134.
Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/naher-osten
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/3/43/imperialismus
[3] https://www.ibrp.org
[4] https://www.internationalism.org/links.html
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/geographisch/argentinien
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/von-der-kommunistischen-linken-beeinflusst
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/battaglia-comunista
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/2/25/dekadenz-des-kapitalismus
[10] https://en.internationalism.org./ir/119_imposture.html
[11] https://en.Internationalism.org/ir/119_imposture.html
[12] https://en.internationalism.org./ir/119_nci_reso.html
[13] https://en.internationalism.org./spanish/ap/180_nci.html
[14] https://en.internationalism.org./ir/119_nci_pres.html
[15] https://www.internationalism.org./spanish/ap/179_RPBA.html
[16] https://de.internationalism.org/en/tag/3/42/historischer-kurs
[17] https://de.internationalism.org/en/tag/2/40/das-klassenbewusstsein
[18] http://www.internationalism.org/german:
[19] https://www.ausa.org/www/armymag.nsf/
[20] https://www.commondreams.org/headlines05/0118-08.htm
[21] https://english.aljazeera.net/NR/exeres/350DA932-63C9-4666-9014-2209F872A840.htm
[22] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1905-revolution-russland
[23] https://de.internationalism.org/en/tag/3/45/kommunismus
[24] https://de.internationalism.org/en/tag/2/26/proletarische-revolution