Am 14. Dezember 2009 verließen Tausende von Beschäftigten der Tekel [1] Betriebe aus Dutzenden türkischen Städten ihre Wohnungen und Familien, um nach Ankara zu fahren. Die Beschäftigten von Tekel wollten mit dieser Reise gegen die schrecklichen Arbeitsbedingungen, die ihnen vom Kapital aufgezwungen werden, kämpfen. Dieser ehrenhafte Kampf der Tekel-Beschäftigten, der nunmehr schon mehr als einen Monat andauert, wird mit der Idee geführt, dass sich am Streik alle Beschäftigten beteiligen sollten. Damit stellten sich die Tekel-Beschäftigten an die Spitze des Kampfes der Arbeiterklasse in der Türkei. Wir werden hier über den Ablauf des Kampfes der Tekel-Beschäftigten berichten. Dieser Kampf betrifft nicht nur den Kampf der Beschäftigten bei Tekel, sondern er betrifft die Arbeiter aller Länder. Wir schulden den Tekel-Beschäftigten Dank, weil wir so über deren Erfahrung berichten und den Kampf der Klasse vorantreiben können, indem wir uns an ihrer Entschlossenheit orientieren und ihre Erfahrung und Gedanken nachvollziehen.
Wir veröffentlichen nachfolgend den Bericht über den Streik der Tekel-Tabak-Industriebeschäftigten, der von der Sektion der IKS in der Türkei verfasst wurde.
Am 14. Dezember 2009 verließen Tausende von Beschäftigten der Tekel [1] Betriebe aus Dutzenden türkischen Städten ihre Wohnungen und Familien, um nach Ankara zu fahren. Die Beschäftigten von Tekel wollten mit dieser Reise gegen die schrecklichen Arbeitsbedingungen, die ihnen vom Kapital aufgezwungen werden, kämpfen. Dieser ehrenhafte Kampf der Tekel-Beschäftigten, der nunmehr schon mehr als einen Monat andauert, wird mit der Idee geführt, dass sich am Streik alle Beschäftigten beteiligen sollten. Damit stellten sich die Tekel-Beschäftigten an die Spitze des Kampfes der Arbeiterklasse in der Türkei. Wir werden hier über den Ablauf des Kampfes der Tekel-Beschäftigten berichten. Dieser Kampf betrifft nicht nur den Kampf der Beschäftigten bei Tekel, sondern er betrifft die Arbeiter aller Länder. Wir schulden den Tekel-Beschäftigten Dank, weil wir so über deren Erfahrung berichten und den Kampf der Klasse vorantreiben können, indem wir uns an ihrer Entschlossenheit orientieren und ihre Erfahrung und Gedanken nachvollziehen.
Zunächst wollen wir erklären, was die Tekel-Beschäftigten in den Kampf getrieben hat. Die Tekel-Beschäftigten wehren sich gegen die 4-C Politik des türkischen Staats. Der türkische Staat hat unzählige Beschäftigte unter 4-C-Bedingungen eingestellt. Bald werden noch viel mehr Beschäftigte unter diesen Bedingungen arbeiten müssen; die Beschäftigten der Zuckerindustrie gehören zu den ersten Opfern. Davon abgesehen stehen viele Teile der Arbeiterklasse vor den gleichen Angriffen mit ähnlichem Namen; andere Beschäftigte, die bislang noch nicht damit konfrontiert wurden, werden sie auch noch kennenlernen. Was sind diese 4-C Bedingungen? Diese Praxis der Jobkürzungen infolge der zunehmenden Privatisierungen wurde von dem türkischen Staat als ein 'Segen' bezeichnet. Abgesehen von einer beträchtlichen Lohnkürzung bedeutet dies für viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, dass sie vom Staat in verschiedenen Beschäftigungsbereichen unter schrecklichen Bedingungen eingesetzt werden. Am schlimmsten ist, dass die 4-C Politik es den staatlichen Arbeitgebern ermöglicht, eine absolute Macht über die Beschäftigten zu erlangen. So sind die Löhne, die vom Staat festgelegt werden und schon mächtig gekürzt wurden, lediglich ein gezahlter Höchstpreis für die Arbeit. Die staatlichen Manager können die Löhne willkürlich kürzen.
Arbeitszeitregelungen für die 4-C-Beschäftigten wurden abgeschafft. Den staatlichen Managern ist es gestattet, die Arbeiter willkürlich zu zwingen, so lange wie von ihnen gewünscht schuften zu lassen, bis die "Arbeiter die von ihnen zu erfüllende Aufgabe erledigt haben". Die Arbeiter der Stammbelegschaften erhalten überhaupt keinen Zuschlag für diese 'Überstunden' nach beendeter Arbeit oder während der Ferien. Diese Politik gestattet es den Bossen, die Beschäftigten willkürlich ohne irgendwelche Ausgleichszahlungen zu entlassen. Die geleistete Arbeitszeit kann zwischen drei und zehn Monaten im Jahr variieren; wenn sie nicht arbeiten, erhalten sie keinen Lohn; die Arbeitszeit kann auch hier willkürlich von den Bossen festgelegt werden. Trotzdem ist ihnen nicht gestattet, eine zweite Beschäftigung zu finden, auch wenn sie keine Arbeit haben. Gemäß der 4-C Regelung erhalten die Beschäftigten keine Sozialleistungen, sämtliche medizinische Versorgungsleistungen sind gestrichen. Die Privatisierungen haben genau wie die 4-C Maßnahmen schon vor einiger Zeit angefangen. In dem Tekel-Unternehmen wurden die Bereiche Zigaretten und Alkohol privatisiert; danach wurden die Tabakblätterwerke geschlossen. Natürlich sind nicht nur die Privatisierungen das Problem. Es ist offensichtlich, dass das Privatkapital, das den Arbeitern ihre Arbeitsplätze wegnimmt, und der Staat, d..h. das Staatskapital, die Arbeiter unter den schrecklichsten Bedingungen ausbeuten wollen; sie gehen gemeinsam gegen die Beschäftigten vor. Deshalb entspricht der Kampf der Tekel-Beschäftigten dem Klasseninteresse aller Arbeiter, er stellt einen Kampf gegen die kapitalistische Ordnung insgesamt dar.
Der Blick auf den Streik der Tekel-Beschäftigten hilft den Klassenkampf in der Türkei insgesamt zu verstehen. Am 25. November 2009 wurde von KESK, DISK und Kamu-Sen [2]ein eintägiger Streik organisiert. Wie erwähnt zogen die Tekel-Beschäftigten am 14. Dezember nach Ankara, gleichzeitig fanden zwei weitere Arbeitskämpfe statt. Der erste waren die Demonstrationen von Feuerwehrleuten, von denen einige Anfang 2010 ihren Job verlieren sollten; der zweite war der eintägige Streik der Eisenbahner aus Protest gegen die Entlassung einiger ihrer Kollegen wegen der Beteiligung am Streik des 25. November. Die Bürgerkriegspolizei, welche erkannte, dass der Klassenkampf sich weiter zuspitzte, griff die Feuerwehrleute und die Eisenbahner brutal an. Die Tekel-Beschäftigten wurden nicht anders behandelt. Nahezu 50 Eisenbahner sollten wegen der Beteiligung an dem Streik entlassen werden. Viele Arbeiter wurden verhaftet. Und die Feuerwehrleute brauchten Zeit, um sich von den Angriffen zu erholen. Unglücklicherweise ist es den Eisenbahnern nicht gelungen, wieder auf die Bühne des Kampfes zurückzukehren. Die Tekel-Beschäftigten traten deshalb an die Spitze der Kämpfe am 14. Dezember, weil sie sich gegen die Unterdrückungsmaßnahmen des Staates wehrten und es ihnen gelang, ihren Kampf fortzuführen.
Wie begann der Kampf bei Tekel? Eine kleine kämpfende Minderheit wollte schon in den Kampf treten, aber der eigentliche Auslöser kam am 5. Dezember zum Tragen, als eine Eröffnungszeremonie stattfand, an der sich der Premier Minister Tayyip Erdoğan[3] beteiligte. Die Tekel-Beschäftigten richteten sich bei dieser Zeremonie mit ihren Familien unerwartet gegen Erdoğan, um ihn zur Rede zu stellen. Sie unterbrachen seine Rede und riefen ihm zu: "Die Beschäftigten von Tekel warten auf gute Nachricht von Ihnen". Erdoğan entgegnete "Leider gibt es jetzt in der Türkei Leute wie diese, sie wollen Geld machen ohne für zu arbeiten. Die Zeit ist vorbei, als man Geld im Liegen machen konnte (…) Sie meinten, Staatseigentum seit wie ein Meer, wer sich nicht bedient, ist ein Schwein. Solche Auffassungen hatten sie. Wir sehen das anders. Hier ist eure Altersabfindung. Wenn ihr wollt, können wir euch unter 4-C Bedingungen einsetzen, wenn nicht, geht hin und öffnet euer eigenes Geschäft. Wir hatten auch ein Abkommen mit ihren Gewerkschaften. Ich sprach mit ihnen. Ich sagte ihnen: "Soviel Zeit habt ihr. Unternehmt alles Notwendige". Obgleich wir ein Abkommen hatten, brach etwas zusammen, ein bis zwei Jahre vergingen. Die Leute sind aber immer noch da und fordern den Schutz ihrer Arbeitsplätze; sie wollen so weiter machen wie zuvor. Wir haben ihnen erklärt. Zehntausend Tekel-Beschäftigte kosten uns vier Milliarden im Monat. [4] Erdoğan konnte sich nicht vorstellen, in welchen Schlamassel er da hineingeraten war. Die Beschäftigten, die zuvor die Regierung unterstützt hätten, wurden sehr verärgert. Die Arbeiter fingen an darüber zu diskutieren, wie man sich am Arbeitsplatz wehren kann. Ein Arbeiter aus Adıyaman[5] erklärte diesen Prozess folgendermaßen in einem Artikel, den er in einer linken Tageszeitung schrieb: "Dieser Prozess regte die Kollegen an, die sich bis dato noch nicht am Kampf beteiligt hatten, auch wenn er noch so klein war. Sie fingen an, das wahre Gesicht der Justiz und der Entwicklungspartei zu durchschauen, nachdem der Premierminister geredet hatte. Zunächst traten sie aus der Partei aus. In den nun einsetzenden Diskussionen am Arbeitsplatz erklärten wir, dass wir alle gemeinsam unseren Arbeitsplatz verteidigen sollen". [6]. Die Gewerkschaften [7], von denen Erdoğan behauptete, sie stimmten mit ihm überein, und die bislang keine ernsthaften Aktionen unternommen hatten, beschlossen, eine Versammlung in Ankara abzuhalten. Infolgedessen begaben sich die Arbeiter auf den Weg und reisten in die Hauptstadt.
Die staatlichen Kräfte gingen von Anfang an raffiniert gegen die Arbeiter vor. Die Bürgerkriegspolizei hielt die Busse mit Arbeitern fest und erklärte, man werde die Arbeiter aus den kurdischen Städten, wo es viele Tekel-Werke gibt, nicht durchlassen, und dass die Beschäftigten aus den Gebieten des Westens, des Mittelmeers, Zentralanatolien und des Schwarzen Meeres der Türkei durchgelassen würden. Damit wollte man die kurdischen und die anderen Arbeiter gegeneinander hetzen, die Bewegung der Klasse mittels ethnischer Unterschiede spalten. Dieser raffinierte Angriff brachte in Wirklichkeit zwei Bilder der Maske des Staates zum Vorschein: das der Einheit und Harmonie und der kurdischen Reform. Aber die Tekel-Beschäftigten sind nicht in diese Polizeifalle gelaufen. .Mit den Arbeitern aus Tokat an der Spitze, protestierten die Arbeiter aus den nicht-kurdischen Städten gegen dieses Vorgehen der Polizei und bestanden entschlossen darauf, dass alle Beschäftigten zusammen nach Ankara einzogen und dass niemand ausgeschlossen werden dürfe. Die Bürgerkriegspolizei, die unfähig war die zu erwartende Haltung der Regierung zu berechnen, musste schließlich zulassen, dass die Beschäftigten zusammen nach Ankara einmarschierten. Dieser Vorfall führte zur Bildung von tiefen Beziehungen zwischen den Beschäftigen aus verschiedenen Städten, Regionen und ethnischen Hintergründen auf einer Klassengrundlage. Nach diesem Vorfall brachten die Beschäftigen aus dem Westen, Zentralanatolien, dem Mittelmeergebiet und dem Schwarzen Meer zum Ausdruck, dass die Stärke und die Anregung, die sie durch den Widerstand, die Entschlossenheit und das Bewusstsein der kurdischen Arbeiter erfuhren, ihnen die Beteiligung am Kampf erleichterte und sie viel von diesen Arbeitern lernten. Die Beschäftigten von Tekel hatten einen ersten Sieg errungen, als sie in die Stadt zogen.
Am 15. Dezember begannen die Tekel-Beschäftigten ihre Protestdemonstrationen vor der Landeszentrale der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei in Ankara. Ein Tekel-Beschäftigter, der an diesem Tag nach Ankara kam, erklärte die Ereignisse folgendermaßen: "Wir zogen vor die Landeszentrale der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei. Nachts zündeten wir ein Feuer war und warteten vor dem Gebäude bis 22.00 h. Als es zu kalt wurde, suchten wir in dem Atatürk Gym Schutz vor Kälte. Wir waren insgesamt 5.000. Wir nahmen unsere Teppiche, Kartons und verbrachten dort die Nacht. Morgens drängte uns die Polizei in den Abdi İpekçi Park und kreiste uns ein. Einige unserer Kolleg/Innen zogen erneut vor das Gebäude der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei. Als wir im Park warteten, wollten wir uns mit den anderen zusammenschließen, und diejenigen, die vor dem Gebäude ausharrten, wollten zu uns rüberkommen. Die Polizei griff uns mit Tränengas an. Um sieben Uhr gelang es uns, uns mit den anderen im Park zusammenschließen. Wir waren schon vier Stunden zu Fuß marschiert. Wir verbrachten die Nacht im Regen im Park." [8] Auf der anderen Seite fand der brutalste Angriff der Polizei am 17. Dezember statt. Die Bürgerkriegspolizei, die offensichtlich auf Befehl handelte und sich vielleicht dafür rächen wollte, dass sie die kurdischen Arbeiter nicht daran hindern konnte, in die Stadt zu kommen, griff die Arbeiter im Park mit brutaler Gewalt und hasserfüllt an. Sie zielte darauf ab, die Arbeiter auseinanderzutreiben. Aber dieses Mal trat wieder etwas ein, mit dem die staatlichen Kräfte nicht gerechnet hatten: die Fähigkeit der Arbeiter zur Selbstorganisierung. Die von der Polizei auseinandergetriebenen Arbeiter schafften es, sich selbst zu organisieren, ohne die Hilfe von irgendwelchen Bürokraten und kamen nachmittags vor der Türk-İş[9] Zentrale in einer Großkundgebung zusammen. Da die Arbeiter keine Bleibe hatten, besetzten die Arbeiter am gleichen Tag zwei Stockwerke der Türk-İş Anlage. An den Tagen nach dem 17. Dezember fanden die Demonstrationen der Tekel-Beschäftigten in den kleinen Straßen vor der Türk-İş Anlage, im Zentrum von Ankara statt.
Der Kampf zwischen den Tekel-Beschäftigten und der Verwaltung des türkischen Gewerkschaftsdachverbandes wurde zwischen dem 17. Dezember und Neujahr fortgesetzt. Dabei trauten die Arbeiter schon bei Beginn des Kampfes den Gewerkschaftsbürokraten nicht. Sie entsandten zwei Arbeiter aus allen Städten mit den Gewerkschaftern zu allen Verhandlungen. Dadurch sollten alle Arbeiter über alles informiert werden. Sowohl Tek Gıda-İş und Türk-İş und die Regierung erwarteten, dass die Tekel-Beschäftigten ihren Kampf in Anbetracht des bitterkalten Winters in Ankara, der Polizeirepression und materieller Schwierigkeiten nach ein paar Tagen aufgeben würden. Es war keine Überraschung, dass die Türen der Gewerkschaftszentrale nach einer sehr kurzen Zeit versperrt wurden, um die Arbeiter vom Betreten des Gebäudes abzuhalten. Daraufhin wehrten sich die Arbeiter, weil sie die Toiletten des Gebäudes benutzen, die Frauen sich im Gebäude ausruhen wollten; diese Auseinandersetzung endete mit einem Sieg der Arbeiter. Die Arbeiter wollten sich nun nicht mehr zurückziehen. Die Tekel-Beschäftigten erhielten ernsthafte Unterstützung von Arbeitern aus Ankara und vor allem auch von Studenten mit proletarischem Hintergrund, um Unterkunft in Ankara zu finden. Ein kleiner aber immerhin wichtiger Teil der Arbeiterklasse Ankaras bot den Tekel-Beschäftigten Übernachtung bei ihnen zu Hause an. Anstatt aufzugeben und zurückzukehren, versammelten sich die Tekel-Beschäftigten jeden Tag auf der kleinen Straße vor dem Türk-İş-Gebäude, dort entbrannten auch Diskussionen, wie man den Kampf voranbringen könnte. Es dauerte nicht lange, bis die Arbeiter zu der Einsicht kamen, dass die einzige Lösung für die Überwindung ihrer Isolation in der Ausdehnung des Kampfes lag.
Militante Arbeiter aus allen Städten, die erkannten, dass Tek Gıda-İş und Türk-İş für sie nichts unternehmen würden, versuchten ein Streikkomitee zu gründen, mit dem Ziel, ihre Forderungen gegenüber den Gewerkschaften zu erheben. Zu diesen Forderungen gehörte die Aufstellung eines Streikzelts und dass die Neujahrsparty von den Arbeitern gemeinsam gefeiert werden könne, begleitet von einer Demonstration vor dem Gebäude von Türk-İş. Die Gewerkschaftschefs stellten sich gegen diese Initiative der Arbeiter. Wozu sollten die Gewerkschaften auch nützlich sein, wenn die Arbeiter dabei waren, die Kontrolle über die Kämpfe in die eigene Hand zu nehmen. Diese Haltung beinhaltete eine verschleierte Drohung: die schon isolierten Arbeiter fürchteten die Möglichkeit, total isoliert da zu stehen, falls die Gewerkschaften die Unterstützung total ablehnten. So wurde ein Streikkomitee fallen gelassen. Aber der Wille der Arbeiter bestand darin, die Kontrolle über die Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen und das Streikkomitee aufrechtzuerhalten. Schnell versuchten die Beschäftigten Verbindungen herzustellen mit den Beschäftigten der Zuckerindustrie, die vor der Einführung der gleichen 4-C Maßnahmen stehen. Sie zogen in die Arbeiterviertel und Universitäten; sie wurden jeweils aufgefordert, ihren Kampf zu erklären. Unterdessen setzten die Beschäftigten ihren Kampf mit der Türk-İş Verwaltung fort, welche die Arbeiter in keinster Weise unterstützten. Als der Verwaltungsrat des Gewerkschaftsverbands Türk-İş zusammenkam, drangen die Arbeiter in das Gewerkschaftsgebäude ein. Die Bürgerkriegspolizei eilte sofort Mustafa Kumla, dem Vorsitzenden von Türk-İş, zu Hilfe, um ihn vor den Arbeitern zu schützen. Arbeiter fingen an Slogans zu rufen wie: "Wir werden die ausverkaufen, die uns ausverkaufen", Türk-İş soll seine Pflicht erfüllen, Generalstreik". "Kumlu, tritt zurück". Kumlu wagte es nicht, vor die Arbeiter zu treten, bevor er nicht eine Reihe von Aktionen angekündigt hatte, Streiks eingeschlossen, die jede Woche stattfinden sollten, angefangen von einem einstündigen Streik, dessen Länge jede Woche verdoppelt werden sollte, und jede Woche eine Kundgebung vor dem Türk-İş-Gebäude. Selbst nach der Ankündigung Kumlus von einer Reihe von Aktionen trauten die Arbeiter Türk-İş nicht. Als ein Tekel Beschäftigter aus Diyarbakır[10] in einem Interview erklärte: "Wir werden uns keiner Entscheidung der Gewerkschaftsführung beugen, den Kampf zu beenden und die Arbeit wieder aufzunehmen. Und falls eine Entscheidung zur Beendigung des Kampfes ohne irgendetwas gewonnen zu haben – wie letztes Mal, verkündet wird, denken wir darüber nach, das Türk-İş Gebäude zu räumen und es anschließend in Brand zu setzen"[11], brachte er das Gefühl vieler anderer Tekel-Beschäftigter zum Ausdruck.
Türk-İş ließen seinen Aktionsplan fallen, als sich am ersten einstündigen Streik 30% aller Gewerkschaften beteiligten. Die Türk-İş Führer hatten genauso viel Angst vor einer Generalisierung des Kampfes der Tekel-Beschäftigten wie die Regierung. Nach der fröhlichen Neujahrsdemonstration vor der Türk-İş Zentrale wurde über die Fortsetzung des Streiks abgestimmt. 99% der Beschäftigten stimmten für die Fortsetzung des Kampfes. In der Zwischenzeit wurde ein neuer gewerkschaftlicher Aktionsplan diskutiert. Nach dem 15. Januar sollte es ein dreitägiges Sit-in geben, dann einen dreitägigen Hungerstreik und dann ein dreitägiges Todesfasten. Eine Großdemonstration wurde ebenfalls von der Türk-İş-Verwaltung versprochen. Anfangs dachten die Arbeiter, ein Hungerstreik sei eine gute Idee. Schon isoliert wollten sie noch nicht weiter vergessen und ignoriert werden, und sie dachten, ein Hungerstreik könnte dies vermeiden. Das Gefühl kam auf, dass sie von Türk-İş in die Enge getrieben wurden und selbst handeln sollten. Ein Hungerstreik hätte auch als Einschüchterung der Gewerkschaften gesehen werden können.
Eine der bedeutsamsten Texte, der von den Tekel-Beschäftigten verfasst wurde, wurde damals veröffentlicht: ein Brief eines Tekel-Beschäftigten an die Beschäftigten der Zuckerindustrie. Der Tekel-Beschäftigte aus Batman[12] schrieb: "An unsere hart arbeitenden und ehrenwerten Brüder und Schwestern der Zuckerfabriken! Heute bietet der Kampf der Tekel-Beschäftigten eine historische Chance für diejenigen, deren Rechte unterdrückt werden. Damit wir diese Chance nicht verpassen, würde eure Beteiligung an unserem Kampf uns glücklicher und stärker machen. Meine Freunde, ich möchte darauf hinweisen, dass im Augenblick Gewerkschafter die Hoffnung äußerten, "sie werden sich mit dieser Sache befassen". Da wir die gleiche Erfahrung gemacht haben, wissen wir, dass sie einigermaßen gut abgesichert sind und sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. Im Gegenteil, eure Rechte würde man einschränken. Wenn ihr euch nicht an unserem Kampf beteiligt, wäre es morgen zu spät für euch. Insgesamt wird dieser Kampf nur erfolgreich sein, wenn ihr euch beteiligt, wir haben keine Zweifel, dass wir uns ins Zeug legen. Weil wir uns sicher sind, wenn die Arbeiter sich zusammenschließen und wie ein einheitlicher Körper handeln, können sie jedes Hindernis überwinden. Mit diesem Gefühl grüße ich euch innigst und mit Respekt im Namen der Beschäftigten von Tekel." [13]. Dieser Brief rief nicht nur die Beschäftigten der Zuckerindustrie dazu auf, selbst in den Kampf zu treten, sondern er brachte auch deutlich zum Vorschein, was bei Tekel passiert war. Gleichzeitig zeigte er das Bewusstsein, das sich bei vielen Tekel-Beschäftigten entwickelt hatte, dass sie nicht nur für sich kämpften, sondern für die gesamte Arbeiterklassse.
Am 15. Januar kamen die Tekel-Beschäftigten nach Ankara, um sich am früher erwähnten Sit-in zu beteiligen. Die Zahl der Teilnehmer am Sakarya Platz belief sich auf ca. 10.000. Einige Familienangehörige waren mitgekommen. Die Arbeiter hatten sich teilweise krank gemeldet oder Urlaub genommen, um nach Ankara zu kommen; viele mussten mehrfach ihren Urlaubsantrag stellen, um frei zu kriegen. Jetzt waren fast alle Tekel-Beschäftigten zusammen gekommen. Eine Demonstration mit einer noch größeren Beteiligung war für Samstag, den 16. Januar vorgesehen. Die Ordnungskräfte fürchteten diese Demonstration, da sie den Boden für die Generalisierung und massive Ausdehnung des Kampfes hätte liefern können. Die Möglichkeit, dass Arbeiter, die am Samstag zur Demo kamen, die Nacht und den Sonntag mit den Beschäftigten verbringen würden, hätte zum Aufbau von starken und engen Verbindungen zwischen den ankommenden Arbeitern und den Tekel-Beschäftigten führen können. Die Ordnungskräfte bestanden darauf, die Demonstration erst am Sonntag abzuhalten, und Türk-İş manövrierte erneut und schwächte die Demonstration, indem sie die Arbeiter aus kurdischen Städten an der Beteiligung behindern wollten. Man rechnete auch damit, wenn die Arbeiter zwei Nächte in dem eiskalten Ankara verbringen und ein sit-in den Straßen abhalten würden, dass dadurch der Widerstandswille und die Kraft der Tekel-Beschäftigten gebrochen würde. Dieses Kalkül seitens der Türk-İş erwies sich jedoch am 17. Januar als falsch.
Die Demonstration am 17. Januar begann ruhig. Die Arbeiter und mehrere politische Gruppen sammelten sich am Ankaraer Bahnhof und zogen um 10.00 zum Sıhhiye Platz. Auf der Kundgebung, an der sich Zehntausende Arbeiter beschäftigten, sprachen zunächst ein Arbeiter der Tekel-Betriebe, dann ein Feuerwehrmann und ein Arbeiter der Zuckerfabrik. Die Explosion erfolgte später. Nach den Arbeitern sprach Mustafa Kumlu, der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes Türk-İş. Kumlu, der sich weder um den Kampf noch um die Lebensbedingungen der Tekel-Beschäftigten kümmerte, hielt eine sehr gemäßigte, versöhnliche und inhaltslose Rede. Türk-İş hatte versucht die Arbeiter von der Rednertribüne entfernt zu halten. Sie hatten Metallarbeiter vor ihnen postiert, die nicht im Bilde waren über das, was sich vor ihnen abspielte. Aber den Tekel-Beschäftigten, die die Metallarbeiter baten sie vorbeizulassen, gelang es bis zur Rednertribüne vorzudringen. Während Kumlus Rede gaben die Tekel-Beschäftigen ihr Bestes, um diesen mit ihren Zwischenrufen zu unterbrechen. Die letzte Beleidigung, welche eine Reaktion der Arbeiter auslöste, war die Ankündigung nach Kumlus Rede, dass Alişan, ein Popsänger, der überhaupt keinen Bezug zur Arbeiterklasse hat, ein Konzert am Ort der Kundgebung abhalten würde.
Die Arbeiter besetzten die Rednertribüne, riefen ihre eigenen Slogans, und obwohl die Gewerkschaftsführer den Ton abstellten, stimmten die anderen Arbeiter, die auch zur Kundgebung gekommen waren, in diese Slogans ein. Eine Zeitlang verloren die Gewerkschaften total die Kontrolle, sie lag in den Händen der Arbeiter. Andere Gewerkschaftsführer, die auf die Bühne eilten, fingen an auf der einen Seite radikale Reden zu schwingen und andererseits die Arbeiter aufzufordern, die Bühne zu verlassen. Als die Arbeiter ihnen nicht folgten, versuchten sie die Arbeiter zu provozieren und sie gegeneinander zu hetzen, sowie gegen die Studenten und die anderen Arbeiter, die zu ihrer Unterstützung erschienen waren. Die Gewerkschafter versuchen die Arbeiter, die seit Beginn des Kampfes in Ankara ausgeharrt hatten, gegen die zu hetzen, die erst kürzlich angekommen waren. Am Ende schafften es die Gewerkschafter die Arbeiter, welche die Bühne besetzt hielten, von dieser zu drängen und sie dazu zu bewegen, schnell wieder vor das Gewerkschaftsgebäude zu gehen. Die Tatsache, dass Reden mit der Aufforderung zum Hungerstreik und Todesfasten vorgetragen wurden, um die Aufrufe zu einem Generalstreik herunterzuspielen, ist aus unserer Sicht interessant. Es reichte aber nicht, die Wut der Arbeiter zu besänftigen, indem sie einfach vor das Gewerkschaftsgebäude zurückkehrten. Slogans wie „Generalstreik, allgemeiner Widerstand“, „Türk-İş, unsere Geduld hat Grenzen”, “Wir werden die ausverkaufen, die uns ausverkaufen“, wurden da vor dem Gewerkschaftsgebäude gerufen. Einige Stunden später durchbrach eine Gruppe von 150 Arbeitern die gewerkschaftliche Barrikade vor dem Türk-İş Gebäude, drangen in das Gebäude ein und besetzten es. Tekel-Beschäftigte, die im Gebäude auf der Suche nach Mustafa Kumlu waren, fingen an vor der Tür von Kumlus Büro zu rufen „Feind der Arbeiter, Diener der AKP“.
Nach den Demonstrationen am 17. Januar wurden von den Arbeitern Anstrengungen unternommen, ein anderes Streikkomitee zu gründen. Diesem Komitee gehörten Arbeiter an, die nicht meinten, dass ein Hungerstreik ein gangbarer Weg vorwärts sei, und die stattdessen hervorhoben, dass man nur vorwärtsgehen könne, indem man den Kampf ausdehnte. Die Bemühungen zur Bildung des Komitees wurden allen Arbeitern bekannt gemacht; die Mehrheit der Arbeiter unterstützte dies. Und diejenigen, die nicht für diese Idee waren, sprachen sich auch nicht dagegen aus. Zu den Aufgaben des Komitees gehörten neben dem Vortragen von Forderungen gegenüber den Gewerkschaften das Ermöglichen einer Verbindung unter den Arbeitern und deren Selbstorganisierung. Wie beim vorherigen Streikkomitee gehörten diesem auch ausschließlich Arbeiter an und es war völlig unabhängig von den Gewerkschaften. Die gleiche Entschlossenheit zur Selbstorganisierung machte es Hunderten von Tekel-Beschäftigten möglich, sich der Demonstration der Beschäftigten des Gesundheitswesens anzuschließen, die am 19. Januar in einen eintägigen Streik traten. Am gleichen Tag, als sich nur ca. 100 Arbeiter am dreitägigen Hungerstreik beteiligen sollten, schlossen sich diesem 3.000 an, obwohl das Gefühl weit verbreitet ist, dass dies kein adäquates Mittel ist, um den Kampf weiterzubringen. Der Grund ist, dass man die Hungerstreikenden nicht alleine lassen wollte, ihnen seine Solidarität bekunden wollte.
Obgleich die Tekel-Beschäftigten regelmäßig Versammlungen unter sich in den Städten abhalten, wo sie wohnen, ist es bislang noch zu keiner Vollversammlung mit Beteiligung aller Arbeiter gekommen. Und dennoch trug seit dem 17. Dezember die Straße vor der Türk-İş-Zentrale immer mehr die Merkmale einer informellen aber regelmäßigen Massenversammlung. Auf dem Sakarya-Platz versammeln sich in diesen Tagen Hunderte Arbeiter aus verschiedenen Städten und diskutieren, wie sie den Kampf vorwärtsbringen, ihn ausdehnen, und was sie sonst noch tun können. Ein anderes wichtiges Merkmal dieser Kämpfe war, wie die Arbeiter verschiedenen ethnischen Ursprungs es schafften, sich gegen die kapitalistische Ordnung zu vereinigen, trotz all der Provokationen und Spaltungsversuche des Regimes. Der Slogan „Kurdische und türkische Arbeiter – ein Kampf“, der seit den ersten Tagen gerufen wurde, verdeutlicht dies klar. Im Kampf um Tekel tanzten viele Arbeiter aus der Gegend des Schwarzen Meers Şemame und viele kurdische Arbeiter tanzten zum ersten Mal den Horon-Tanz [14]. Ein anderes herausragendes Merkmal ist die Wichtigkeit der Ausdehnung des Kampfes und der Arbeitersolidarität. Dies stützt sich nicht auf eine enge nationale Perspektive, sondern umfasst die gegenseitige Unterstützung und Solidarität der Arbeiter der ganzen Welt.
Den Tekel-Beschäftigten gelang es auch zu verhindern, dass die oppositionellen Parteien den Kampf für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten. Sie wussten, wie heftig die Republikanische Volkspartei [15] die Arbeiter angriff, die von Kent AŞ[16] entlassen wurden, wie die Nationalistische Bewegungspartei [17] sich an der Gestaltung der Staatspolitik beteiligte und gegen die Arbeiterklasse vorging. Ein Arbeiter brachte dieses Bewusstsein deutlich in einem Interview zum Vorschein: „Wir verstehen, wer all diese Leute sind. Leute, die zuvor für die Privatisierungen stimmten, wollen uns jetzt vorgaukeln, dass sie Verständnis für unsere Lage hätten. Bislang habe ich immer für die Nationalistische Bewegungspartei gestimmt. Ich bin zum ersten Mal auf Revolutionäre in diesem Kampf gestoßen. Ich beteilige mich an diesem Kampf, weil ich ein Arbeiter bin. Revolutionäre stehen an unserer Seite. Die Nationalistische Bewegungspartei und die Republikanische Volkspartei halten Fünf-Minuten–Reden und verschwinden dann wieder. Einige von uns klatschten ihnen am Anfang Beifall, als sie ankamen. Jetzt hat sich das Blatt gewendet.“ [18] Das deutlichste Beispiel dieses Bewusstseins konnte man erkennen, als die Tekel-Leute die Redner der faschistischen Alperen Organisation [19], vorstellten, d.h. die gleiche Organisation, die die Kent AŞ-Beschäftigten angriff, als diese im Abdi İpekçi Park demonstrierten, weil sie Kurden sind. Der Tekel-Kampf leistete auch einen großen Beitrag zum Kampf der Feuerwehrleute, die brutal nach ihrer ersten Demonstration angegriffen wurden. Sie stärkten deren Moral, was sie ermutigte, ihren Kampf weiter zu führen. Allgemein haben die Tekel-Leute nicht nur den Feuerwehrleuten Mut gemacht, sondern allen Bereichen der Klasse in der Türkei, die in den Kampf treten wollen.
Die Tekel-Beschäftigten haben es geschafft, in den Streik zu treten, der für alle Arbeiter zu einem Bezugspunkt geworden ist. Deshalb stehen heute die Tekel-Beschäftigten stolz an der Spitze der Arbeiterklasse in der Türkei, und führen unsere bislang jahrelang schlummernde Klasse in den Kampf der Arbeiter weltweit. Ihr Kampf beinhaltet den Keim des Massenstreiks, der von Ägypten bis Griechenland, von Bangladesch bis Spanien, von England bis China die Welt in den letzten Jahren erschüttert hat. Dieser Kampf geht im Augenblick noch weiter; der Moment, die Lehren daraus zu ziehen ist noch nicht gekommen. Nachdem auf der einen Seite die Idee eines Hungerstreiks und eines Todesstreiks vorgeschlagen wird, andererseits ein aus den betroffenen Arbeitern zusammengesetztes Streikkomitee der Meinung ist, dass die Idee eines Hungerstreiks nicht die beste Waffe im Kampf ist und sie stattdessen den Kampf ausdehnen wollen, und Türk-İş Gewerkschaftsbürokraten, die als Handlanger des Staates agieren und Arbeiter, die auf einen Generalstreik hinarbeiten wollen, zusammenprallen, ist es schwer vorherzusagen, wie und wohin sich der Kampf entwickeln und was aus ihm werden wird. Aber egal, was aus diesem Kampf werden wird, die sehr ehrenhafte Haltung der Tekel-Beschäftigten wird wichtige Früchte und sehr kostbare Lehren für die gesamte Arbeiterklasse hinterlassen. Gerdûn, 20.01.10
[1] Tekel verfügte früher über ein staatliches Monopol im Tabak- und Alkohol-produzierenden Gewerbe.
[2] eine linksextreme Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes. Revolutionäre Arbeitergewerkschaftsverband und die Hauptgewerkschaft des Öffentlichen Dienstes, die für ihre faschistischen Sympathien bekannt ist.
[3] ebenso der Führer der herrschenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP
[4] https://www.cnnturk.com/2009/turkiye/12/05/erdogana.tekel.iscilerinden.p... [2]
[5] eine Stadt im türkischen Kurdistan.
[6] https://www.evrensel.net/haber.php?haber_id=63999 [3]
[7] Tek Gıda-İş, Nahrungsmittel, Alkohol, Tabakarbeiter Gewerkschaft, Mitglied der ürk-İş
[8] https://www.evrensel.net/haber.php?haber_id=63999 [3]
[9] Konföderation der Türkischen Gewerkschaften, der ältesten und größten Gewerkschaft in der Türkei, die eine infame Geschichte hinter sich hat, nachdem sie unter dem Einfluss der USA in den 1950er Jahren gegründet wurde, sich auf das Modell der AFL-CIO stützte und über viel Erfahrung bei der Sabotage der Arbeiterkämpfe verfügt
[10] Bekannt als die inoffizielle Hauptstadt Kurdistans, ist Diyarbakır eine Metropole in Türkischen Kurdistan
[11] https://www.kizilbayrak.net/sinif-hareketi/haber/arsiv/2009/12/30/select... [4]
[12] eine Stadt in Türkisch Kurdistan.
[13] https://tr.internationalism.org/ekaonline-2000s/ekaonline-2009/tekel-isc... [5]
[14] Şemamme ist ein sehr berühmter kuridscher Tanz, und Horon ist ein sehr berühmter Tanz aus der Schwarzmeer-Region der Türkei.
[15] Die Kemalisten, eine säkuläre, linksnationalistische Partei, Mitglieder der Sozialistischen Internationale, extrem chauvinistisch.
[16] Kommunalbeschäftigte aus İzmir, eine Metropole an der Küste der Ägäis. Diese Arbeiter wurden von der Republikanischen Volkspartei gefeuert, die die Kontrolle über die Gemeinde ausübten, und die dann brutal von der Partei angegriffen wurden, als sie gegen die Parteiführer protestierten.
[17] die größte faschistische Partei.
[18] https://www.kizilbayrak.net/sinif-hareketi/haber/arsiv/2009/12/30/select... [4]
[19] eine Mörderbande, die mit der Großen Einheitspartei verbunden ist, eine radikalfaschistische Abspaltung von der Nationalistischen Bewegungspartei.
Der Nachruf der Gruppe GPR anlässlich des tragischen Todes des Genossen Robert hat einige unserer Lesen dazu bewogen, ihre Meinung und ihre Gefühle darüber kund zu tun. Dabei sind auch Spekulationen über die Motive von Roberts Freitod geäußert worden. So wurde angedeutet, dass eine politische Verzweiflung aufgrund des geringen Erfolgs der revolutionären, insbesondere der linkskommunistischen Kräfte eine Rolle gespielt haben könnte. Auch eine unterstellte Unfähigkeit der politischen Umgebung von Robert, Emotionen auszudrücken und Menschlichkeit zu zeigen, wurde angeführt.
Der Nachruf der Gruppe GPR anlässlich des tragischen Todes des Genossen Robert hat einige unserer Lesen dazu bewogen, ihre Meinung und ihre Gefühle darüber kund zu tun. Dabei sind auch Spekulationen über die Motive von Roberts Freitod geäußert worden. So wurde angedeutet, dass eine politische Verzweiflung aufgrund des geringen Erfolgs der revolutionären, insbesondere der linkskommunistischen Kräfte eine Rolle gespielt haben könnte. Auch eine unterstellte Unfähigkeit der politischen Umgebung von Robert, Emotionen auszudrücken und Menschlichkeit zu zeigen, wurde angeführt.
Es ist in der Tat nicht immer leicht, der Verzweiflung nicht nachzugeben, wenn man sieht, in welche Hölle der Kapitalismus die Welt verwandelt, und wie sattelfest das System trotzdem noch sitzt. Was aber den Freitod von Robert betrifft, so wollen wir auf eine Tatsache hinweisen, welche unserer Meinung nach zu wenig beachtet wird: Der Genosse litt unter einer schweren Depression. Anstatt sich in Spekulationen über Roberts Motive zu verlieren, scheint es uns viel wichtiger, einer Tatsache ins Auge zu sehen, welche in politisierten Kreisen immer noch verdrängt wird, nämlich dass auch eine revolutionäre Perspektive und Engagement niemanden vor der Heimsuchung durch eine solche Krankheit immun machen. Auch durch „Erfolg“ - und sei es politischer Erfolg in der Entwicklung eines „linkskommunistischen“ Programms und einer entsprechenden Organisationsstruktur – ist man nicht davor gefeit.
Wir sagen Krankheit. Denn es wird oft verkannt, dass eine Depression nicht dasselbe ist wie ein auch noch so arges Gefühl, deprimiert zu sein. Da hilft keine gut gemeinte Aufmunterung und erst recht keine Aufforderung, sich zusammen zu nehmen. Die Depression zeichnet sich auch weniger durch Trauer aus, sondern unter anderem durch die große Schwierigkeit, ja oft das Unvermögen, Trauer zu empfinden. Was man empfindet ist v.a. Eine innere Leere, eine radikale Erschöpfung und ein Verlust an Selbstvertrauen, welche so weit gehen können, dass selbst die einfachsten Aufgaben des täglichen Lebens wie das Einkaufen oder das Zähne putzen kaum zu bewältigen sind.
In einem Kommentar vom 14.01.2010 („Lieber kein Nachruf als solch einer“) betont Ananda völlig zu recht die Bedeutung von Emotionen und von Menschlichkeit. Dieser Kommentar fordert zu recht dazu auf, menschliche Trauer zum Ausdruck zu bringen. Allein: In der Praxis ist das nicht immer so leicht umzusetzen. Da wir Menschen gesellschaftliche Wesen sind, kann der gesunde Gefühlsausdruck nur dort gelingen, wo eine Atmosphäre der gegenseitigen Empathie herrscht, sprich die Fähigkeit aller Beteiligten, sich in die Lage der jeweils anderen hinein zu versetzen. Dass diese Empathie schwer ist, dass sie erlernt werden muss, dass dies nicht immer auf Anhieb gelingt, davon zeugt nicht zuletzt Ananda`s eigener Kommentar. Jedenfalls ist uns nicht ersichtlich, dass man an die Gefühle der GenossInnen der GPR gedacht hat, als man die Behauptung aufgestellt hat, dass bei Roberts Freitod-Entscheidung ein zu wenig an Menschlichkeit seiner politischen und emotionalen Umgebung „sicherlich“ eine Rolle spielte.
Auch wird den GenossInnen der GPR die Unfähigkeit zu einer persönlichen Geste und zur menschlichen Trauer zur Last gelegt. Wir haben mit Roberts politischen WeggenossInnen gesprochen und wissen daher, dass sie eine Trauer und einen Schmerz empfinden, welche sich mit Worten gar nicht ausdrücken lassen. Ihr Nachruf, die Würdigung der politischen Leistungen von Robert, die Erinnerung an ihren gemeinsamen Kampf, das war nicht nur die Bringschuld der GPR gegenüber den politisierten Teilen der Arbeiterklasse. Es war sicherlich auch ihre Art, mit dem ersten Schock, mit dem so schmerzlichen persönlichen Verlust umzugehen. Im übrigen ist es eine alte Tradition in der Arbeiterbewegung, im Nachruf für den Verstorbenen GenossInnen in erster Linie (keineswegs ausschließlich) an ihren politischen Beitrag zu erinnern. Nicht aber aus einem Mangel an Menschlichkeit. Denn der Nachruf ist ja nur ein kleiner Teil der Würdigung des Verstorbenen. Als die Arbeiterbewegung noch eine Massenveranstaltung war, fand ein bedeutender Teil dieser Trauerarbeit im breiten gesellschaftlichen Rahmen statt. Die MitkämpferInnen, die Familienmitglieder, die Nachbarn und ArbeiterkollegInnen, die sich im übrigen einander zumeist kannten, kamen zusammen, um das Andenken der dahin Geschiedenen hochzuhalten, und um ihr Leid mit einander zu teilen.
Heute ist das alles viel schwieriger und sozusagen unsichtbarer geworden. Das hat nicht nur damit zu tun, dass die Revolutionäre heutzutage noch immer eine winzig kleine Minderheit darstellen, welche gegen den Strom dieser Gesellschaft schwimmen muss. Es hat mit dem Zustand der Gesellschaft insgesamt zu tun. Es ist der Kapitalismus, welcher den Tod und die menschlichen Emotionen zu einem Skandal gemacht haben. B.
Vor einem Jahr kam es drei Wochen lang in den Straßen Griechenlands zu massiven Kämpfen gegen die Ermordung des griechischen jungen Anarchisten Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei. Aber die Proteste auf der Straße, in den Schulen und Universitäten hatten große Schwierigkeiten, eine Verbindung zu den Kämpfen der Beschäftigten herzustellen. Es gab lediglich einen Streik, den der Grundschullehrer an einem Morgen, zur Unterstützung der Bewegung, obgleich damals die Unzufriedenheit unter den Beschäftigten sehr groß war und es einen Generalstreik gab – nichtsdestotrotz, es gelang nicht, die Verbindung zwischen den Beschäftigten und der Bewegung herzustellen.
Aber in Griechenland sind die Proteste der Beschäftigten nicht abgeklungen, nachdem die Protestbewegung versickerte. Der Arbeitsminister Andreas Lomberdos hat davor gewarnt, dass die für die Überwindung der Verschuldungskrise erforderlichen Maßnahmen, welche Griechenland aus dem Kreis der Eurozone herausdrängen könnte, zu einem Blutvergießen führen könnte. Die neue sozialistische Regierung redet von dem Zusammenschluss aller bürgerlichen Parteien und dem Aufbau einer nationalen Einheitsregierung, die einzelne Artikel der Verfassung wie das Recht auf öffentliche Versammlungen, Demonstrationen und Streiks außer Kraft setzen könnte.
Selbst bevor die Regierung ihre „Reformen“ ankündigte (d.h. Angriffe gegen die Arbeiterklasse), um das Haushaltsdefizit von 12,7% auf 2,8% im Jahre 2012 zu drücken, gab es schon eine große Welle von Arbeiterkämpfen. Hafenarbeiter, Telecom-Beschäftigte, Erzieher und Grundschullehrer, Taxifahrer, Stahlarbeiter und Kommunalbeschäftigte kämpften alle für auf den ersten Blick unterschiedliche Forderungen, aber ihr eigentlicher gemeinsamer Nenner war die Reaktion gegen die Angriffe des Staats und des Kapitals, welche die Kosten der Krise auf die Arbeiterklasse abwälzen wollen.
Bevor das Sparpaket von Premierminister Papandreou vorgestellt (und von der EU unterstützt) wurde, warnte dieser schon, dass es „schmerzhaft“ sein werde. Und am 29. Januar, bevor Details bekannt wurden, fand schon eine Demonstration von wütenden Feuerwehrleuten und anderen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes in Athen gegen das bestehende „Stabilitätsprogramm“ statt. Der Dreijahresplan der Regierung umfasst u.a. einen dreijährigen Lohnstopp für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes und eine zehnprozentige Kürzung von anderen Leistungen. In der Summe entspricht dies ca. 5-15% Lohnkürzungen. In Pension gehende Beschäftigte werden nicht ersetzt, es ist die Rede von der Erhöhung des Renteneintrittalters, um die Rentenkasse zu sanieren.
Wenn der Staat nun noch heftigere Angriffe gegen eine ohnehin schon kämpferische Arbeiterklasse einleiten muss, zeigt dies das Ausmaß der Krise in Griechenland. Minister Lomberdos brachte es deutlich zum Ausdruck, als er sagte, dass diese Maßnahmen „nur gewaltsam umgesetzt werden können“. Aber diese Angriffe gegen alle Teile der Arbeiterklasse bieten auch die Möglichkeit, dass sich Arbeiter zu einem gemeinsamen Kampf zusammenschließen und gemeinsame Forderungen erheben.
Wenn man genauer hinsieht und untersucht, was die Gewerkschaften unternommen haben, kann man sehen, dass sie alles zur Spaltung der Arbeiter eingesetzt haben. Am 4./5. Februar gab es einen 48stündigen offiziellen Streik von Zoll- und Finanzbeamten, bei dem Häfen und Grenzübergänge dicht gemacht wurden, während gleichzeitig einige Bauern ihre Blockaden aufrechterhielten. „The Independent“ (2.5.10) titelte: „Streiks zwingen Griechenland n die Knie“ und beschrieben die Aktionen „als die ersten einer erwarteten Flut von ruppigen Streiks.“
Diese ‚erwartete Streikflut‘ beinhaltet Pläne von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, zum Parlamentsgebäude zu ziehen und gegen die Rentenkürzungen zu protestieren; am 11. Februar ist ein Streik seitens der stalinistischen Gewerkschaft PAME vorgesehen, die mit zwei Millionen Mitgliedern größte Gewerkschaft GSEE hat Streiks für den 24. Februar angekündigt.
Aber wenn sie so gespalten bleibt, wird die Arbeiterklasse in Griechenland den Staat nicht in die Knie zwingen. Die „Financial Times“ (5.2.10) meinte, dass „bislang die Gewerkschaften noch milde gegenüber den Sparplänen der Regierung reagiert haben, und damit eine gewisse Bereitschaft zum Ausdruck bringen, Opfer zur Überwindung der Wirtschaftskrise zu bringen,“ aber sie bemerkte auch einen „wachsenden Druck seitens der Gewerkschaften gegen die Sparprogramme der Regierung“. In Wirklichkeit haben die Gewerkschaften ihre Unterstützung für die sozialistische Regierung nicht abgeschwächt, aber in Anbetracht der wachsenden Wut in der Arbeiterklasse wissen sie, wenn sie nicht irgendwelche Aktionen durchführen, werden Arbeiter anfangen, ihre Maskeraden zu durchblicken. Gegenwärtig haben die Gewerkschaften ihre „radikale“ Maske aufgelegt; sie haben den Dialog über zukünftige Rentenpläne abgebrochen und mehrere ein- oder zweitägige Streiks angekündigt. Die Gewerkschaften zeigten in der Tat eine Bereitschaft, die Arbeiter zu Opfern zu drängen, aber nun müssen sie mit mehr Druck seitens der Arbeiterklasse rechnen.
Die Arbeiter müssen sich nicht nur vor den Gewerkschaften, sondern auch vor anderen „falschen Freunden“ in Acht nehmen. Die KKE (Griechische Kommunistische Partei) z.B. , die noch immer über einen gewissen Einfluss in der Arbeiterklasse verfügt, bezeichnete vor einem Jahr die Protestierenden als „Spitzel“ der „dunklen ausländischen Kräfte“ und „Provokateure“. Jetzt behauptet sie, dass „Arbeiter und Bauern das Recht haben, zu jedwedem Mittel des Kampfes zu greifen, um ihre Rechte zu verteidigen“. Wenn sie wieder in den alten Ton verfallen, sind andere linke Kräfte zur Stelle wie die Trotzkisten, um Arbeiter dazu aufzurufen, sich gegen Faschisten oder andere Rechtsradikale zu sammeln oder gegen den Einfluss des US-Imperialismus zu kämpfen; sie wollen somit die Arbeiter davon abhalten, dass diese den Kampf in ihre eigenen Hände nehmen. Während es in der Türkei gleichzeitig zu Streiks kam wie in Griechenland, werden die Gewerkschaften und ihre Verbündeten besonders bestrebt sein, all Probleme, vor denen die Arbeiter stehen, als Griechenland-spezifisch darzustellen, die für die Arbeiter international nicht von Belang seien.
Ein besonderes Merkmal der Lage in Griechenland ist, dass mehrere bewaffnete Gruppen in Erscheinung getreten sind, die gegen öffentliche Gebäude Bomben geworfen haben, die aber allemal nur eine kleine Alternative zum gewöhnlichen Medienspektakel liefern, während sie gleichzeitig die staatliche Repression herausfordern. Diese Gruppen mit so exotischen Namen wie „Verschwörung der Feuerzellen“, Guerilla-Gruppen von Terroristen oder die Nihilistische Fraktion haben der Arbeiterklasse nichts zu bieten. Die Arbeiter müssen für Klassensolidarität, Bewusstseinsentwicklung und Selbstvertrauen eintreten, indem sie sich an den Kämpfen selbst beteiligen und ihre eigenen Kampfformen entwickeln, nicht in dem sie zu Hause bleiben und im Fernsehen zuschauen, wie linke Gruppen Bomben werfen. Die Stimme einer Massenvollversammlung der Arbeiter, die ihren eigenen Kampf organisieren, jagt der herrschenden Klasse viel mehr Angst ein als Tausend Bomben. (DD, aktualisiert von World Revolution am 5.2.10).
Von unserer Sektion DD in der Türkei
Nach Irak, Afghanistan und Pakistan wenden die Großmächte den beiden Seiten des Golfs von Aden, Jemen und Somalia, und dem Iran zu.
Barack Obamas Krieg gegen den Todesfeind Amerikas, Al Kaida, nimmt immer größere Ausmaße an. Afghanistan, Pakistan und Irak sind schon in diesen Kampf zur „Verteidigung der Zivilisation“ gezogen worden. Jetzt kommt noch der Jemen, Somalia und zu einem geringeren Maße die Subsahara Afrikas hin, die auch schon alle Zielscheibe von ‚gezielten Angriffen‘ und Überfällen waren. Und in der Zwischenzeit weicht die Politik der „ausgestreckten Hand“ gegenüber dem Iran, die zu Beginn der Präsidentschaft Obamas verkündet wurde und auf eine diplomatische Vorgehensweise gegenüber den nuklearen Ambitionen des Irans abzielte, nun der zusammengeballten Faust. „Die US verlagern Patriot Abwehrraketen in vier Länder – Katar, Vereinigte Arabische Emirate, Bahrein und Kuwait – und sie haben weiterhin zwei Schiffe im Golf stationiert, die zu jeder Zeit iranische Raketen abschießen können. Washington hilft ebenfalls Saudi Arabien, eine militärische Schlagkraft zu entwickeln, um seine Ölförderanlagen schützen zu können. US-Offizielle sagen, der Schritt diene der Abschreckung eines iranischen Angriffs und dem Schutz der Golf-Staaten, die befürchten, Teheran könnte Vergeltung gegen Sanktionen suchen, indem man US-Verbündete in der Region angreift. Washington versucht auch Israel davon abzuhalten, einen Militärschlag gegen den Iran durchzuführen, indem es vorführt, dass die USA bereit seien, jeder Bedrohung entgegenzutreten“ (Guardian, 1.2.2010). Die USA, die ohnehin schon vollkommen im Irak und Afghanistan feststecken, versinken somit weiter im Krieg, indem sie ihre militärische Präsenz in der Region weiter ausdehnen.
Von welchem Interesse sind diese beiden Länder für den US-Imperialismus? Jemen, mit seinen mageren Öleinkünften, ist durch den jahrelangen Krieg verwüstet worden. 1990 schlossen sich die Arabische Republik Nordjemen und die Volksdemokratische Republik des Südens zusammen, um die Republik Jemen zu bilden. Seitdem wird das Land ständig vom Krieg heimgesucht. Die Bevölkerung des Jemens von 21 Millionen Menschen gehört zu den ärmsten auf der Welt. Das Land steht kurz vor dem Auseinanderbrechen.
Und in Somalia ist die Lage noch schlimmer. Dieses Land von 9 Millionen Einwohnern ist ein gewaltiges „killing-field“. Auch hier wütet der Krieg seit mehr als 20 Jahren. Die Bevölkerung befindet sich ständig auf der Flucht vor allen möglichen bewaffneten Banden; sie sucht verzweifelt nach Unterkunft und Essen. Die letzte Regierung kontrolliert nicht mal die ganze Hauptstadt Mogadishu. Die sogenannte Übergangsregierung ist in eine Zwickmühle mit den islamistischen Gruppen geraten: der islamischen Hisbollah, die von Scheich Aweys angeführt wird, einem früheren Mentor des gegenwärtigen Präsidenten; und der Al-Shabab Gruppe, die mit Al Kaida verbunden ist. In den Gebieten Somaliland und Puntland ist die Suche auch nach nur einem Schein von Ordnung und Stabilität völlig aufgegeben worden. Die Fischer der Küstengebiete sind, um zu überleben, zu Piraten geworden. Dort ist das Meerwasser durch Nuklearabfälle verseucht worden, die durch verschiedene europäische Schiffe dort verkappt wurden. Seit dem Zusammenbruch der Regierung in den 1990er Jahren haben die USA einen Teil des Landes militärisch besetzt. 1992 wurde dies in der „Operation Hoffnung“ angezettelt. Damals flog auch Bernard Kouchner aus Frankreich mit Reissäcken beladen nach Somalia, in seinem Schlepptau folgten ihm diskret französische Truppen!
Aber woran sind die USA und andere imperialistische Hai so stark interessiert? Ein Blick auf die Karte hilft weiter. Zwischen Somalia und dem Jemen liegt der Golf von Aden, die Schifffahrtsroute zwischen dem Roten Meer und den Ölfeldern des Persischen Golfs. Die Straße von Ormus gilt als eines der am meist bewachten und ‚beschützten‘ Gebiete der Welt. Mehr als 20% der Ölvorkommen der Welt und mehr als die Hälfte der Öltanker der Welt befahren diese Passage. Dort verkehren auch Schiffe aus China, das immer aggressiver auftritt und Richtung Mosambik, Kenia, Tansania und Sambia vorzudringen versucht. In diesen Zeiten tiefgreifender Wirtschaftskrise und sich verschärfender imperialistischer Spannungen ist die Kontrolle des Nachschubs des schwarzen Goldes und der Hauptschifffahrtsrouten unabdingbar für jede imperialistische Macht, die eine führende Rolle auf der Welt spielen will. Sie sind eine lebenswichtige Waffe im Krieg.
Deshalb war der gescheiterte Versuch, ein US-Passagierflugzeug auf dem Flug von Amsterdam nach Detroit in die Luft zu jagen, wie es Weihnachten der Nigerianer Umar Farouk Abdulmutallab im Auftrag von Al Kaida anstrebte, ein Mittel, um die Pandora-Büchse des Kampfes gegen den Terrorismus erneut zu öffnen. Die Tatsache, dass dieser junge Nigerianer eine Zeit im Jemen verbracht hatte und dort von Al Kaida ausgebildet worden war, ist ein perfekter Vorwand. Die Reaktion erfolgte schnell. „Washington und London brachten ihren Willen zum Ausdruck, beim Kampf gegen den Terror im Jemen und Somalia gemeinsam vorzugehen. London und Washington planen die Finanzierung einer Spezialeinheit der Antiterrorpolizei im Jemen und wollen die jemenitische Küstenwache verstärkt stützen, sagte Downing Street“ (Jeune Afrique, 26.1.10). Der französische Imperialismus wollte nicht beiseite gedrängt werden und erklärte Gleiches. Der Präsident Jemens, Ali Abdullah, ist seit 30 Jahren an der Macht; er ist mit den USA verbündet. Die US-Armee hat ihm schon Raketen und Spezialeinheiten geschickt. Nachdem die Huti-Guerillas im Norden durch den Iran unterstützt werden, sind die Kämpfe bis nach Sadah vorgedrungen. In einem solch instabilen Land kann nur eine direkte militärische Präsenz den Interessen einer Großmachte dienen. Die USA haben dort schon im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus einen neuen Stützpunkt errichtet, und die Ankunft weiterer US-Truppen, die die Rebellen sowohl im Norden als auch im Süden bekämpfen werden, ist ein weiterer Schritt des US-Imperialismus in ein Fass ohne Boden, aus dem sie nicht entkommen können – wie zuvor schon im Irak, Afghanistan und Pakistan.
Der jüngste Aufmarsch von Zehntausenden zusätzlicher US-Truppen in Afghanistan belegt eindeutig, dass die USA diesen Krieg nicht gewinnen können. Die Tatsache, dass Pakistan ein Hauptpreis in diesem Konflikt geworden ist, hat zu einer Destabilisierung des pakistanischen Regimes, seiner Armee und seiner nationalen Einheit in einer Region geführt, in der auch der indische und chinesische Imperialismus sehr aktiv sind. Aber auch wenn die USA sehr stark von China herausgefordert werden, sind die USA dennoch dazu gezwungen worden, China und Russland zu bitten, den wachsenden Ambitionen des Irans entgegenzutreten, das durch die Vernichtung des Saddam Regimes im Irak gestärkt worden ist und jetzt versucht, seinen Einfluss im Libanon, südlichen Irak, Jemen und anderswo auszudehnen und auch über Atomwaffen verfügen möchte. „Zwei hohe US-Offizielle sind vor der Präsidentenreise nach China gefahren und haben die Chinesen davor gewarnt, falls sie Washington nicht bei der Iran-Frage unterstützen würden, würde Israel zu einem Angriff ausholen, damit Chaos bei den Öllieferungen auslösen, die für China so wichtig sind. Der Iran ist der zweitgrößte Öllieferant Chinas und chinesische Firmen haben ganz massiv im Iran investiert. Um diese Zwänge zu lockern, haben die USA ebenfalls vorgeschlagen, dass die Chinesen ihre Abhängigkeit von iranischen Öllieferungen abbauen. Man scheint den US-Vorschlägen Gehör geschenkt zu haben. Zum ersten Mal seit Jahren hat China für die Verurteilung des Irans durch die Internationale Atombehörde gestimmt“ (J Pomfret und J Warrick, Washington Post, Counter Info 27.1.). Russland wird ebenso von den USA umworben, das auf dessen Hilfe angewiesen ist. Deshalb hat Washington seine Pläne zur Errichtung eines Raketenabwehrschildes in Polen und der Tschechischen Republik auf Eis gelegt. Aber sowohl Russland als auch China haben gute Gründe, Teheran weiter zu ermuntern, eine destabilisierende Rolle im Mittleren Osten zu spielen.
Diese Aufrufe zur Hilfe sind echte Eingeständnisse einer Schwäche. Nach dem Angriff auf die Twin-Towers im Jahre 2001 trieb George W. Bush die USA in einen Krieg, nahezu in einem Alleingang, um die absolute militärische Überlegenheit der USA als die führende Supermacht der Welt zu veranschaulichen. Diese Kriege sind alle gescheitert. Aber die ‚neue‘ Obama-Politik, die eine andere Sprache benutzt, ist nicht weniger kriegstreibend, und wird nichts Besseres hervorbringen, weder für den US-Imperialismus noch für die Menschheit.
Afghanistan, Pakistan, Irak, Iran und jetzt Somalia und Jemen; der im Namen des Kampfes gegen den radikalen Islamismus geführte Krieg dehnt sich immer weiter aus. Jeder bluttriefende Schritt der USA offenbart in Wirklichkeit immer mehr ihre wachsende Hilflosigkeit. In Afghanistan ist die Unfähigkeit der USA die Taliban zu besiegen, immer deutlicher geworden. Immer lauter werden die Rufe nach einer Verhandlungslösung mit den „gemäßigteren Kräften‘. Im Irak reißt die Bombenserie nicht ab. Für die USA wird der Jemen nur ein neuer Irak oder ein neues Afghanistan. Und für die Bevölkerung in diesen Ländern wird es noch viel schlimmer werden. Der niedergehende Imperialismus sät immer mehr Gewalt und hinterlässt immer mehr Tote. Diese Wirklichkeit tritt auch der Arbeiterklasse, ob sie durch den Krieg direkt betroffen ist oder nicht, immer mehr vor Augen. A/Rossi, 27.1.10
Unsere Sektion in Frankreich erhielt eine Erklärung von der anarcho-syndikalistischen CNT-AIT in Toulouse. Wir stimmen völlig mit den Genossen darin überein, dass dies ein Versuch des Staates ist, Militante und im Allgemeinen die Arbeiterklasse einzuschüchtern. Der Kontrast zwischen der Forderung nach strenger Bestrafung und dem gleichzeitigen komplizenhaften Stillschweigen über Kriegsverbrecher wie Karadžićc und Mladic seit dem Krieg in Ex-Jugoslawien und die Anklagen des Staates auf Terrorismus sind völlig heuchlerisch. Wir wollen unsere volle Solidarität an die inhaftierten und deren Familien überbringen, und wir ermutigen unsere Leser die CNT-AIT Erklärung möglichst zu verbreiten.
Unsere Sektion in Frankreich erhielt eine Erklärung von der anarcho-syndikalistischen CNT-AIT in Toulouse. Wir stimmen völlig mit den Genossen darin überein, dass dies ein Versuch des Staates ist, Militante und im Allgemeinen die Arbeiterklasse einzuschüchtern. Der Kontrast zwischen der Forderung nach strenger Bestrafung und dem gleichzeitigen komplizenhaften Stillschweigen über Kriegsverbrecher wie Karadžićc und Mladic seit dem Krieg in Ex-Jugoslawien und die Anklagen des Staates auf Terrorismus sind völlig heuchlerisch. Wir wollen unsere volle Solidarität an die inhaftierten und deren Familien überbringen, und wir ermutigen unsere Leser die CNT-AIT Erklärung möglichst zu verbreiten.
Ihr werdet sicherlich schon wissen, dass serbische Anarcho-Syndikalisten, einschließlich dem jetzigen Sekretär der International Workers Association (AIT) in Belgrad eingesperrt worden sind. Die Anklage lautet auf Terrorismus. Bis jetzt wissen wir nicht, wie sie diese Anklage aufrecht erhalten. Die Anklage basiert darauf, dass angeblich von einer anarchistischen Gruppe an der griechischen Botschaft ein geringer materieller Schaden angerichtet worden ist aus Solidarität mit einem griechischen Genossen, der noch im Gefängnis ist. Die Angeklagten bestreiten diese Fakten, aber sie haben trotzdem mit 3 bis 15 Jahren Gefängnis zu rechnen. Das Missverhältnis zwischen den angeblichen Fakten und der zu erwartenden Strafe bringt uns zu folgender Einschätzung: Die serbischen Machthaber wollen unseren Genossen, deren politische Aktivität sie offensichtlich in Verlegenheit bringt, einen Maulkorb anlegen. Wir fordern euch auf, das Kommuniqué der ASI möglichst zu verbreiten.
Am 4. Sept. hat das Bezirksgericht in Belgrad entschieden, dass die inhaftierten Mitglieder der ASI für 30 Tage eingesperrt bleiben sollen. Unsere Genossen werden angeklagt, eine Tat des internationalen Terrorismus begangen zu haben.
Das Gewerkschaft Bündnis ASI hat sich gebildet anlässlich eines Angriffs auf die griechische Botschaft. Die ASI hat in den Medien die Verantwortung übernommen für diesen Angriff.
Wir nehmen die Gelegenheit wahr, um wieder einmal öffentlich daran zu erinnern, dass diese Methoden des individuellen politischen Kampfes keine Methoden des Anarcho-Syndikalismus sind, ganz im Gegenteil – wir vertreten unsere politischen Ansichten öffentlich und durch unsere Arbeit versuchen wir die Massen an die anarcho-syndikalistische Bewegung und an alle freiheitlichen und fortschrittlichen Organisationen heranzuführen.
Der Staat will seine scharfen Kritiker brutal unterdrücken mittels der Repression. Dabei handelt er nach der banalen Logik, diejenigen als Verdächtige hinzustellen, die ihre freiheitliche Auffassung ganz explizit kundtun. Mit der Inhaftierung soll der Fall erledigt sein und es soll in der Öffentlichkeit das falsche Bild vermittelt werden, wie effektiv und mächtig der Staat ist.
Skrupellose Aktionen von Institutionen des Regimes sind seit dem ersten Tag der Inhaftierung zu beobachten, ungesetzliche Durchsuchungen ihrer Wohnungen, Einschüchterung ihrer Wohnungen bis hin zur Anklage, Teil des internationalen Terrorismus zu sein.
Wir unterstützen nicht die Aktionen der jetzt so berühmten anarchistischen Gruppe Black Iliya. Wir wissen nicht, was da internationaler Terrorismus sein soll, weil Terrorismus per definitionem das Leben von Zivilisten bedroht, wohingegen in diesem Fall niemand verletzt wurde und nur ein symbolischer Schaden verursacht wurde.
Es ist klar, dass diese vom Staat fabrizierte Farce nur eine Art und Weise ist, jeden einzuschüchtern, der die Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit der heutigen Gesellschaft aufzeigt.
In Zeiten der allgemeinen gesellschaftlichen Erstarrung werden Individuen zu schier unglaublichen, manchmal selbstzerstörerischen Aktionen getrieben, um die Medienblockade zu durchbrechen und auf ihre Sache aufmerksam zu machen. Lasst uns an die Arbeiter erinnern, die ihre Finger abschnitten und sie aufaßen, oder ein anderes Beispiel der unglückliche, in elenden Verhältnissen lebende Mann, der eine Handgranate vor dem Präsidentenpalast zündete, um zu versuchen für ein breiteres Publikum etwas Licht auf seine Probleme fallen zu lassen.
Wir lassen uns nicht davon überzeugen, dass ein symbolischer Akt der Solidarität, auch wenn an ihm etwas Schlechtes haftete, und andere Aktionen der Rebellion derjenigen, die ohne Rechte gelassen wurden, behandelt werden als antisoziale Aktionen und als terroristische Handlungen.
Wir drücken unsere Solidarität mit den inhaftierten Genossen und deren Familien aus und fordern die volle Aufklärung dieses Falls!
Freiheit für die Anarcho-Syndikalisten!
Als am 15. Februar in Belgien zwei Nahverkehrszüge frontal zusammenstießen, dabei 19 Menschen getötet (darunter ein Lokführer) und mehr als 170 Reisende verletzt wurden, traten auf einen Schlag erneut die katastrophalen Sicherheitslücken bei den Eisenbahnen ans Licht.
Als am 15. Februar in Belgien zwei Nahverkehrszüge frontal zusammenstießen, dabei 19 Menschen getötet (darunter ein Lokführer) und mehr als 170 Reisende verletzt wurden, traten auf einen Schlag erneut die katastrophalen Sicherheitslücken bei den Eisenbahnen ans Licht. Obwohl es in der Vergangenheit schon mehrere tödliche Unfälle mit ähnlichem Hintergrund gab, die Belgischen Eisenbahnen unter dem Druck der EU seit dem Jahre 2005 zur Einführung modernerer Sicherheitsstandards gezwungen wurden, wurde durch den Unfall bekannt, dass lediglich ein Drittel der belgischen Nahverkehrszüge über entsprechende Sicherheitseinrichtungen verfügt. Während die Eisenbahnen in Belgien zu den ältesten auf dem europäischen Kontinent gehören, seitdem 1835 die erste Eisenbahnlinie eröffnet wurde, und es immer noch das dichteste Eisenbahnnetz der Welt in diesem alten Industrieland gibt, sind nun, 175 Jahre später, immer noch nicht alle Züge mit den modernsten Sicherheitseinrichtungen ausgestattet, die z.B. ein Triebfahrzeug nach Überfahren eines Halt zeigenden Signals zum Halten bringen. Die schreiende Lücke zwischen dem, was heute technisch möglich ist, und der Wirklichkeit im Alltag, trat nicht etwa in einem Dritte-Welt-Land auf, sondern in einem der ältesten Industrieländer, dem Sitz der EU-Bürokratie usw. Auch in der führenden Industrienation Europas, Deutschland, lange Zeit Exportweltmeister dank seiner Hightech Produkte, führt der Druck der Krise und die grenzenlose Jagd nach Profiten immer mehr zu Gefährdungen der Sicherheit. Nach dem Achsbruch bei einem ICE-3 im Sommer 2008 muss die Deutsche Bahn AG bei einem Großteil der vorhandenen 250 ICE-3-Züge die Radsatzwellen tauschen – erwarteter Mehraufwand mehrere Hundert Mio. Euro. Unterdessen leben die Bewohner der Hauptstadt Berlin nunmehr seit Monaten mit den Gefahren und Folgen der Sparpolitik und Profitjagd bei der Deutsche Bahn AG. Der Bruch einer Radscheibe, der im Mai 2009 zur Entgleisung eines S-Bahn-Zuges führte, zwang zur Überprüfung sämtlicher S-Bahn-Parks in Berlin. Erste Prüfungen ergeben: "So habe das Unternehmen noch im Januar 2007, vor Ablauf der Verjährungsfrist, auf Nachbesserungen gegen über dem Hersteller verzichtet. Wartungsarbeiten an sicherheitsrelevanten Teilen wie Rädern und Bremssystemen seien unzureichend dokumentiert. Zentrale Unterlagen fehlten; offen sei, ob diese vernichtet wurden. Die Prüfer fanden zudem Hinweise auf Manipulationen bei Testfahrten oder deren Messergebnissen, die im Jahr 2005 die langfristige Haltbarkeit der Radscheiben nachweisen sollten. Diese Haltbarkeit habe aber womöglich nie bestanden, so die Meinung der Prüfer." (Berliner Zeitung, 19.2.10). Auch hier entstehen erwartete Mehraufwendungen von mindestens 350 Mio. Euro. Dass in den letzten Wochen schwere Güterzugentgleisungen stattfanden, zeigt nur, wie groß das Gefahrenpotenzial für weitere Unfälle ist. Wenn die Deutsche Bahn als „global player“ ihre Gelder in den Ankauf und Beteiligungen bei Eisenbahnen und anderen Logistikunternehmen weltweit anlegt, um Geld zu scheffeln, gleichzeitig ein marodes Schienennetz entsteht und störungsanfällige und/oder unzureichend gewartete Fahrzeuge im Umlauf sind, und der Konzern wegen seiner Profitjagd auf der einen Seite überall die Sparschrauben anzieht, auf der anderen Seite aber nicht zuletzt wegen Unfällen immer wieder kostspielige Nachrüstungen oder Reparaturen vornehmen muss, belegt dies nur, wie wahnsinnig kurzfristig und borniert das Kapital vorgeht. Die einzig richtige Reaktion zeigten die Eisenbahner in Belgien, die einen Tag nach dem Unfall in großen Teilen des Landes aus Protest gegen die Arbeits- und Sicherheitsbedingungen die Arbeit niederlegten.
Nachdem im März 2009 beim Kölner U-Bahn-Bau das historische Stadtarchiv und benachbarte Wohnhäuser einstürzten und dabei zwei Bewohner in den Tod gerissen wurden, haben erste Ermittlungen Zustände offengelegt, die bislang hauptsächlich in Ländern der Drittel-Welt gängige Praxis waren. Jetzt schon ist deutlich geworden, dass beim U-Bahn-Bau nur 17% der erforderlichen Stahlbügel angebracht wurden, d.h. 83% wurden nicht eingebaut. Ein Teil davon wurde an einer geplanten Haltestelle der U-Bahn von Arbeitern an einen Schrotthändler verkauft. Gewiss sind die Löhne niedrig und die Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen miserabel. Wenn es sich als wahr herausstellen sollte, dass sicherheitsrelevante Teile massenhaft von einigen Arbeitern nicht eingebaut und stattdessen verhökert wurden, sind dies Verhaltensweisen, welche die ethischen Maßstäbe der Arbeiterklasse verletzen. Sie stehen im Gegensatz zu dem Verhalten der Arbeiter in Belgien.
Bislang galt in den hochindustrialisierten Ländern die Einhaltung von gewissen Sicherheitsstandards als allgemein akzeptiert, weil für ein einigermaßen "reibungsloses" Funktionieren der Produktionsabläufe unverzichtbar. Wenn nun, wie aus den jüngsten Untersuchungsergebnissen beim Kölner U-Bahn-Bau ersichtlich, aufgeflogen ist, dass "massenweise falsche Protokolle, gestohlene und nicht eingebaute Sicherheitsbügel, illegale Brunnen, zu viel abgepumptes Brunnenwasser, immer wieder neue Risse in der Schlitzwand, vor allem aber auch fehlende Kontrollen", also "geschlampt, unterschlagen, vertuscht und systematisch gefälscht wurde" (Kölner Stadtanzeiger, 19.02.10), ist eine neue Stufe überschritten. Denn, selbst der Kölner Stadtanzeiger muss einräumen, dass solche Praktiken bislang hauptsächlich in Bananenrepubliken oder in Mafia-Kontrollierten Ländern gang und gäbe waren. Nunmehr droht Gefahr, dass solche Gebärden auch in den hochentwickelten Industriestaaten, die bislang nicht so von einer alle Strukturen durchdringenden Korruption geplagt waren, Einzug halten. Der Verdacht wurde erhoben, dass bei diversen Eisenbahnneubaustrecken ähnliche Methoden der Manipulation von Messprotokollen usw. praktiziert wurden (z.B. auf der Neubaustrecke München-Nürnberg). Dass dabei früher oder später Menschenleben drauf gehen werden, ist nur eine Frage der Zeit. Wer aber die Zeche dafür zu blechen hat, ist schon klar. Wenn solche Projekte nicht einfach zu einer Bauruine werden, müssen ungeheuer kostspielige Nacharbeiten erfolgen oder absurd teure Maßnahmen ergriffen werden, wie die Flutung der im Bau befindlichen Kölner U-Bahnstation Heumarkt, um ein Eindringen von Rheinwasser zu verhindern…
"Der Absturz eines Air-France-Airbus im Juni 2009 [mit 228 Menschen an Bord] offenbart nach SPIEGEL-Informationen eine gefährliche Sicherheitslücke, die alle derzeit zugelassenen Jets betrifft: Die Geschwindigkeitssensoren basieren auf Spezifizierungen von 1947 - noch vor Beginn des Düsenflugzeug-Zeitalters. Die fraglichen Sensoren, deren Vereisung sehr wahrscheinlich zum Absturz des A330 geführt hat, müssen nur bis minus 40 Grad Celsius funktionieren. Doch heutige Passagiermaschinen fliegen fast immer in Höhen, in denen deutlich niedrigere Temperaturen herrschen. (…) Vom Ausfall der Geschwindigkeitssensoren sind auch Boeing-Flugzeuge betroffen. Auf SPIEGEL-Anfrage bestätigte die für Boeing zuständige US-Zulassungsbehörde FAA acht solcher Zwischenfälle bei der 777, drei bei der 767 und jeweils einen bei der 757 und dem Jumbojet 747 (…) Während Airbus die Bedeutung der fehlerhaften Tempoanzeige beim Absturz der Air-France-Maschine offiziell herunterspielt, entwickelt der Konzern längst Techniken, die den Ausfall der Temposensoren erkennen und beherrschen helfen sollen. Am 3. Dezember 2009 meldete Airbus in den USA ein entsprechendes Patent an mit der Begründung, Fehler in der Geschwindigkeitsmessung könnten "katastrophale Folgen haben". Eine andere Technik kann bereits seit einigen Jahren als Sonderausstattung für Airbus-Maschinen bestellt werden. Nach SPIEGEL-Informationen lehnt es Air France bislang ab, das 300.000 Euro teure System namens "Buss" nachzurüsten. (www.spiegel.de/wissenschaft/technik/gefaehrdete-duesenflugzeuge-aufklaerung-von-air-france-absturz-offenbart-gefaehrliche-sicherheitsluecke-a-679180.html [17]). Während für den von Airbus konzipierten Militärtransporter A400 M ganz neue Systeme mit Milliardenaufwand entwickelt wurden, um für kriegerische Operationen besser gerüstet zu sein, steht der Schutz von Menschenleben in der zivilen Luftfahrt offensichtlich nicht auf der Prioritätenliste…
In der Autoindustrie rief der Gigant Toyota mehr als 8.5 Millionen Fahrzeuge erst in die Werkstätten zurück, nachdem allein in den USA mehr als 30 Menschen durch das technische Versagen zu Tode kamen, dessen Ursachen dem Hersteller bekannt waren, der aber zu spät einschritt.
Weil im Kapitalismus Profit an oberster Stelle steht, werden noch unzählige Opfer zu beklagen sein...
EB 26.2.10
Mit grösstem Schmerz müssen wir unseren Lesern mitteilen, dass unser Genosse Jerry Grevin (der unter den Initialen JG Artikel schrieb) in den USA verstorben ist. Aufgrund eines akuten Herzinfarktes verstarb er am Nachmittag des 11. Februar. Für alle Genossen ist dies ein grosser Schock, besonders aber für die Genossen der amerikanischen Sektion welche mit ihm tagtäglich zusammenarbeiteten.
Viele Genossen kannten Jerry mit seiner tiefen Überzeugung und seinem Engagement für die Sache des Kommunismus seit mehr als 30 Jahren. Er begann in seiner Jugend mit der aktiven Beteiligung in der Anti-Vietnam Bewegung, bevor er in den 1970er Jahren in die IKS eintrat. In der IKS stand er immer mitten im Leben der amerikanischen Sektion, dies auch während der schwierigen Zeit welche die IKS in den 1990er Jahren durchlebte. Er spielte eine wichtige und ermunternde Rolle, für die Leute, die mit der IKS in den USA in Kontakt traten. Alle Genossen die Jerry kannten, erinnern sich an seine Freude am Leben und an seinen Humor auch angesichts all der Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt. Der Verlust des Genossen Jerry ist nicht nur ein Verlust für die amerikanische Sektion, es ist ein grosser Verlust für die gesamte IKS und die Arbeiterklasse.
Wir werden in unserer Presse nächstens einen längeren Nachruf auf den Genossen veröffentlichen. Wir bekunden aber jetzt schon unsere innige Solidarität an alle Genossen von Jerry, seine Familie und Freunde. Wir werden die revolutionäre Arbeit, von der er so begeistert und überzeugt war, mit Entschlossenheit weiterführen.
Griechenland, Portugal, Spanien, Irland, Frankreich, Deutschland, England… überall schlägt die Krise zu, überall stehen die Arbeiter vor den gleichen Angriffen. Die Botschaft der Herrschenden lautet: „Wenn ihr das Schlimmste verhindern wollt, die wirtschaftliche Katastrophe und den Bankrott, müsst ihr euch den Gürtel so eng schnallen wie noch nie zuvor.“ Sicher haben nicht alle Staaten gleichzeitig dieselbe Stufe erreicht und es sind nicht alle gleichzeitig zahlungsunfähig geworden, aber alle wissen, dass der Zug in diese Richtung fährt. Sie sind alle auf der Suche nach Möglichkeiten der Reduzierung der Defizite. Während die Herrschenden in einigen Staaten schon zum Angriff geblasen haben, bereiten sie in allen Ländern den Boden ideologisch vor.
Das griechische Sparpaket zur Senkung der öffentlichen Verschuldung ist sehr brutal und ungeheuer zynisch. Der griechische Finanzminister verlangte: „Die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes müssen ihren Patriotismus beweisen und ein Beispiel setzen…“ Ohne Widerstand und Gegenwort sollten sie Gehaltssenkungen und Zulagenstreichungen, Stellenstreichungen, die Nicht-Ersetzung von in Rente gehenden Kolleg/Innen, die Erhöhung des Rentenalters auf 65 hinnehmen. All dies im Interesse der Verteidigung der nationalen Wirtschaft, ihres Ausbeuterstaates, ihrer Unternehmer und anderer Blutsauger der Arbeiterklasse. Alle Teile der herrschenden Klasse in Europa greifen den Herrschenden in Griechenland bei der Umsetzung des Sparprogramms unter die Arme. Der Arbeiterklasse soll international eingetrichtert werden: „Schaut euch Griechenland an, die Leute sind gezwungen, Opfer im Interesse des Landes zu bringen. Auch ihr müsst das Gleiche tun.“
Nach den US-Privathaushalten, nach den Banken, nach den Firmen ist jetzt die Phase angebrochen, wo die Staaten selbst von der Wucht der Wirtschaftskrise erfasst werden und viele von ihnen vor der Zahlungsunfähigkeit stehen. Das wiederum zwingt sie zu noch schärferen Angriffen. Drastische Einkommenseinbußen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, Senkung der Kosten des „Faktors Arbeit“, unseres Lebensstandards im Allgemeinen, stehen überall auf dem Programm. Die gleichen Maßnahmenkataloge werden in Portugal, Griechenland, Spanien eingefädelt, und es ist ein offenes Geheimnis, dass nach den Wahlen in Großbritannien eine Welle von Sparbeschlüssen erwartet wird, idem in Deutschland nach den Wahlen in Nordrhein-Westfalen. Natürlich ist diese Entwicklung nicht auf die Euro-Zone beschränkt. In den USA ist die Arbeitslosenrate nach zwei Jahren Krisenbeschleunigung auf 17% hochgeschnellt, 20 Millionen zusätzliche Arbeitslose suchen Arbeit; 35 Millionen Menschen überleben nur dank Lebensmittelzuweisungen. Und jeden Tag wird die Lage schlimmer.
Wie konnte es dazu kommen? Aus der Sicht der Herrschenden, insbesondere aus der Sicht des linken Flügels der Herrschenden ist die Antwort einfach und klar. Die Banken, die Geldhaie wie Goldman Sachs, J.P. Morgan usw. seien schuldig. Es stimmt, dass das Finanzsystem verrückt geworden ist. Es geht nur noch um unmittelbare Interessen, um die schnellstmögliche Realisierung von Profit, nach dem Motto – nach uns die Sintflut. Es ist mittlerweile bekannt geworden, dass Spekulationshaie und Banken die Zahlungsunfähigkeit Griechenlands mit beschleunigt haben, indem sie auf dessen Bankrott gesetzt haben. Sie werden sicher die gleichen Tricks gegenüber Portugal und Spanien anwenden. Die großen Weltbanken und die Finanzinstitutionen sind wirkliche Geier. Aber dieses Finanzgebaren, das letztendlich selbstmörderisch wirkt, ist keineswegs die Ursache der Krise, sondern nur eine Folge davon (auch wenn dieses auf einer gewissen Stufe zu einem beschleunigenden Faktor wird).
Wie üblich tischen uns die Herrschenden Lügen auf; sie versuchen uns zu verwirren. Sie wollen unbedingt verhindern, dass die Verbindung zwischen der wachsenden Zahlungsunfähigkeit der Staaten und dem Bankrott des gesamten kapitalistischen Systems erkannt wird. Denn es lässt sich immer weniger leugnen: der Kapitalismus ist todgeweiht – und der Wahnsinn der Entwicklungen im Finanzbereich sind ein Ausdruck davon.
Als die Krise Mitte 2007 mit voller Wucht ausbrach und vor allem in den USA der Bankrott des Bankensystems offenbar wurde, geschah all dies als eine Folge von jahrzehntelanger Verschuldungspolitik, die von den Staaten selbst mit angefacht worden war, um künstliche Märkte für all die produzierten Waren zu schaffen. Aber als ab einer gewissen Stufe schlussendlich die Privathaushalte und die Firmen unter dem Druck der Schuldenlast nicht mehr in der Lage waren, ihre Schulden zurückzuzahlen, standen die Banken am Rande des Bankrotts – und mit ihr die gesamte kapitalistische Wirtschaft. Damals mussten die Staaten eingreifen und eine Reihe von Schulden der Privathaushalte und Banken übernehmen – auf Kosten von gigantischen, sündhaft teuren Rettungsmaßnahmen, um somit den weiteren Absturz in die Rezession zu verhindern.
Jetzt ist die Phase eingetreten, wo die Staaten selbst bis über die Ohren verschuldet sind und ihre eigenen Schulden nicht mehr bezahlen können (ohne dass dabei gleichzeitig die Privathaushalte gerettet worden wären) und selbst vor dem Bankrott stehen. Sicher ist der Staat kein privates Unternehmen, das pleite gehen kann und bei Zahlungsunfähigkeit einfach den Betrieb einstellt. Der Staat kann immer noch versuchen, sich noch mehr zu verschulden, noch mehr Geld drucken usw. Aber irgendwann kommt immer der Zeitpunkt, wo die Schulden – auch die eines Staates - beglichen werden müssen (oder zumindest die Zinsen bezahlt werden müssen). Diese Entwicklung wird in Griechenland, Portugal und Spanien deutlich. In Griechenland hat der Staat versucht, neue Kredite auf den internationalen Märkten aufzunehmen. Er erhält nur kurzfristige Kredite und die nur zu hohen Zinsen (mehr als 8%). Solch eine Zwangslage ist untragbar. Welche Lösung steht den Herrschenden offen? Überbrückungskredite von anderen Staaten? Vielleicht leihen andere Staaten Griechenland Geld, aber sie werden nicht dazu in der Lage sein, den jeweils folgenden Ländern wie Portugal, Spanien, England usw. ähnliche „Rettungspakete“ anzubieten. Ihnen wird einfach das Geld dazu ausgehen… Zudem wird diese ganze Politik der Rettungsmaßnahmen nur zu ihrer eigenen finanziellen Schwächung führen. Auch in den USA, die noch am meisten mit dem Dollar „spielen“ können, steigen die Staatsschulden unaufhörlich an. Die Hälfte der US-Bundesstaaten sind zahlungsunfähig. In Kalifornien bezahlt der Staat seine Bediensteten nicht mehr mit US-Dollars, sondern mit einer Art „lokaler Währung“, Gutscheine, die nur auf kalifornischem Territorium Geld wert sind.
Kurzum, egal welche Wirtschaftspolitik eingeschlagen wird, den Staaten gelingt es keineswegs, die Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Um Zeit zu gewinnen, haben sie keine andere Wahl als drastische Ausgabenkürzungen. Dies ist der Kern der Maßnahmen, die jetzt in Griechenland, Spanien, Portugal und morgen anderswo getroffen werden. Dies sind aber keine üblichen Sparpakete, wie schon mehrfach in der Vergangenheit verabschiedet wurden. Es geht jetzt mehr und mehr darum, den Preis für das Überleben des Kapitalismus der Arbeiterklasse aufzuhalsen. Bald werden wir wieder die langen Schlangen vor den Armenessen sehen, die in den 1930er Jahren so sehr das Leben prägten. Verarmung der arbeitenden Bevölkerung – das ist der einzige Weg, der für den Kapitalismus gangbar ist. Aber die Arbeiterklasse ist nicht bereit, diesen Weg ohne Widerstand zu beschreiten. (siehe dazu andere Artikel in dieser Zeitung). Tino, 26.2.2010
Im Januar und Februar hat die IKS in Frankreich und in Deutschland Diskussionsveranstaltungen zum Thema "Selbstmord am Arbeitsplatz- eine einzige Antwort – Solidarität der Arbeiterklasse " organisiert. In unserem Einladungsaufruf schrieben wir:
"In den letzten Monaten wurde unter der Rubrik "Verschiedenes" ein Ereignis von den Medien groß herausgehoben: die Welle von Selbstmorden am Arbeitsplatz, insbesondere bei France Télécom. Der Arbeitsstress nimmt für viele Beschäftigte dermaßen zu, dass sie als Einzelne verzweifelt reagieren. Dies ist kein neues Phänomen, es trat Ende de 1980er Jahre in Erscheinung, als die Herrschenden ihre Kampagne zum "Tod des Kommunismus" und dem "Ende des Klassenkampfes" anleierten.
Welche Erklärung für diesen neuen Ausdruck des Zerfalls des Kapitalismus?
Wie gegenüber der Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen und der gefährlichen Tendenz des "jeder für sich" reagieren?
Kommt und beteiligt euch an unserer Diskussionsveranstaltung zu diesem Thema!!"
Nachfolgend fassen wir kurz die Diskussionen, die hierzu in Lyon, Marseille und Grenoble stattfanden, zusammen. In diesen Diskussionen haben viele Teilnehmer über ihre Arbeitsbedingungen und den wachsenden Arbeitsstress berichtet, unter dem sie selbst und ihre Freunde und Angehörigen leiden.
Auf diesen Treffen wurde der „Arbeitsstress“ nicht nur als ein theoretisch zu vertiefendes Thema aufgegriffen, sondern auch und vor allem als eine echte, leidvolle Erfahrung.
Zwei Fragen standen im Vordergrund der Diskussionen.
· Wird die Zuspitzung der Wirtschaftskrise der Tendenz des “jeder für sich” weiter Auftrieb verschaffen oder im Gegenteil eine größere Einheit und eine aufkeimende Solidarität entfalten? Eine junge Studentin meinte: „Wovor ich Angst habe, ist dass sich jeder in Anbetracht der Zuspitzung der Wirtschaftskrise in seine eigene Ecke zurückzieht. Die Konkurrenz spitzt sich auch weiter zu. Aber trotzdem bin ich nicht pessimistisch, denn ich meine, man müsste die Gesellschaft umwälzen, wir stehen irgendwie am Rande eines Abgrunds“.
· Was tun, wie dem wachsenden Druck widerstehen, die einige zu den schrecklichsten Reaktionen führt wie zum Selbstmord am Arbeitsplatz?
Viele Beispiele von Mobbing am Arbeitsplatz wurden, oft mit ergreifenden Gefühlen, geschildert. „In unserer Firma haben wir schon mehrere Umstrukturierungen durchgemacht. Tagtäglich werden wir gemobbt, viele von uns sind deprimiert, im Augenblick verspürt man keine Solidarität unter Kollegen. Gegenwärtig hat man das Gefühl die Leute sind wie gelähmt, aber ich glaube, die Verschärfung der Wirtschaftskrise wird die Leute dazu zwingen zu reagieren.“ So die Schilderung einer jungen Frau, die seit mehreren Jahren in einer ‚high-tech‘ Branche arbeitet, deren Beschäftigte oft als die privilegierte Elite der Ingenieure angesehen werden. In Wirklichkeit sind deren Beschäftigte genauso von der Krise betroffen. Sie stehen unter einem enormen Leistungsdruck und es wird von ihnen ein riesiges Arbeitspensum erwartet. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass ein junger Gymnasiast, zukünftiger Lohnempfänger, die gleiche Idee des zunehmenden Einflusses der Wirtschaftskrise aufgriff. „Ich diskutieren mit meinen Kumpels auf dem Gymnasium, im Augenblick merken sie die Krise noch nicht so sehr. Ihnen geht es noch einigermaßen gut, aber wenn die Verarmung zunehmen wird, werden auch sie gezwungen zu reagieren.“
Auch das Beispiel von Abteilungsleitern wurde gegeben, die unter einem starken Druck stehen und diesen in “ihre” Abteilungen weitergeben müssen. „In den Betrieben des öffentlichen Dienstes, in denen es zwar auch Unterschiede zwischen den Angestellten und den Führungskräften gibt, entstehen manchmal Diskussionen; denn es ist so offensichtlich, dass auch sie einem gewaltigen Druck ausgesetzt sind, was bei ihnen oft Depressionen auslöst. Ein Beispiel dafür sind die Selbstmorde bei France Télécom, die dies an den Tag gebracht haben.“ Dies schilderte ein Beschäftigter, der aufzeigte, wie sich Ansätze von Solidarität in seiner Abteilung zeigten. Ein Teilnehmer, der auch Freunde hat, die bei France Télécom arbeiten, veranschaulichte die "neue Managementmethode „Time to move“, die dazu führt, dass jeder nach drei Jahren die Stelle wechseln muss. Die Chefs erhalten jedes Mal eine Prämie von 3000 Euro, wenn jemand versetzt wird".
Ist es möglich, zu ‘menschlicheren Managementmethoden’ zurückzukehren? Hier die Reaktion einer Studentin einer Handelsschule: „In unserer Schule spricht man davon, dass das Management dazu angeleitet werden soll, eine größere ‚emotionale Intelligenz‘ zu zeigen. Dadurch könne man sich besser auf die Menschen konzentrieren, besser auf die Fähigkeiten eines jeden eingehen.“ Die Antwort der meisten Teilnehmer war eindeutig. Die Entwicklung der Wirtschaftskrise wird immer brutalere Methoden hervorbringen, und wir wissen alle, dass die "psychologischen Stützpunkte", die von den Arbeitgebern eingerichtet werden, wie ein Pflaster auf einer Prothese funktionieren. Diese Studentin wollte, sobald sie ins Berufsleben eintritt, dem Alltagstrott des „Aufstehen, zur Arbeit fahren, arbeiten, erschöpft nach Hause usw.“ entkommen. Aber man kann nicht wirklich davor flüchten. Eine andere Teilnehmerin entgegnete ihr: „Natürlich möchten wir alle irgendwie gerne auf dem Lande leben und dort Viehzucht betreiben und den ganzen Tag vielleicht nur Marx lesen, aber es gibt keinen individuellen Ausweg aus dem kapitalistischen System. Die ganze Bevölkerung leidet unter dem System.“
In den Treffen waren Teilnehmer mit einem hohen Bildungsabschluss (Ingenieure, Mediziner), deren Erfahrung sich nicht unterschied von der Erfahrung von Beschäftigten, die in Fabriken oder bestimmten Verwaltungen arbeiten. Denn durch die Absenkung ihres Lebensstandards und aufgrund der Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen kommt es zu einer beschleunigten Proletarisierung derjenigen, die vor einigen Jahren noch meinten, sie gehörten einer „Elite“ und keineswegs der „Arbeiterklasse“ an.
Die Anwesenden unterstrichen deutlich, dass nur Solidarität im Kampf hilft, die unerträgliche Isolierung eines jeden Beschäftigten zu überwinden. Einige konkrete Vorschläge des gemeinsamen Widerstands gegenüber Mobbing und dem Druck des Kapitals wurden aufgegriffen: man darf nicht zögern, öffentlich gegenüber unhaltbaren Zuständen zu reagieren, wenn diese sich gegen einen einzelnen Beschäftigten oder eine Gruppe richten. Man muss mit seinen Kolleg/Innen über die Zustände reden, man darf nicht isoliert in seiner Ecke hocken bleiben und weitere Angriffe abwarten…
Die kapitalistische Gesellschaft ist dazu gezwungen, die Konkurrenz und das jeder für sich zu verschärfen; dem müssen wir mit unserer Solidarität entgegentreten, das Vertrauen untereinander aufbauen und somit all die falschen Spaltungen überwinden und all den Verschlechterungen entgegentreten, denen wir alle ausgesetzt sind.
In den Diskussionen hat die IKS auf die Beispiele von Arbeiterkämpfen verwiesen, die im 19. Jahrhundert spontan ausbrachen, um sich gegen den Druck, der auf einzelne Kollegen ausgeübt wurde oder Demütigungen zu wehren. Seit einigen Jahren hat es auch Solidaritätsbekundungen in bestimmten Kämpfen gegeben, so zum Beispiel während der Bewegung gegen den CPE in Frankreich 2006, in Vigo (Spanien) 2006 und in Ägypten, in England und anderswo. Diesen Weg müssen wir beschreiten. Ein Teilnehmer schilderte, wie er von den Vollversammlungen beeindruckt war, die bei Caterpillar stattfanden, an denen sich alle Beschäftigten beteiligten.
Auf den Redebeitrag eines Gewerkschaftsaktivisten, der behauptete, "die Gewerkschaften müssen gegenüber der mangelnden Solidarität eine große Rolle spielen. Sie müssen in den Betrieben aktiv werden, um gesellschaftliche Beziehungen aufzubauen, nur so lässt sich was durchsetzen", antworteten die anderen Teilnehmer, dass die Beschäftigten Selbstvertrauen gewinnen müssen und spontan mit anderen Beschäftigten reagieren sollten, z.B. in ihrer Abteilung, im Büro, in der Schule, im Krankenhaus usw., und dass man keineswegs die sogenannten Spezialisten des Kampfes brauche. Eine andere junge Frau betonte: "Selbst wenn das "Recht auf Arbeit" nach dem 2. Weltkrieg eingeführt wurde, um die Arbeiter besser zu kontrollieren, müsste man dennoch diese Gesetzgebung nicht verteidigen?" Die anderen Teilnehmer entgegneten wiederum, es sei eine Illusion dies zu glauben, da die herrschende Klasse und ihre Regierungen seit langem die Rechte der Beschäftigten untergraben. Arbeits- oder Schiedsgerichte, deren Macht immer mehr beschnitten wird, sind kein Austragungsort für die Verteidigung der Arbeiterklasse, die sich für ihren Kampf zusammenschließen muss (auch wenn in Einzelfällen ein Beschäftigter an ein Arbeitsgericht appellieren kann). Ein anderer junger Beschäftigter warf die Frage auf: "Ich mag meine Arbeit, aber ich habe die Nase voll davon, immer unter Druck gesetzt zu werden. Im Gegensatz zu dem, was meine Großmutter mir sagte, die von einer früher existierenden gewissen Menschlichkeit unter den Beschäftigten sprach, erwartet man heute von den Beschäftigten so zu denken wie die Unternehmen."
In der Diskussion wurde ebenfalls hervorgehoben, wenn sich jemand auf der Arbeit umbringt, hat dies eine besondere Bedeutung. Diese hebt sich davon ab, wenn sich jemand z.B. zu Hause das Leben nimmt. Ein Selbstmord auf der Arbeit spiegelt die radikalste Form der Ablehnung der aufgezwungenen Arbeitsbedingungen wider. Wenn sich immer mehr Leute am Arbeitsplatz umbringen, steht dies im Zusammenhang mit der Verschlechterung der Bedingungen in der gesamten Gesellschaft. Aus der Sicht eines Teilnehmers: "Auch wenn man keine besondere Lehre aus den Selbstmorden am Arbeitsplatz ziehen kann, bringt dies die allgemeine Desorientierung der Gesellschaft zum Ausdruck."
Am Ende der Diskussion haben wir wie üblich die Teilnehmer in einer Schlussrunde um eine Einschätzung der Diskussion gebeten. Die Gelassenheit und manchmal auch die Emotionalität in der Diskussion wurden von den Teilnehmern begrüßt. Vor allem die Notwendigkeit einer einheitlichen und solidarischen Handlungsweise wurde von allem betont. Die Stärke der Arbeiterklasse liegt in ihrer Fähigkeit, sich in ihren Kämpfen immer massiver einzubringen, ihr Bewusstsein zu entwickeln, dass sie gemeinsam stark und in der Lage ist, eine Welt ohne Ausbeutung, ohne Konkurrenz, ohne Mobbing aufzubauen – den Kommunismus! IKS, 12.2.2010
1 [27] Wir haben unsere Analyse dieses ‘Gesellschaftsphänomens’, wie die Journalisten es bezeichnen, in einem langen Artikel in unserer Presse dargestellt. Siehe unsere Webseite.
Die FVDG entwickelt sich hin zum revolutionären Syndikalismus
Im vorhergehenden Artikel haben wir die Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und in der SPD beschrieben, welche zur Entstehung der Freien Vereinigung Deutscher Gewerkschaften FVDG, der Vorläuferorganisation des deutschen Syndikalismus führten. Dieser Überblick umfasste die 1870er Jahre bis ins Jahr 1903. Die 1897 gegründete FVDG verstand sich noch bis ins Jahr 1903 explizit als ein kämpferischer Teil der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung und hatte kaum Verbindungen zum Syndikalismus, der in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien stark präsent war. Die FVDG hatte auf der theoretischen Ebene konsequent den Anspruch der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verteidigt, sich nebst ökonomischen auch um politische Fragen zu kümmern.
Bedingt durch ihre Entstehungsgeschichte der Zerstreuung unter dem Sozialistengesetz und der Auseinandersetzungen mit dem großen gewerkschaftlichen Zentralverband, hatte es die FVDG aber nicht geschafft in ihren eigenen Reihen eine ausreichende Koordination für den gemeinsamen Kampf zu entwickeln. Die bereits bestehende, schon klar syndikalistische Organisation der IWW in den USA war der FVDG in der Frage der Zentralisierung ihrer Aktivitäten meilenweit voraus. Der alltägliche Hang zu föderalistischer Zerstreutheit, auch wenn dies in der FVDG noch nicht theoretisiert wurde, sollte immer eine Schwäche der FVDG bleiben. Angesichts der aufkommenden Massenstreiks sollte die Abneigung gegen die Zentralisierung des Kampfes der Arbeiterklasse immer deutlicher ein Hindernis für die FVDG werden.
Die Debatte um die neuen Kampfformen im Massenstreik der Arbeiterklasse im anbrechenden 20. Jahrhundert wurde für die FVDG eine große Herausforderung und führte zu einem deutlichen Schritt in Richtung Syndikalismus. Eine Entwicklung die sich bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges verstärken sollte und die wir in diesem Artikel beleuchten.
Auf internationaler Ebene tauchen um die Wende ins 20. Jahrhundert immer mehr Vorboten des Massenstreiks als neue Kampfform der Arbeiterklasse auf. Der Massenstreik unterschied sich in seiner spontan ausbreitenden Dynamik, dem Branchen übergreifenden Charakter und vor allem der Aufnahme von politischen Forderungen vom althergebrachten Schema des wohl organisierten, beruflich beschränkten und lediglich auf ökonomische Forderungen begrenzten gewerkschaftlichen Klassenkampf des 19. Jahrhunderts. In den international aufkeimenden Massenstreiks manifestierte sich nun eine Lebendigkeit der Arbeiterklasse, welche die planmäßig vorbereitet und fest am jeweiligen Stand der gewerkschaftlichen Streikkassen klebenden Streiks weit in den Schatten stellte.
Schon 1891 war ein Streik von 125`000 und 1893 von 250`000 Arbeitern in Belgien ausgebrochen, 1896 und 1897 entfaltete sich ein Streik der Textilarbeiter von St. Petersburg, 1900 unter den Bergarbeitern im US-Staat Pennsylvania, 1902 und 1903 im Bergbau in Österreich und Frankreich, 1902 erneut ein Massenstreik in Belgien um das allgemeinen Wahlrecht, 1903 unter den Eisenbahnern in Holland und im September 1904 eine landesweite Streikbewegung in Italien.
Deutschland mit seinen mächtigen und traditionsreichen Gewerkschaften und seiner dicht organisierten Arbeiterklasse war zu der Zeit nicht das Epizentrum dieses neuen Phänomens von gewaltigen, sich ausdehnenden Flutwellen des Klassenkampfes mit politischen Anliegen. Um so heftiger aber wurde die Frage des Massenstreiks in den Reihen der Arbeiterklasse in Deutschland diskutiert. Das Unbehagen gegenüber dem alten gewerkschaftlichen Schema des kontrollierten Klassenkampfs, der die heilige „Ruhe der Nation" nicht erschüttern sollte beschrieb Arnold Roller, ein Mitbegründer der FVDG, treffend am Beispiel des Bergarbeiterstreiks von 1905 im Ruhrgebiet, an dem sich 200`000 Arbeiter beteiligten: „Man (die Gewerkschaft) beschränkte sich darauf, dem Streik den Charakter einer Art friedlichen, abwartenden Demonstration zu verleihen, um vielleicht auf diese Weise, durch Anerkennung des „Wohlverhaltens" Konzessionen bewilligt zu bekommen. Die im ähnlichen Geist organisierten Bergarbeiter anderer Gebiete, wie Sachsen, Bayern, usw. bezeugten ihre Solidarität einerseits durch Streikunterstützungen, andererseits aber auch gleichzeitig in der sonderbaren Weise, dass sie während des Streiks in Überstunden viele tausend Waggons mehr Kohle förderten - die fortgeschickt wurden, um sie während des Streiks in der Industrie, also im Dienst des Kapitals zu verwenden. (...) Während die Arbeiter im Ruhrgebiet hungerten, verhandelten deren Vertreter im Parlament und erhielten auch einige Versprechungen gesetzlicher Verbesserungen - aber nach Wiederaufnahme der Arbeit. Selbstverständlich blieb den deutschen Gewerkschaftsführern der Gedanke fern, durch Ausdehnung des Streiks auf die gesamte Kohlenindustrie einen wirklich starken Druck auf das Unternehmertum auszuüben.[1]
Wichtigster Auslöser der berühmten „Massenstreikdebatte" von 1905/06 in der SPD und in den deutschen Gewerkschaften war aber zweifellos der gewaltige Massenstreik von 1905 in Russland, der in seiner Dimension und politischen Dynamik alles vorher Gesehene überstieg.[2]
Für die Gewerkschaften bedeuteten die Massenstreiks eine direkte Infragestellung ihrer Existenz und ihrer historischen Rolle. War ihre Rolle als geduldige ökonomische Verteidigungsorganisationen der Arbeiterklasse nun überholt? Der Massenstreik von 1905 in Russland, eine direkte Reaktion auf die durch den Russisch-Japanischen Krieg enorm verschärften Leiden der Arbeiterklasse und Bauernschaft, hatte deutlich gezeigt, dass nun politische Fragen wie Krieg und Revolution ins Zentrum der Arbeiterkämpfe rückten. Fragen welche die Kragenweite des traditionellen gewerkschaftlichen Denkens bei weitem überstiegen. „Das Gewerkschaftswesen ist eine Aktion der Arbeiter, die nicht über die Schranken des Kapitalismus hinausgeht. Seine Absicht ist nicht, den Kapitalismus durch eine andere Produktionsform zu ersetzen, sondern gute Lebensbedingungen innerhalb des Kapitalismus zu sichern. Sein Charakter ist nicht revolutionär, sondern konservativ.", wie es Anton Pannekoek präzise ausdrückte.[3]
Den Führern der in Deutschland zu mächtigen Organen angewachsenen Gewerkschaften also den Vorwurf fehlender Flexibilität zu machen, weil sie sich nicht mit der Kampfform des politischen Massenstreiks anfreunden konnten, trifft nicht des Pudels Kern. Ihre abwehrende Haltung gegen die Massenstreiks resultierte schlicht aus dem Wesen und Denken ihrer gewerkschaftlichen Organisationen selbst, die sie repräsentierten und die für die neuen Erfordernisse des Klassenkampfes von nun an nicht mehr genügten.
Dass die politischen Organisationen und Parteien der Arbeiterklasse nun das Wesen der Massenstreiks zu verstehen hatten lag auf der Hand. Jedoch „für die überwiegende Mehrheit der sozialdemokratischen Führer galt als Axiom: Generalstreik ist Generalunsinn!".[4] Ohne die Realität wahrhaben zu wollen, glaubten sie in den Massenstreiks lediglich und sehr schematisch den vom Anarchisten und ehemaligen Mitgründer der holländischen Sozialdemokratie Domela Nieuwenhuis propagierten „Generalstreik" zu erkennen. Jahrzehnte zuvor hatte Engels 1873 berechtigterweise in seiner Schrift Die Bakunisten an der Arbeit die eigenartige Vision eines Generalstreiks als ein hinter den Kulissen wohl vorbereitetes Aufstandsszenario als Generalunsinn kritisiert. Diese alte Vision eines „Generalstreiks" zeichnete sich durch eine überall und gleichzeitig erfolgenden Arbeitsniederlegung der Arbeiterklasse aus, generalstabsmässig geleitet von den Gewerkschaften. Damit sollte die Macht der herrschenden Klasse ausgehungert und innert Stunden aus den Angeln gehoben werden. Das spontane Element des Klassenkampfes wurden dabei komplett unterschätzt. Die Führung der SPD und der Gewerkschaften fühlten sich berechtigt, Engels Ausspruch zum geflügelten Wort zu machen, um damit jeglichen Ansatz zur Debatte über die handfesten Massenstreiks die vor allem von der Parteilinken in der SPD um Rosa Luxemburg gefordert wurde ignorant zu unterdrücken.
Tief im Kern standen sich das alte anarchistische Muster vom grandios geplanten ökonomischen Generalstreik und die Auffassung der grossen Gewerkschaftszentralen aber sehr nahe. Was für sie zählte war lediglich die Quantität der Kämpfe. Doch das Potenzial der Arbeiterkämpfe politische Fragen in die Hand zu nehmen, also ihre Qualität, wiesen sie beide glattweg von sich. War die FVDG, die bisher zumindest theoretisch immer die politische Aktivität der Arbeiter verteidigt hatte, fähig darauf eine Antwort zu geben?
Innerhalb der FVDG entbrannte die Debatte um den Massenstreik im Jahre 1904. Dies im Hinblick auf den kommenden Internationalen Sozialistenkongress in Amsterdam, an dem diese Frage auf der Tagesordnung stand. In den Reihen der FVDG ging es nun darum, das Phänomen des Massenstreiks erst einmal zu verstehen, zumal auch ihre eigene ruhige Welt der geordneten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte von den Massenstreiks richtiggehend überrumpelt worden war. In ihrer allgemeinen Auffassung einer wohl geregelten Gewerkschaftsarbeit unterschied sich die kleine FVDG nicht wesentlich vom grossen sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband. Da die FVDG durch ihren schwachen Einfluss aber keinerlei Möglichkeiten hatte die Klassenkämpfe zu kontrollieren, standen sie der Frage des Massenstreiks weit offener gegenüber als die grossen gewerkschaftlichen Zentralverbände. Irritiert stellte sich die FVDG nun die Frage ob die ausgebrochenen Massenstreiks die historische Bestätigung der alten, fast theatralisch anmutenden Generalstreiksvisionen sei.
Gustav Kessler, Mitgründer der „Lokalisten" und politische Autorität innerhalb der FVDG starb im Juni 1904. Kessler hatte innerhalb der Führung der FVDG am stärksten den Weg der Orientierung an der Sozialdemokratie verkörpert. Der sehr heterogene Charakter der FVDG als lose Vereinigung von Berufsverbänden hatte immer auch minoritären anarchistischen Tendenzen wie derjenigen um Andreas Kleinlein Platz gelassen. Kesslers Tod und die Wahl Fritz Katers zum Vorsitzenden der Geschäftskommission der FVDG im Sommer 1904 eröffnete nun deutlich eine Periode zunehmender Offenheit gegenüber syndikalistischen Ideen.
Es war aber vor allem der französische Syndikalismus der GCT, welcher einem Teil der FVDG mit dem Konzept des „Generalstreiks" eine Antwort anzubieten schien, ohne sich jedoch offiziell darauf zu beziehen. Unter Kesslers Einfluss hatte die FVDG bis zu Beginn des Jahres 1904 offiziell die Propaganda für die Generalstreiksidee noch abgelehnt.
Die FVDG nahm zur Frage des Massenstreiks am umfassendsten in Form der von Raphael Friedeberg 1904 verfassten Schrift Parlamentarismus und Generalstreik und einer im August des selben Jahres verabschiedeten Resolution der FVDG Stellung. Friedebergs Standpunkt (er blieb bis 1907 noch Mitglied der SPD) war in den Jahren von 1904-07 sehr prägend für die FVDG und verdient daher näherer Betrachtung.[5]
Friedebergs Broschüre widmet sich größtenteils mit einer berechtigten und feinfühlig formulierten Kritik dem zerstörerischen und einschläfernden Einfluss des Parlamentarismus, wie er damals von der sozialdemokratischen Führung als das Non plus Ultra des Klassenkampfes verstanden wurde: „Die parlamentarische Taktik, die Überschätzung des Parlamentarismus, ist schon zu sehr eingewurzelt in den Massen des deutschen Proletariates. Sie ist ja auch gar zu bequem; alles soll die Gesetzgebung, alles die Änderung der Verhältnisse bringen, die eigenen Persönlichkeit braucht nichts anderes herzugeben als alle paar Jahre in diesen oder jenen Stimmkasten einen sozialistischen Zettel zu stecken. (...) Es ist ein schlechtes Erziehungsmittel des Proletariats. (...) Ich will zugeben dass der Parlamentarismus eine historische Aufgabe in der Entwicklungsgeschichte des Proletariats gehabt hat, wohl auch noch haben wird." Wie wir sehen trägt dieser Anti-Parlamentarismus nicht den Charakter einer prinzipiellen Ablehnung, sondern geht von einem nun historisch erreichten Zeitpunkt aus, an dem sich dieses Propagandamittel für das Proletariat lediglich zu seinen Ungunsten entwickelt hatte.
In ähnlicher Weise wie Rosa Luxemburg unterstrich er dagegen den emanzipatorischen Charakter der großen Massenstreikbewegungen der vorangegangenen Jahre für das Proletariat: „Durch die Streiks schulen sich die Arbeiter, sie geben ihnen sittliche Kraft, sie bringen ihnen Solidaritätsgefühl, proletarisches Denken und Empfinden bei. Die Generalstreiksidee gibt den Gewerkschaften einen weiten Horizont wie ihn bisher der Gedanke der politischen Macht der Bewegung gegeben hat.". Die „politische Macht" war für Friedeberg Synonym für den Parlamentarismus. Dabei beschreibt er auch den ethischen Aspekt des Kampfes der Arbeiterklasse: „Wenn die Arbeiter aber den Klassenstaat stürzen wollen, wenn sie eine neue Weltordnung errichten wollen, dann müssen sie auch besser werden als die Schichten die sie bekämpfen, die sie beseitigen wollen. Deshalb müssen sie lernen, alles von sich zu stoßen was niedrig und gemein an ihnen ist, alles was unethisch ist. Das ist das Hauptkennzeichen der Generalsstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist."
Bezeichnend für die Texte von Friedeberg ist die stetige Verwendung des Begriffs „Generalstreik", auch wenn von den konkreten politischen Massenstreiks der vergangenen Jahre die Rede ist und diese Anlass zu seinen Schriften waren.
Obwohl die Triebfeder von Friedebergs Broschüre eine ehrliche Empörung gegenüber dem konservativen Geist in den gewerkschaftlichen Zentralverbänden war, die er mit Luxemburg teilte, kam er zu ganz anderen Schlussfolgerungen:
- Er verwarf klar den bisher in der FVDG existierenden Drang sich auch um politische Fragen zu kümmern: „Wir führen keinen politischen Kampf und brauchen deshalb auch keine politischen Kampfformen. Unser Kampf ist ein ökonomischer und ein psychologischer." Dies war ein deutlicher Bruch mit der bisherigen Haltung der FVDG. In oberflächlicher Gleichsetzung von „Politik gleich Parlamentarismus" verwarf er die politische Dynamik welche ja gerade die Massenstreiks ausgezeichnet hatten.
- Zudem zeichnete Friedeberg eine (auch innerhalb der FVDG sehr minderheitliche) unmaterialistische Auffassung des Klassenkampfes, basierend auf psychologischen Überlegungen und der Strategie der „Verweigerung der Persönlichkeit" - er nannte es „historischer Psychismus". Hier zeigte sich deutlich seine Anlehnung an gewisse anarchistisch-kleinbürgerliche Auffassungen, nach denen ein individueller Rebellengeist und nicht die kollektive Bewusstseinsentwicklung in der Arbeiterklasse das tragende Element des Klassenkampfes sei.
- Obwohl Friedeberg richtig die reformistische sozialdemokratische Idee der schrittweisen Übernahme der Staatsmacht anprangerte, verfiel er in eine gradualistische Auffassung desselben Zuschnittes, aber mit gewerkschaftlicher Prägung: „In den letzten Jahren allein sind die Gewerkschaften um 21 Prozent gewachsen, sie sind auf über eine Million Mitglieder gekommen, sodass wir mit Sicherheit, da für solche Dinge gewissermaßen gesetzmäßige Faktoren gelten, rechnen können, das in ca. 3-4 Jahren wir 2 Millionen Gewerkschaftsmitglieder haben werden, in 10 Jahren 3-4 Millionen. Und wenn die Generalstreiksidee immer weiter in das Proletariat eindringt (...) mehr als 4-5 Millionen Menschen zur Niederlegung der Arbeit zu bringen und dadurch den Klassenstaat zu beseitigen". In Wirklichkeit bedeutete die immer stärkere Einbindung der Arbeiterklasse in die Gewerkschaften schon zur damaligen Zeit nicht bessere Bedingungen für die proletarische Revolution, sondern eine Fessel für die Arbeiterklasse.
- Unter dem Drang ein „ethisches Kampfmittels ohne rohe Gewalt" zu propagieren erkennt man bei Friedeberg aber auch eine große Unterschätzung der herrschenden Klasse und ihrer brutalen Repression in einer revolutionären Situation: „Das ist das Hauptzeichen der Generalstreiksidee, dass sie ein ethisches Kampfmittel ist. (...) Was nachher kommt, wenn unsere Gegner uns zwingen wollen, wenn wir in Notwehr sind - das werden wir heute nicht bestimmen.".
Doch im Wesentlichen sah Friedeberg in den aufkommenden Massenstreiks die Bestätigung der alten anarchistischen Generalstreiksidee. Seine grösste Schwäche bestand wohl darin, nicht erkannt zu haben, dass sich die Massenstreiks hin zu einem politischen Akt der Arbeiterklasse entwickelten. Stattdessen beschränkte er die Perspektive der Massenstreiks auf eine rein ökonomische Ebene. Diese Auffassung brach deutlich mit der Tradition der FVDG, welche bis anhin immer vor einem rein ökonomischen Kampf gewarnt hatte.
Die Basis der FVDG stand nicht geschlossen hinter den Auffassungen von Friedeberg, der Repräsentant eines minoritären sich zum Anarchismus hin bewegenden Flügels war. Dennoch waren Friedebergs Positionen für eine kurze Epoche bekanntes Aushängeschild der FVDG. Friedeberg selbst zog sich 1907 aus der FVDG in eine anarchistische Kolonie in Ascona zurück.
Ein Verständnis der Massenstreiks konnte die FVDG mit den Theorien Friedebergs nicht anbieten. Anstelle der Erkenntnis, dass die historisch anwachsende revolutionäre Stimmung diese neue Form von Arbeiterkämpfen hervorbrachte, welche eine Verschmelzung von ökonomischen und politischen Fragen darstellten, war die Generalstreiksidee mit der die FVDG nun auf die Bühne trat ein Schritt zurück - eine Flucht vor politischen Fragen.
Was war nun die Bedeutung und Rolle der FVDG bezüglich des Massenstreiks? Trotz all der Konfusionen, welche in den Schriften Friedebergs zu Tage traten, hatte die Debatte in der FVDG und ihre Schriften eine aufwühlende Funktion innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung. Es steht ihr das Verdienst zu, schon vor der Niederschrift der bekannten und viel klareren Broschüren von Luxemburg und Trotzki über den Massenstreik von 1905, auch innerhalb der SPD diese gewichtigen Fragen aufgeworfen zu haben.
Dass die FVDG zu diesem Zeitpunkt in ihrer Vorstellung der Revolution noch strikte von Gewerkschaften als Organe der Revolution ausging soll uns nicht erstaunen. Einerseits war sie ja selbst eine Vereinigung von Gewerkschaften - ein Schritt darüber hinaus zu gehen hätte ihre eigene Organisationsform direkt in Frage gestellt. Andererseits baute auch Rosa Luxemburg noch stark auf die Gewerkschaften, welche sie in mehreren Ländern als das direkte und vorwärts weisende Produkt des Massenstreiks (z.B. in Russland) beschrieb. Es dauerte noch fast 5 Jahre bis zur Veröffentlichung von Trotzkis Buch 1905, welches die Arbeiterräte als neue Organe der Revolution anstelle der Gewerkschaften beschrieb[6]. Was der FVDG und ihren Nachfolgeorganisationen immer blieb, war ihre Blindheit gegenüber den Arbeiterräten und ihr Festklammern an den Gewerkschaften als angebliche Organe der Revolution. Eine Schwäche die sich in den revolutionären Erhebungen in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg fatal auswirken sollte.
Innerhalb der SPD entbrannte ab 1905 nun ein regelrechter Kampf ob die Frage des Massenstreiks auf dem kommenden Parteitag von 1906 diskutiert werden durfte. Krampfhaft versuchte der Parteivorstand die damals wohl gewichtigste Erscheinung im Klassenkampf als nicht diskussionswürdig abzustempeln. Der Parteitag der SPD von 1905 in Jena hatte sich nur pro forma in einer Resolution für den Massenstreik als eine „eventuell zu propagierende Maßnahme" ausgesprochen. Der Massenstreik wurde darin lediglich zu einem letzten Verteidigungsmittel gegen einen allfälligen Entzug des allgemeinen Wahlrechts degradiert. Die von Rosa Luxemburg eingebrachten Lehren aus dem Massenstreik in Russland wurden vom überwiegenden Teil der Führung der SPD als „Revolutionsromantik" und auf die deutschen Verhältnisse keinesfalls übertragbar bezeichnet.
Es erstaunt daher nicht, dass sich nach dem Kongress in Jena 1905 der Parteivorstand im Februar 1906 in Geheimverhandlungen mit der Generalkommission der Zentralgewerkschaften auf eine gemeinsame Verhinderung von Massenstreiks einigte. Diese Abmachung kam aber ans Tageslicht. Die FVDG veröffentlichte in ihrem Organ Einigkeit Teile des Protokolls dieses geheimen Treffens, welches ihnen in die Hände gekommen war. Darin stand unter anderem: „Der Parteivorstand hat nicht die Absicht, den politischen Massenstreik zu propagieren, sondern wird, soweit es ihm möglich ist, einen solchen zu verhindern suchen". Diese Veröffentlichung löste in der SPD-Führung eine große „Empörung der Ertappten" aus und zwang sie die Debatte um den Massenstreik auf dem Mannheimer Parteitag vom 22.-23. September 1906 erneut auf die Tagesordnung zu setzen.
Auch wenn es keine Zusammenarbeit zwischen der FVDG und der Parteilinken gab (im Gegenteil kritisierte Karl Liebknecht die Schwächen der FVDG - die er wie Luxemburg als „Anarchosozialisten" bezeichnete - in übertrieben harter Manier), arbeitete die Veröffentlichung der Geheimprotokolle durch die Einigkeit Letzteren in die Hand. Als eine Strömung welche auf proletarischem Boden stand, war ihre Stossrichtung im Kampf gegen den Reformismus nicht grundsätzlich verschieden zu derjenigen der Revolutionäre.
Bebels erste Worte in seinem Einleitungsreferat auf dem Mannheimer Parteitag widerspiegelten den ignoranten Unmut der Parteileitung, die sich bemüht sah sich wieder mit einer Frage auseinandersetzen zu müssen, welche sie ad acta zu legen gehofft hatte: "Als wir im vorigen Jahre in Jena auseinander gingen, hat wohl niemand geahnt, dass wir in diesem Jahre schon wieder über den Massenstreik sprechen müssen. (...) Durch die Indiskretion der so genannten „Einigkeit" in Berlin ist es dann zu großen Debatten gekommen. (...) "[7]
Um sich aus der Peinlichkeit der durch die Einigkeit ans Licht geratenen Geheimabmachungen zu winden machte sich Bebel lustig über die FVDG und Friedebergs Beitrag: „Wie man angesichts einer solchen Entwicklung und der Macht der Unternehmerklasse gegenüber der Arbeiterklasse durch lokalorganisierte Gewerkschaften etwas ausrichten zu können glaubt, das verstehe wer mag. Jedenfalls ist der Parteivorstand und die Partei in ihrer grossen Mehrheit der Meinung, dass diese lokalistischen Gewerkschaften vollständig ohnmächtig sind, die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen."[8] Wer sollte nur 8 Jahre später (1914) angesichts des Krieges mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten „vollständig ohnmächtig (sein) die Aufgaben der Arbeiterklasse zu erfüllen"? Exakt der Parteivorstand der SPD, der lauthals den Kriegskrediten zustimmte! Die FVDG hingegen sollte trotz all ihrer Schwächen 1914 angesichts der Kriegsfrage noch fähig sein eine proletarische internationalistische Position gegen den Krieg einzunehmen.
In der darauf folgenden dürftigen Parteitagsdebatte um den Massenstreik standen anstelle von politischen Argumenten bürokratische Streitereien und Rechtfertigungen darüber, ob sich Parteimitglieder nun an den Parteibeschluss von Jena 1905 zum Massenstreik halten sollten, oder an denjenigen des Gewerkschaftskongresses vom Mai 1906, welcher den Massenstreik klar verworfen hatte. Die Debatte drehte sich im Wesentlichen um den Antrag Bebels und Legiens, Parteimitgliedern die in der FVDG organisiert waren ein Ultimatum zum Übertritt in die Zentralgewerkschaften zu stellen. Bei Nichtübertritt sollten sie sofort aus der Partei ausgeschlossen werden.
Anstelle über die politischen Lehren aus den erfolgten Massenstreiks zu sprechen oder gar auf die Ausführungen in der eine Woche vorher erschienen Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften von Luxemburg einzugehen, wurde die Debatte auf einen kläglichen partei-juristischen Zank reduziert!
Nachdem Puttlitz, der eingeladene Vertreter der FVDG und Redakteur der Einigkeit aus Berlin, ausgelacht worden war, wandte sich Rosa Luxemburg vehement gegen den Versuch der Unterdrückung der politisch zentralen Massenstreik-Debatte mit rein formellen disziplinarischen Mitteln: „Ferner finde ich es unverantwortlich, wenn hier die Partei gewissermaßen als Zuchtrute gegen eine bestimmte Gruppe von Gewerkschaftlern gebraucht werden soll; daß wir uns damit innerhalb der Parteireihen Zank und Zwist auf den Hals laden sollen. Es ist doch kein Zweifel, daß unter den Lokalorganisierten sehr viele brave Genossen vorhanden sind, und es wäre unverantwortlich, wenn wir, um den Gewerkschaften in dieser Frage direkt zu dienen, den Zwist in unsere Reihen hineintrügen. Wir respektieren die Ansicht, daß die Lokalisten nicht den Zwist in den gewerkschaftlichen Organisationen soweit treiben sollen, daß sie die gewerkschaftliche Organisation dadurch unterbinden; aber im Namen der soviel gepriesenen Gleichberechtigung muß man doch mindestens dasselbe für die Partei anerkennen. Wenn wir die Anarchosozialisten, wie der Parteivorstand vorschlägt, aus der Partei direkt ausschließen, so geben wir damit ein trauriges Beispiel dafür, daß wir nur Energie und Entschlossenheit finden, um unsere Partei nach links abzugrenzen, daß wir nach rechts aber die Tore nach wie vor sehr weit offen lassen.
Von Elm hat hier angeführt als ein Beispiel des anarchistischen Unsinns, daß in der „Einigkeit" oder in einer Konferenz der Lokalorganisierten ausgesprochen sei: „Der Generalstreik wäre als das einzige Mittel des wirklichen revolutionären Klassenkampfes zu betrachten." Nun ist das selbstverständlich ein Unsinn und nichts anderes. Aber, werte Anwesende, es steht genausoweit entfernt von der sozialdemokratischen Taktik und von unseren Prinzipien, wenn David erklärt, die gesetzlichen, parlamentarischen Mittel sind die einzigen Mittel der Sozialdemokratie. Man sagt uns, die Lokalisten, die Anarchosozialisten untergraben auf Schritt und Tritt durch ihre Agitation die sozialdemokratischen Grundsätze. Aber es ist genau ebenfalls eine Untergrabung sozialdemokratischer Grundsätze, wenn einer von den Zentralverbänden, wie Bringmann auf Eurer Konferenz im Februar sich gegen das Prinzip des Klassenkampfes erklärte."[9]
Wie schon auf dem Parteitag im Jahre 1900 bei der Debatte um den Hamburger Gewerkschaftsstreit, widersetzte sich Luxemburg dem Versuch, die Schwäche der FVDG als Vorwand zu gebrauchen um die Diskussion zentraler Fragen zu umgehen. Sie erkannte, dass die grosse Gefahr nicht von einer gewerkschaftlichen Minderheit wie der FVDG kam, deren Mitglieder in der SPD oft auf der Seite des linken Flügels standen, sondern vom Zentrum und der Parteirechten.
Auch wenn die FVDG für die reformistische Führung SPD und den zentralen Gewerkschaftsverband keineswegs dieselbe Gefahr darstellte wie der revolutionäre Flügel der Sozialdemokratie um Liebknecht und Luxemburg konnten sie die FVDG nicht ignorieren, nur weil sie eine kleine Minderheit darstellte und die Lehren aus den Massenstreiks nicht wirklich erkannte. Das internationale Auftauchen von mächtigen revolutionär-syndikalistischen Bewegungen wie ab 1905 in den USA mit der IWW machte syndikalistische Tendenzen für den Reformismus zu einer potentiellen Gefahr.
Die auf dem Parteitag 1906 in Mannheim eröffnete Strategie, Druck auf die Mitglieder der FVDG zum Übertritt in die zentralen Gewerkschaften auszuüben wurde über Monate fortgesetzt. Einerseits wurde bekannten und kämpferischen Mitgliedern der lokalen Gewerkschaften lohnenswerte Posten in den sozialdemokratischen Gewerkschaftsbürokratien angeboten. Andererseits für den Parteitag der SPD in Nürnberg, der 1908 stattfinden sollte, erneut ein Antrag über die Unvereinbarkeit einer Doppelmitgliedschaft in SPD und FVDG angekündigt.
Doch die FVDG zerbrach vor allem an ihren eigenen Unklarheiten und den unterschiedlichen Ausrichtungen ihrer Berufsverbände. In einer Zeit in der es den politischen Massenstreik und das Auftauchen der Arbeiterräte zu verstehen galt, zerrieb sie sich in einer internen Auseinandersetzung um die Frage: Anschluss an die zentralen Gewerkschaftsverbände oder, hin zu einem syndikalistischen Weg der die politischen Fragen den ökonomischen unterordnete - eine Gegenüberstellung die gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war. Auf ihrem außerordentlichen Kongress im Januar 1908 entschied die FVDG über einen Antrag der Maurer-Gewerkschaften die FVDG zugunsten eines Übertritts in die Zentralgewerkschaften aufzulösen. Obwohl dieser Antrag abgelehnt wurde bedeute er die Spaltung der FVDG und damit das Ende der langjährigen Geschichte einer unübersehbaren gewerkschaftlichen Opposition welche sich noch an die alte proletarische Tradition der Sozialdemokratie angelehnt hatte. Mehr als ein Drittel der FVDG trat sofort in die großen sozialdemokratischen Zentralgewerkschaften über. Die Mitgliederzahl sank bis 1910 von ehemals 20`000 auf knapp 7000.
Der Führung der Sozialdemokratie fiel es danach nicht mehr schwer, den Bruch mit den Überresten der FVDG auf dem Parteitag im September 1908 mit einem endgültigen Verbot der Doppelmitgliedschaft FVDG-SPD zu besiegeln. Die Überreste der FVDG stellten für Legien und Konsorten nun keine ernstzunehmende Gefahr an der Basis mehr dar.
Wenn wir nach einem Überblick über die Entstehungsgeschichte des Syndikalismus in Deutschland suchen, so markiert das Jahr 1908 den Beginn einer neuen Etappe, die der erklärten Hinwendung von nur etwas weniger als der Hälfte der Mitglieder der FVDG zum revolutionären Syndikalismus.
Da die FVDG als eine gewerkschaftliche Oppositionsbewegung entstanden war, die in ihren Anfangsjahren noch fest mit der Sozialdemokratie, also einer politischen Organisation der Arbeiterbewegung, verbunden war, hatte sie sich bis ins Jahr 1908 nie als syndikalistisch bezeichnet. Denn Syndikalismus bedeutet nicht lediglich Feuer und Flamme für gewerkschaftliche Aktivitäten zu sein, sondern eine Schritt weiter zu gehen und in den Gewerkschaften die einzige und alleinige Organisationsform zur Überwindung des Kapitalismus zu sehen - eine Rolle die diese von ihrem nach Reformen ringenden Wesen her gar nie spielen konnten und können.
Das wegweisende neue Programm der FVDG des Jahres 1911 „Was wollen die Lokalisten? Programm, Ziele und Wege der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften" drückte diesen Standpunkt nun folgendermaßen aus: „Der Befreiungskampf der Arbeiter ist in erster Linie ein wirtschaftlicher Kampf, den ganz naturgemäß die Gewerkschaft, als die Organisation der Produzenten, auf allen Gebieten zu führen hat. (...) Die Gewerkschaft (und nicht die politische Partei) ist allein in der Lage, die wirtschaftliche Macht der Arbeiter gehörig zur Entfaltung zu bringen..."
Und während doch gerade die grossen Massenstreiks und der vergangenen Jahre die spontane Dynamik des Klassenkampfes bewiesen hatten, und parallel dazu der Bruch der Bolschewiki mit dem alten Konzept der „Massenpartei" 1903 die Notwendigkeit von Organisationen revolutionärer politischer Minderheiten klarmachte, focht das neue Programm der FVDG zwar mit gutem Willen gegen einen alten „Dualismus", aber.. mit komplett falschen Schlussfolgerungen: „Daher verwerfen wir den schädlichen Dualismus (Zweiteilung), wie ihn Sozialdemokratie und die ihr zugehörigen Zentralgewerkschaften praktizieren. Wir meinen die widersinnige Teilung der Arbeiterorganisationen in einen politischen und einen gewerkschaftlichen Flügel." (...) Da wir den parlamentarischen Kampf ablehnen und an seine Stelle den direkten politischen Kampf mit gewerkschaftlichen Mitteln und nicht um die politische Macht, sondern um die soziale Befreiung setzten, so verliert eine politische Arbeiterpartei wie die Sozialdemokratie ohnehin jede Existenzberechtigung."
Dieses neue Programm drückte eine absolute Blindheit gegenüber dem historischen Auftauchen und revolutionären Charakter von Arbeiterräten aus und flüchtete in die erwartungsvolle Theoretisierung eines neuen Gewerkschaftstypus als Allerweltsmittel:
- als Antwort auf die (tatsächlich) überlebte Massenpartei,
- als Ersatz für die verbürokratisierten grossen Gewerkschaften,
- als Organ der Revolution,
- und schlussendlich als Architekt der neuen Gesellschaft.
Welch allumfassende Aufgabe!
Doch vertrat die FVDG, wie es bezeichnend war für den revolutionären Syndikalismus zur damaligen Zeit, eine klare Verwerfung des bürgerlichen Staates und es Parlamentarismus. Sie verteidigte den Kampf der Arbeiterklasse gegen Krieg und Militarismus.
Das Verhältnis der FVDG gegenüber dem Anarchismus blieb in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablehnen. Lediglich die Tatsache dass Friedebergs Theorien (auf seinem Weg vom Sozialdemokraten zum Anarchisten) in den Jahren 1904-07 Aushängeschild für die FVDG gewesen waren bedeute keinesfalls eine Hinwendung der gesamten Organisation zum Anarchismus. Im Gegenteil befürchteten die stark zum Syndikalismus tendierenden Kräfte um Fritz Kater, dass gerade auch von den Anarchisten ein „Bevormundung" drohe, so wie sie von der SPD immer gegenüber den Gewerkschaften ausgeübt worden sei. Kater bezeichnete noch in der Einigkeit vom August 1912 den Anarchismus als „ebenso überflüssig wie jede andere politische Partei"[10]. Es ist falsch zu meinen, dass es die Präsenz offizieller Anarchisten gewesen wäre, welche die FVDG in den Syndikalismus führte. Die Parteifeindlichkeit, welche in der harten Auseinandersetzung mit der SPD entstanden war, wandte sich in den Jahren vor dem Krieg auch gegen die anarchistischen Organisationen. Es war auch keinesfalls der Einfluss des charismatischen Anarchisten Rudolf Rocker ab 1919, welcher die Parteifeindlichkeit in die Nachfolgeorganisation der FVDG, die FAUD hinein trug. Diese Entwicklung hatte deutlich vorher stattgefunden. Rocker theoretisierte sie in den 20er Jahren für den deutschen Syndikalismus nur viel deutlicher als dies vor dem Krieg geschah.
Die weiteren Jahre bis hin zum Kriegsausbruch 1914 waren bei der FVDG gekennzeichnet von einem Rückzug auf sich selbst. Die grosse Auseinandersetzungen mit den Mutterorganisationen waren ausgefochten. Die Trennung vom gewerkschaftlichen Zentralverband hatte 1897 stattgefunden. Der Bruch mit der SPD gute 10 Jahre später, 1908.
Es entstand eine kuriose Situation, welche ein immer wieder auftauchendes Dilemma des Syndikalismus aufzeigt: Sich als Gewerkschaft deklarierend, welche bei möglichst vielen Arbeitern verankert sein wollte, war die FVDG aber auf ein Minimum von Mitgliedern zusammengeschrumpft. Von den ca. 7000 Eingeschriebenen war nur ein geringer Teil auch wirklich aktiv. Eine Gewerkschaft war sie nicht mehr! Vielmehr waren die Überreste der FVDG nun auf Propagandavereine für syndikalistische Ideen zusammengeschrumpft, hatten also vielmehr den Charakter von politischen Gruppen. Doch politische Organisationen wollten sie partout nicht sein!
Die Überreste der FVDG blieben - und das ist für die Arbeiterklasse eine absolut zentrale Frage - auf internationalistischem Boden und wandten sich trotz all ihrer Schwächen gegen die Bestrebungen der Bourgeoisie hin zu Militarismus und Krieg. Die FVDG und ihre Presse wurde sofort bei Kriegsausbruch im August 1914 verboten und viele ihrer noch aktiven Mitglieder in Schutzhaft genommen.
In einem folgenden Artikel werden wir die Rolle der Syndikalisten in Deutschland während des Ersten Weltkrieges und den Jahren der Deutschen Revolution 1918/19 und der weltrevolutionären Welle bis 1923 betrachten.
Mario 6.11.2009
[1] Arnold Roller (Siegfried Nacht): „Die direkte Aktion" 1912. Roller verkörperte innerhalb der FVDG den bis dahin sehr minoritären anarchistischen Flügel.
[2] Siehe im Besonderen dazu auch: Internationale Revue Nr. 90, 122, 123, 125 (engl., franz., span.)
[3] Anton Pannekoek, „Das Gewerkschaftswesen", 1936
[4] Paul Frölich, „Rosa Luxemburg, Gedanke und Tat", Kapitel: „Der politische Massenstreik"
[5] Friedeberg selber kam nicht etwa aus dem Anarchismus in die FVDG, sondern war SPD Stadtverordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Berliner Parteileitung.
[6] Trotzki schrieb 1907 zuerst das Buch Unsere Revolution. Einige Kapitel daraus dienten als Grundlage für das Buch 1905, welches 1908/09 geschrieben wurde.
[7] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, S 227.
[8] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Mannheim 1906, Seite 295.
[9] ebenda, Seite 315 (oder in R. Luxemburg, Ges. Werke. Bd. 2, Seite 174)
[10] siehe auch: Dirk H. Müller, Gewerkschaftliche Versammlungsdemokratie und Arbeiterdelegierte vor 1918, S. 191-198
Internationalisme,Nr. 25, August 1947.
Dieser Text von „Internationalisme“ ist ein Auszug aus einer Reihe von Artikeln, die im Jahre 1947 unter dem Titel „Gegenwärtige Probleme der Arbeiterbewegung“ veröffentlicht wurden.
In diesen Artikeln meint Internationalisme mit „Arbeiterbewegung“ oder „revolutionäre Bewegung“ die politischen Gruppen und Organisationen. Es polemisiert gegen den vorherrschenden Aktivismus dieser Gruppen, die davon ausgingen, dass mit dem Ende des 2. Weltkrieges die Möglichkeit der Wiederholung eines revolutionären Prozesses gegeben sei, so wie er nach dem Ende des 1. Weltkriegs von 1917-23 stattgefunden hatte.
Internationalisme dagegen schätzte das Ende des 2. Weltkrieges als eine tiefgreifende Niederlage für die internationale Arbeiterklasse ein. Die Bedingungen nach dem Ende des 2. Weltkriegs waren nicht die gleichen wie am Ende des 1. Weltkrieges. Die Arbeiterklasse war physisch und ideologisch geschlagen. Das Überleben des Kapitalismus verstärkte die Tendenz zum Staatskapitalismus, wodurch wiederum die Rahmenbedingungen für den Klassenkampf verändert wurden. Die Bedingungen für ein allgemeines Erstarken des revolutionären Klassenkampfes waren nicht vorhanden.
Internationalisme kämpfte gegen den Voluntarismus der Gruppen, die für die unmittelbare Bildung der Partei eintraten, ohne die neuen Faktoren dieser Periode zu berücksichtigen. Denn sie gingen davon aus, der einzige politische Rahmen sei der einer Wiederholung auf einer anderen, kleineren Ebene der Positionen und Orientierungen der Bolschewistischen Partei während der revolutionären Periode, ohne jedoch eine Bilanz der Niederlagen und der Fehler dieser Partei zu erstellen. Es handelt sich bei diesen Gruppen um Abspaltungen des Trotzkismus, aber vor allem ging es um die Fraktionen der Gauche Communiste Internationale (Internationale Kommunistische Linke), welche die Gründung einer Parti Communiste Internationaliste (Internalistischen Kommunistischen Partei) in Italien 1943 unterstützten.
Die Kritik fortsetzend, die Internationalisme schon bei der Gründung der IKP gemacht hatte (1), erinnerte Internationalisme an die Bedingungen der Bildung der Partei. Die Geschichte der Arbeiterbewegung zeigt, dass das Entstehen und die Entwicklung, das Ende, der Niedergang oder der Verrat der politischen Organisationen des Proletariats (Bund der Kommunisten, I. und II. Internationale, die Kommunistische Internationale, die Bolschewistische Partei) eng mit den Aktivitäten der Arbeiterklasse selbst verbunden sind. Innerhalb der Arbeiterklasse kann eine Partei, d.h. eine Organisation, die dazu in der Lage ist, den Lauf des Klassenkampfes auf entscheidende Weise zu beeinflussen, nur entstehen, wenn in der Klasse selbst eine Tendenz zur Organisierung und Vereinigung gegen den Kapitalismus besteht. Und dies geschieht nur in einer Phase des aufsteigenden Klassenkampfes.
Diese Tendenz war am Ende des 2. Weltkrieges nicht vorhanden. Die Streikbewegungen in Italien 1943, die Demonstrationen gegen den Hunger in Deutschland 1945, wo manchmal sogar die Polizei gegen die Machthaber protestierte, waren beschränkt und blieben isoliert. Während sie ein Ausdruck der Kampfbereitschaft der Klasse waren, die von allen politischen Gruppen anerkannt wurde, blieb diese jedoch begrenzt und ein Gefangener der Ideologie der Kontrollkräfte der Bourgeoisie, der linken Parteien und der Gewerkschaften.
Aus der Sicht von Internationalisme war die Aufgabe der Stunde sicherlich nicht die Bildung der Partei. Gegenüber denjenigen, die diese Position als ‚defätistisch‘ einschätzen, eine Verwerfung der revolutionären Aktivität, behauptet Internationalisme, dass die Debatte nicht ‘Bildung der Partei‘ oder ‚gar nichts' lautete, sondern 'welche Aufgaben müssen die revolutionären Gruppen erfüllen und auf welches Programm müssen sie sich stützen'? Was als Theorie dargestellt wird, ist jedoch für viele in Wirklichkeit nur ein inkohärentes Gerede und Wiederholungen der Positionen der Komintern, so als ob nichts seit der revolutionären Welle passiert wäre, und sie verschweigen all die Debatten, die vor dem Krieg stattgefunden haben.
Bei der Gründung der IKP wirkten Leute mit wie Vercesi, der während des Krieges jede Möglichkeit revolutionärer Aktivitäten verwarf und sich weigerte, gegen den Krieg Position zu beziehen, wobei er gleichzeitig die Theorie entwickelte, ‘das Proletariat sei verschwunden’, bevor er sich letztendlich an ‘antifaschistischen Komitees’ (2) beteiligte. Ebenfalls wirkten Leute mit, die sich an der politischen und theoretischen Arbeit der Kommunistischen Linken zwischen den beiden Kriegen weder beteiligt noch diese Arbeit verfolgt hatten, und die dem Aufruf der alten Mitglieder der 20er Jahre folgten, welche dieser Arbeit ferngeblieben waren wie Damen und Bordiga, jetzt aber wieder in die IKP eintraten, ohne jemals jedoch die politischen Positionen der Kommunistischen Linken diskutiert zu haben.
Für Internationalisme, das die Kontinuität dieser Arbeit [der Kommunistischen Linken] darstellte, ging es jedoch nie darum, die Notwendigkeit revolutionärer Aktivitäten zu verwerfen. Während Internationalisme meinte: ‘Der Kurs des Klassenkampfes kann nicht durch den Willen der Militanten allein verändert werden, genauso wenig wie er unabhängig von ihrem Willen verändert wird’.
Welche Aktivität mit welchen Methoden? - das war die Frage, welche Internationalisme den revolutionären Organisationen stellte.
Der „Aufbau der Partei“ der IKP bedeutete in Wirklichkeit, sich in einen prinzipienlosen Aktivismus zu stürzen, und die Partei besteht sich aus einem Haufen bunt zusammengewürfelter Tendenzen, wobei Gruppen mitmachen, die sich an der Seite der Bourgeoisie an der ‚antifaschistischen Résistance‘ beteiligt haben. Für Internationalisme jedoch ging es darum, die Arbeit der Kommunistischen Fraktion fortzusetzen, weiterhin die Bilanz der revolutionären Welle zu ziehen, indem die Lehren aus der Niederlage und vor allem aus der Kriegszeit gezogen werden mussten, gemäß den vorhandenen Mitteln und Möglichkeiten eine ständige Propaganda gegen den Strom zu betreiben, die Auseinandersetzung und Diskussion im revolutionären Milieu fortzusetzen, wobei das revolutionäre Milieu unter den damaligen Bedingungen notwendigerweise zahlenmäßig reduziert war.
1947 konnte Internationalisme schon das Scheitern der verschiedenen Gruppen feststellen, die ihre eigene Agitation als die Aktivität der Klasse während der letzten Jahre auffassten. Das führte dazu, dass eine Demoralisierung und Zerstreuung der unreifen und überstürzt zusammengefassten militanten Kräfte eintrat, denen ohne irgendeine Diskussion Perspektiven vorgeschlagen wurden, die überhaupt nicht der Wirklichkeit entsprachen. Gruppen, die mit dem Trotzkismus gebrochen hatten, gaben den Marxismus auf und lösten sich auf. Von den 3.000 Mitgliedern, über die die IKP anfangs verfügte, traten eine Vielzahl aus und zerstreute sich. Die Führer dieser Partei und auch Anhänger der belgischen und französischen Fraktion, welche sie unterstützten, gingen nicht auf die wirklichen Ursachen dieses Phänomens ein, sondern erklärten mit philosophischen ‘Eiertänzen’. Sie sprachen von der Umwandlung der Quantität in Qualität. Gegenüber dieser Verirrung erklärte Internationalisme das, was geschehen war, einerseits durch die Unfähigkeit die Periode zu begreifen, aber andererseits auch durch die Methoden, welche die IKP selbst anwandte und verteidigte: die Verwerfung der politischen und theoretischen Vertiefung durch all ihre Mitglieder. Diese Methoden stützen sich auf das Wiederaufgreifen einer falschen Auffassung vom Klassenkampf und der Bewusstwerdung, demzufolge das Bewusstsein der Klasse nur ‚von Außen‘ in sie hineingetragen werden kann. Diese Auffassung, auf die sich Lenin in ‘Was tun?’ auf Kautsky gestützt hatte, begriff nicht, dass die Bewusstwerdung ein Prozess der gesamten Arbeiterklasse ist, wobei die Partei innerhalb der Arbeiterklasse der klarste und entschlossenste Ausdruck der Mittel und der allgemeinen Ziele der Bewegung ist. Diese Auffassung sah die Bewusstwerdung als das Werk einer aufgeklärten Minderheit, die über theoretische Erkenntnisse verfügte, die sie in die Klasse hineintragen müsse. Auf der Ebene der Partei führte diese Auffassung dazu, dass man zu theoretisieren anfing, nur besondere Individuen besäßen die Fähigkeit, die revolutionäre Theorie zu vertiefen, sie zu verbreiten und so entsprechend aufbereitet, den Mitgliedern der Organisation zu vermitteln.
Diese Auffassung von einem genialen Chef, der als einziger dazu in der Lage ist, die theoretische Arbeit der Organisation zu leisten, wird in dem Auszug des Artikels von ‘Gegenwärtigen Problemen der Arbeiterbewegung’ kritisiert, den wir nachfolgend veröffentlichen. Die Haltung der IKP gegenüber Bordiga, und die sie immer noch hinsichtlich der theoretischen Fragen der Arbeiterbewegung verteidigt, stützt sich auf diese Auffassung. Sie ist die Grundlage für die Verwerfung der offenen Diskussion all der Fragen und Orientierungen der Organisation. Sie bedeutet für die Militanten, dass ein unterwürfiger Gehorsam und ein blindes Vertrauen in die politischen Orientierungen vorhanden sein muss, die von dem Zentrum der Organisation alleine ausgearbeitet werden, was dazu führt, dass es keine wirkliche politische Bildung gibt.
Der Artikel wird in der nächsten Ausgabe der „Internationalen Revue“ unter dem Titel „Disziplin, die Hauptstärke....,“ fortgesetzt. der sich gegen die militärische Auffassung der militanten Arbeit in einer revolutionären Organisation richtet.
Im Gegensatz zu dieser Auffassung kann die Partei ihre revolutionäre Funktion nur erfüllen, wenn die Partei ein Ort der kollektiven, ständigen theoretischen Ausarbeitung der politischen Orientierung durch alle ihre Mitglieder ist. Dies beinhaltet notwendigerweise die offenste und breiteste Diskussion, wie das in der Klasse insgesamt geschieht, deren Bedingung ihrer Befreiung das bewusste, kollektive Handeln ist, an dem sich alle Teile und Mitglieder der Klasse beteiligen müssen.
Das Leben der Klasse und der Partei hat nichts zu tun mit dem, was die Ikonen des "Leninismus" (die auch wenig mit Lenin selbst zu tun haben) hinsichtlich der Entwicklung der Theorie und der politischen Positionen meinen.
Die sklerotische Auffassung der IKP von der Methode einer revolutionären Organisation, gegen die Internationalisme 1947 mit großer Leidenschaft antrat, zeigt heute noch Wirkung, insbesondere bei Gruppen, die sich auf den Leninismus berufen. Die Schwierigkeiten, die durch die Beschleunigung der gegenwärtigen Geschichte hervorgerufen werden, werden durch den Opportunismus und das Sektierertum im revolutionären Milieu, das in Schwierigkeiten steckt, nur noch zunehmen. IKS 1983
1) Siehe die Kritik in Artikeln wie "Die Aufgabe der Stunde: Bildung der Partei oder Bildung von Kadern" – in International Review; Nr. 32 (engl. Ausgabe) wieder veröffentlicht.
2) Hinsichtlich der Geschichte der IKP (Programma Communista) siehe das Buch "Die Italienische Linke".
3) Siehe die Analyse hierzu in International Review (engl. Ausgabe) Nr. 32.
Internationalisme,Nr. 25, August 1947.
In der Politik ist es nichts Neues, wenn eine Gruppe ihre Auffassungen und ihr Handeln grundsätzlich ändert, sobald sie eine große Organisation, eine Massenpartei wird. Man kann viele Beispiele solcher Verwandlungen anführen. Man könnte dies ebenfalls berechtigterweise auf die bolschewistische Partei nach der Revolution beziehen. Aber was bei der Internationalistischen Kommunistischen Partei Italiens auffällt, ist die überraschende Schnelligkeit und der Geist, mit dem ihre Hauptführer diesen Wandel vollzogen haben, und dies ist umso überraschender deshalb, weil die Italienische Partei insgesamt sowohl zahlenmäßig als auch von der Funktion her bestenfalls einen erweiterten Teil darstellt. Wie also diesen Wandel erklären?
Z.B. In der Komintern war die Italienische Kommunistische Partei zum Zeitpunkt ihrer Gründung, als sie unter der Führung der Linken und Bordiga stand, immer das enfant terrible. Sie wandte sich gegen eine Unterwerfung unter die absolute Autorität der Führer, selbst unter die Autorität der Führer, für die sie die größte Hochachtung zeigte. Die KP Italiens wollte immer frei diskutieren und wenn nötig jede politische Position bekämpfen, mit der sie nicht übereinstimmte. Seit der Gründung der Komintern stand die Fraktion um Bordiga bei vielen Punkten in Opposition und brachte offen zum Ausdruck, wann sie nicht mit Lenin und anderen Führern der bolschewistischen Partei, der russischen Revolution und der Komintern überstimmte. Die Debatten zwischen Bordiga und dem Rest der Komintern auf dem 2. Kongress der Komintern sind bekannt. Niemand dachte damals daran, dieses Recht auf freie Diskussion infragezustellen und niemand hätte diese Diskussion als eine Untergrabung der Autorität der Führer aufgefasst. Vielleicht waren so feige und unterwürfige Leute wie Cachin (1) in ihrem innersten zutiefst skandalisiert über diese Vorgehensweise, aber sie wagten dies nicht einmal zu zeigen. Mehr noch: die Diskussion wurde nicht einmal als ein Recht, sondern als eine Pflicht aufgefasst, als das einzige Mittel, das durch die Auseinandersetzung mit den Ideen und Analysen, die Ausarbeitung der programmatischen und aktuell politisch notwendigen Positionen ermöglichte, die für das revolutionäre Handeln notwendig sind.
Lenin schrieb: "Es ist die Aufgabe der Mitglieder der Partei, selbst die Resolutionen der höheren Instanzen der Partei zu überprüfen. Wer aufs Wort glaubt, ist ein hoffnungsloser Idiot…." Und wir wissen, welche große Verachtung Lenin für diese unglaublichen Idioten zeigte. Lenin bestand unaufhörlich auf der politischen Notwendigkeit der politischen Erziehung der Mitglieder der Partei. Lernen, begreifen - all das kann nur durch die freie Diskussion, durch die allgemeine Auseinandersetzung mit den Ideen durch alle Mitglieder der Organisation ohne irgendeine Ausnahme geschehen. Dies ist nicht mal eine einfache Frage der Pädagogik, sondern eine Ausgangsbedingung für die politische Weiterentwicklung und Ausarbeitung, für die Festlegung des Weges und der Richtung der Befreiung der Arbeiterklasse.
Nach dem Sieg des Stalinismus und dem Ausschluss der Linken aus der Komintern hat die italienische Fraktion den Mythos des unfehlbaren Führers immer bekämpft und gegenüber Trotzki darauf bestanden, dass die in der Opposition befindlichen Gruppen die größten Anstrengungen unternehmen müssten, um eine kritische Überprüfung der Positionen der Vergangenheit durchzuführen und die theoretische Untersuchung durch möglichst möglich breiteste Diskussion der neuen Probleme vorangetrieben werden sollte. Die Italienische Fraktion hat vor dem Krieg in diesem Sinne gewirkt. Sie gab jedoch niemals vor, alle Probleme gelöst zu haben, und wie wir wissen, war sie selbst bei grundlegenden Fragen sehr gespalten.
Man muss aber feststellen, dass all diese guten Haltungen und Traditionen mit der Gründung der Partei verschwunden sind. Die IKP ist gegenwärtig die Gruppierung, in der es am wenigsten theoretische und politische Diskussionen gibt. Der Krieg und die Nachkriegszeit haben eine große Anzahl von neuen Problemen aufgeworfen. Aber keines dieser Probleme wurde oder wird bislang durch die Italienische Partei behandelt. Es reicht, wenn man die Schriften und Zeitungen der Partei liest, um sich der großen theoretischen und politischen Armut der Partei bewusst zu werden. Wenn man das Protokoll der Gründungskonferenz der Partei liest, fragt man sich, ob diese Konferenz 1946 oder 1926 stattgefunden hat. Und einer der Führer der Partei, wenn wir uns nicht irren, war es der Genosse Damen, hatte recht zu unterstreichen, dass die Partei die Positionen von 1925 wieder aufgriff und bei ihnen ansetzte. Aber was aus ihrer Sicht eine Stärke darstellt, (die Position von 1925) bringt in Wirklichkeit die schreckliche theoretische und politische Verspätung der Partei zum Ausdruck und verdeutlicht gerade die große Schwäche der Partei.
Kein Zeitraum hat in der Geschichte der Arbeiterbewegung so viele neue Tatsachen aufgeworfen und so viele neue Probleme gestellt wie dieser relativ kurze Zeitraum von 1927-47. Selbst der so bewegte Zeitraum von 1905-25 tat das nicht. Der größte Teil der Grundsätze der Komintern ist überholt und veraltet. Die Position hinsichtlich der nationalen und kolonialen Frage, hinsichtlich der Forderung nach Demokratie, des Parlamentarismus, zu den Gewerkschaften, zur Partei und ihrer Beziehung zur Klasse müssen radikal überprüft werden. Andererseits müssen Antworten geliefert werden auf die Frage des Staates nach der Revolution, der Diktatur des Proletariats, der Merkmale des dekadenten Kapitalismus, des Faschismus, des Staatskapitalismus, des ständigen imperialistischen Krieg, der neueren Formen des Kampfes und der Einheitsorgane der Arbeiterklasse. Dies war eine Reihe von Problemen, die die Komintern kaum angepackt hatte, und die nach dem Niedergang und der Entartung der Komintern aufgetreten sind.
Wenn man in Anbetracht des Ausmaßes dieser Probleme in den Beiträgen auf der Konferenz von Turin nachliest, wo man wie in Litaneien die alten Positionen von Lenin zur Kinderkrankheit des Kommunismus wiederholt hat, die schon zum Zeitpunkt überholt waren, als er diese Thesen verfasste; wenn man sieht, wie die Partei die alten Positionen von 1924 hinsichtlich der Beteiligung an den bürgerlichen Wahlen und dem Kampf innerhalb der Gewerkschaften wieder aufgreift, so als ob nichts auf der Welt passiert wäre, wird man sich der politischen Verspätung dieser Partei bewusst und all dessen, was sie aufzuholen hat. Und trotzdem stellt sich diese Partei, die - wiederholen wir es - am meisten Verspätung hat gegenüber den Arbeiten der Fraktion vor der Zeit vor dem Krieg, am stärksten jeder internen und öffentlichen politischen Diskussion entgegen. In dieser Partei ist das ideologische Leben am blassesten. Wie kann man das erklären? Die Erklärung wurde uns von einem der Führer der Partei in einem Gespräch mit uns gegeben. Er sagte uns: "Zum großen Teil besteht die Italienische Partei aus neuen Mitgliedern ohne theoretische Bildung, und diese Mitglieder sind politisch noch jung, unerfahren. Die alten Mitglieder selbst sind 20 Jahre lang isoliert geblieben, abgeschnitten von jedem Prozess des Nachdenkens. Nach dem jetzigen Stand der Dinge sind die Mitglieder nicht in der Lage, die Probleme der Theorie und der Ideologie anzupacken. Diese Diskussion würde ihre Auffassungen nur durcheinanderbringen und mehr Unheil als Gutes anrichten. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen sie festen Boden unter den Füßen haben, selbst wenn sie die alten, obgleich überholten Positionen vertreten, die aber schon vor langem formuliert wurden und für sie verständlich sind. Jetzt reicht es, den gemeinsamen Willen zur Handlung zusammenzuschweißen. Die Lösung der großen Probleme, welche durch die Erfahrung der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen aufgeworfen wurde, erfordert Ruhe beim Nachdenken. Nur ‘ein großes Gehirn’ kann sie nutzbringend anpacken und die erforderlichen Antworten darauf liefern. Die allgemeine Diskussion würde nur Verwirrung stiften. Die ideologische Arbeit ist nicht das Werk der Masse der Mitglieder sondern der Individuen. Solange diese genialen Individuen nicht aufgetaucht sind, kann man nicht hoffen, theoretisch voranzukommen. Marx und Lenin waren solche Individuen. Diese Genies lebten aber in der Vergangenheit. Wir müssen das Erscheinen eines neuen Marx abwarten. Wir in Italien sind davon überzeugt, dass Bordiga dieses Genie sein wird. Bordiga befasst sich gegenwärtig mit einem Gesamtwerk, das die Antworten liefern wird auf die Probleme, mit denen sich die Militanten der Arbeiterklasse herumschlagen. Wenn dieses Werk erscheinen wird, müssen die Mitglieder es nur assimilieren, es sich aneignen, und die Partei muss diese Politik übernehmen und ihre Aktionen nach diesen neuen Tatsachen ausrichten’.
Diese hier fast Wort für Wort wiedergegebene Aussage beinhaltet drei Elemente.
1. eine Tatsachenfeststellung: das niedrige ideologische Niveau der Mitglieder der Partei.
2. die Gefahr, breite Diskussionen innerhalb der Partei zu eröffnen, weil diese nur die Mitglieder verwirren könnten und somit ihren Zusammenhalt aufbrechen würden.
3. dass die Lösung der neuen politischen Probleme nur das Werk eines genialen Gehirns sein könne.
Was den ersten Punkt angeht, hat der führende Genosse vollkommen recht. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Aber diese Feststellung sollte unserer Ansicht nach dazu führen, dass die Frage nach dem Wert dieser Partei aufgeworfen wird. Was stellt eine solche Partei für die Klasse dar? Was kann sie der Klasse bieten?
Wir haben die Definition in Erinnerung gerufen, die Marx hinsichtlich des Unterschiedes zwischen den Kommunisten und dem gesamten Proletariat hervorhob: ihr Bewusstsein über das allgemeine Ziel der Bewegung und den Weg zur Erreichung dieses Ziels. Wenn die Mitglieder der Italienischen Partei diesen Unterschied nicht verkörpern, wenn ihr ideologisches Niveau nicht über das der gesamten Klasse hinausgeht, kann man dann noch von einer kommunistischen Partei sprechen?
Bordiga fasste gerade das Wesen der Partei dadurch zusammen, indem er von einem "Körper von Doktrin und einem Willen zur Handlung“ sprach. Wenn es an diesem "Körper von Doktrin" fehlt, dann stellen auch Tausend Umgruppierungen noch immer keine Partei dar. Um wirklich zu einer Partei zu werden, hat die IKP als allererste Aufgabe die ideologische Bildung der Kader, d.h. die ideologische Vorarbeit, um zu einer wirklichen Partei zu werden. Aber so denkt nicht unser Führer der IKP, der im Gegenteil nämlich davon ausgeht, dass eine solche Arbeit nur zu einer Verwirrung des Handlungswillens ihrer Mitglieder führen würde. Aber was soll man von solchen Gedanken halten? Sie erscheinen uns abscheulich. Müssen wir an die bemerkenswerten Sätze in ‘Was tun?’ von Lenin erinnern, wo er an Engels Aussage zur Notwendigkeit des Kampfes an drei Fronten erinnert, den ökonomischen, politischen und ideologischen Kampf?
Es gab immer Sozialisten, die sich vor der Diskussion fürchteten und Angst hatten vor dem Auftauchen von Divergenzen, weil diese den Handlungswillen der Mitglieder schädigen könnten. Dieser Sozialismus muss als blinder Sozialismus angesehen werden oder als der Sozialismus der Unwissenheit. Der junge Marx wetterte gegen den anerkannten Führer Weitling: das Proletariat braucht keine Unwissenheit. Wenn der Kampf der Ideen die Handlungen der Militanten durcheinanderbringt, wie viel mehr trifft das dann auch zu für die gesamte Arbeiterklasse? Aber dann ist es vorbei mit dem Sozialismus, es sei denn man meint, der Sozialismus bedeute Unwissenheit. Dies ist eine für die Kirche typische Auffassung, die auch davor Angst hat, die Gedanken der Gläubigen durcheinanderzubringen, indem man zu viele Fragen der Doktrin aufwirft.
Im Gegensatz zu der Behauptung, dass die Militanten nur handeln können auf der Grundlage einer Sicherheit, ‘selbst wenn diese sich auf falsche Positionen stützt’, behaupten wir, dass es keine Sicherheit gibt, sondern nur ein ständiges Überwinden und Weiterentwickeln von Wahrheit. Nur das Handeln, das sich auf die jüngsten Tatsachen stützt und ständig bereichert wird, ist revolutionär. Eine Handlung, die sich stützt auf eine Wahrheit von gestern, die aber heute schon überholt ist, ist steril, schädlich und reaktionär. Man möchte den Mitgliedern sichere und absolute Wahrheiten anbieten, während nur die relativen Wahrheiten, die die Antithese des Zweifels beinhalten, eine revolutionäre Synthese bieten.
Wenn der Zweifel und die logische Auseinandersetzung die Handlungen der Militanten durcheinanderbringen, kann man nicht verstehen, warum dieses Phänomen dann nur heute gültig wäre. In jeder Phase des Kampfes ist es notwendig, die früheren Positionen zu überwinden. In jedem Moment ist die Überprüfung der vorherigen Errungenschaften und der vorher eingenommenen Positionen erforderlich. Wir würden also in einem Teufelskreislauf landen: entweder überlegen, argumentieren und folglich nicht handeln können, oder handeln ohne zu wissen, ob unsere Handlungen sich auf eine durchdachte Argumentation stützen.
Dies ist eine schöne Schlussfolgerung. Welch eine Schlussfolgerung zieht der Führer der IKP, wenn er die logischen Konsequenzen daraus ziehen würde! Dies ist auf jeden Fall die Idealisierung des Charakterzuges, gegen den Lenin mit soviel Sarkasmus zu Felde zog, und den er als den hoffnungslosen Idioten darstellte. Das ist der perfekte Dummkopf, der als das ideale Mitglied der IKP-Italiens präsentiert wird. Jede Argumentation unseres Führers hinsichtlich der ‘gegenwärtigen’ Unmöglichkeit der Untersuchung und der theoretisch-politischen Kontroverse innerhalb der IKP, all das ist völlig unhaltbar. Die durch solche Kontroversen hervorgerufene Aufregung ist aber geradezu die Bedingung für die politische Bildung des Militanten; dafür, dass sein Handeln auf einer Überzeugung fußen kann, die ständig überprüft, verstanden und bereichert wird. Es ist die grundlegende Bedingung des revolutionären Handelns, außerhalb derer es nur Gehorsam, Kretinismus und Knechtschaft geben kann.
Aber der Kern des Denkens unseres Führers wird durch den dritten Punkt zum Ausdruck gebracht. Hier spiegelt sich das Innere seines Denkens wider. Die theoretischen Probleme des revolutionären Handelns werden nicht durch Kontroversen und Diskussionen gelöst, sondern durch das geniale Gehirn eines Individuums - des Führers. Die Lösung ist kein kollektives Werk, sondern das individuelle Werk des isolierten Denkers, der zurückgezogen in seinem Arbeitszimmer darüber brütet und anhand seiner Genialität die grundlegenden Elemente für die Lösung findet. Sobald diese Arbeit vollbracht, die Lösung erstellt ist, braucht die große Masse der Militanten und die gesamte Partei diese Lösung nur zu assimilieren und das politische Handeln auf diese Lösung auszurichten. Dadurch würden die Diskussionen wenn nicht schädlich, so doch zumindest zu einem überflüssigen Luxus, zu einem sinnlosen Zeitverlust. Und um diese These zu untermauern, wird unter anderem das Beispiel des Werkes von Marx zitiert.
Aber unser Führer hat eine sehr seltsame Auffassung von Karl Marx. Gerade Marx war alles andere als der Mensch des Studierzimmers. Weniger als noch bei jemand anders kann man bei Marx den Mensch des Handelns, den Kämpfer der Bewegung und den Denker voneinander trennen. Das Denken von Marx reifte in direkter Verbindung nicht durch das Handeln anderer, sondern durch sein Handeln zusammen mit den anderen in der allgemeinen Bewegung. Es gibt keine Idee in Marxens Werk, bei der dieser sich bei seinen Tätigkeiten nicht schon in Debatten oder Kontroversen mit den Ideen anderer auseinandergesetzt hätte. Deshalb beinhaltet sein Werk diese große Frische in der Ausdrucksweise und diese Vitalität. Sein ganzes Werk und selbst „Das Kapital“ ist nichts anderes als eine fortwährende Kontroverse, wo die schwersten und abstraktesten theoretischen Untersuchungen eng mit der Diskussion und direkten Polemik zusammenhängen und mit ihr verbunden sind. Das ist eine sehr seltsame Art, das Werk Marxens als das Ergebnis der wundersamen biologischen Eigenschaften des Gehirns von Marx aufzufassen!
Im Allgemeinen ist die Zeit der Genies in der Menschengeschichte vorbei. Was stellte das Genie in der Vergangenheit dar? Nichts anderes als der sehr niedrige Wissensstand des Durchschnitts der Menschen gegenüber dem der Wissensstand einiger Mitglieder der Elite einen ungeheuren Kontrast darstellte. Auf einer unteren Stufe der Entwicklung menschlicher Erkenntnis konnte das relative Wissen eine individuelle Aneignung darstellen genauso wie das Produktionsmittel ein individuelles Merkmal tragen konnte. Was das Werkzeug von der Maschine unterscheidet, ist sein gewandelter Charakter, das von einem rudimentären Ergebnis einer privaten Arbeit zu einem komplizierten Ergebnis einer gemeinsamen gesellschaftlichen Arbeit wird. Das gleiche trifft für die Erkenntnis im Allgemeinen zu. Solange diese sehr elementar blieb, konnte ein isoliertes Individuum diese Erkenntnis in ihrer Gesamtheit aufnehmen. Aber mit der Entwicklung der Gesellschaft und Wissenschaft kann das Wissen nicht mehr von einem Individuum erfasst werden, sondern nur von der gesamten Menschheit. Der Abstand zwischen dem Genie und dem Durchschnitt der Menschen nimmt in dem Maße ab, wie der Umfang des menschlichen Wissens ansteigt. Die Wissenschaft neigt genauso wie die Produktion in der Wirtschaft dazu, gesellschaftlich zu werden. Von dem Genie ist die Menschheit übergegangen zum isolierten Wissenschaftler, und vom isolierten zum Team von Wissenschaftlern. Die Arbeitsteilung wird immer größer. Um heute etwas herzustellen, ist die Zusammenarbeit von großen Arbeitermassen erforderlich. Diese gleiche Tendenz zur Arbeitsteilung besteht ebenfalls auf der geistigen Ebene und stellt somit gerade ihre Entfaltung sicher. Das Arbeitszimmer des Wissenschaftlers wird ersetzt durch das Forschungslabor, wo Forscherteams ihre Arbeit verrichten, genauso wie die Werkstatt des Handwerkers durch die Produktionsstätten in den großen Fabriken ersetzt wird.
Die Rolle des Individuums neigt dazu, in der menschlichen Gesellschaft zurückzugehen, nicht aber als Mensch, sondern als ein Individuum, das aus der verwirrten Masse hervorgeht und sich von dem menschlichen Chaos absetzt. An die Stelle des Menschen Individuum tritt der gesellschaftliche Mensch. Der Gegensatz zwischen der individuellen Einheit und der Gesellschaft wird durch die Synthese einer Gesellschaft ersetzt, in der alle Individuen ihre wirkliche Persönlichkeit finden. Der Mythos vom Genie gehört nicht zur Zukunft der Menschheit. Im Gegenteil, wir müssen ihn dem Mythos vom Helden und der Halbgötter in den Museen der Vorgeschichte zuordnen.
Man kann von der geschrumpften Rolle des Individuums in der menschlichen Geschichte halten was man will. Man kann es begrüßen oder bedauern. Aber diesen Prozess kann man nicht infragestellen. Um die technisch hochentwickelte Produktion fortzusetzen, war der Kapitalismus dazu gezwungen, allgemeine Schulbildung einzuführen. So war die Bourgeoisie dazu gezwungen, immer mehr Schulen zu eröffnen, da dies in einem gewissen Maße mit ihren Interessen übereinstimmte. Sie war dazu gezwungen zuzulassen, dass Arbeiterkinder zu einer höheren Schulbildung Zugang fanden.
In dem gleichen Maße ist das allgemeine Bildungsniveau des Durchschnitts der Gesellschaft angestiegen. Aber eine gewisse Stufe kann nicht überschritten werden, ohne dass ihre Herrschaft angetastet wird. Somit wird sie zu einer Fessel für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft. Dies ist einer der Ausdrücke des historischen Widerspruchs der bürgerlichen Gesellschaft, den nur der Sozialismus überwinden kann. Die Entwicklung der Kultur und des sich immer weiter entwickelnden Bewusstsein ist das Ergebnis aber auch die Bedingung des Sozialismus; und nun taucht jemand auf, der von sich behauptet, Marxist zu sein und beansprucht ein Führer einer Kommunistischen Partei zu sein und davon spricht und von uns erwartet, dass wir auf das rettende Genie warten.
Um uns zu überzeugen, hat er uns folgende Anekdote erzählt: Nach dem Krieg hat er Bordiga getroffen, den er 20 Jahre lang nicht mehr gesehen hatte; er hat seine theoretischen und politischen Schriften kritisieren wollen. Nachdem Bordiga diese Kritik gelesen hatte und sie als falsch betrachtete, hat er ihn gefragt, was er damit machen wolle. Unser Führer antwortete, dass er sie in den Zeitschriften der Partei veröffentlichen wollte. Daraufhin habe Bordiga geantwortet, da er aus Zeitmangel nicht auf sie eingehen könne, weil ihm für die notwendigen theoretischen Untersuchungen zur Widerlegung des Inhaltes dieser Artikel die Zeit fehle, würde er gegen deren Veröffentlichung eintreten. Und wenn dies der Partei nicht passe, würde er seine literarische Mitarbeit einstellen. Die Drohung Bordigas reichte aus, unseren Führer dazu zu bewegen, auf die Veröffentlichung dieser Artikel zu verzichten.
Diese uns als Beispiel vorgetragene Anekdote sollte Aufschluss geben über die Größe des Meisters und das Augenmaß des Schülers. Aber wir empfinden die ganze Angelegenheit als sehr peinlich. Wenn diese Anekdote wirklich stimmt, erhält man eine Vorstellung davon, welcher Geist innerhalb der IKP-Italiens herrscht, ein absolut jämmerlicher Zustand.
Das heißt, dass nicht die Partei, nicht die Masse der Militanten, nicht die Arbeiterklasse insgesamt dazu aufgerufen ist, diese oder jene politische Position zu beurteilen, ob sie richtig oder falsch ist. Die Masse der Arbeiter braucht nicht einmal informiert zu werden. Der ‘Meister’ selber entscheidet alleine, was die Masse der Arbeiter verstehen kann und worüber sie informiert werden muss. Welche spitzfindige Sorge, die Ruhe der Masse zu stören. Und wenn der Meister sich täuscht, wenn er falsch liegt? Das kann aber nicht der Fall sein, denn wenn der Meister sich täuscht, wie kann man sich dann vorstellen, dass ein einfach Sterblicher die Möglichkeit hat, die Lage zu beurteilen? Und trotzdem, andere große ‘Meister’ der Vergangenheit haben sich getäuscht, von Marx bis Lenin. Aber das wird nicht der Fall sein bei ‘unserem Meister’. Und wenn das der Fall wäre, dann kann nur ein zukünftiger ‘Meister’ ihn berichtigen. Dies ist eine typisch aristokratische Auffassung vom Denken.
Wir wollen nicht den großen Wert des Denkens des Spezialisten, des Wissenschaftlers, des Denkers leugnen, aber wir verwerfen die wirklich monarchistische Auffassung des Denkens, des heiligen Rechtes über das Denken. Was den ‘Meister’ selbst angeht, hört dieser auf, ein menschliches Wesen zu sein, dessen Gedanken sich in Auseinandersetzung mit anderen Menschen entwickeln, um gewissermaßen zu einem Phönix, einem sich bewegenden Phänomen zu werden, zu einer reinen Idee, die sich sucht, gegenüber sich selbst Widersprüche erhebt und sie dann wie bei Hegel wieder überwindet.
Ein Genie zu erwarten, ist die Erklärung seiner eigenen Unfähigkeit, wie die Masse, die am Fuße des Berges Sinai die Ankunft irgendeines Moses erwartet und irgendeine Bibel mit göttlicher Inspiration anbietet. Dies ist die alte und ewige Erwartung des jüdischen Messias, der sein Volk befreien soll. Der alte revolutionäre Schlachtruf des Proletariats besagt: „Es gibt keinen übergeordneten Retter, es gibt keinen Gott, es gibt keinen Cäsar, es gibt keinen Tribun“.
Man müsste in der Zukunft hinzufügen, es gibt kein Genie, um den besonderen Beitrag der Mitglieder der IKP Italiens zu würdigen.
Es gibt viele moderne Versionen dieser messianischen Auffassungen. Der stalinistische Kult des ‘unfehlbaren Führers’, das Führerprinzip der Nazis, das Ideal der Schwarzhemden des Duces. Sie sind der Ausdruck der Angst der dekadenten Bourgeoisie, die ganz vage ihr kommendes Ende spürt und versucht ihr Leben zu retten, indem sie sich zu Füßen des erst dahergelaufenen Abenteurers wirft. Das Konzept des Genies ist ein Teil der gleichen Familie von Gottheiten.
Das Proletariat hat mit all dem nichts zu tun und braucht keine Angst davor zu haben, wenn es der Wirklichkeit in die Augen schaut, dadurch erschüttert zu werden, denn die Zukunft der Welt gehört dem Proletariat.
(Fortsetzung folgt).
1) Ein früherer sozialistischer Abgeordneter, der Hauptprivatsekretär des sozialistischen Ministers Sembat während des 1. Weltkriegs. Als überzeugter Nationalchauvinist übernahm er die Aufgabe, Mussolini im Namen der französischen Regierung dazu zu gewinnen, damit Italien an der Seite der Entente in den Krieg eintrat. 1920 wurde er ein Anhänger der Kommunistischen Internationale, in deren Reihen er seine parlamentarische Karriere fortsetzte, und zum schwabbeligsten Anhänger Stalins bis zu seinem Tod wurde.
2) Gespräch mit Vercesi
Internationale Revue Nr. 34, (engl. Ausgabe)
Wiederveröffentlichung aus Internationalisme, 1947:
Während der Parlamentswahlen in Italien Ende 1946 erschien ein Leitartikel im Zentralorgan der IKP Italiens, der als solcher schon ein Programm darstellte.
Sein Titel lautete: "Unsere Stärke", sein Verfasser war der Generalsekretär der Partei. Worum ging es in dem Artikel? Um die Unruhen in der IKP, die durch die Wahlpolitik der Partei hervorgerufen worden waren. Ein Teil der Genossen, der scheinbar eher aus Erinnerung an eine abstentionistische Tradition der Fraktion um Bordiga als aus Sorge um eine klare Position insgesamt, erhob sich gegen die Politik der Wahlbeteiligung. Diese Genossen reagieren eher aufgrund einer schlechten Laune, wegen mangelnden Enthusiasmus, wegen praktischer ‘Vernachlässigungen’ in der Wahlkampagne als durch einen offenen politischen und ideologischen Kampf innerhalb der Partei. Andererseits trieb eine gewisse Zahl von Genossen ihren Enthusiasmus für die Wahlen soweit, dass sie sich am Referendum ‘für die Monarchie oder die Republik’ beteiligten, wobei sie natürlich für die Republik stimmten, ungeachtet der abstentionistischen Position hinsichtlich des Referendums, die in dieser Frage vom Zentralkomitee eingenommen worden war. Indem man den ‘Ärger’ in der Partei durch eine Generaldiskussion über den Parlamentarismus vermeiden will, indem man die Politik der Vergangenheit, die als ‘revolutionärer Parlamentarismus’ dargestellt wurde, wieder aufgreift, wird in der Tat das Bewusstsein ihrer Mitglieder erschüttert, denn sie wissen nicht mehr, welchem ‘Genie’ sie sich zuwenden sollen. Die einen beteiligen sich zu intensiv, die anderen zu wenig engagiert; die Partei hat jetzt sozusagen ‘Hitze und Kältewallungen’ und sie ist ganz ramponiert aus diesem Wahlabenteuer hervorgegangen. (1)
Der Generalsekretär wendet sich in seinem Editorial ganz vehement gegen diesen Zustand. Sich auf die Disziplin berufend, verurteilt er die vor Ort vorhandenen politischen Improvisationen rechter und linker Art. Worauf es ankommt, ist nicht, ob eine Position richtig oder falsch ist, sondern es geht darum, die allgemeine politische Linie zu übernehmen, nämlich die des Zentralkomitees, dem man gehorchen muss. Das ist die Disziplin. Disziplin ist die Hauptstärke der Partei ... und der Armee, möchte der erste Offizier direkt hinzufügen. Es stimmt, dass der Sekretär die Disziplin, der man freiwillig zustimmt, definieren muss. Gott sei gelobt. Mit diesem Zusatz sind wir dann unbesorgt...
Entsprechende Reaktionen folgten dann diesem Aufruf zur Disziplin. Vom Norden bis zum Süden, von links bis nach rechts, hat eine immer größere Anzahl von Militanten auf ihre Art und Weise auf die ‘freiwillig übernommene Disziplin’ durch den freiwillig vollzogenen Austritt reagiert. Die Führer der IKP mögen wohl behaupten, dass es sich hier um die ‘Umwandlung der Quantität in Qualität’ handelt, und dass mit der Quantität, die aus der Partei ausgetreten ist, auch eine falsche Auffassung kommunistischer Disziplin verschwunden sei. Demgegenüber meinen wir, dass diejenigen, die geblieben sind und das Zentralkomitee an erster Stelle nicht eine falsche Auffassung der kommunistischen Disziplin vertreten haben, sondern eine falsche Auffassung vom Kommunismus überhaupt.
Die qualitative Zusatzbezeichnung ‘freiwillig unterworfen’ ist nur eine Beschönigung, um das Ganze attraktiver aussehen zu lassen. Wenn sie jedoch von denen vollzogen wurde, die unter der Disziplin leiden, oder die ihr zugestimmt haben, braucht man das nicht mehr in Erinnerung zu rufen, und vor allem muss man sie nicht mehr endlos daran erinnern, dass sie ‘freiwillig ausgeübt’ wird.
Die Bourgeoisie hat immer behauptet, dass ihre Gesetze, ihre Ordnung, ihre Demokratie der Ausdruck des ‘freien Willens’ des Volkes’ sind. Im Namen des freien Willens des Volkes wurden Gefängnisse gebaut, an deren Eingangstor mit Blut getränkte Worte geschrieben wurden: ‘Liberté, Egalité, Fraternité’ (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit). Im Namen dieser ‘Werte’ mobilisiert sie das Volk immer für die Armee, so dass sie in den Massakern ihren ‘freien Willen’ hervorheben kann, der sich ‘Disziplin’ nennt.
Heirat ist ein freier Ehevertrag, so scheint es, so dass Trennung und Scheidung zu einem unhaltbaren Spott werden.
„Unterwerfe dich deinem Willen“ war der Gipfel der Kunst der jesuitischen Klassenausbeutung. In Seidenpapier schön eingepackt, verkauften sie so ihre Unterdrückung den Unterdrückten. Jeder weiß es, dass die christliche Inquisition wegen ihrer Liebe, wegen ihres Respekts für die göttliche Seele, und um diese zu retten, die Ketzer verbrannte, die sie aufrichtig bedauerte. Die göttliche Seele der Inquisition ist heute auch zur „freien Zustimmung“ geworden.
‘Eins zwei, eins zwei, links rechts, vorwärts’ übt eure Disziplin mit „freier Zustimmung“ aus und seid glücklich! Was ist also die Grundlage der kommunistischen Auffassung, und wir wiederholen nicht der Disziplin, sondern der Organisation und des Handelns? Ausgangspunkt ist, dass die Menschen frei handeln im vollen Bewusstsein ihrer Interessen. Die geschichtliche, ökonomische und ideologische Entwicklung bedingt diese Bewusstwerdung. Die ‘Freiheit’ existiert nur dann, wenn dieses Bewusstsein einmal errungen ist. Wenn es kein Bewusstsein gibt, ist Freiheit ein inhaltsleeres Wort, eine Lüge. Sie stellt dann nur Unterdrückung und Unterwerfung dar, selbst wenn man sich ihr freiwillig unterworfen hat. Die Kommunisten haben nicht zur Aufgabe, der Arbeiterklasse irgendwelche Freiheit zu bringen. Sie haben keine Geschenke anzubieten. Sie helfen nur der Arbeiterklasse, sich über die allgemeinen und Endziele der Bewegung bewusst zu werden, wie es das Kommunistische Manifest bemerkenswert klar ausdrückt.
Der Sozialismus, meinen wir, ist möglich als ein bewusstes Handeln der Arbeiterklasse. Alles, was diese Bewusstwerdung der Arbeiterklasse begünstigt, ist sozialistisch, aber nur das, was es begünstigt. Der Sozialismus lässt sich nicht durch irgendwelche Knüppel einführen, nicht weil Knüppel ein unmoralisches Mittel wären, wie Koestler das behaupten würde, sondern weil Knüppel nichts mit dem Bewusstsein zu tun haben.
Der Knüppel ist durchaus moralisch vertretbar, wenn man das Ziel der Unterdrückung und Klassenherrschaft verfolgt, denn mit dem Knüppel wird dann konkret dieses Ziel umgesetzt. Zudem gibt es und kann es dann kein anderes Mittel geben. Wenn man auf den Knüppel zurückgreift, und die Disziplin ist ein moralischer Knüppel, um das mangelnde Bewusstsein zu ersetzen, verwirft man den Sozialismus; man setzt eher die Bedingungen für das Gegenteil des Sozialismus um. Deswegen treten wir entschlossen gegen die Gewalt gegen die Arbeiterklasse nach dem Sieg der proletarischen Revolution an. Und wir sind entschlossene Gegner des Einsatzes von Disziplin innerhalb der Partei.
Damit es nicht zu Missverständnissen kommt: wir verwerfen nicht die Notwendigkeit der Organisation. Wir verwerfen nicht die Notwendigkeit gemeinsamen Vorgehens. Im Gegenteil. Aber wir wehren uns dagegen, dass die Disziplin jemals als Grundlage für das Handeln gesehen wird, das diesem seinem Wesen nach fremd gegenübersteht. Die Organisation und das gemeinsame kommunistische Handeln haben einzig und allein als Ausgangspunkt das Bewusstsein der Militanten. Je größer und je klarer dieses Bewusstsein ist, desto stärker ist die Organisation. Desto besser abgestimmt und wirksamer kann sie handeln.
Lenin hat mehrfach ‘freiwillig’ auferlegte Disziplin als einen Knüppel der Bürokratie bezeichnet. Wenn er den Begriff der Disziplin benutzt, und er hat das mehrfach erläutert, meinte er das im Sinne von organisiertem Handlungswillen, der sich auf das Bewusstsein und die revolutionäre Überzeugung eines jeden Mitglieds stützt. Man darf nicht von den Militanten erwarten, wie es das Zentralkomitee der IKP tut, eine Handlung auszuführen, die sich nicht verstehen, oder die gegen ihre Überzeugung gerichtet ist. Das hieße zu glauben, dass man einen revolutionären Weg verfolgen kann mit einer Masse von Deppen oder Sklaven. Auf diesem Hintergrund kann man verstehen, dass man von der Notwendigkeit der Disziplin spricht, die als eine revolutionäre göttliche Natur dargestellt wird.
In Wirklichkeit können revolutionäre Handlungen sich nur stützen auf bewusste und überzeugte Mitglieder. Und damit zerbrechen diese Handlungen alle Ketten, und somit auch jene, die durch die heilige Disziplin auferlegt werden. Die alten Militanten erinnern sich daran, mit welcher Arglist diese Disziplin in den Händen der Bürokraten und der Führung der Komintern gegen die Revolutionäre eingesetzt wurde. Hitlers Truppen mit ihrer heiligen Feme, Sinowjews Leute an der Spitze der Komintern, sie kannten alle ihre heilige Disziplin. Tatsächlich handelte es sich um eine Inquisition mit ihren Kontrollkommissionen, die die Seele eines jeden Militanten marterten und durchleuchteten. Man hatte die Partei in eine Zwangsjacke gesteckt; jeder Schritt, jeder Versuch, der in Richtung revolutionäre Bewusstwerdung lief, sollte so erstickt werden. Wie durchtrieben das Ganze war, konnte man daran sehen, dass man die Mitglieder zwang, etwas in der Öffentlichkeit zu verteidigen, was sie innerhalb der Organisation verurteilten. Das war der Beweis des perfekten Bolschewiki. Die Moskauer Prozesse unterschieden sich in ihrem Wesen nicht von der Auffassung der freiwilligen Disziplin.
Wenn die Geschichte der Unterdrückung der Klassen diesen Begriff der Disziplin nicht hinterlassen hätte, hätte ihn die stalinistische Konterrevolution neu erfunden.
Wir kennen Mitglieder, insbesondere sehr bekannte Mitglieder Italiens, die, um aus diesem Dilemma, sich an der Wahlkampagne gegen ihre Überzeugung zu beteiligen, zu entweichen, oder um sich der Disziplin zu hinterziehen, nichts anderes zu tun wussten, als vorzugeben, dass sie verreisen müssten. So eine Täuschung des Bewusstseins, so eine Täuschung der Partei, nicht einverstanden zu sein, zu schweigen und alles zuzulassen, das sind die deutlichsten Ergebnisse dieser Methode. Welche Erniedrigung der Partei! Welche Entwürdigung der Mitglieder!
Die Disziplin der IKP beschränkt sich nicht nur auf die Mitglieder der Partei Italiens, sie wird ebenfalls von den belgischen und französischen Fraktionen eingefordert.
Der Abstentionismus war in der GCI (1) selbstverständlich. So schrieb eine Genossin der Französischen Fraktion in der Zeitung einen Artikel mit dem Versuch, den Abstentionismus mit der Wahlbeteiligung der IKP Italiens in Einklang zu bringen. Ihr zufolge handelt es sich nicht um eine Prinzipienfrage. Somit sei die Wahlbeteiligung der IKP sehr wohl zulässig. Jedoch meinte sie, dass es „besser“ gewesen wäre, sich zu enthalten. Wie man sehen kann, ist das eine nicht sehr „beißende“ Kritik, die vor allem bestimmt wird durch die Notwendigkeit, die Kritik der Fraktion in Frankreich gegen die Wahlbeteiligung der Trotzkisten in Frankreich zu rechtfertigen. Aber wir wissen nicht, was mit der Genossin geschehen ist. Es hat jedenfalls gereicht, um vom dem Sekretär der Partei in Italien zur Ordnung ermahnt zu werden.
Mit großem Paukenschlag erklärte der Sekretär, dass die Kritik im Ausland an der Politik des Zentralkomitees in Italien nicht zulässig sei. Es fehlt nicht viel und die Beschuldigung lautet dann: Dolchstoß. Dieses Mal kommt die Beschuldigung dann seitens Italiens gegen Frankreich. Marx und Lenin unterstrichen: Lehren, erklären, überzeugen. „Disziplin, Disziplin“ lautet das Echo aus dem Zentralkomitee.
Es gibt keine wichtigere Aufgabe als die Bildung von bewussten Militanten durch eine ausdauernde Erziehung, Erklärung und politische Diskussion. Diese Aufgabe ist gleichzeitig das einzige Mittel, welches das revolutionäre Handeln garantieren und verstärken kann. Die IKP Italiens hat ein wirksameres Mittel entdeckt: die Disziplin. All das überrascht uns nicht. Wenn man sich zum Konzept des Genies bekennt, der mit sich selbst Überlegungen anstellt, wo das Licht herkommt, wird das Zentralkomitee zum Generalstab, das dieses Licht in Befehle und Anweisungen umsetzt. Die Militanten werden zu Leutnants, Unteroffizieren und Gefreiten, und die Arbeiterklasse zu einer Masse von Soldaten, der beigebracht werden soll, dass „Disziplin unsere Hauptstärke“ ist. Diese Auffassung von der Arbeiterklasse und dem Kampf der Partei entspricht den Auffassungen eines Berufssoldaten der französischen Armee. Sie ist verwurzelt in einer uralten Unterdrückung und einer Herrschaft des Menschen über den Menschen. Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse, diese ein für allemal zu überwinden.
Nach so vielen Jahren gewaltiger Kämpfe innerhalb der Komintern um das Fraktionsrecht mag es als bestürzend erscheinen, heute auf diese Frage wieder zurückkommen zu müssen. Sie schien für jeden Revolutionär aufgrund der Erfahrung gelöst zu sein. Und trotzdem müssen wir dieses Fraktionsrecht heute gegen die Führer der IKP Italiens verteidigen.
Kein Revolutionär spricht von der Freiheit oder der Demokratie im Allgemeinen, denn kein Revolutionär lässt sich durch die allgemeinen Aussagen irreführen, weil er immer versuchen wird, ihren wirklichen gesellschaftlichen Inhalt, ihren Klasseninhalt aufzuzeigen. Mehr als irgendjemand anderem kommt Lenin das Verdienst zu, den Schleier hinsichtlich der Floskeln „um die Freiheit und Demokratie“ im Allgemeinen entlüftet und dies als Lügen aufgedeckt zu haben.
Was auf eine Klassengesellschaft zutrifft, trifft auch auf die politischen Gruppierungen zu, die innerhalb der Klassengesellschaft handeln. Die 2. Internationale war sehr demokratisch, aber ihre Demokratie lief darauf hinaus, den revolutionären Geist in einem Meer von ideologischem Einfluss der Bourgeoisie verschwinden zu lassen. Die Kommunisten lehnen solch eine Demokratie ab, wo die revolutionäre Flamme auf diese Art erlöscht wird. Der Bruch mit diesen Parteien der Bourgeoisie, die von sich behaupten sozialistisch und demokratisch zu sein, war notwendig und gerechtfertigt. Die Gründung der 3. Internationale auf der Grundlage des Ausschlusses dieser sogenannten Sozialdemokratie war eine historische Reaktion. Diese Reaktion ist eine endgültige Errungenschaft für die Arbeiterbewegung.
Wenn wir von Arbeiterdemokratie sprechen, von der Demokratie innerhalb der Organisation, verstehen wir darunter etwas ganz Anderes als die Auffassung der sozialistischen Linken, der Trotzkisten und anderer Demagogen. Aus ihrer Sicht bedeutet Demokratie, dass die Organisation Minister für die Verwaltung des bürgerlichen Staates stellt, dass sie sich „frei“ am imperialistischen Krieg beteiligen kann.
Diese Organisationen der Demokratie unterscheiden sich nicht groß von den ‚undemokratischen‘ Organisationen Hitlers, Mussolinis und Stalins, die genau die gleiche Arbeit verrichten. Nichts ist verwerflicher als die Beanspruchung (die sozialistischen Parteien waren Experten in der imperialistischen Beanspruchung auf etwas) auf Rosa Luxemburg, wenn die Vertreter der sozialistischen Linken mit Taschenspielertricks versuchen, ihren „Demokratismus“ der „bolschewistischen Intoleranz“ gegenüberzustellen. Rosa Luxemburg und Lenin haben das Problem der Arbeiterdemokratie nicht gelöst, aber beide hatten eine richtige Position zur sozialdemokratischen Demokratie und entblößten ihren wirklichen Inhalt.
Wenn wir von inneren Strukturen sprechen, meinen wir eine Organisation, die gestützt ist auf Klassenkriterien und ein revolutionäres Programm, die nicht offen ist gegenüber jedem Neuankömmling aus den Reihen der Bourgeoisie. Unsere Freiheit ist keine abstrakte, sondern hauptsächlich konkret. Denn es handelt sich um die Freiheit der zusammengeschlossenen Revolutionäre, die gemeinsam versuchen, Mittel zum Handeln für die gesellschaftliche Befreiung zu finden. Auf dieser gemeinsamen Grundlage und bei dem Versuch, auf das gemeinsame Ziel hinzuarbeiten, tauchen unvermeidlich Divergenzen auf. Diese Divergenzen zeigen immer, dass noch nicht alle Elemente für eine Antwort gefunden wurden, oder wirkliche Schwierigkeiten des Kampfes oder auch eine Unreife der Gedanken. Sie können weder verschwiegen noch verboten werden, sondern müssen im Gegenteil durch die Erfahrung des Kampfes selbst und durch die freie Auseinandersetzung der Ideen überwunden werden. Die Funktionsweise der Organisation besteht also darin, nicht diese Divergenzen zu ersticken, sondern die Bedingungen für deren Überwindung zu schaffen. D.h. hinsichtlich der Organisation müssen die Bedingungen geschaffen werden, dass diese Divergenzen zum Ausdruck kommen können, anstatt sie nur geheim zirkulieren zu lassen. Nichts vergiftet mehr die Atmosphäre in der Organisation als Divergenzen, die nicht ans Tageslicht gebracht wurden. Nicht nur verzichtet die Organisation damit auf jede Möglichkeit sie zu überwinden, sondern sie untergräbt langsam ihre eigenen Grundlagen. Bei der ersten Hürde kommt das Gebilde, das vorher so solide wie ein Fels schien, ins wanken, bricht zusammen und hinterlässt dann nur eine Ruine. Was anfänglich nur ein Sturm war, wird zu einer verheerenden Katastrophe.
Die Genossen der IKP sagen uns, wir brauchen eine Partei, eine vereinte Partei, aber die Existenz von Fraktionskämpfen spaltet und schwächt sie. Zur Unterstützung dieser These berufen sich die Genossen immer auf die Resolution, die Lenin auf dem 10. Kongress der Kommunistischen Partei Russlands eingebracht hat und dort verabschiedet wurde, welche das Fraktionsrecht in der Partei verbietet. Die Berufung auf die berühmte Resolution Lenins und die Verabschiedung dieser Resolution heute verdeutlicht am klarsten die ganze Entwicklung der Italienischen Fraktion, die sich zur Partei erklärt hat. Das, gegen das die Italienische Linke und die ganze Linke der Komintern sich mehr als 20 Jahre aufgelehnt und bekämpft haben, wird heute zu einem Glaubensbekenntnis des „perfekten“ Mitglieds der IKP. Erinnern wir uns auch daran, dass die angesprochene Resolution von einer Partei drei Jahre nach der Revolution verabschiedet wurde (vorher hätte sie nie ins Auge gefasst werden können), die vor einer endlosen Zahl von Problemen stand: Blockade von Außen, Bürgerkrieg, Hungersnot und wirtschaftlicher Ruin im Innern. Die russische Revolution steckte in einer ungeheuren Sackgasse. Entweder würde die Weltrevolution sie retten oder sie würde unter dem gebündelten Druck von Außen und der inneren Schwierigkeiten zusammenbrechen. Die sich an der Macht befindenden Bolschewiki waren ebenfalls diesem Druck ausgesetzt und wichen auf ökonomischer Ebene zurück, und, was Tausend mal schlimmer ist, vor allem auf politischer Ebene. Die Resolution zum Verbot der Fraktionen, die Lenin einbrachte, war übrigens nur als vorübergehend gedacht, weil man die schreckliche Lage, in der die Partei steckte, als vorübergehend betrachtete. Auch war sie ein Teil einer Reihe von Maßnahmen, die die Revolution alles andere als verstärkten und stattdessen den Niedergang der Revolution beschleunigten.
Auf dem 10. Kongress wurde diese Resolution angenommen. Gleichzeitig kam es damals mit Hilfe von staatlicher Gewalt zur Niederschlagung der Arbeiterrevolten in Kronstadt, und man fing mit der massiven Verschleppung der Gegner der Partei nach Sibirien an. Die ideologische Erstickung innerhalb der Partei ging einher mit der Anwendung der Gewalt innerhalb der Klasse. Der Staat, der das Organ des Zwangs und der Gewalt ist, tritt anstelle der ideologischen, wirtschaftlichen und Einheitsorganisationen der Klasse, der Partei, der Gewerkschaften und der Sowjets. Die GPU tritt anstelle der Diskussionen. Die Konterrevolution verdrängt die Revolution unter der Fahne des Sozialismus, und das furchtbarste staatskapitalistische Regime fing an die Macht zu übernehmen. Marx sagte in Louis Bonaparte, dass die großen Ereignisse der Geschichte, sich sozusagen zweimal ereignen, „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“ [Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 1162, (vgl. MEW Bd. 8, S. 115)]
Die IKP Italiens führte uns eine wahre Farce dessen vor, was die Größe und die Tradition der Russischen Bolschewistischen Partei war. Das Antifaschistische Koalitionskomitee von Brüssel muss man an der Stelle des Petrograder Sowjets sehen, Vercesi an der Stelle von Lenin, das arme Zentralkomitee von Mailand an der Stelle der Komintern Moskaus, wo die die Revolutionäre aller Länder zusammengekommen waren, die Tragödie eines Kampfes von Dutzenden von Millionen von Menschen an der Stelle einer Reihe von Intrigen einiger Chefs. Der Ausgang der Revolution in Russland und der Weltrevolution wird anhand der Frage des Fraktionsrechts 1920 deutlich. „Keine Fraktion“ in Italien 1947 war der Schrei der Hilflosen, die nicht dazu gezwungen werden wollten, kritisch zu denken und in ihrer Ruhe nicht gestört werden wollten. „Keine Fraktion“, führte 1920 zur Auslöschung der Revolution. „Keine Fraktion“ ist 1947 nichts als eine Fehlgeburt einer nicht überlebensfähigen Partei.
Aber sogar noch als Farce wird das Fraktionsverbot zu einem ernsthaften Handicap beim Wiederaufbau der revolutionären Organisation. Der Wiederaufbau des internationalen Büros der GCI verdeutlicht, um welche Methode es sich handelt. Wir wissen, dass das Internationale Büro bei Ausbruch des Krieges auseinanderfiel. Während des Krieges sind politische Divergenzen in und zwischen den Gruppen, die sich auf die GCI berufen, aufgetaucht. Welche Methode des Aufbaus der organisatorischen und politischen Einheit der GCI hätte man verfolgen sollen? Unsere Gruppe trat für die Einberufung einer internationalen Konferenz aller Gruppen, die sich auf die GCI berufen, ein und verfolgte das Ziel, dass die breitest mögliche Diskussion aller entstandenen Divergenzen stattfindet. Uns wurde die andere Methode entgegengesetzt, die darin besteht, die Divergenzen so weit wie möglich zu verschweigen und die Gründung der Partei in Italien zu begrüßen und dafür einzutreten, dass die neue Umgruppierung um ihre Reihen stattfinden sollte. Weder eine internationale Diskussion noch eine internationale Kritik wurden akzeptiert. Und Ende 1946 gab es dann das Trugbild einer Konferenz. Unser kritischer Geist und unsere offenen Diskussionen wurden als nicht hinnehmbar angesehen und als Antwort auf unsere Dokumente – die einzigen, die als Diskussionsbeiträge zur Konferenz vorgelegt wurden – zog man es vor, nicht nur diese nicht zu diskutieren, sondern wir wurden ganz einfach von der Konferenz ausgeschlossen.
Wir haben in Internationalisme Nr. 16 im Dezember 1946 unser Dokument zur Konferenz veröffentlicht, das an alle Gruppen gerichtet war, die sich auf die GCI berufen. In diesem Dokument haben wir, der alten Tradition folgend, alle bestehenden politischen Divergenzen in der GCI aufgegriffen und unseren Standpunkt dazu offen vertreten. In der gleichen Ausgabe von Internationalisme wurde auch die ‚Antwort‘ dieses eigenartigen Internationalen Büros veröffentlicht. In der Antwort steht: „Da euer Brief wiederum die ständige Verzerrung der Tatsachen und der politischen Positionen zum Vorschein bringt, die von der IKP Italiens oder von der französischen und belgischen Fraktion vertreten wurde“, und weiter „da eure Aktivität sich darauf beschränkt, Verwirrung zu stiften und unsere Genossen zu beschimpfen, haben wir einstimmig , eure Bitte um Beteiligung an der Internationalen Konferenz der Organisationen der GCI abgelehnt.“
Man mag halten was man will von dem Geist, mit dem diese Antwort verfasst wurde. Aber man muss feststellen, dass es dieser Antwort bei fehlenden politischen Argumenten nicht an bürokratischer Energie und Entscheidung mangelt. Was die Antwort nämlich verschweigt, und das ist sehr charakteristisch für die Auffassung von der allgemeinen Disziplin, die von dieser Organisation vertreten und praktiziert wird, ist die geheim getroffene Entscheidung. Dazu schrieb uns ein Genosse der IKP Italiens unmittelbar nach der Konferenz: „Am Sonntag, den 8. Dezember, fand das Treffen der Delegierten des Politischen Büros der IKP statt. Bezüglich eures Briefs, der an die Genossen der Fraktion der GCI und der IKP Italiens gerichtet wurde, werdet ihr bald eine offizielle Antwort erhalten. Hinsichtlich eurer Bitte um gemeinsame Treffen für spätere Diskussionen wurde euer Vorschlag abgelehnt. Darüber hinaus wurde jedem Mitglied die Anweisung erteilt, jede Verbindung mit den als Dissidenten zu betrachtenden Fraktionen abzubrechen. Ich bedauere deshalb euch mitteilen zu müssen, dass ich meine Verbindungen mit eurer Gruppe nicht aufrechterhalten kann.“(gezeichnet Jober, 9.12.1946)
Bedarf diese intern und geheim getroffene Entscheidung noch eines Kommentars? Nein! Wir möchten nur hinzufügen, dass in Moskau Stalin natürlich noch über mehr Mittel verfügt, die Revolutionäre zu isolieren. Die Gefängniszellen der Lubjanka (das Gefängnis der GPU), die Isolationshaft in Verkni Uralsk, und wenn nötig, ein Nackenschuss. Bislang hat die GCI noch nicht diese Macht, und wir werden alles unternehmen, damit sie diese nicht bekommt. Aber das ist nicht ihre Schuld. Es geht hier um das Ziel und die Methode, die darin besteht, die Gegner, die nicht so denken wie ihr, zu isolieren und sie zum Schweigen zu bringen. Dies beinhaltet eine fatale Logik, und je nach dem Platz, den man einnimmt und die Macht, über die man verfügt, werden immer gewalttätigere Mittel ergriffen werden. Der Unterschied zum Stalinismus ist keine Frage des Wesens, sondern nur des Grades.
Das einzige, was die IKP bedauern muss, ist dazu gezwungen zu sein, auf jämmerliche Mittel zurückgreifen zu müssen, um „den Mitgliedern jeglichen Kontakt mit den Abweichlern zu verbieten.“
Diese ganze Auffassung hinsichtlich der Funktionsweise der Organisation und ihr Verhältnis zur Klasse werden durch diese Entscheidung verdeutlicht und konkretisiert. Sie ist unserer Ansicht nach furchtbar und abschreckend. Ausschluss, Verleumdung, ein aufgezwungenes Schweigen, das sind die Methoden, die anstelle der Erklärung, der Diskussion und der politischen Auseinandersetzung treten. Dies ist ein typisches Beispiel der neuen Auffassung der Organisation.
Ein Genosse der GCI hat uns einen langen Brief geschrieben, um, wie er schrieb, all das loszuwerden, was ihm seit der Antifaschistischen Koalition bis zur neuen Auffassung der Partei auf dem Magen lag. Er schreibt: „Die Partei ist nicht das Ziel der Arbeiterbewegung, sie ist nur ein Mittel. Aber das Ziel rechtfertigt nicht alle Mittel. Die Mittel müssen von dem Ziel mitbestimmt werden, das erreicht werden soll. Das Ziel muss bei jedem der eingesetzten Mittel zu erkennen sein. Deshalb kann die Partei nicht mit leninistischen Auffassungen aufgebaut werden, denn das würde einmal mehr bedeuten Mangel an Demokratie, militärische Disziplin, Verbot der freien Meinungsäußerung, Strafen bei abweichender Meinung, Mystifizierung der Partei. Während die Demokratie der größte Schwindel aller Zeiten ist, darf uns das nicht daran hindern, für die proletarische Demokratie in der Partei, in der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse einzutreten. Oder sonst soll man uns einen anderen Begriff vorschlagen. Das wichtige ist, dass nichts an der Sache geändert wird. Proletarische Demokratie bedeutet, Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit, die Möglichkeit nicht einverstanden zu sein, Verwerfung der Gewalt und des Terrors in jeder Form in der Partei und natürlich in der Klasse“. Wir verstehen und teilen vollständig die Entrüstung dieses Genossen, wenn er gegen das Gebilde der Partei als Kaserne und die Diktatur über die Arbeiterklasse antritt. Diese gesunde und revolutionäre Auffassung der revolutionären Organisation und ihrer Funktionsweise unterscheidet sich völlig von dem, was neulich ein Führer der IKP zum Besten gegeben hat. Er sagte wortwörtlich: „Unsere Auffassung der Partei ist die einer monolithischen, homogenen und monopolitischen Partei.“ Solch eine Auffassung von der militärischen Disziplin, verbunden mit Konzept des genialen Führers, hat überhaupt nichts mit dem revolutionären Werk der Arbeiterklasse zu tun, wo alles durch die Hebung des Bewusstseins, die ideologische Reifung der Arbeiterklasse bestimmt wird. Monolithismus, Homogenität und Monopolismus sind die göttliche Dreifaltigkeit des Faschismus und des Stalinismus.
Die Tatsache, dass ein Mensch oder eine Partei sich als revolutionär bezeichnen und sich auf diesen Begriff berufen, zeigt tragischerweise den ganzen Niedergang der Arbeiterbewegung auf. Die Partei der Revolution wird nicht auf diese Art aufgebaut werden, sondern daraus entsteht nur eine neue Kaserne für die Arbeiter. Damit trägt man in Wirklichkeit nur dazu bei, dass die Arbeiter in einem Zustand der Beherrschung und Unterwerfung gehalten werden. Es handelt sich um eine konterrevolutionäre Auffassung.
Was uns an der Möglichkeit der Wiederaufrichtung der IKP Italiens zweifeln lässt, sind, mehr noch als die eigentlichen politischen Fehler, die Organisationsauffassungen und ihr Verhältnis zur gesamten Klasse. Die Ideen, die das Ende des revolutionären Lebens der Bolschewistischen Partei zum Ausdruck brachten und die den Beginn des Abstiegs verdeutlichten – Fraktionsverbot, Abschaffung der Meinungsfreiheit in der Partei und in der Klasse, der Kult der Disziplin, Lobpreisung des unfehlbaren Chefs –,dienen heute als Grundlage der GCI und der IKP Italiens. Wenn die IKP diesen Weg fortsetzt, wird sie niemals der Sache des Sozialismus dienen können. Im vollen Bewusstsein und die ganze Tragweite dieser Entwicklung einschätzend, fordern wir sie dazu auf: "Halt, bleibt stehen! Ihr müsst umkehren, denn ihr lauft auf einen Abgrund zu.“ Marc
1) Jüngsten Nachrichten zufolge wird sich die IKP nicht an den Wahlen beteiligen. Das hat der Generalsekretär entschieden. Ist dies das Ergebnis einer erneuten Überprüfung der Position und von Diskussionen in der Partei? Man darf sich nicht täuschen. Es ist immer zu früh, eine Diskussion anzufachen, die die Genossen "stören" könnte, wie der wohlbekannte Führer uns sagte. Aber was denn? Die Partei hat nämlich viele Mitglieder verloren und ihre Kasse ist leer. Wegen mangelnder Munition hat das Zentralkomitee beschlossen, den Krieg einzustellen und sich nicht an den bevorstehenden Wahlen zu beteiligen. Dies ist eine bequeme Position, die allen passt und zudem niemanden stört. Ist das, was unser Führer "die umgekehrte Verwandlung der Quantität in Qualität nennt"?
(2) Der Genosse Jober stand in Diskussionen mit uns im Auftrag der Föderation von Turin der IKP, deren Repräsentant er war. Seitdem ist die Föderation von Turin, die gegen die Methoden des Zentralkomitees protestiert hat, selbständig geworden und hat in dieser Eigenschaft an der internationalen Kontaktkonferenz teilgenommen – siehe Internationalisme Nr. 24).
Noch nie war der Bankrott des kapitalistischen Systems so offensichtlich. Noch nie wurden so viele massive Angriffe gegen die Arbeiterklasse geplant. Welche Entwicklung des Klassenkampfs ist in dieser Situation zu erwarten?
Noch nie war der Bankrott des kapitalistischen Systems so offensichtlich. Noch nie wurden so viele massive Angriffe gegen die Arbeiterklasse geplant. Welche Entwicklung des Klassenkampfs ist in dieser Situation zu erwarten?
Die Subprime-Krise von 2008 ist in eine offene Krise im Weltmaßstab übergegangen, die einen seit 1929 nicht mehr erlebten Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten zur Folge gehabt hat:
- innert weniger Monate sind zahlreiche Finanzinstitute wie Dominosteine umgefallen;
- Fabriken wurden reihenweise geschlossen und Hunderttausende von Arbeitern weltweit auf die Straße geworfen.
Die Maßnahmen, die die Bourgeoisie ergriffen hat, um einen noch brutaleren Absturz zu verhindern, unterscheiden sich nicht von denjenigen, die sie sukzessive seit Beginn der 1970er Jahre mit dem Rückgriff auf den Kredit angewandt hat. So ist in der weltweiten Verschuldung eine neue Stufe erklommen worden, begleitet von einer noch nie erreichten Vergrößerung der Weltverschuldung. Doch heute ist der Umfang der weltweiten Schuld so gewaltig, dass man allgemein von einer „Schuldenkrise“ zu sprechen begonnen hat, um die gegenwärtige Phase der Wirtschaftskrise zu charakterisieren.
Die Bourgeoisie hat das Schlimmste verhindern können, für den Moment. Doch hat es nicht nur keinen neuen Aufschwung gegeben, sondern verschiedene Länder stellen heute mit Verschuldungsquoten von mehr als 100% des BIP ein ernsthaftes Insolvenzrisiko dar. Darunter befinden sich nicht nur Griechenland, sondern auch Portugal, Spanien (die fünftgrößte Volkswirtschaft der EU), Irland und Italien. Großbritannien hat zwar noch nicht dieselben Sphären der Verschuldung erreicht, weist aber Kennzahlen auf, welche die Spezialisten als sehr besorgniserregend bezeichnen.
Angesichts dieser Ernsthaftigkeit der Überproduktionskrise hat die Bourgeoisie nur ein Mittel: den Staat. Doch dieser enthüllt seinerseits, wie wenig er letztlich ausrichten kann. Die Bourgeoisie erstreckt einzig die Fristen, während alle wirtschaftlichen Akteure keinen anderen Ausweg haben als die Flucht nach vorn, die aber je länger je schwieriger und riskanter wird: sich immer noch mehr zu verschulden. Die geschichtlichen Grundlagen der Krise werden auf diese Weise besser sichtbar. Im Gegensatz zu früher kann die Bourgeoisie die Tatsache der Krise nicht mehr verheimlichen und sie offenbart, dass es in ihrem System keine Lösung gibt.
In einem solchen Zusammenhang kann die Insolvenz eines Landes[1], das künftig nicht mehr die Schuldnerverpflichtungen erfüllen kann, eine Kettenreaktion auslösen, bei der zahlreiche wirtschaftliche Subjekte (Banken, Unternehmen, andere Länder) zahlungsunfähig werden. Natürlich versucht die Bourgeoisie noch, die Tatsachen zu vernebeln, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Spekulation und die Spekulanten lenkt. Das Phänomen der Spekulation entspricht zwar einer Realität, die aber das ganze System prägt, und nicht bloß einige „Profiteure“ oder „Wirtschaftskriminelle“. Der Finanz-Wahnsinn, d.h. die grenzenlose Verschuldung und die Spekulation auf Teufel komm raus, ist durch den Kapitalismus als Ganzes begünstigt worden, als ein Mittel zum Zweck, den Eintritt der Rezession hinauszuschieben. Dies ist die eigentliche Lebensweise des Kapitalismus heute. Und so befindet sich denn auch der Kern des Problems im Kapitalismus selber, der unfähig ist, ohne Einspritzung neuer, immer größerer Kredite zu überleben.
Welche Medizin verordnet die Bourgeoisie gegenwärtig angesichts der Schuldenkrise? Die Bourgeoisie versucht, ein schreckliches Sparprogramm in Griechenland durchzusetzen. Ein weiterer Plan ist für Spanien in Vorbereitung. In Frankreich sind neue Angriffe auf die Altersrenten geplant.
Sind die Sparprogramme ein Mittel, um den neuen Aufschwung vorzubereiten? Werden sie es erlauben, wenigstens teilweise den Lebensstandard der Proletarier, der in den letzten zwei Krisenjahren so hart angegriffen worden ist, wieder zu erhöhen?
Bestimmt nicht! Die Weltbourgeoisie kann es sich nicht leisten, ein Land wie Griechenland einfach „absaufen“ zu lassen (trotz aller lauten und demagogischen Erklärungen Angela Merkels), ohne die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass einigen Gläubigern Griechenlands dasselbe widerfährt, doch besteht die einzig mögliche Hilfe darin, ihm neue Kredite zu einem „annehmbaren“ Zinssatz zu gewähren (obwohl die Darlehen zu 6%, die die EU Griechenland kürzlich aufgezwungen hat, schon außerordentlich teuer sind). Dafür werden Garantien einer Budgetdisziplin verlangt. Der Unterstützte muss beweisen, dass er kein Fass ohne Boden ist und die „internationale Hilfe“ nicht verschwendet. Von Griechenland wird also verlangt, dass es „seinen Schlendrian aufgibt“, damit das Wachstum seiner Defizite und seiner Verschuldung gebremst werde. Unter der Voraussetzung, dass die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse hart angegriffen werden, werde der Weltkapitalmarkt wieder Vertrauen in Griechenland gewinnen, das dann Darlehen und Auslandinvestitionen anziehen werde.
Einigermaßen paradox mutet an, dass das Vertrauen in Griechenland von dessen Fähigkeit abhängig gemacht wird, die Geschwindigkeit der Vergrößerung seiner Schulden zu bremsen, und nicht davon, die weitere Verschuldung zu stoppen, was gar nicht möglich wäre. Das heißt, dass die Zahlungsfähigkeit dieses Landes gegenüber dem Weltkapitalmarkt von der „nicht allzu starken“ Vergrößerung seiner Schulden abhängt. Mit anderen Worten: Ein wegen seiner Schulden für zahlungsunfähig erklärtes Land kann solvent werden, auch wenn seine Verschuldung weiter wächst. Abgesehen davon hat Griechenland selber ein Interesse daran, mit seiner „Insolvenz“ zu drohen und damit zu versuchen, auf die Zinssätze der Gläubiger zu drücken, die bei einem Zahlungsstopp zum Verlust ihrer ganzen Forderung kämen und sich dann schnell selber im „roten Bereich“ befänden. In der gegenwärtigen überverschuldeten Welt beruht die Zahlungsfähigkeit im Wesentlichen nicht mehr auf einer objektiven Realität, sondern auf einem Vertrauen - das nicht wirklich begründet ist.
Die Kapitalisten können nicht anders, als diesem Glauben nachzuhängen, sonst müssten sie aufhören, an die Ewigkeit ihres Ausbeutungssystems zu glauben. Doch während die Kapitalisten nicht anders können, als daran zu glauben, sieht dies für die Arbeiter etwas anders aus! Die Sparprogramme erlauben es der Bourgeoisie im Großen und Ganzen, sich etwas Mut zuzusprechen, doch lösen sie damit keineswegs die Widersprüche des Kapitalismus und können nicht einmal die Zunahme der Verschuldung eindämmen.
Die Sparprogramme erfordern eine drastische Verringerung der Kosten der Arbeitskraft, welche Politik in allen Ländern angewendet wird, denn alle stehen - in größerem oder geringerem Umfang - vor den Problemen einer enormen Verschuldung und von Defiziten. Eine solche Politik, die im kapitalistischen Rahmen keine wirkliche Alternative hat, kann zwar einen Sturm der Panik verhindern, kann vielleicht sogar einen Mini-Aufschwung bewirken, aber bestimmt nicht das Finanzsystem ins Lot bringen. Und noch weniger kann sie die Widersprüche des Kapitalismus lösen, die ihn zu immer neuer Verschuldung drängen bei Strafe der Erschütterung durch immer brutalere Rezessionen. Aber es gilt auch, diese Sparmaßnahmen der Arbeiterklasse zu verkaufen. Das ist für die Bourgeoisie keine einfache Aufgabe, und sie starrt auf die Antworten der Proletarier auf diese Angriffe.
Schon seit Beginn der 2000er Jahre verfängt die Rede der Bourgeoisie, wonach wir den Gürtel enger zu schnallen hätten, „damit es uns morgen besser gehe“, im Allgemeinen in der Arbeiterklasse nicht mehr, auch wenn es da Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern gibt. Die letzte Verschärfung der Krise hat bis jetzt, in den letzten zwei bis drei Jahren, nicht zu einer Ausbreitung der Mobilisierungen der Arbeiterklasse geführt. Die Tendenz ist für das Jahr 2009 sogar eher die umgekehrte. Die Merkmale von gewissen Angriffen, vor allem der massenhaften Entlassungen, haben in der Tat die Antwort der Arbeiterklasse erschwert, da:
- die Unternehmer und die Regierungen sich hinter einem Totschläger-Argument verstecken: „Wir können nichts dafür, wenn die Arbeitslosigkeit steigt und ihr entlassen werdet: Die Krise ist schuld.“
- bei Unternehmenskonkursen und Betriebsschließungen die Streikwaffe stumpf wird, was das Gefühl der Ohnmacht und der Verzweiflung bei den Arbeitern verstärkt.
Doch auch wenn diese Schwierigkeiten noch schwer auf der Arbeiterklasse lasten, ist die Situation nicht blockiert. Dies zeigt sich an einer Haltungsänderung in der ausgebeuteten Klasse und drückt sich aus in einem Erzittern des Klassenkampfes.
Die Erbitterung und die Wut der Arbeiterinnen und Arbeiter werden genährt durch eine tiefe Empörung angesichts einer himmelschreienden und nicht mehr zu erduldenden Situation: Die weitere Fortdauer des Kapitalismus hat unter anderem zur Folge, dass brutaler als je zuvor zwei „verschiedene Welten“ in ein und derselben Gesellschaft erscheinen. In der ersten lebt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die alles Unrecht und das ganze Elend erleidet und für die zweite bezahlen muss, für die Welt der herrschenden Klasse, die ihre Macht und ihren Reichtum schamlos und arrogant zur Schau stellt.
In unmittelbarerem Zusammenhang mit der jetzigen Krise verliert die verbreitete Idee, wonach „es die Banken sind, die uns in den Kakao gefahren haben, aus dem wir nicht mehr rauskommen“ (während man sieht, dass die Staaten selber sich der Zahlungsunfähigkeit nähern), an Überzeugungskraft, was wiederum zu einem Katalysator für die Wut gegen das System wird. Man sieht hier die Grenzen der Geschwätzes der Bourgeoisie, welche die Banken als die Verantwortlichen für die gegenwärtige Krise hinstellte mit dem Zweck, ihr System als Ganzes aus der Schusslinie zu ziehen. Der „Bankenskandal“ kompromittiert den Kapitalismus als solchen.
Auch wenn die Arbeiterklasse in weltweitem Maßstab noch angeschlagen und benommen dasteht vor der Lawine von Angriffen, die alle Regierungen, ob links oder rechts, auf sie niedergehen lassen, so ist sie doch nicht resigniert; sie hat in den letzten Monaten nicht einfach untätig zugeschaut. Vielmehr tauchen fundamentale Merkmale des Klassenkampfes, die bestimmte Arbeitermobilisierungen seit 2003 gekennzeichnet haben, in einer expliziteren Weise wieder auf. Dies betrifft insbesondere die Arbeitersolidarität, die sich tendenziell als Grundbedürfnis des Kampfes wieder aufdrängt, nachdem sie in den 1990er Jahren so entstellt und abgewertet worden war. Heute zeigt sie sich in der Form von einzelnen Initiativen, die zwar noch sehr auf Minderheiten beschränkt, aber für die Zukunft wegweisend sind.
Im letzten Winter war in der Türkei der Kampf der Arbeiter und Arbeiterinnen von Tekel das leuchtende Beispiel für den Klassenkampf. Er vereinte türkische und kurdische Arbeiter und Arbeiterinnen (während ein nationalistischer Konflikt seit Jahren diese beiden Bevölkerungsteile spaltet), bewies einen entschlossenen Willen, den Kampf auf andere Sektoren auszuweiten, und leistete Widerstand gegen die Sabotage der Gewerkschaften.
Auch im Herzen des Kapitalismus, wo die gewerkschaftliche Kontrolle diskreter auftritt und noch stärker ist als in den peripheren Ländern und es schafft, so große Ausbrüche von Kämpfen zu verhindern, gewinnt die Arbeiterklasse ihre Kampfbereitschaft zurück. Anfang Februar zeigten sich in Vigo/Spanien dieselben Merkmale. Da suchten die Arbeitslosen die aktiven Arbeiter der Schiffswerften auf, und gemeinsam demonstrierten sie, wobei weitere Arbeiter und Arbeiterinnen in den Kampf einbezogen wurden, bis die Arbeit im ganzen Schiffsbausektor stillstand. Was bei dieser Aktion am meisten heraus stach, war die Tatsache, dass die Initiative von entlassenen Arbeitern der Schiffswerften ergriffen wurde, die durch eingewanderte Arbeiter ersetzt worden waren, „die in Parkgaragen schlafen und von einem Sandwich am Tag leben“. Die einheimischen Arbeiter verfielen keineswegs auf fremdenfeindliche Reaktionen gegen die Arbeiter, mit denen sie die Bourgeoisie in Konkurrenz gestellt hatte, sondern solidarisierten sich mit ihnen im Kampf gegen die unmenschlichen Ausbeutungsbedingungen, die den eingewanderten Arbeitern vorbehalten sind. Solche Kundgebungen der Arbeitersolidarität sahen wir schon zuvor im Januar und Juni 2009 in Großbritannien bei den Bauarbeitern der Lindsey-Raffinerie sowie im April 2009 in Spanien auf den Schiffswerften von Sestao.[2]
In diesen Kämpfen zeigte die Arbeiterklasse - wenn auch begrenzt und erst in embryonaler Form - nicht nur ihre Kampfbereitschaft, sondern ihre Fähigkeit, den ideologischen Kampagnen der herrschenden Klasse, die auf eine Spaltung abzielen, etwas entgegenzusetzen, indem sie ihre proletarische Solidarität zum Ausdruck brachte und in ein und demselben Kampf verschiedene Berufssparten, Branchen, Ethnien oder Nationalitäten vereinte. In ähnlicher Weise ließ schon im Dezember 2008 die Revolte der jungen Proletarier in Griechenland, die sich in Vollversammlungen organisierten und die Unterstützung der Bevölkerung erhielten, die herrschenden Klasse fürchten, das Beispiel könne andere europäische Länder „anstecken“, insbesondere die junge Generation an den Schulen. Heute sind die Augen der Bourgeoisie nicht zufälligerweise wieder auf die Reaktionen der Arbeiter und Arbeiterinnen in Griechenland gegenüber den Sparprogrammen der Regierung und der anderen Staaten der Europäischen Union gerichtet. Diese Reaktionen sind ein Testfall für die anderen Staaten, die vor dem Bankrott ihrer nationalen Wirtschaft stehen. So hat den auch die fast gleichzeitige Ankündigung von ähnlichen Sparprogrammen Zehntausende von Proletariern in Spanien und Portugal zu Demonstrationen bewegt. Trotz der Schwierigkeiten, vor denen der Klassenkampf steht, findet eine Änderung in der Geisteshaltung der Arbeiterklasse statt. Überall auf der Welt vertiefen und verallgemeinern sich die Verzweiflung und die Wut in den Reihen der Arbeiter und Arbeiterinnen.
Die Regierung hat am 3. März einen neuen Sparkurs angekündigt, den dritten in drei Monaten, mit einem Anstieg der Konsumsteuern, einer Reduzierung des 13. Monatslohns um 30% und einer solchen von 60% des 14. Monatslohns, welches Lohnbestandteile der Beamten sind (d.h. ein Rückgang von 12 bis 30% ihrer Löhne im Durchschnitt), und einer Einfrierung der Renten von Beamten und Beschäftigten aus der Privatwirtschaft. Doch der Plan wird in der Bevölkerung schlecht aufgenommen, insbesondere bei den Arbeitern und Rentnern.
Im November/Dezember 2008 wurde das Land während mehr als einem Monat von einer sozialen Explosion erschüttert, die vor allem von der proletarischen Jugend angeführt wurde und die Reaktion auf die Ermordung eines Jugendlichen durch die Polizei war. Die für das laufende Jahr angekündigten Maßnahmen der sozialistischen Regierung drohten eine soziale Explosion nicht nur bei den Studenten und Arbeitslosen auszulösen, sondern auch bei den führenden Bataillonen der Arbeiterklasse.
Ein Generalstreik am 24. Februar 2010 gegen die Sparpolitik wurde weithin befolgt, und die Mobilisierung von Regierungsbeamten brachte rund 40’000 Demonstranten zusammen. Eine große Anzahl von Pensionierten und Beamten demonstrierten auch am 3. März im Zentrum von Athen.
Die Ereignisse, die folgten, zeigten noch deutlicher, dass das Proletariat mobilisiert wurde: „Nur wenige Stunden nach der Ankündigung der neuen Maßnahmen griffen die entlassenen Arbeiter der Olympic Airways die Sondereinheiten der Polizei an; die Arbeiter besetzten den Hauptsitz des Unternehmens, wobei sie erklärten, dass die Besetzung für eine unbestimmte Zeit sei. Die Haupteinkaufsstraße von Athen war für einige Stunden blockiert." (Blog auf libcom.org)
In den Tagen vor dem Generalstreik am 11. März gab es eine Reihe von Streiks und Besetzungen: Entlassene Arbeiter von Olympic Airways besetzten während 8 Tagen die Buchhaltungsbüros, während die Mitarbeiter der Elektrizitätswerke die Arbeitsämter im Namen der „zukünftigen Arbeitslosen, die wir sind“ besetzten. Die Arbeiter der staatlichen Druckerei besetzten ihren Arbeitsplatz und weigerten sich, die gesetzlichen Maßnahmen zur Kosteneinsparung zu drucken, wobei sie sich gleichzeitig darauf beriefen, dass das Gesetz, solange es nicht gedruckt ist, keine Gültigkeit habe. Die Angestellten des Steueramtes legten ihre Arbeit für 48 Stunden nieder, die Arbeiter der Fahrschulen im Norden streikten drei Tage, und selbst Richter und andere Justizbeamte machten jeden Tag während vier Stunden Pause. Während einigen Tagen funktionierte in Athen, Patras und Thessaloniki die Müllabfuhr nicht. In der Stadt Komitini kämpften die Arbeiter der Textilfirma ENKLO mit Protesten und Streiks: Zwei Banken wurden von den Arbeitern besetzt.
Doch auch wenn die Arbeiterklasse in Griechenland heute breiter mobilisiert ist als während der Kämpfe im November/Dezember 2008, ist die Bourgeoisie jetzt besser vorbereitet, um mit ihren Gewerkschaften die Antworten der Arbeiterklasse zu sabotieren.
Tatsächlich konnte sich die Bourgeoisie wappnen und die Wut und Kampfbereitschaft der Arbeiter in politische und ideologische Sackgassen lenken. Dank dieser Sackgassen verpuffte das ganze Potenzial der Selbstorganisierung der Kämpfe und der proletarischen Solidarität, das im Kampf der jüngeren Generation Ende 2008 begonnen hatte, folgenlos.
Die patriotische und nationalistische Propaganda wird in breitem Stil eingesetzt, um die Arbeiter voneinander zu trennen und sie von ihren Klassenbrüdern und -schwestern in den anderen Ländern zu isolieren: In Griechenland wird vor allem betont, dass die deutsche Bourgeoisie sich weigere, der griechischen Wirtschaft unter die Arme zu greifen, und die PASOK-Regierung greift hemmungslos auf die alten anti-deutschen Gefühle aus der Zeit der Nazi-Besatzung zurück.
Die Kontrolle durch die Parteien und Gewerkschaften schaffte es, die Arbeiter voneinander zu isolieren. So verwehrten die Angestellten von Olympic Airways jedem Betriebsfremden den Zugang zum von ihnen besetzten Gebäude. Die Gewerkschaftsführer ließen das Gebäude ohne jeden Beschluss einer Vollversammlung räumen. Als andere Angestellte in die Räumlichkeiten des Finanzministeriums gehen wollten, die von den Arbeitern der staatlichen Druckerei besetzt waren, wurden sie unter dem Vorwand weggeschickt, sie seien „nicht Angehörige des Ministeriums“!
Die große Wut der Arbeiter in Griechenland richtete sich gegen die PASOK und Gewerkschaftsführer in ihrem Dienst. Am 5. März wurde der Führer der Gewerkschaft GSEE, der Gewerkschaftszentrale für den privaten Sektor, misshandelt und geschlagen, als er versuchte, zur Menge zu sprechen; er musste von der Polizei beschützt werden. Er flüchtete in das Parlamentsgebäude unter dem Spott der Menge, die ihm zurief, er solle dorthin gehen, wo er hingehöre, nämlich in das Nest der Diebe, Mörder und Lügner.
Aber die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) und deren gewerkschaftlicher Apparat, der PAME, präsentieren sich als „radikale“ Alternative zur PASOK. Sie führen eine Kampagne, um die Verantwortung der Krise auf die Banker und das „Übel des Liberalismus“ abzuschieben.
Im November/Dezember 2008 war die Bewegung weitgehend spontan und hielt Vollversammlungen in besetzten Schulen und Universitäten ab. Die Hauptsitze selbst der Kommunistischen Partei (KKE) und der Gewerkschaftszentrale PAME wurden besetzt, was ein deutliches Zeichen des Misstrauens gegenüber den Gewerkschaften und den Stalinisten war, welche die jungen Demonstranten einerseits als Lumpenproletarier, andererseits als verwöhnte Kinder der Bourgeoisie verhöhnten.
Aber dieses Mal hat sich die Kommunistische Partei Griechenlands offen an die Spitze der radikalsten Streiks, Demonstrationen und Besetzungen gestellt. „Am Morgen des 5. März haben in der Gewerkschaft PAME organisierte Arbeiter, die mit der Kommunistischen Partei verbunden ist, das Finanzministerium besetzt (...) sowie die Stadtverwaltung des Bezirks Trikala. Später hat die PAME auch vier TV-Sender in der Stadt Patras und den staatlichen Fernsehsender in Thessaloniki besetzen lassen, wobei die Nachrichtensprecher gezwungen worden sind, eine Erklärung gegen die staatlichen Maßnahmen zu verlesen“[3]. Viele Streiks wurden auch auf Initiative der KP ausgelöst, die vom 3. März an zu einem „Generalstreik“ und für den 5. zur Demonstration aufrief, vom 4. an in verschiedenen Städten. Die PAME verstärkte die spektakulären Aktionen z.B. mit der Besetzung des Finanzministeriums und der lokalen Börsen.
Am 11. März wurde ganz Griechenland während 24 Stunden zu 90% gelähmt durch die Bewegung der Bevölkerung und deren Zorn, die dem zweiten Aufruf in weniger als einem Monat der beiden größten Gewerkschaften zum Generalstreik folgte. Insgesamt nahmen mehr als 3 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 11 Millionen) teil. Die Demonstration am 11. März war in Athen die größte seit 15 Jahren und zeigte die Entschlossenheit der Arbeiterklasse, der kapitalistischen Offensive etwas entgegenzustellen.
In allen Regionen der Welt, in Algerien, Russland, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo die eingewanderten Arbeiter maßlos und ohne jeglichen sozialen Schutz ausgebeutet werden, beim englischen Proletariat und bei den Studenten im ehemals reichsten Bundesstaat der USA, in Kalifornien, deren Bedingungen auf ein prekäres Niveau hinuntergedrückt wird, spiegelt die derzeitige Lage einen Trend in Richtung der Wiederaufnahme des Klassenkampfes auf internationaler Ebene wieder.
Die Bourgeoisie ist mit einer Situation konfrontiert, in der es nicht nur zusätzliche Entlassungen in bedrohten Unternehmen gibt, sondern die Staaten die Arbeiterklasse frontal angreifen müssen, um die Kosten der Schulden irgendwie abzuwälzen. In diesem Fall ist der direkt Verantwortliche für die Angriffe – der Staat – wesentlich einfacher auszumachen als im Falle der Entlassungen, wo der Staat sich mitunter sogar als „Beschützers“ der Arbeiter ausgeben kann, wenn auch nur als schwacher. Die Tatsache, dass der Staat nun als das auftritt, was er ist, nämlich als Intereressenvertreter der ganzen kapitalistischen Klasse gegen die gesamte Arbeiterklasse, ist ein Faktor, der die Entwicklung des Klassenkampfes, seine Politisierung und Einheit begünstigt.
Alle Elemente, die sich in der aktuellen Situation entwickeln, sind die Zutaten für eine Explosion massiver Kämpfe. Aber der Zünder dafür wird sicherlich die Anhäufung von Verzweiflung und Empörung sein. Die Umsetzung der verschiedenen geplanten Sparmaßnahmen durch die Bourgeoisie in verschiedenen Ländern wird Gelegenheit für ebenso viele Kampfexperimente und Lehren für die Arbeiterklasse bieten.
Der Zusammenbruch des Stalinismus, und vor allem ihre ideologische Ausbeutung durch die Bourgeoisie mit der größten Lüge des Jahrhunderts, mit der die stalinistischen Regime mit dem Sozialismus gleichgesetzt wurden, hinterlassen ihre Spuren bis heute in der Arbeiterklasse.
Angesichts der schlagenden „Beweise“ der Bourgeoisie – „der Kommunismus funktioniert nicht; der Beweis dafür ist, dass ihn die davon betroffenen Menschen zugunsten des Kapitalismus aufgegeben haben“ – konnten sich die Arbeiter vom Projekt einer alternativen Gesellschaft zum Kapitalismus nur abwenden.
Die Situation ist in dieser Hinsicht im Vergleich zu 1968 sehr verschieden. Damals zeigte der massive Charakter der Arbeiterkämpfe, vor allem mit dem Streik im Mai 1968 in Frankreich und dem "heißen Herbst" 1969 in Italien, dass die Arbeiterklasse eine führende Kraft im Leben der Gesellschaft sein kann. Die Idee, sie könnte eines Tages den Kapitalismus stürzen, stammte nicht aus dem Reich der Träume, sie schien ganz anders als heute realisierbar.
Die Schwierigkeiten des Proletariats, massenhaft in den Kampf zu treten, die sich seit den 1990er Jahren zeigen, sind die Folge eines Mangels an Selbstvertrauen, das selbst durch das Auftreten großer Kämpfe seit 2003 noch nicht wiederhergestellt ist.
Nur durch die Entwicklung der Massenkämpfe wird das Proletariat wieder Vertrauen in die eigenen Kräfte gewinnen und seine eigene Perspektive in den Vordergrund zu stellen. Wir befinden uns daher in einer grundlegenden Phase, in der die Revolutionäre auf die Fähigkeit der Arbeiterklasse bauen sollten, die historische Dimension ihrer Kämpfe zu verstehen, ihre Feinde zu erkennen und die Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen.
So wichtig diese nächste Stufe des Klassenkampfes ist, bedeutet sie noch nicht zwangsläufig das Ende des Zögerns des Proletariats, sich entschlossen für die Fahrt zur Revolution einzuschiffen.
Bereits im Jahr 1852 betonte Marx den schwierigen und gewundenen Verlauf der proletarischen Revolution im Unterschied zu dem der bürgerlichen Revolutionen, die „wie die des achtzehnten Jahrhunderts, (…) rascher von Erfolg zu Erfolg“ stürmen[4].
Dieser Unterschied zwischen Proletariat und Bourgeoisie in Zeiten der Revolution ist eine Folge der unterschiedlichen Bedingungen der bürgerlichen beziehungsweise proletarischen Revolution.
Die Ergreifung der politischen Macht durch die kapitalistische Klasse war der Endpunkt eines ganzen Prozesses der wirtschaftlichen Transformation in der feudalen Gesellschaft. In ihm wurden die alten feudalen Verhältnisse der Produktion nach und nach durch die kapitalistische Produktion verdrängt. Auf der Grundlage dieser neuen wirtschaftlichen Verhältnisse konnte die Bourgeoisie die politische Macht erobern.
Ganz anders ist der Prozess der proletarischen Revolution. Die kommunistischen Produktionsverhältnisse, die nicht Warenbeziehungen sind, können sich nicht innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln. Weil die Arbeiterklasse die ausgebeutete Klasse im Kapitalismus ist, die per Definition kein Privateigentum an Produktionsmitteln hat, kann sie nicht über wirtschaftliche Stützpunkte für die Eroberung der politischen Macht verfügen. Ihre Stärken sind ihr Bewusstsein und ihre Organisation im Kampf. Im Gegensatz zur revolutionären Bourgeoisie muss der erste Akt der kommunistischen Umgestaltung der sozialen Beziehungen aus einem bewussten und vorsätzlichen Akt bestehen: der Eroberung der politischen Macht weltweit durch das gesamte in Arbeiterräten organisierte Proletariat.
Die Ungeheuerlichkeit dieser Aufgabe kann das Proletariat natürlich zögern, an seiner eigenen Stärke zweifeln lassen. Aber es ist der einzige Weg für das Überleben der Menschheit: die Abschaffung des Kapitalismus und der Ausbeutung, und die Schaffung einer neuen Gesellschaft.
FW (31. März)
[1] Selbstverständlich hat der Bankrott eines Staates nicht die gleichen Merkmale wie derjenige eines Unternehmens: Wenn er unfähig würde, seine Schulden zurück zu bezahlen, so kann er nicht einfach den „Schlüssel abgeben“, alle Staatsangestellten entlassen und seine eigenen Strukturen auflösen (Polizei, Armee, Lehrerschaft, Verwaltung …), auch wenn in gewissen Ländern (namentlich in Russland und einigen afrikanischen Ländern) die Staatsangestellten aufgrund der Krise tatsächlich während Monaten nicht bezahlt wurden …
[2] Vgl. die folgenden Artikel auf unserer Webseite de.internationalism.org: Zu Großbritannien: „Streiks in den Erdölraffinerien und Kraftwerken: Arbeiter fangen an, den Nationalismus infrage zu stellen“; zur Türkei: „Solidarität mit dem Widerstand der Tekel-Beschäftigten gegen die Regierung und die Gewerkschaften!“; zu Vigo/Spanien: „Gemeinsame Vollversammlungen und Demonstrationen von Arbeitslosen und Beschäftigten“
[3] Nach libcom.org: http:/libcom.org/news/mass-strikes-greece-response-new-measures-04032010
[4] Aus Der achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte
Im Allgemeinen verbindet man den „Heißen Herbst in Italien“ , [1] der vor 40 Jahren stattfand, mit einer Reihe von Kämpfen, die Italien von Piemont bis Sizilien erschütterten und die für immer die sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Landes umwälzten. Aber es handelte sich nicht um ein spezifisch italienisches Phänomen. Insbesondere in Europa, aber keineswegs nur da entfaltete sich Ende der 1960er Jahre eine Reihe von Kämpfen. Auch das Bewusstsein in der Arbeiterklasse wandelte sich. Beide zusammen ließen deutlich werden, dass sich etwas verändert hatte: die Arbeiterklasse war wieder gesellschaftlich in Erscheinung getreten. Nach den langen Jahren der Konterrevolution, welcher die Arbeiterklasse durch die Niederlage der 1920er Jahre, den Zweiten Weltkrieg und die konterrevolutionären Aktivitäten des Stalinismus unterworfen worden war, nahm sie ihren historischen Kampf gegen die Kapitalistenklasse wieder auf. Der „Französische Mai“ 1968 ”[2], die Streiks in Polen 1970 [3], die Kämpfe in Argentinien von 1969 -1973 [4] bilden zusammen mit dem Heißen Herbst in Italien die wichtigsten Momente dieser neuen Dynamik, die jedes Land erreichte, weil dadurch ein neuer Zeitraum sozialer Konfrontationen eröffnet wurde, welcher ungeachtet seiner Höhen und Tiefen bis heute anhält.
Im Allgemeinen verbindet man den „Heißen Herbst in Italien“ , [1] der vor 40 Jahren stattfand, mit einer Reihe von Kämpfen, die Italien von Piemont bis Sizilien erschütterten und die für immer die sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Landes umwälzten. Aber es handelte sich nicht um ein spezifisch italienisches Phänomen. Insbesondere in Europa, aber keineswegs nur da entfaltete sich Ende der 1960er Jahre eine Reihe von Kämpfen. Auch das Bewusstsein in der Arbeiterklasse wandelte sich. Beide zusammen ließen deutlich werden, dass sich etwas verändert hatte: die Arbeiterklasse war wieder gesellschaftlich in Erscheinung getreten. Nach den langen Jahren der Konterrevolution, welcher die Arbeiterklasse durch die Niederlage der 1920er Jahre, den Zweiten Weltkrieg und die konterrevolutionären Aktivitäten des Stalinismus unterworfen worden war, nahm sie ihren historischen Kampf gegen die Kapitalistenklasse wieder auf. Der „Französische Mai“ 1968 ”[2], die Streiks in Polen 1970 [3], die Kämpfe in Argentinien von 1969 -1973 [4] bilden zusammen mit dem Heißen Herbst in Italien die wichtigsten Momente dieser neuen Dynamik, die jedes Land erreichte, weil dadurch ein neuer Zeitraum sozialer Konfrontationen eröffnet wurde, welcher ungeachtet seiner Höhen und Tiefen bis heute anhält.
Durch die Erfahrung des Mai 68 in Frankreich „wach gerüttelt“, wurde die italienische Bourgeoisie im Gegensatz zur französischen nicht überrascht, als die Kämpfe 1969 ausbrachen, obgleich dies nicht bedeutete, dass die herrschende Klasse manchmal nicht von den Ereignissen überrollt wurde. Diese Kämpfe brachen nicht aus wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Tatsächlich gab es auf internationaler wie auf nationaler Ebene eine Reihe von Faktoren, welche durch ihr Zusammenwirken eine neue Atmosphäre in der Arbeiterklasse in Italien hervorriefen, insbesondere unter der jungen Generation.
International wurde eine bedeutende Zahl von jungen Leuten durch eine Reihe von Faktoren sensibilisiert. Dazu gehörten insbesondere:
- Der Vietnamkrieg [5], der als ein Kampf zwischen David – Vietnam – und Goliath – den USA erschien. Empört über die furchtbaren Massaker mit Napalm-Einsatz und die Gewalt, die von der amerikanischen Armee gegen die einheimische Bevölkerung angewandt wurde, gingen viele so weit, sich mit dem Widerstand der Vietcong zu identifizieren und das „arme, kleine Vietnam“ gegen den mächtigen US-„Imperialismus“ zu unterstützen[6];
- Der epische Che Guevara [7], der als für die Befreiung der Menschheit kämpfende Held auftritt und nach seiner Ermordung durch die bolivianische Armee und Spezialtrupps der CIA im Oktober 1967, noch mehr verehrt wurde.
- Die Fallen der palästinensischen Guerilla [8], insbesondere George Habaschs FPLP, die auf dem Hintergrund der feindseligen Reaktionen gegenüber dem Sechstagekrieg aufblühten, der 1967 von Israel gegen Ägypten, Syrien und Jordanien geführt und gewonnen wurde.
- Ein internationales Echo des „chinesischen Kommunismus“, der als der Vertreter des wirklichen Kommunismus im Gegensatz zum bürokratisierten „Sowjetkommunismus“ dargestellt wurde. Insbesondere die „Kulturrevolution“ [9], die von Mao Tse-tung zwischen 1966-69 durchgeführt wurde, wurde als ein Kampf um die Rückkehr zum orthodoxen „marxistisch-leninistischen Denken“ präsentiert.
- Einige dieser Aspekte stehen nicht einmal in entferntester Beziehung zum Kampf der Arbeiterklasse mit dem Ziel der Überwindung des Kapitalismus. Der Horror und das Leiden, das die vietnamesische Bevölkerung während des Krieges erleiden musste, waren eine Folge der imperialistischen Interessensgegensätze zwischen den beiden rivalisierenden Blöcken, die damals die Welt unter sich aufgeteilt hatten. Der Widerstand seitens Guerillabewegungen, z.B. der palästinensischen oder Guevara-Bewegungen, waren lediglich ein Moment des Todeskampfes zwischen diesen beiden Blöcken um die Vorherrschaft über andere Gebiete der Erde. Und was den „Kommunismus“ in China betrifft, war dieser ebenso kapitalistisch wie der in der damals bestehenden UdSSR, und die sogenannte „Kulturrevolution“ war nichts anderes als ein Machtkampf zwischen Maos Fraktion und der Deng Tsiaopings und Lia Shaoshis.
- Aber all diese Ereignisse spiegeln das schreckliche Leiden der Menschheit wider, welches unter vielen Leuten eine abgrundtiefe Abscheu der kriegerischen Gewalt und ein Gefühl der Solidarität mit den Opfern dieser Gewalt hervorriefen.
Und der Maoismus, der keinesfalls eine Lösung für die Übel des Kapitalismus brachte und eher eine Falle für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse war, verstärkte seinerseits die internationale Herausforderung des "Realsozialismus" in Russland.
- Auf diesem Hintergrund hatte der explosive Ausbruch der Arbeiter- und Studentenkämpfe des „französischen Mai“ solch ein großes internationales Echo, dass diese zu einem Bezugspunkt und einer Ermunterung für die Jugend und die Arbeiter auf der ganzen Welt wurden. Der Mai 68 sollte bald verdeutlichen, dass man nicht nur kämpfen, sondern auch gewinnen kann. Aber der Mai 68, zumindest hinsichtlich der Studentenkämpfe, wurde von anderen Bewegungen vorbereitet, wie die der „Kritischen Universität“ [10] in Deutschland und der Bildung des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), oder in Holland mit den Provos, oder wiederum in den USA mit der Gründung der Black Panther Party. Es handelte sich um eine Zeit, als nahezu alles, was irgendwo auf der Welt passierte, ein Echo in allen anderen Ländern hatte, weil es überall eine große Aufnahmebereitschaft gab, insbesondere unter der jungen Generation von Arbeitern und Studenten, die zu den Hauptakteuren des „Heißen Herbstes“ werden sollten. Die herrschende Angst und das Nachdenken inspirierten charismatische Persönlichkeiten der Welt des Showbusiness wie Bob Dylan, Joan Baez, Jimmy Hendrix und andere, deren Lieder sowohl die Forderungen der Leute und gesellschaftlich unterdrückter Schichten aufgriffen und unter einer langen historischen Ausbeutung litten (wie die Schwarzen in den USA) wie auch die Schrecken des Krieges anprangerten (wie die des Vietnamkrieges) und somit den Wunsch der Befreiung zum Ausdruck brachten.
Politisierung in Italien
- Wie zuvor in Frankreich ermöglichte auch in Italien die Abschwächung der bleiernen Glocke, als welcher der Stalinismus jahrelang in der Zeit der Konterrevolution gewirkt hatte, eine politische Reifung. Dies stellte den Nährboden für das Auftauchen von verschiedenen Minderheiten dar, die sich auf die Suche nach Klärung begaben. Das Auftauchen einer neuen Generation von Proletariern äußerte sich durch eine größere Kampfbereitschaft, die neue Kampfeigenschaften hervorbrachte und zu Zusammenstößen auf den Straßen führte, die die Arbeiterklasse prägen sollten.
Anfang der 1960er Jahre, noch inmitten der Konterrevolution, versuchten kleine Gruppen von Leuten, die gegenüber dem Stalinismus kritisch eingestellt waren, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mittel wieder „bei Null anzufangen“. Damals verfügte die PCI (Italienische Kommunistische Partei), die genau wie die anderen KPs auf der Welt zur Konterrevolution übergewechselt und stalinistisch geworden war, über eine umfangreiche Basis an Mitgliedern und Sympathisanten, was sie zum Teil dem Glorienschein der alten, 1921 von Bordiga gegründeten revolutionären Partei verdankte. Die ca. zwei Jahrzehnte dauernde Herrschaft des Faschismus in Italien und das Verschwinden der „demokratischen“ Parteien haben der PCI mehr als anderen Parteien dabei geholfen, zu vermeiden, als wahrer Klassenfeind des Proletariats von den großen Arbeitermassen entblößt zu werden. Aber schon in den 1950er Jahren und mehr noch in den 1960er Jahren tauchten innerhalb der PCI Minderheiten auf, die zu den echten Klassenpositionen zurückkehren wollten. Man stieß vor allem wieder auf Marx, während Lenin damals weniger gelesen wurde. Auch Rosa Luxemburg wurde entdeckt.
Damals sollte die Erfahrung der Quaderni Rossi, eine innerhalb der PCI aktive Gruppe, zu einem Bezugspunkt werden. Sie war um Raniero Panzieri entstanden und veröffentlichte in der Zeit ihres Bestehens zwischen 1961-66 nur sechs Ausgaben einer Zeitschrift, die aber bei dem theoretischen Nachdenken der Linken in Italien eine gewaltige Rolle spielen sollte. Die Wurzeln der Strömung des Operaismus, auf den wir später näher eingehen werden, sind in dieser Gruppe zu finden. Die beiden Hauptgruppen des Operaismus in Italien, Potere Operaio und Lotta Continua, stammen aus diesem Umfeld. Bei den Quaderni Rossi wurde „Das Kapital“ von Marx „neu gelesen“; man befasste sich mit den „Grundrissen“ und fing an die neue Zusammensetzung der Arbeiterklasse zu untersuchen. „(…) Quaderni Rossi, die Zeitschrift Raniero Panzieris, Vittorio Foas, Mario Trontis und Alberto Asor Rosas, stand zwischen 1961-66 an der Spitze der politischen Intuition, die sich im Mittelpunkt der politischen Linie Lotta Continuas befand. Die Revolution wird nicht aus den Wahlurnen oder den Parteien hervorgehen (…); es geht um die freie Äußerung der Antagonismen zwischen Arbeitern und Ausbeutung; ein Antagonismus, der nicht durch die Betriebsabkommen und die Reformen kanalisiert werden kann, sondern eher aus den Händen der Gewerkschaftsaktivisten und der Ingenieure gerissen werden und auf die Perspektive der Kontrolle der Produktion und der globalen Umwälzung des Systems ausgerichtet sein muss ”[11].
Panzieri verfolgte das Projekt der Bündelung von verschiedenen, auch voneinander weit entfernten Tendenzen und Standpunkten, obwohl die Bedingungen für solch ein Projekt damals aufgrund der Konterrevolution noch nicht vorhanden waren. So „zog sich Anfang 1962, als gerade die Debatte über die erste Ausgabe der Zeitung begann, die Gruppe der Gewerkschaftsaktivisten zurück. Im Juli 1962 traten auch die ersten „Interventionisten“ (welche später die Zeitung „Gatto Selvaggio – Wildcat, Wilde Katze herausgaben) nach den Ereignissen des Piazza Statuo aus“. [12]
Neben der Erfahrung der Quaderni Rossi ist eine andere, wenn auch weniger wichtige politische Erfahrung in der Region Venedig, Progresso Veneto, erwähnenswert. Eine Persönlichkeit, die später sehr berühmt werden sollte, sollte die Brücke zwischen den beiden bauen – Toni Negri. Er begann seinen politischen Werdegang als Kommunalabgeordneter in Padua. Progresso Veneto, zwischen Dezember 1961 und März 1962 aktiv, war ein Ort, wo der in Venedig geprägte Operaismus entstand mit einer besonderen Verbindung zum Industriegürtel Porto Marghera. Quaderni Rossi und Progresso Veneto arbeiteten eine gewisse Zeit lang symbiotisch zusammen, bis die Gruppe aus Venedig sich im Juni 1963 zwischen Operaisten und Sozialisten, die eher der Partei treu blieben, spaltete.
Aber die wichtigste Spaltung fand 1964 innerhalb von Quaderni Rossi statt. Aus der Ursprungsgruppe traten Mario Troni, Alberto Asor Rosa, Massimo Cacciari, Rita DiLeo und andere aus, um Classe Operaia (Arbeiterklasse) zu gründen. Während Panzieri weiterhin fixiert blieb auf soziologische Untersuchungen, die keinen wirklichen Einfluss auf die Wirklichkeit hatten, zielte Classe Operaia auf eine Präsenz und einen unmittelbaren Einfluss in der Arbeiterklasse, weil man die Zeit dafür reif hielt. „Aus unserer Sicht erschien ihr Wirken als eine intellektuelle Spitzfindigkeit gegenüber dem, was wir als ein dringendes Bedürfnis ansahen, d.h. der Gewerkschaft einzutrichtern, dass diese ihre Rolle erfüllen sollte, und der Partei aufzuzeigen, wie sie die Revolution machen sollte.“ [13]
Ein Teil der Operaisten um Progresso Veneto trat Classe Operaia bei, die nunmehr von Mario Tronti geführt wurden. Zumindest anfangs beteiligten sich Negri, Cacciari und Ferrari Bravo. Aber die neue Zeitschrift stand selbst vor Schwierigkeiten: die Redaktion von Classe Operaia aus Venedig fing langsam an, sich von Rom zu distanzieren. Während die Mitglieder aus Rom sich der Mutterpartei PCI näherten, gründeten die Venezianer Potere Operaio, die anfangs als Beilage zu Classe Operaio als eine Sammlung von Flugblättern erschien. Classe Operaia fing 1965 an zusammenzubrechen; aber die letzte Ausgabe erschien noch im März 1967. Im gleichen Moment wurde Potere Operaio als eine politische Zeitschrift der Arbeiter von Porto Marghera gegründet [14].
Neben Quaderni Rossi und seinen verschiedenen Epigonen bestand in Italien ein dichtes Netz von Initiativen, die Texte verschiedenster Art herausbrachten, manchmal aus spezifisch kulturellen Bereichen wie dem Film oder Literatur, die nach und nach mehr politisches Gewicht und einen militanten Charakter erlangten. Zeitschriften wie Giovane Critica, Quaderni Piacentini, Nuovo Impegno, Quindici, Lavoro Politico sind auch Ausdrücke und Bestandteile dieser Reifung, die zu den Ereignissen der Jahre 1968-69 führten.
Die langjährige politische Arbeit vor dem „Heißen Herbst“ wird also ersichtlich. Zumindest unter einer Minderheit reiften politische Ideen heran und auch – wenn auch noch sehr beschränkt – das Erbe der Klassiker des Marxismus wurde wieder aufgegriffen. Aber man muss unterstreichen, dass die Gruppierungen, die zu den bedeutendsten politischen Strömungen in den 1970er Jahren wurden, noch sehr stark verwurzelt waren in der Politik der alten PCI, und dass sie sich zu einer Zeit vor der großen Explosion der Kämpfe von 1969 und der Studentenkämpfe von 1968 entwickelten. Die stalinistische Partei als Ausgangs- und Referenzpunkt zu nehmen, auch wenn dies negativ in Form einer Kritik an derselben geschah, stellte, wie wir sehen werden, die größte Beschränkung der Erfahrung der operaistischen Gruppen und für die Bewegung der damaligen Zeit dar.
Auf gesellschaftlicher Ebene war wahrscheinlich der entscheidende Faktor der Entwicklung der Lage das starke Wachstum der Arbeiterklasse in den Jahren des Wirtschaftswunders auf Kosten vor allem der Landbevölkerung und der peripheren Gebiete des Südens. „Zusammengefasst gesagt, stehen wir vor einer Elite von hoch qualifizierten Arbeitern, die von einer großen Mehrzahl von unqualifizierten Arbeitern umgeben sind, die mit einer hohen Arbeitsgeschwindigkeit arbeiten. Manche Arbeitsschritte dauern nur wenige Sekunden, jeweils unter einer strengen Zeitkontrolle, alles im Akkord und ohne eine Perspektive beruflichen Aufstiegs.“ [15]. Diese neue Generation Arbeiter aus dem Süden war noch nicht mit Fabrikarbeit vertraut und somit nicht ihren Zwängen unterworfen. Viele Beschäftigte waren noch sehr jung und arbeiteten zum ersten Mal. Gewerkschaften kannten sie nicht; vor allem aber hatten sie nicht unter den Niederlagen der vorausgehenden Jahrzehnte, dem Krieg, dem Faschismus, der Repression gelitten, sondern brachten nur Fragen derjenigen auf, die eine neue Welt entdeckten und sie nach ihren Vorstellungen umwandeln wollten. Diese „neue“, junge, unpolitisierte und nicht gewerkschaftlich organisierte Arbeiterklasse, die unbelastet war vom Ballast der Geschichte, sollte die Geschichte des Heißen Herbstes mit prägen.
Die Arbeiterkämpfe des Heißen Herbst zeichneten sich durch bedeutsame Vorstufen in Form von wichtigen Kämpfen Anfang der 1960er Jahre aus: die Straßenproteste im Juli 1960 und die Zusammenstöße auf dem Piazza Statuto im Juli 1962 in Turin.
Auch wenn diese beiden Episoden zeitlich weit vor 1968-69 liegen, waren sie wichtige Vorbedingungen der späteren Bewegung. Damals machte die Arbeiterklasse zum ersten Mal Erfahrung mit dem Staat.
Die Bewegungen des Juli 1960 fingen mit dem Protest gegen die Abhaltung des Kongresses der Neofaschistischen Partei in Genua an, als sich eine Reihe von Protesten in ganz Italien ausbreitete, die gewalttätig niedergeschlagen wurden. „In San Ferdinando di Puglia waren die Arbeiter zur Durchsetzung ihrer betrieblichen Forderungen in den Streik getreten, wie es auch später in ganz Italien geschah. Die Polizei griff sie gewalttätig und bewaffnet an: drei Arbeiter wurden schwer verletzt. In Licata, in der Gegend um Agrigento, kam es zu einem Generalstreik gegen die Arbeitsbedingungen. Am 5. Juli schossen Polizei und Carabinieri auf den vom Christdemokratischen Bürgermeister Castelli angeführten Protestzug. Der 25jährige Händler Vicenzo Napoli, wurde durch einen Gewehrschuss getötet. (…) Am nächsten Tag bewegte sich ein Protestmarsch auf den örtlichen Heiligenschrein von Porta San Paolo zu, der letzten Bastion der Verteidigung Roms gegen die Nazis; die Teilnehmer wurden heftig verprügelt. (…) Ein neuer Generalstreik brach aus. Darauf hin reagierte die Regierung ganz wütend und ordnete den Schusswaffengebrauch an : in Reggio Emiliale wurden am 7. Juli fünf Menschen erschossen und 22 verletzt. (…) Als erstes starb der 22jährige Lauto Ferioli. Neben ihm stark kurz danach Mario Serri, 40 Jahre, früher Partisan. Sie wurden von zwei Polizisten erschossen, die sich in Bäumen versteckt hatten. (…) Durch Maschinenpistolen starb kurz danach der 30 Jahre alte Emilio Reverber. Während die wütende Stimme eines Kommissars aufgezeichnet wurde, der lauthals schrie „schießt auf die Menge“, wurde Afro Tondelli, 35 Jahre, erschossen. Wie Photos belegen, wurde er kaltblütig durch einen Polizisten erschossen, der sich, um genauer treffen zu können, auf den Boden gekniet hatte.“ 16 [45].
Die Ordnungskräfte gingen wie wir sehen können, rücksichtslos gegen die Armen und Proletarier vor, die ihre Forderungen vortrugen. Zwei Jahre später schlug die Polizei erneut bei den Zusammenstößen auf dem Piazza Statuto in Turin blutig zu, nachdem diese Bewegung durch eine Reihe von rein ökonomischen Forderungen ausgelöst worden war. Die UIL und SIDA, die schon damals deutlich gezeigt hatten, auf wessen Seite sie standen, unterzeichneten in aller Eile mit der Geschäftsleitung von Fiat Verträge, die große Benachteiligungen der Beschäftigten mit sich brachten. „6000-7000 empörte Beschäftigte, versammelten sich, nachdem sie vom Abkommen erfahren hatten, nachmittags auf dem Piazza Statuto gegenüber dem Sitz der UIL. Zwei Tage lang kam es auf dem Platz zu heftigen Zusammenstößen zwischen den Protestierenden und der Polizei. Die Ersten schlugen Schaufenster mit Stöcken und Ketten ein, errichteten primitive Barrikaden und griffen immer wieder die Polizeikräfte an. Diese schlug wiederum gewalttätig zurück; der Platz wurde mit Tränengas ‚überflutet‘, mit Gewehrkolben prügelte man auf die Demonstranten ein. Die Zusammenstöße zogen sich bis spät abends hin, sowohl am Samstag, den 7. Juli wie auch am Montag, den 9. Juli 1962. Die Führer der PCI und der CDIL, darunter Pajetta und Garavini, versuchten vergeblich die Demonstranten dazu zu bewegen, sich zu zerstreuen. Tausend Demonstranten wurden verhaftet und mehrere von ihnen verurteilt. Der größte Teil von ihnen waren junge Arbeiter, die meisten stammten aus dem Süden.“ 17 [45].
Dario Lanzardo (18 [45]) hat einen klaren Bericht dieser Tage erstellt, dabei offizielle Zeugenaussagen zu den sinnlosen Gewalttätigkeiten der Polizei und der Carabinieri gesammelt, die sich nicht nur gegen die Demonstranten richteten, sondern auch gegen Personen, die sich zufälligerweise in der Nähe des Piazza Statuto befanden. Wenn man all die Massaker durch die Ordnungskräfte seit dem Ende des Krieges bis zum Heißen Herbst gegen die Proteste der kämpfenden Arbeiter berücksichtigt, kann man deutlich den Unterschied erkennen zwischen der finsteren Zeit der Konterrevolution – während der die Bourgeoisie vollkommen freie Hand hatte, um gegen die Arbeiterklasse vorzugehen, wie sie wollte – und der Phase des Wiedererstarkens der Kämpfe, während der es für die Herrschenden ratsamer war, zunächst die Waffe der ideologischen Verschleierung und die Sabotage durch die Gewerkschaften einzusetzen. Mit dem Heißen Herbst, der als ein Ausdruck des national und international wiedererstarkenden Klassenkampfes angesehen werden kann, änderte sich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen sowohl im Lande als auch international. Dies und nicht irgendwie eine angebliche Demokratisierung der Institutionen ist der Schlüssel zum Begreifen der neuen historischen Phase, die Anfang der 1960er Jahre einsetzte. Aus dieser Sicht verdeutlicht die Position der PCI zu den Zusammenstößen haargenau die bürgerliche politische Position dieser Partei, die sie seit mindestens vier Jahrzehnten vertrat: „…L’Unità vom 9. Juli bezeichnete die Revolte als „Versuche der Provokation durch Hooligans“ und die Demonstranten als „unkontrollierte und verzweifelte Leute“, als „kleine Gruppe von Unverantwortlichen“, „junge Gangster“ und „Anarchisten, Internationalisten“ 19 [45].
Vom Heißen Herbst zu sprechen ist eher zu eng betrachtet, wenn man eine historische Episode betrachtet, deren Wurzeln wie eben gesehen lokal und international schon seit Jahren gewachsen waren. Die Bewegung hat ja auch nicht nur eine Jahreszeit gedauert, wie z.B. im französischen Mai 1968, sondern sie dauerte auf hohem Niveau von 1968-1969 mindestens zwei Jahre, mit Ausläufern, die bis Ende 1973 zu spüren waren.
Während dieser beiden Jahre und selbst danach war die proletarische Bewegung zutiefst geprägt von der Explosion der Studentenproteste 1968 in Italien. Deshalb müssen wir auf jede Episode zurückkommen, um deren schrittweise und beeindruckende Entwicklung zu verfolgen, die Reifung des Klassenkampfes, der damals in Italien wieder auf die Bühne der Geschichte trat.
In den Schulen und vor allem den Universitäten waren die Zeichen der sich ändernden historischen Phase auffällig. Der Wirtschaftsboom, der sich in Italien wie auch in anderen Ländern der Welt nach dem 2. Weltkrieg entwickelt hatte, hatte den Lebensstandard der Arbeiterfamilien verbessert und die Beschäftigtenzahl stark ansteigen lassen. Jugendliche aus den weniger begünstigten Sozialschichten erhielten nun Zugang zu den Universitäten, um sich beruflich und kulturell besser zu bilden, was ihnen einen gesellschaftlichen Aufstieg im Vergleich zu ihren Eltern erlaubte. Aber dieser Zustrom von benachteiligten sozialen Schichten in die Universität bewirkte nicht nur eine Umwälzung der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft, sondern sie führte auch zu einer gewissen Abwertung der Universitätsabschlüsse. Denn nunmehr wurden sie nicht mehr ausgebildet, um wie früher eine Führungsrolle zu übernehmen, sondern um sich in den Produktionsprozess – auf industrieller und kommerzieller Ebene – einzugliedern, wo der Spielraum für die Initiative des Einzelnen immer eingeschränkter wurde.
Dieser sozialkulturelle Rahmen liefert zumindest zum Teil eine Erklärung für die Jugendbewegung zu jener Zeit: eine Infragestellung der Dogmenlehren, die von einer Kaste von Universitätsmandarinen mit mittelalterlichen Methoden beherrscht wurde, der Meritokratie, der gesellschaftlichen Zersplitterung, und eine Kritik der als vergreisend angesehenen und auf sich selbst zurückgezogenen Gesellschaft.
Die Studentenproteste fingen schon im Februar 1967 mit der Besetzung des Campana-Palastes in Turin an, wo sich die Bewegung schrittweise auf andere Universitäten ausgedehnt hatte, z.B. die Uni Pisa, die Soziologische Fakultät Trient, die katholische Fakultät Mailand, um schließlich den Süden zu erfassen. Die Bewegung dauerte monatelang fort, bis sie schließlich 1968 explodierte. Damals gab es noch nicht die Gruppen, die später in den 1970er Jahren viel Gehör fanden. Jedoch entstanden damals die verschiedenen Strömungen unterschiedlicher politischer Couleur, die die Grundlage für die Entstehung dieser Gruppen lieferten. Zu den prägendsten gehörte damals die Erfahrung in Pisa, wo eine größere Gruppe von Leuten aktiv war, die eine Zeitung "Il Potere Operaio" veröffentlichte (genannt Pisa, um sie nicht mit der anderen zu verwechseln, die aus Classe Operaia hervorgegangen war). Il Potere Operaia war in Wirklichkeit eine Arbeiterzeitung, da sie als eine Fabrikzeitung bei Olivetti Ivrea veröffentlicht wurde. Die Gruppe aus Pisa, zu denen die später berühmtesten Führer der damaligen Zeit gehörten, hob sich durch ihren Bezug auf die Arbeiterklasse und die Intervention in ihren Reihen hervor. Im Allgemeinen gab es in der ganzen damaligen Studentenbewegung die Tendenz, sich der Arbeiterklasse zuzuwenden und sie zu ihrem Hauptbezugspunkt und zum idealen Partner zu machen, auch wenn dies mit unterschiedlicher Betonung in der Studentenbewegung der damalaigen Zeit geschah. Die Studentenproteste dehnten sich auf die meisten Städte aus. Oft zogen Delegationen von Studenten regelmäßig vor die Fabriken, um dort Flugblätter zu verteilen, und um allgemein ein Bündnis mit der Welt der Arbeit herzustellen, die mehr und mehr als die Welt anerkannt wurde, der man zugehörte. Diese Identifizierung der Studenten als ein Teil der Arbeiterklasse wurde damals gar von einigen Leuten der stärker operaistischen Bewegung theoretisiert.
Wie gesagt war 1968 auch ein Auftakt für wichtige Arbeiterkämpfe in Italien: "Im Frühjahr 1968 flammte in ganz Italien eine Reihe von Kämpfen in den Betrieben auf, die sich alle um Lohnforderungen für alle Beschäftigten drehten, welche die "mageren" Abschlüsse des Jahres 1966 ausgleichen sollten. Zu den ersten Betrieben, die in Bewegung gerieten, gehörten Fiat, wo die Arbeiter in den wichtigsten Kampf seit 14 Jahren eintraten, und Mailand, wo bei Borletti, Ercole Marelli, Magneti Marelli, Philips, Sit SIEMENS, Innocenti, Autelco, Triplex, Brollo, Raimondi, Mezzera, Rhodex, Siae Microelettronica, Seci, Ferrotubli, Elettrocondutture, Autobianchi, AMF, Fachini, Tagliaferri, Termokimik, Minerva, Amsco und zwanzig anderen kleinen Betrieben Kämpfe ausbrachen. (…) Anfangs wurde der Kampf von den alten Aktivisten und den von Außen kommenden Gewerkschaftern geführt, somit eher ziemlich autoritär geleitet, aber nach einem Monat hatten sich junge Arbeiter durchgesetzt, die "die Gewerkschafter und die Mitglieder der CI .[20] hinsichtlich der Art und Weise, wie sie den Kampf führten und hinsichtlich der verschiedenen Schritte heftig kritisierten". Dadurch ändert sich die Form der Mobilisierung qualitativ. Sehr entschlossene Streikposten wurden gebildet, Umzüge innerhalb der Werke abgehalten, um die anderen Beschäftigten zum Streik aufzufordern. Einmal haben diese Arbeiter spontan einen Streik um mehrere Stunden verlängert; dadurch wurden die Gewerkschaften gezwungen, ihn zu unterstützen. Dieser frische Wind, der von der Jugend ausging, ermöglichte eine massive Beteiligung am Kampf. Die Zahl der Streikstunden stieg immer mehr. In ganz Sesto San Giovanni kam es zu immer mehr Demonstrationen. Dabei wurde die Eingangstür des Hauptsitzes der Firma aufgestoßen. Die Streiks gingen weiter, obwohl die Assolombarda als Vorbedingung für den Beginn von Verhandlungen das Ende der Streiks forderte: Alle Arbeiter beteiligten sich am Streik, wogegen kaum ein Angestellter teilnahm." 21 [45]
Von da an zog die Bewegung weiter an: "Die Bilanz von 1969 bei Fiat gleicht einer Kriegsberichterstattung: 20 Millionen Streikstunden, der Verlust von 227.000 nichtproduzierten PKW, ein Verkaufsanstieg von 37% an ausländischen PKW." 22 [45]
Mit den Kämpfen des Heißen Herbstes ändert sich das Kräfteverhältnis in den Betrieben grundlegend. Die ausgebeuteten und durch die Arbeitsrhythmen, Kontrollen, ständigen Sanktionen gedemütigten Arbeiter gerieten in einen alltäglichen Konflikt mit den Arbeitgebern. Schnell kommt es zu einer Verweigerung der Arbeit, was darauf hinausläuft, sich der Strategie der Betriebe zu unterwerfen, und die eigenen Interessen als Lohnabhängige entschlossen zu verteidigen. Daraus entstand eine neue Streiktaktik, die darauf hinausläuft, durch eine möglichst geringe Zahl von Streikenden einen größtmöglichen Schaden für die Arbeitgeber hervorzurufen. Es kam zu wilden Streiks, an denen sich nur wenige Arbeiter beteiligten, von denen aber der komplette Produktionskreislauf abhing. Indem die Streikenden sich gegenseitig abwechselten, gelang es, Betriebe mit möglichsten geringen Kosten für die Arbeiter zu blockieren.
Ein anderer Ausdruck des geänderten Kräfteverhältnisses zwischen der Arbeiterklasse und den Arbeitgebern war die Erfahrung der Umzüge innerhalb der Betriebe. Anfangs fanden diese Kundgebungen innerhalb der Gänge und der Wege auf dem Fiat-Werksgelände und in anderen Großbetrieben statt, um ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Später wurden sie zu Mitteln, um die zögernden Beschäftigten, insbesondere die Angestellten, davon zu überzeugen, sich dem Streik anzuschließen. "Die Umzüge innerhalb der Werke zogen immer zu den Karosserieabteilungen, oft zu den Lackierabteilungen. Sobald man hörte, dass irgendeine Abteilung die Arbeit aufgenommen habe, oder dass man nicht-Streikende im Büro 16, dem Frauenbüro, zusammengezogen habe, haben wir uns alle gesammelt und sind dorthin gezogen. Wir haben alle Leute mitgeschleppt. Bei Mirafiori gibt es ganz viele Gänge auf dem Gelände, und an den engen Stellen konnte niemand durch. Bald war dies nicht mehr nötig: sobald man uns sah, verlangsamten die Leute die Bandgeschwindigkeit und schlossen sich uns an." (23 [45])
Was die Vertretung der Arbeiter anging, so war für diesen Zeitraum der Slogan kennzeichnend: "Wir sind alle Delegierte", was darauf hinauslief, jegliche Vermittlung durch Gewerkschaften zu verwerfen und den Arbeitgebern direkt durch den Kampf gegenüberzutreten. Es ist wichtig, zu sehen, wie sich dieser Slogan in allen Kämpfen verbreitete und damals jahrelang den Klassenkampf prägte. Diese Erfahrung war sehr kostbar, insbesondere gegenüber den Zweifeln, die manchmal proletarische Minderheiten äußerten, die einen Kampf außerhalb der Gewerkschaften anfangen wollten, aber nicht wussten, was sie tun sollten, da sie nicht durch den Staat anerkannt wurden.
Das war nicht das Problem der Arbeiter damals im Heißen Herbst: wenn nötig kämpften und streikten sie außerhalb der Gewerkschaften und gegen deren Anweisungen. Aber sie verfolgten nicht immer ein unmittelbares Ziel. In dieser Phase war der Kampf der Arbeiter ein Ausdruck der enormen Kampfbereitschaft, eines lange unterdrückten Willens, den Einschüchterungen der Arbeitgeber entgegenzutreten. Unmittelbare Ziele waren nicht dringend erforderlich, damit dieser Wille sich äußerte; sondern der Wille selbst suchte seinen Ausdruck, schuf ein Kräfteverhältnis und änderte langsam die Geisteshaltung in der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften waren bei all dem nur vorübergehend präsent. In Wirklichkeit waren die Gewerkschaften wie die Herrschenden in diesen Jahren aufgrund des Drucks der Arbeiterkämpfe beiseite gedrängt worden. Sie machten das einzige, was sie machen konnten: Versuchen, an der Spitze der Bewegung zu bleiben, den Kopf über Wasser zu halten, der Bewegung hinterherzulaufen und von ihr nicht zu sehr überrollt zu werden. Übrigens war die heftige Reaktion der Arbeiterklasse auch ein Ausdruck einer mangelnden Verwurzelung der Gewerkschaften in der Arbeiterklasse und damit ihrer Fähigkeit, die Kampfbereitschaft der Arbeiter zu vereiteln oder zu blockieren, während ihnen das heute gelingt. Das hieß aber nicht, dass es damals ein tiefgreifendes Bewusstsein über die arbeiterfeindliche Rolle der Gewerkschaften gab. Die Arbeiter reagierten trotz der Haltung der Gewerkschaften nicht gegen sie, sondern weil es wichtige Schritte vorwärts bei der Bewusstseinsentwicklung gab, wie das Vereinigte Basiskomitee (CUB) aus Mailand zeigte: "Die Gewerkschaften sind "professionelle Verhandler", die mit den sogenannten Arbeiterparteien den Weg der Reformen eingeschlagen haben, d.h. den Weg der globalen und endgültigen Übereinstimmung mit den Arbeitgebern." 24 [45]
In den Jahren 1968-69 gab es eine Reihe von Arbeiterkämpfen und Protesten, mit Augenblicken großer Spannung wie in den Kämpfen in Syracusa, die zu den Zusammenstößen von Avola 25 [45], führten oder denen in Battipaglia, die sehr gewalttätige Zusammenstöße auslösten.26 [45]. Aber die Zusammenstöße des Corso Traiano in Turin im Juli 1969 stellten sicherlich eine historische Stufe in dieser Dynamik dar. Damals wurde eine wichtige Etappe durchschritten: das Zusammenströmen von Arbeiterbewegung und der Avantgarde der Studenten. Den Studenten, die über mehr Zeit verfügten und mobiler waren, gelang es, einen wichtigen Beitrag beim Kampf der Arbeiterklasse zu leisten, die vor allem mit der jungen Generation an ihrer Spitze sich mehr der Entfremdung bewusst wurde, und den Willen zeigte, die Lohnsklaverei in der Fabrik zu überwinden. Die Verbindung zwischen diesen beiden Welten brachte einen großen Auftrieb für die 1969 stattfindenden Kämpfe, insbesondere für die des Corso Traiano. Wir zitieren ausführlich aus einem Flugblatt einer Arbeiterversammlung in Turin, das am 5. Juli verfasst wurde, weil es nicht nur einen ausgezeichneten Eindruck von dem vermittelt, was damals stattfand, sondern auch von großer politischer Qualität ist. "Der 3. Juli war kein isolierter Augenblick oder eine unkontrollierte Explosion der Revolte. Der Tag war ein Gipfel nach 50 Tagen Kämpfen, wo viele Arbeiter zusammenkamen, den Produktionszyklus vollständig blockierten, und wo nun der höchste Punkt politischer und organisatorischer Autonomie erreicht wurde, womit die Fähigkeit der Gewerkschaften, die Kämpfe zu kontrollieren, zerstört wurde.
Nachdem sie ganz von den Kämpfen beiseite gedrängt worden waren, versuchten die Gewerkschaften den Kampf außerhalb der Fabriken umzulenken, um ihn somit wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie zu einem 24-stündigen Generalstreik mit Mietboykott aufriefen. Aber erneut konnten die Arbeiter die Initiative behalten. Symbolische Streiks, die zu einem Urlaubstag werden, und sich auf einige Umzüge hier und dazu beschränken, dienen nur den Bürokraten. Der Generalstreik wird dann zu einem Werkzeug der Arbeiter, wenn sie sich vereinigen, um die in den Fabriken geführten Kämpfe auszudehnen. Die Medien weigerten sich über die Ereignisse bei Fiat zu berichten oder verbreiteten darüber Lügen. Der Augenblick war gekommen, dieses Schweigen zu brechen, aus der Isolierung herauszutreten, allen die Erfahrung der Arbeiter der Mirafiori mitzuteilen. Hunderte Arbeiter und Studenten beschlossen in einer Versammlung einen großen Umzug am Tag des Streiks zu organisieren, der von Mirafiori aus starten würde und sich dann in die Wohnviertel der Arbeiter begeben sollte, um zu einem Zusammenschluss der Arbeiter aller Betriebe zu führen. (…) Aber das war den Bossen zu viel. Noch bevor der Umzug sich aufstellte, stürzte sich eine Reihe von Schlägern und Polizisten ohne irgendeine Warnung auf die Menge, schlug auf sie ein, verhaftete Teilnehmer, schoss mit Tränengas (...) Innerhalb kürzester Zeit wehrten sich dagegen nicht nur die Avantgarde der Studenten und Arbeiter, sondern die ganze Arbeiterbevölkerung des Stadtviertels. Barrikaden wurden errichtet, den Angriffen durch die Polizei wurde mit Angriffen gegen die Polizei geantwortet. Stundenlang dauerte die Schlacht, die Polizei war schließlich zum Rückzug gezwungen. (…)
Bei diesem Prozess wurden die Kontrolle und die Vermittlung durch die Gewerkschaften über Bord geworfen. Neben den gesteckten Teilzielen bedeutete der Kampf:
- die Verwerfung der kapitalistischen Arbeitsorganisation,
- die Verwerfung der Verknüpfung der Löhne mit den Produktionserfordernissen der Unternehmer
- die Verwerfung der Ausbeutung in und außerhalb der Betriebe.
Die Streiks, Umzüge und Betriebsversammlungen haben die Spaltungen unter den Arbeitern überwunden und die selbständige Klassenorganisierung vorangetrieben, die sich dabei die Ziele setzte:
- Immer die Initiative in den Betrieben gegenüber den Gewerkschaften zu behalten,
- Erhöhung des Grundlohns für alle um 100 Lira,
- Höhereinstufungen für alle,
- Arbeitszeitverkürzungen.
(…) Der Kampf der Beschäftigten von Fiat hat damit die Ziele der vorangegangenen Jahre noch massiver verdeutlicht, indem die Kämpfe sich auf die großen Arbeiterkonzentrationen in Italien, von Milano bis Porto Marghera, Ivrea bis Valdagno ausdehnten. Diese Ziele waren :
- eine starke Steigerung des Grundlohns für alle,
- Abschaffung der Eingruppierungen,
- Unmittelbare und drastische Kürzung der Arbeitszeit ohne Lohnverlust,
- Unmittelbare und vollständige Gleichstellung zwischen Arbeitern und Angestellten. » 27 [45]
Wie schon erwähnt wies dieses Flugblatt eine Reihe von Stärken des Heißen Herbst auf. Zunächst die Idee der Gleichheit, d.h. die Lohnerhöhungen sollten alle erhalten, unabhängig von der Lohngruppe, und keine Verknüpfung mit der Produktivität. Schließlich Verkürzung der Arbeitszeit, mehr Freizeit für die Beschäftigten, um ein wirkliches Leben nach der Arbeit zu haben, um Politik machen zu können usw. Deshalb die Forderung nach Verkürzung der Arbeitszeit und die Verwerfung der Akkordarbeit. Im gleichen Flugblatt wird berichtet, dass die Turiner Arbeiter in einer Vollversammlung nach den Zusammenstößen vom 3. Juli allen Arbeitern in Italien vorgeschlagen haben, eine neue Phase radikalerer Kämpfe einzuleiten, die den Zusammenschluss der Arbeiter anhand der von den Arbeitern selbst formulierten Forderungen vorantreibt und die ganze politische Erfahrung aus den bisherigen Kämpfen zusammenträgt.
Zu diesem Zweck wurde zu einer nationalen Versammlung der Komitees und Arbeiteravantgarden in Turin aufgerufen:
1. Um die verschiedenen Kampferfahrungen anhand der Bedeutung des Kampfes bei Fiat auszuwerten und zusammenzutragen.
2. Die Ziele der neuen Phase von Klassenauseinandersetzungen festzulegen, die ausgehend von den materiellen Bedingungen der Arbeiter, die ganze kapitalistische Gesellschaft erschüttern sollten.
Am 26./27. Juli fand im Palasport Turin eine « nationale Versammlung der Arbeiteravantgarden » statt. Arbeiter aus ganz Italien berichteten über Streiks und Demonstrationen, sprachen über und trugen Forderungen vor wie die Abschaffung der verschiedenen Lohngruppen, die Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden, (absolute und keine relativen) Lohnerhöhungen für alle und Anerkennung der Gleichstellung mit den Angestellten. « Die ganze Industrie Italiens war anwesend : in der Reihenfolge der Wortmeldungen : Mirafiori, die Petrochemie aus Marghera, Dalmine und Nuovo Pignone de Massa, Solvay aus Rossignano, Muggiano aus La Spezzia, Piaggio aus Pontedera, l’Italsider aus Piombino, Saint Gobain aus Pisa, Fatme, Autovox, Sacet und Voxon aus Rom, SNAM, Farmitalia, Sit Siemens, Alfa Romeo und Ercole Marelli aus Mailand, Ducati und Weber aus Bologna, Fiat aus Marina di Pisa, Montedison aus Ferrara, Ignis aus Varese, Necchi aus Pavia, Sir aus Porto Torres, Techniker des italienischen Fernsehens RAI aus Mailand, Galileo Oti aus Florenz, die Einheitsbasiskomitees Pirelli, das Arsenal aus La Spezzia. 28 [45].
Was man nie zuvor gesehen hatte, eine nationale Zusammenkunft der Arbeiteravantgarden aus ganz Italien. Es war ein Moment, wo sich die Arbeiterklasse behaupten konnte, der nur in einer Phase stark ansteigender Kampfbereitschaft wie im Heißen Herbst zustande kommen konnte. Die nachfolgenden Monate, die später als « Heißer Herbst » in die Geschichte eingegangen sind, verliefen nach dem gleichen Schema. Zahlreichen Kampfepisoden, von der es eine sehr interessante Photosammlung auf der Webseite von La Repubblica 29 [45] gibt, folgten einer nach der anderen. Hier ein nicht vollständiger Ausschnitt :
2/09 : Streik der Arbeiter und Angestellten von Pirelli für Produktionsprämien und das Recht auf Gewerkschaftseintritt. Bei Fiat traten die Arbeiter der Abteilung 32 und 33 in Mirafiori entgegen den gewerkschaftlichen Anweisungen in den Kampf.
4/09 : Agnelli, der Fiat-Boss setzte 30.000 Beschäftigte auf die Straße;
5/09 : der Versuch der Gewerkschaftsführung, die kämpferischsten Fiat-Beschäftigten zu isolieren, scheitert. Agnelli wurde dazu gezwungen, die Arbeiter wieder einzustellen.
6/09 : mehr als zwei Millionen Metaller, Bauarbeiter und Beschäftigte der chemischen Industrie traten für neue Tarife in den Kampf.
11/09 : nach dem Abbruch der Metalltarifverhandlungen am 8. September traten eine Million Metaller in ganz Italien in den Streik. In Turin blockierten 100.000 Arbeiter die Produktion bei Fiat.
12/09 : landesweiter Streik der Bauarbeiter, alle Baustellen im Land wurden dichtgemacht. Demo der Metaller in Turin, Mailand, Tarento.
16-17/9 : landesweiter 48-stündiger Streik der Chemiearbeiter, landesweiter Streik in der Zementindustrie und erneuter Streik der Bauarbeiter
22/9 : Demonstration von 6.000 Beschäftigten von Alfa Romeo in Mailand. Metallarbeiterstreik in Turin, Venedig, Modena und Cagliari.
23-24/9 : neuer landesweiter 48-stündiger Streik der Beschäftigten der Zementindustrie
25/9 : Lock-out bei Pirelli, unbegrenzte Aussperrung von 12.000 Arbeitern. Die unmittelbare Reaktion der Beschäftigten war die Blockierung alle Betriebe der Firma.
26/9 : Metaller-Demo in Turin, wo ein Protestzug von 50.000 Arbeitern von Fiat ausgeht. Generalstreik in Mailand und Demonstration Hunderttausender Arbeiter, die Pirelli zur Beendigung der Aussperrung zwingen. Zehntausende Arbeiter protestieren in Florenz und Bari.
29/9 : Demo der Beschäftigten der Metall,- chemischen und Bauindustrie in Porto Marghera, Brescia und Genua ;
30/9 : Bauarbeiterstreik in Roma, Demo von 15.000 Metallern in Livorno,
7/10 : Metallerstreik in der Provinz Mailand, 100.000 Arbeiter strömen in 9 Zügen auf dem Domplatz zusammen ;
8/10 : Landesweiter Generalstreik der Beschäftigten der chemischen Industrie. Streik in der Region Terni. Metallerdemo in Rom, Sestri, Piombino, Marina Pisa und Aquila ;
9/10 : 60.000 Metaller streiken in Genua, Generalstreik in Friol und im Raum Venedig.
10/10 : zum ersten Mal findet eine Vollversammlung in den Betriebshallen der Fiat-Mirafiori-Werke statt. Auch in anderen Betrieben kommt es zu Vollversammlungen und Umzügen. Die Polizei beschießt die Arbeiter von außerhalb der Werkzäune. Streik bei Italsider Bagnoli gegen die Suspendierung von fünf Arbeitern;
16/10 : Beschäftigte der Krankenhäuser, Eisenbahnen, Post, Kommunalverwaltungen und Tagelöhner treten in Tarifstreiks ein. Generalstreiks in Palermo und Matera.
22/10 : in 40 Fabriken in Mailand wird den Arbeitern das Recht auf Abhaltung von Vollversammlungen zugestanden.
8/11 : Tarifabschluss in der Bauindustrie. 13% Lohnerhöhungen für die unteren Lohngruppen, schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit auf 40 Stunden, das Recht auf Abhaltung von Versammlungen auf den Baustellen werden zugestanden;
13/11 : sehr heftige Zusammenstöße zwischen Arbeitern und der Polizei in Turin ;
25/11 : Generalstreik in der chemischen Industrie
28/11 : Hunderttausende Metaller kommen in Rom zu einer sehr kämpferischen und einer der größten Demos in Italien zusammen ;
3/12 : Totalstreik der Karrosserie-Arbeiter bei Fiat, Demos der Kommunalbeschäftigten ;
7/12 : Tarifabschluss in der chemischen Industrie: Lohnerhöhungen von 19.000 Lira pro Monat sind vorgesehen, die 40-Stunden und 5-Tage-Woche, drei Wochen bezahlter Urlaub ;
8/12 : Tarifabschluss in den Betrieben der Metallindustrie, in denen der Staat Miteigentümer ist. Lohnerhöhungen von 65 Lira pro Stunde für alle wurden vereinbart, Gleichstellung von Angestellten und Arbeitern, das Recht auf das Abhalten von Betriebsversammlungen mit einer Gesamtdauer von 10 Stunden pro Jahr während der Arbeitszeit, 40 Stunden Wochenarbeitszeit;
10/12 : Generalstreik der Beschäftigten der Landwirtschaft für einen landesweiten Abschluss ; Hunderttausende demonstrieren in ganz Italien. Beginn eines viertägigen Streiks der Beschäftigten der Ölgesellschaften für einen neuen Tarifabschluss ;
19/12 : landesweiter Streik in der Industrie zur Unterstützung der Metaller. Neuer landesweiter Streik der Landarbeiter ;
23/12 : Tarifabschluss in der Metallindustrie : Lohnerhöhungen von 65 Lira pro Stunde für die Arbeiter, 13.500 Lira pro Monat für die Angestellten, 13. Monatsgehalt, das Recht auf Betriebsversammlungen auf Werksgelände, Anerkennung von Gewerkschaftsvertretern und Kürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche ;
24/12 : nach vier Monaten Kampf wird ein landesweit gültiger Abschluss für die Landarbeiter unterzeichnet; die schrittweise Reduzierung der Arbeitszeit auf 42 Stunden und 20 Tage Urlaub werden vereinbart 30 [45] .
Diese beeindruckende Reihe von Kämpfen ist nicht nur das Ergebnis eines starken Drucks der Arbeiter, sondern auch des Spielraumes, über den die Gewerkschaften noch verfügen, mittels dessen sie die Kämpfe zerstreuen, die um die Erneuerung der Tarifverträge in verschiedenen Branchen entstanden waren. Den Herrschenden gelang es damals, die an das Tageslicht drängende tiefgreifende Unzufriedenheit einzudämmen.
Diese gewaltige Entwicklung der Kampfbereitschaft, die begleitet war von bedeutsamen Klärungen innerhalb der Arbeiterklasse, stieß später ebenso auf wichtige Hindernisse. Die Herrschenden in Italien wie auch in den anderen Ländern, die sich der erwachenden Klasse entgegenstellten, blieb aber nicht passiv, denn neben dem gewaltsamen Eingreifen der Polizei versuchten sie schrittweise andere Mittel in der Auseinandersetzung mit der Arbeiterklasse einzusetzen. Darauf werden wir im zweiten Teil des Artikels eingehen. Wir werden aufzeigen, dass die Fähigkeit der Herrschenden, die Lage wieder in Griff zu kriegen, sich hauptsächlich auf die Schwächen einer Bewegung der Arbeiter stützte, der es trotz ihrer gewaltigen Kampfbereitschaft noch an Bewusstsein mangelte. Auch ihren revolutionären Minderheiten fehlte es noch an Reife und Klarheit, um ihre Rolle zu erfüllen.
1/11/09 Ezechiele.
[1] Von Juli 1969 an mehrere Monate.
[2] Siehe Internationale Revue Nr. 133 [46] et 134 [47], (engl./franz.Ausgabe) Mai 68 und die revolutionäre Perspektive (I und II), 2008, deutsche Ausgabe siehe deutsche Webseite
[3] Siehe Der Klassenkampf in Osteuropa (1970-1980) [48] International Review Nr.100.
[4] 1969-1973 war das Codoboza, der Streik von Mendoza, und Kampfwelle, die damals das Land erschütterte, der Höhepunkt der sozialen Entwicklung. Ohne ein Aufstandsniveau zu erreichen, bedeutete dieser Kampf das Wiedererwachen des Proletariats in Südamerika. Siehe: Révoltes populaires en Argentine: seule l’affirmation du prolétariat sur son terrain peut faire reculer la bourgeoisie [49], Revue internationale n°109, 2002, siehe auch die deutsche Webseite dazu.
[5] Siehe Notes sur l'histoire de la politique impérialiste des Etats-Unis depuis la seconde guerre mondiale, 2e partie [50] Revue Internationale n° 114.
[6] «So entstand der Slogan: “Die Universität ist unser Vietnam”; “Die vietnamesische Guerrilla kämpft gegen den amerikanischen Imperialismus, die Studenten machen ihre Revolution gegen die Macht und die akademischen Autoritäten”. Alessandro Silj, Malpaese, Criminalità, corruzione e politica nell’Italia della prima Repubblica 1943-1994, Donzelli editore, Roma 1994, p. 92.
[7] Siehe Che Guevara : mythe et réalité (à propos de courriers d'un lecteur) [51] in Révolution Internationale n° 384 ; Quelques commentaires sur une apologie d'Ernesto "Che" Guevara (à propos d'un livre de Besancenot) [52] in Révolution Internationale n° 388, siehe auch deutsche Webseite hierzu
[8] Siehe Le conflit Juifs / Arabes : La position des internationalistes dans les années trente: Bilan n° 30 et 31 [53] in Revue Internationale n° 110; Notes sur l'histoire des conflits impérialistes au Moyen-Orient, I, II e III parte in Revue Internationale n° 115 [54], 117 [55] e 118 [56]; Affrontements Hamas/Fatah : la bourgeoisie palestinienne est aussi sanguinaire que les autres [57] in Révolution Internationale n° 381- siehe auch die deutsche Webseite hierzu
[9] Siehe Le maoïsme, un pur produit de la contre-révolution [58] in Révolution Internationale n° 371 ; Chine 1928-1949: maillon de la guerre impérialiste, I e II parte, in Revue Internationale n°81 [59] e 84 [60]; Cina: il capitalismo di stato, dalle origini alla Rivoluzione Culturale (I e II parte) in Rivoluzione Internazionale n°5 e 6.
[10] Siehe Silvia Casillo, Controcultura e politica nel Sessantotto italiano
[11] Aldo Cazzullo, I ragazzi che volevano fare la rivoluzione. 1968-1978 Storia critica di Lotta continua, p. 13. Sperling e Kupfer Editori.
[12] Luca Barbieri, Il Caso 7 Aprile, cap. III, www.indicius.it [61]
[13] Interview mit Rita Di Leo in L’operaismo degli anni Sessanta. Dai “Quaderni rossi” a “classe operaia” di Giuseppe Trotta e Fabio Milana, edizione DeriveApprodi, www.deriveapprodi.com [62].
[14] Vedi: Luca Barbieri, Il Caso 7 Aprile, cap. III, www.indicius.it [61]
[15] Emilio Mentasti, La guardia rossa racconta. Storia del Comitato operaio della Magneti Marelli, p.25. Edizioni Colibrì.
[16] Giorgio Frasca Polara, Tambroni e il luglio “caldo” del ‘60, www.libertaegiustizia.it/primopiano/pp_leggi_articolo.php?id=2803&id_tit... [63]
[17] La rivolta operaia di piazza Statuto del 1962 lotteoperaie.splinder.com/post/5219182/La+rivolta+operaia+di+piazza+S.
[18] Dario Lanzardo, La rivolta di piazza Statuto, Torino, luglio 1962, Feltrinelli.
[19] La rivolta operaia di piazza Statuto del 1962 lotteoperaie.splinder.com/post/5219182/La+rivolta+operaia+di+piazza+S.
[20] C.I., die Abkürzung “Interne Kommission”, eine offizielle Stuktur der Arbeitervertreter in den Konflikten in den Betrieben, die in Wirklichkeit ein Ausdruck der Kontrolle der Gewerkschaften über die Arbeiter waren. Sie bestanden bis zum Heißen Herbst, bevor sie dann ersetzt wurden durch die Fabrikräte (CdF).
[21] Emilio Mentasti, La guardia rossa racconta. Storia del Comitato operaio della Magneti Marelli, p.37. Edizioni Colibrì.
[22] Aldo Cazzullo, I ragazzi che volevano fare la rivoluzione. 1968-1978 Storia critica di Lotta continua, p. 75‑76. Sperling e Kupfer Editori.
[23] Aldo Cazzullo, I ragazzi che volevano fare la rivoluzione. 1968-1978 Storia critica di Lotta continua, p. 60. Sperling e Kupfer Editori.
[24] Dokumente der Basiskomitees bei Pirelli (Bicocca), IBM und Sit-Siemens, beschrieben in Alessandro Silj, Mai più senza fucile, Vallecchi, Firenze 1977, pp. 82-84
[25] “Im Kampf der Agrararbeiter der Provinz Siracusa am 24. 11.1968, an dem sich auch die Arbeiter Avolas beteiligten, wurden folgende Forderungen erhoben: Lohnerhöhungen, die Abschaffung der Lohnunterschiede, die Einführung eines Gesetzes zur Respektierung der Verträge, die Einrichtung paritätischer Kontrollkommissionen, die 1966 im Kampf errungen, aber nie umgesetzt worden waren. Die Arbeitskräfte blockierten Straßen, bevor sie dann von der Polizei angegriffen wurden. Am 2. Dezember beteiligten sich die Beschäftigten aus Avola an einem Generalstreik. Die Arbeiter fingen nachts mit der Straßenblockade auf der Straße nach Noto an, andere Arbeiter schlossen sich ihnen an. Morgens trafen Mütter mit Kindern ein. Gegen 14.00 h befahl der stellvertretende Polizeichef aus Siracusa, Samperisi, der Abteilung aus Celere und Catania anzugreifen. (…) An jenem Tag feuerten die Celere-Brigaden dreimal; sie feuerten auf die Menge, die meinte, es handele sich um einen Begrüßungsschuss. Die Arbeiter suchten Deckung; einige warfen Steine. Diese Kriegsszene dauerte fast eine halbe Stunde. Am Ende hatte der kommunistische Abgeordnete Piscitello mehr als zwei Kilo Patronenhülsen zusammengetragen. Die Bilanz: zwei getötete Arbeiter, Angelo Sigona und Giuseppe Scibilia, und 48 Verletzte, darunter 5 Schwerverletztei”. (www.attac-italia.org [64]).
[26] “Wir zogen auf die Straße mit der üblichen Großzügigkeit der Jugendlichen neben den Arbeiter- und Arbeiterinnen, die gegen die Schließung der Tabak- und Zuckwerke streikten. Die Schließung dieser Betriebe und ihrer Zulieferindustrie bedeutete eine Krise für die ganze Stadt, da ca. die Hälfte der Bevölkerung durch Arbeit in diesen Betrieben die einzige Erwerbsmöglichkeit besaß. Der Generalstreik war die einzig mögliche Konsequenz. Dies fühlte die ganze Stadt, die sich daran beteiligte, darin eingeschlossen auch Studenten. Und obwohl auch viele unter uns nicht aus Battipaglia waren, spürten wir die Wichtigkeit dieser beiden Industriezweige für die Wirtschaft der Stadt. Es gab aber auch einen anderen Grund für den Generalstreik: Er bot die Möglichkeit der Solidarisierung mit den Beschäftigten der Tabakindustrie, die seit 10 Tagen den Betrieb S. Lucia besetzt hielten. Über der Stadt schwebte das Gespenst der Krise. Dies war schon zu spüren gewesen bei der Schließung von Zuckerfabriken, und erschien als eine echte Bedrohung für Tausende Arbeiter, die ihre Arbeit verlieren würden. (…) Schnell entstanden Momente der Spannung, und wie das oft geschieht, wurden sie in wirkliche Bewegung umgewandelt. Battigalia wurde zum Schauplatz gewalttätiger Zusammenstöße. Barrikaden wurden errichtet, alle Ausgangsstraßen blockiert und der Bahnhof besetzt. Die Polizei schoss erneut, und was zu einem großen Solidaritätstag mit denen werden sollte, die um ihren Arbeitsplatz kämpften, wurde zu einem Tag des Volksaufstand. Die Bilanz: zwei Tote, Hunderte Verletzte, Dutzende Autos angezündet (dazu gehörten Polizeifahrzeuge und private PKWs) und nicht zu ermittelnde Schäden. (…) Um die Kontrolle über eine wütende und verletzte Stadt wieder herzustellen, benötigten die Polizeikräfte ungefähr 20 Stunden." (Augenzeugenbericht in dem blog massimo.delmese.net/2189/9-aprile-1969-9-aprile-2009-a-40-anni-dai-moti-di-battipaglia/ [65]).
[27] www.nelvento.net/archivio/68/operai/traiano02.htm [66]
[28] Aldo Cazzullo, I ragazzi che volevano fare la rivoluzione. 1968-1978 Storia critica di Lotta continua, p. 67. Sperling e Kupfer Editori.
[29] https://static.repubblica.it/milano/autunnocaldo/ [67]
[30] von der Webseite www.pmli.it/storiaautunnocaldo.htm [68].
Die Rede, die wir nachfolgend wiedergeben, wurde vor ca. 200.000 Teilnehmern von den Arbeitern gehalten, die die Rednertribüne während der 1. Mai Kundgebungen auf dem Taksim Platz besetzt hatten. In Istanbul waren zuvor Kundgebungen in der Nähe des Platzes verboten worden. Die Vorsitzende der türkischen Gewerkschaft Turk-Is Mustafa Kumlu und andere Gewerkschaftsbürokraten wurden in die Flucht geschlagen. Die Tatsache, dass die Arbeiter, die die Tribüne besetzten, diejenigen sind, welche die Türkei seit den letzten Monaten erschüttert haben, und diesen Schritt ganz eigenständig und geschlossen vollzogen haben, sowie die Botschaft ihrer Rede ist aus unserer Sicht von großer Bedeutung für die Arbeiterbewegung und zeigt den Weg zum Sieg für die ganze Arbeiterklasse. IKS
Wir sind kämpfende Arbeiter der Tekel-Werke, der Istanbuler Wasser und Kläranlagen, Samatya, der Feuerwehr, der Gemeinde Esenyurt, Müllerwerker und des ATV-Fernsehsender.
Wir alle kämpfen gegen Arbeits- und Lebensbedingungen, die uns zu einem Sklavenleben zwingen, gegen Leiharbeit, den 4-C und unsichere Arbeitsbedingungen. Wir stehen zusammen, um das Feuer weiter zu tragen, das von den Tekel-Beschäftigten entfacht wurde, indem wir Verbindungen für einen gemeinsamen Kampf herstellen. Wir haben die „Plattform der kämpfenden Arbeiter“ gegründet, um ein Beispiel für alle Klassenbrüder- und Schwestern zu setzen, indem wir die wesentliche Rolle der Klassensolidarität hervorheben, und indem wir uns darum bemühen, dass der Slogan "wir werden gewinnen, indem wir uns zusammenschließen", nicht nur ein Slogan ist, sondern dies auch konkret in die Tat umgesetzt wird.
Das Kapital bringt Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Zukunftsangst und Elend für die Arbeiterklasse hervor. Das Kapital lebt von Lohnarbeit. Wir wissen, während wir gegen den 4-C kämpfen, gegen die Unsicherheit, gegen Leiharbeit, gegen Arbeitslosigkeit, müssen wir auch gegen den Kapitalismus kämpfen, der nichts anderes als ein System der Lohnsklaverei ist. Die wahre Befreiung der Arbeiterklasse besteht nicht nur darin, Teilforderungen gegen Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend zu erheben, sondern in der Ausdehnung der vereinten Klassenaktionen gegen das Kapital, das Arbeitslosigkeit, Misere, Unsicherheit, Hunger und Krankheiten produziert.
Dieser 1. Mai wird geprägt sein durch Forderungen der Klasse. Eine Stimme wird die der kämpfenden Arbeiter sein, die sich an alle Klassenbrüder und –schwestern wenden. Wir werden den 1. Mai gewinnen, genau wie wir den Taksim-Platz erobern konnten.
Der Taksim-Platz war nicht dank einer Erlaubnis der Herrschenden und deren Staat geöffnet worden, sondern durch den gebündelten Kampf der Arbeiterklasse, die unbedingt auf dem Taksim-Platz anwesend sein wollte, trotz all der Unterdrückungsmaßnahmen und anderen Angriffe. Er wurde geöffnet dank des Tekel-Kampfes, durch eine Reihe von Arbeiterkämpfen, durch die Hungernden, die gegen die sklavenähnlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen, die eine Dynamik entfaltet haben, so dass dem Kapital der Schlaf geraubt wird. Wir haben den Taksim-Platz befreit; jetzt ist der Taksim-Platz zweifelsohne ein Gebiet des 1. Mai. Jetzt muss die Rednertribüne von denjenigen erobert werden, denen sie wirklich zusteht. Der 1.Mai und die Rednertribüne des 1. Mai gehören der Arbeiterklasse, den militanten, kämpfenden Arbeitern. Die Tribüne gehört nicht dnr Verrätern der Gewerkschaftsbürokratie, welche der Klasse in den Rücken fallen, wenn immer diese sich zur Wehr setzt. Sie sollte den Tekel-Arbeitern übergeben werden, die dem Arbeiterkampf einen neuen Atem einhauchten, sie gehört den Feuerwehrleuten, die die Forderung nach sicherer Arbeit erhoben und verlangten, wie Menschen arbeiten zu dürfen und nicht ständig durch Zeitarbeit und Arbeitsplatzverlust bedroht zu werden, sie sollte den ISKi Arbeitern und den Samatya Bauarbeitern übergeben werden, denen keine Löhne gezahlt wurden und die wie Sklaven arbeiten müssen. Sie müsste den Marmaray Arbeitern, den Esenyurt Gemeindebeschäftigten, überlassen werden, die ihren Job verloren, weil sie einer Gewerkschaft beitraten. Und sie sollte den ATV-Sabah-Fernsehsender-Beschäftigten überlassen werden wie der Plattform der kämpfenden Arbeiter. Die Tribüne des 1. Mai sollte nicht von denen benutzt werden, die jeweils den kapitalistischen Staat um Erlaubnis fragen, und die als ein Bollwerk nicht gegen das Kapital handeln, sondern gegen die Arbeiterklasse. Sie sollte den Arbeitern übergeben werden, die auf dem Platz zusammengekommen sind, um ihre Klassenforderungen zu erheben.
Tausende sind hungrig, Tausende sind arbeitslos. Dies ist die Schuld des kapitalistischen Systems!
Nieder mit dem System der Lohnsklaverei!
Arbeiter auf die Bühne, nicht Gewerkschaftsbosse!
Eine vereinte Arbeiterklasse kann das Kapital besiegen!
Lang lebe die Klassensolidarität!“
In diesen Tagen reisen Tekel-Beschäftigte, die sich am jüngsten Abwehrkampf der Tekel-Beschäftigten gegen ihre Entlassungen beteiligt haben, durch die Bundesrepublik, um über ihren Kampf zu berichten und zu diskutieren. Diese Veranstaltungen werden von der FAU organisiert und von der IKS unterstützt. Nachfolgend findet ihr den Kalender der Veranstaltungen. Auf der FAU-Webseite [78] könnt ihr weitere Details - sobald sie feststehen - erfahren.Weiter unten veröffentlichen wir eine Reihe von Artikeln zum Kampf der Tekel-Beschäftigten.
So. 20.06.2010 Hannover
Ort: jz Korn, UJZ Kornstrasse 28-30, Hannover
Beginn: 15.00 Uhr
organisiert von der Freien ArbeiterInnen Union (FAU) - Hannover und der Bibliothek der Freundschaft unterstützt durch die Antifaschistische Aktion Hannover [AAH]
Mo. 21.06.2010 Berlin
Galerie Kraftwerk, Rungestr. 20, 10179 Berlin - Mitte
(S-Bahnhof Jannowitzbrücke oder U-Bahn Heinrich-Heine- Straße)
Beginn: 19.30 Uhr
VeranstalterIn: IKS
Di. 22.06.2010 Braunschweig
Ort: Nexus, Frankfurter Str. 253, Braunschweig
Beginn: 20:00 Uhr
VeranstalterIn: FAU-Braunschweig
Mi. 23.06.2010 Hamburg
Ort: Schwarze Katze, Fettstr.23, Hamburg
Beginn: 20:00 Uhr
VeranstalterIn: FAU-Hamburg
Do. 24.6 20:00 Duisburg
VeranstalterIn: FAU-Duisburg
Ort: Internationales Zentrum, Am Flachsmarkt 1, Innenhafen, 47051 Duisburg
Beginn: 19.00 Uhr
So. 27.06.2010 Köln
VeranstalterIn: FAU-Köln
Ort: SSK, Liebigstr. 25,
Beginn: 17.00 Uhr
Di. 29.06 2010 Dortmund
Ort: Taranata Babu, Humboldtstraße 44, 44137 Dortmund
Beginn: 19.oo Uhr
VeranstalterIn: FAU-Dortmund
Mi. 30.06.2010 Frankfurt am Main
Ort: Halkevi - Türkisches Volkshaus, Werrastraße 29, Frankfurt/M - Bockenheim
Beginn: ab 19.30 Uhr
VeranstalterIn: FAU-Frankfurt a.M.
Do. 01.07.2010 Nürnberg
Ort: "Armer Teufel", Bauerngasse 14, Nürnberg
Beginn: 19.30 Uhr
VeranstalterIn: FAU-NürnbergVernstalterIn: FAU-Nürnberg
Fr.:02.07.2010 Zürich ,
Veranstalter: Karakök Autonome türkei/schweiz
Freitag, 2. Juli 2010 - 19 Uhr
Autonome Schule Zürich, Hohlstr. 170
(gleich bei Haltestelle „Güterbahnhof“, Tram 8 oder Bus 31)
Einladungstext und weitere Details können abgerufen werden unter:
https://karakok.wordpress.com/ [79] -
Wir veröffentlichen nachfolgend den Bericht über den Streik der Tekel-Tabak-Industriebeschäftigten, der von der Sektion der IKS in der Türkei verfasst wurde.
Am 14. Dezember 2009 verließen Tausende von Beschäftigten der Tekel [1] Betriebe aus Dutzenden türkischen Städten ihre Wohnungen und Familien, um nach Ankara zu fahren. Die Beschäftigten von Tekel wollten mit dieser Reise gegen die schrecklichen Arbeitsbedingungen, die ihnen vom Kapital aufgezwungen werden, kämpfen. Dieser ehrenhafte Kampf der Tekel-Beschäftigten, der nunmehr schon mehr als einen Monat andauert, wird mit der Idee geführt, dass sich am Streik alle Beschäftigten beteiligen sollten. Damit stellten sich die Tekel-Beschäftigten an die Spitze des Kampfes der Arbeiterklasse in der Türkei. Wir werden hier über den Ablauf des Kampfes der Tekel-Beschäftigten berichten. Dieser Kampf betrifft nicht nur den Kampf der Beschäftigten bei Tekel, sondern er betrifft die Arbeiter aller Länder. Wir schulden den Tekel-Beschäftigten Dank, weil wir so über deren Erfahrung berichten und den Kampf der Klasse vorantreiben können, indem wir uns an ihrer Entschlossenheit orientieren und ihre Erfahrung und Gedanken nachvollziehen.
Zunächst wollen wir erklären, was die Tekel-Beschäftigten in den Kampf getrieben hat. Die Tekel-Beschäftigten wehren sich gegen die 4-C Politik des türkischen Staats. Der türkische Staat hat unzählige Beschäftigte unter 4-C-Bedingungen eingestellt. Bald werden noch viel mehr Beschäftigte unter diesen Bedingungen arbeiten müssen; die Beschäftigten der Zuckerindustrie gehören zu den ersten Opfern. Davon abgesehen stehen viele Teile der Arbeiterklasse vor den gleichen Angriffen mit ähnlichem Namen; andere Beschäftigte, die bislang noch nicht damit konfrontiert wurden, werden sie auch noch kennenlernen. Was sind diese 4-C Bedingungen? Diese Praxis der Jobkürzungen infolge der zunehmenden Privatisierungen wurde von dem türkischen Staat als ein 'Segen' bezeichnet. Abgesehen von einer beträchtlichen Lohnkürzung bedeutet dies für viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, dass sie vom Staat in verschiedenen Beschäftigungsbereichen unter schrecklichen Bedingungen eingesetzt werden. Am schlimmsten ist, dass die 4-C Politik es den staatlichen Arbeitgebern ermöglicht, eine absolute Macht über die Beschäftigten zu erlangen. So sind die Löhne, die vom Staat festgelegt werden und schon mächtig gekürzt wurden, lediglich ein gezahlter Höchstpreis für die Arbeit. Die staatlichen Manager können die Löhne willkürlich kürzen.
Arbeitszeitregelungen für die 4-C-Beschäftigten wurden abgeschafft. Den staatlichen Managern ist es gestattet, die Arbeiter willkürlich zu zwingen, so lange wie von ihnen gewünscht schuften zu lassen, bis die "Arbeiter die von ihnen zu erfüllende Aufgabe erledigt haben". Die Arbeiter der Stammbelegschaften erhalten überhaupt keinen Zuschlag für diese 'Überstunden' nach beendeter Arbeit oder während der Ferien. Diese Politik gestattet es den Bossen, die Beschäftigten willkürlich ohne irgendwelche Ausgleichszahlungen zu entlassen. Die geleistete Arbeitszeit kann zwischen drei und zehn Monaten im Jahr variieren; wenn sie nicht arbeiten, erhalten sie keinen Lohn; die Arbeitszeit kann auch hier willkürlich von den Bossen festgelegt werden. Trotzdem ist ihnen nicht gestattet, eine zweite Beschäftigung zu finden, auch wenn sie keine Arbeit haben. Gemäß der 4-C Regelung erhalten die Beschäftigten keine Sozialleistungen, sämtliche medizinische Versorgungsleistungen sind gestrichen. Die Privatisierungen haben genau wie die 4-C Maßnahmen schon vor einiger Zeit angefangen. In dem Tekel-Unternehmen wurden die Bereiche Zigaretten und Alkohol privatisiert; danach wurden die Tabakblätterwerke geschlossen. Natürlich sind nicht nur die Privatisierungen das Problem. Es ist offensichtlich, dass das Privatkapital, das den Arbeitern ihre Arbeitsplätze wegnimmt, und der Staat, d..h. das Staatskapital, die Arbeiter unter den schrecklichsten Bedingungen ausbeuten wollen; sie gehen gemeinsam gegen die Beschäftigten vor. Deshalb entspricht der Kampf der Tekel-Beschäftigten dem Klasseninteresse aller Arbeiter, er stellt einen Kampf gegen die kapitalistische Ordnung insgesamt dar.
Der Blick auf den Streik der Tekel-Beschäftigten hilft den Klassenkampf in der Türkei insgesamt zu verstehen. Am 25. November 2009 wurde von KESK, DISK und Kamu-Sen [2]ein eintägiger Streik organisiert. Wie erwähnt zogen die Tekel-Beschäftigten am 14. Dezember nach Ankara, gleichzeitig fanden zwei weitere Arbeitskämpfe statt. Der erste waren die Demonstrationen von Feuerwehrleuten, von denen einige Anfang 2010 ihren Job verlieren sollten; der zweite war der eintägige Streik der Eisenbahner aus Protest gegen die Entlassung einiger ihrer Kollegen wegen der Beteiligung am Streik des 25. November. Die Bürgerkriegspolizei, welche erkannte, dass der Klassenkampf sich weiter zuspitzte, griff die Feuerwehrleute und die Eisenbahner brutal an. Die Tekel-Beschäftigten wurden nicht anders behandelt. Nahezu 50 Eisenbahner sollten wegen der Beteiligung an dem Streik entlassen werden. Viele Arbeiter wurden verhaftet. Und die Feuerwehrleute brauchten Zeit, um sich von den Angriffen zu erholen. Unglücklicherweise ist es den Eisenbahnern nicht gelungen, wieder auf die Bühne des Kampfes zurückzukehren. Die Tekel-Beschäftigten traten deshalb an die Spitze der Kämpfe am 14. Dezember, weil sie sich gegen die Unterdrückungsmaßnahmen des Staates wehrten und es ihnen gelang, ihren Kampf fortzuführen.
Wie begann der Kampf bei Tekel? Eine kleine kämpfende Minderheit wollte schon in den Kampf treten, aber der eigentliche Auslöser kam am 5. Dezember zum Tragen, als eine Eröffnungszeremonie stattfand, an der sich der Premier Minister Tayyip Erdoğan[3] beteiligte. Die Tekel-Beschäftigten richteten sich bei dieser Zeremonie mit ihren Familien unerwartet gegen Erdoğan, um ihn zur Rede zu stellen. Sie unterbrachen seine Rede und riefen ihm zu: "Die Beschäftigten von Tekel warten auf gute Nachricht von Ihnen". Erdoğan entgegnete "Leider gibt es jetzt in der Türkei Leute wie diese, sie wollen Geld machen ohne für zu arbeiten. Die Zeit ist vorbei, als man Geld im Liegen machen konnte (…) Sie meinten, Staatseigentum seit wie ein Meer, wer sich nicht bedient, ist ein Schwein. Solche Auffassungen hatten sie. Wir sehen das anders. Hier ist eure Altersabfindung. Wenn ihr wollt, können wir euch unter 4-C Bedingungen einsetzen, wenn nicht, geht hin und öffnet euer eigenes Geschäft. Wir hatten auch ein Abkommen mit ihren Gewerkschaften. Ich sprach mit ihnen. Ich sagte ihnen: "Soviel Zeit habt ihr. Unternehmt alles Notwendige". Obgleich wir ein Abkommen hatten, brach etwas zusammen, ein bis zwei Jahre vergingen. Die Leute sind aber immer noch da und fordern den Schutz ihrer Arbeitsplätze; sie wollen so weiter machen wie zuvor. Wir haben ihnen erklärt. Zehntausend Tekel-Beschäftigte kosten uns vier Milliarden im Monat. [4] Erdoğan konnte sich nicht vorstellen, in welchen Schlamassel er da hineingeraten war. Die Beschäftigten, die zuvor die Regierung unterstützt hätten, wurden sehr verärgert. Die Arbeiter fingen an darüber zu diskutieren, wie man sich am Arbeitsplatz wehren kann. Ein Arbeiter aus Adıyaman[5] erklärte diesen Prozess folgendermaßen in einem Artikel, den er in einer linken Tageszeitung schrieb: "Dieser Prozess regte die Kollegen an, die sich bis dato noch nicht am Kampf beteiligt hatten, auch wenn er noch so klein war. Sie fingen an, das wahre Gesicht der Justiz und der Entwicklungspartei zu durchschauen, nachdem der Premierminister geredet hatte. Zunächst traten sie aus der Partei aus. In den nun einsetzenden Diskussionen am Arbeitsplatz erklärten wir, dass wir alle gemeinsam unseren Arbeitsplatz verteidigen sollen". [6]. Die Gewerkschaften [7], von denen Erdoğan behauptete, sie stimmten mit ihm überein, und die bislang keine ernsthaften Aktionen unternommen hatten, beschlossen, eine Versammlung in Ankara abzuhalten. Infolgedessen begaben sich die Arbeiter auf den Weg und reisten in die Hauptstadt.
Die staatlichen Kräfte gingen von Anfang an raffiniert gegen die Arbeiter vor. Die Bürgerkriegspolizei hielt die Busse mit Arbeitern fest und erklärte, man werde die Arbeiter aus den kurdischen Städten, wo es viele Tekel-Werke gibt, nicht durchlassen, und dass die Beschäftigten aus den Gebieten des Westens, des Mittelmeers, Zentralanatolien und des Schwarzen Meeres der Türkei durchgelassen würden. Damit wollte man die kurdischen und die anderen Arbeiter gegeneinander hetzen, die Bewegung der Klasse mittels ethnischer Unterschiede spalten. Dieser raffinierte Angriff brachte in Wirklichkeit zwei Bilder der Maske des Staates zum Vorschein: das der Einheit und Harmonie und der kurdischen Reform. Aber die Tekel-Beschäftigten sind nicht in diese Polizeifalle gelaufen. .Mit den Arbeitern aus Tokat an der Spitze, protestierten die Arbeiter aus den nicht-kurdischen Städten gegen dieses Vorgehen der Polizei und bestanden entschlossen darauf, dass alle Beschäftigten zusammen nach Ankara einzogen und dass niemand ausgeschlossen werden dürfe. Die Bürgerkriegspolizei, die unfähig war die zu erwartende Haltung der Regierung zu berechnen, musste schließlich zulassen, dass die Beschäftigten zusammen nach Ankara einmarschierten. Dieser Vorfall führte zur Bildung von tiefen Beziehungen zwischen den Beschäftigen aus verschiedenen Städten, Regionen und ethnischen Hintergründen auf einer Klassengrundlage. Nach diesem Vorfall brachten die Beschäftigen aus dem Westen, Zentralanatolien, dem Mittelmeergebiet und dem Schwarzen Meer zum Ausdruck, dass die Stärke und die Anregung, die sie durch den Widerstand, die Entschlossenheit und das Bewusstsein der kurdischen Arbeiter erfuhren, ihnen die Beteiligung am Kampf erleichterte und sie viel von diesen Arbeitern lernten. Die Beschäftigten von Tekel hatten einen ersten Sieg errungen, als sie in die Stadt zogen.
Am 15. Dezember begannen die Tekel-Beschäftigten ihre Protestdemonstrationen vor der Landeszentrale der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei in Ankara. Ein Tekel-Beschäftigter, der an diesem Tag nach Ankara kam, erklärte die Ereignisse folgendermaßen: "Wir zogen vor die Landeszentrale der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei. Nachts zündeten wir ein Feuer war und warteten vor dem Gebäude bis 22.00 h. Als es zu kalt wurde, suchten wir in dem Atatürk Gym Schutz vor Kälte. Wir waren insgesamt 5.000. Wir nahmen unsere Teppiche, Kartons und verbrachten dort die Nacht. Morgens drängte uns die Polizei in den Abdi İpekçi Park und kreiste uns ein. Einige unserer Kolleg/Innen zogen erneut vor das Gebäude der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei. Als wir im Park warteten, wollten wir uns mit den anderen zusammenschließen, und diejenigen, die vor dem Gebäude ausharrten, wollten zu uns rüberkommen. Die Polizei griff uns mit Tränengas an. Um sieben Uhr gelang es uns, uns mit den anderen im Park zusammenschließen. Wir waren schon vier Stunden zu Fuß marschiert. Wir verbrachten die Nacht im Regen im Park." [8] Auf der anderen Seite fand der brutalste Angriff der Polizei am 17. Dezember statt. Die Bürgerkriegspolizei, die offensichtlich auf Befehl handelte und sich vielleicht dafür rächen wollte, dass sie die kurdischen Arbeiter nicht daran hindern konnte, in die Stadt zu kommen, griff die Arbeiter im Park mit brutaler Gewalt und hasserfüllt an. Sie zielte darauf ab, die Arbeiter auseinanderzutreiben. Aber dieses Mal trat wieder etwas ein, mit dem die staatlichen Kräfte nicht gerechnet hatten: die Fähigkeit der Arbeiter zur Selbstorganisierung. Die von der Polizei auseinandergetriebenen Arbeiter schafften es, sich selbst zu organisieren, ohne die Hilfe von irgendwelchen Bürokraten und kamen nachmittags vor der Türk-İş[9] Zentrale in einer Großkundgebung zusammen. Da die Arbeiter keine Bleibe hatten, besetzten die Arbeiter am gleichen Tag zwei Stockwerke der Türk-İş Anlage. An den Tagen nach dem 17. Dezember fanden die Demonstrationen der Tekel-Beschäftigten in den kleinen Straßen vor der Türk-İş Anlage, im Zentrum von Ankara statt.
Der Kampf zwischen den Tekel-Beschäftigten und der Verwaltung des türkischen Gewerkschaftsdachverbandes wurde zwischen dem 17. Dezember und Neujahr fortgesetzt. Dabei trauten die Arbeiter schon bei Beginn des Kampfes den Gewerkschaftsbürokraten nicht. Sie entsandten zwei Arbeiter aus allen Städten mit den Gewerkschaftern zu allen Verhandlungen. Dadurch sollten alle Arbeiter über alles informiert werden. Sowohl Tek Gıda-İş und Türk-İş und die Regierung erwarteten, dass die Tekel-Beschäftigten ihren Kampf in Anbetracht des bitterkalten Winters in Ankara, der Polizeirepression und materieller Schwierigkeiten nach ein paar Tagen aufgeben würden. Es war keine Überraschung, dass die Türen der Gewerkschaftszentrale nach einer sehr kurzen Zeit versperrt wurden, um die Arbeiter vom Betreten des Gebäudes abzuhalten. Daraufhin wehrten sich die Arbeiter, weil sie die Toiletten des Gebäudes benutzen, die Frauen sich im Gebäude ausruhen wollten; diese Auseinandersetzung endete mit einem Sieg der Arbeiter. Die Arbeiter wollten sich nun nicht mehr zurückziehen. Die Tekel-Beschäftigten erhielten ernsthafte Unterstützung von Arbeitern aus Ankara und vor allem auch von Studenten mit proletarischem Hintergrund, um Unterkunft in Ankara zu finden. Ein kleiner aber immerhin wichtiger Teil der Arbeiterklasse Ankaras bot den Tekel-Beschäftigten Übernachtung bei ihnen zu Hause an. Anstatt aufzugeben und zurückzukehren, versammelten sich die Tekel-Beschäftigten jeden Tag auf der kleinen Straße vor dem Türk-İş-Gebäude, dort entbrannten auch Diskussionen, wie man den Kampf voranbringen könnte. Es dauerte nicht lange, bis die Arbeiter zu der Einsicht kamen, dass die einzige Lösung für die Überwindung ihrer Isolation in der Ausdehnung des Kampfes lag.
Militante Arbeiter aus allen Städten, die erkannten, dass Tek Gıda-İş und Türk-İş für sie nichts unternehmen würden, versuchten ein Streikkomitee zu gründen, mit dem Ziel, ihre Forderungen gegenüber den Gewerkschaften zu erheben. Zu diesen Forderungen gehörte die Aufstellung eines Streikzelts und dass die Neujahrsparty von den Arbeitern gemeinsam gefeiert werden könne, begleitet von einer Demonstration vor dem Gebäude von Türk-İş. Die Gewerkschaftschefs stellten sich gegen diese Initiative der Arbeiter. Wozu sollten die Gewerkschaften auch nützlich sein, wenn die Arbeiter dabei waren, die Kontrolle über die Kämpfe in die eigene Hand zu nehmen. Diese Haltung beinhaltete eine verschleierte Drohung: die schon isolierten Arbeiter fürchteten die Möglichkeit, total isoliert da zu stehen, falls die Gewerkschaften die Unterstützung total ablehnten. So wurde ein Streikkomitee fallen gelassen. Aber der Wille der Arbeiter bestand darin, die Kontrolle über die Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen und das Streikkomitee aufrechtzuerhalten. Schnell versuchten die Beschäftigten Verbindungen herzustellen mit den Beschäftigten der Zuckerindustrie, die vor der Einführung der gleichen 4-C Maßnahmen stehen. Sie zogen in die Arbeiterviertel und Universitäten; sie wurden jeweils aufgefordert, ihren Kampf zu erklären. Unterdessen setzten die Beschäftigten ihren Kampf mit der Türk-İş Verwaltung fort, welche die Arbeiter in keinster Weise unterstützten. Als der Verwaltungsrat des Gewerkschaftsverbands Türk-İş zusammenkam, drangen die Arbeiter in das Gewerkschaftsgebäude ein. Die Bürgerkriegspolizei eilte sofort Mustafa Kumla, dem Vorsitzenden von Türk-İş, zu Hilfe, um ihn vor den Arbeitern zu schützen. Arbeiter fingen an Slogans zu rufen wie: "Wir werden die ausverkaufen, die uns ausverkaufen", Türk-İş soll seine Pflicht erfüllen, Generalstreik". "Kumlu, tritt zurück". Kumlu wagte es nicht, vor die Arbeiter zu treten, bevor er nicht eine Reihe von Aktionen angekündigt hatte, Streiks eingeschlossen, die jede Woche stattfinden sollten, angefangen von einem einstündigen Streik, dessen Länge jede Woche verdoppelt werden sollte, und jede Woche eine Kundgebung vor dem Türk-İş-Gebäude. Selbst nach der Ankündigung Kumlus von einer Reihe von Aktionen trauten die Arbeiter Türk-İş nicht. Als ein Tekel Beschäftigter aus Diyarbakır[10] in einem Interview erklärte: "Wir werden uns keiner Entscheidung der Gewerkschaftsführung beugen, den Kampf zu beenden und die Arbeit wieder aufzunehmen. Und falls eine Entscheidung zur Beendigung des Kampfes ohne irgendetwas gewonnen zu haben – wie letztes Mal, verkündet wird, denken wir darüber nach, das Türk-İş Gebäude zu räumen und es anschließend in Brand zu setzen"[11], brachte er das Gefühl vieler anderer Tekel-Beschäftigter zum Ausdruck.
Türk-İş ließen seinen Aktionsplan fallen, als sich am ersten einstündigen Streik 30% aller Gewerkschaften beteiligten. Die Türk-İş Führer hatten genauso viel Angst vor einer Generalisierung des Kampfes der Tekel-Beschäftigten wie die Regierung. Nach der fröhlichen Neujahrsdemonstration vor der Türk-İş Zentrale wurde über die Fortsetzung des Streiks abgestimmt. 99% der Beschäftigten stimmten für die Fortsetzung des Kampfes. In der Zwischenzeit wurde ein neuer gewerkschaftlicher Aktionsplan diskutiert. Nach dem 15. Januar sollte es ein dreitägiges Sit-in geben, dann einen dreitägigen Hungerstreik und dann ein dreitägiges Todesfasten. Eine Großdemonstration wurde ebenfalls von der Türk-İş-Verwaltung versprochen. Anfangs dachten die Arbeiter, ein Hungerstreik sei eine gute Idee. Schon isoliert wollten sie noch nicht weiter vergessen und ignoriert werden, und sie dachten, ein Hungerstreik könnte dies vermeiden. Das Gefühl kam auf, dass sie von Türk-İş in die Enge getrieben wurden und selbst handeln sollten. Ein Hungerstreik hätte auch als Einschüchterung der Gewerkschaften gesehen werden können.
Eine der bedeutsamsten Texte, der von den Tekel-Beschäftigten verfasst wurde, wurde damals veröffentlicht: ein Brief eines Tekel-Beschäftigten an die Beschäftigten der Zuckerindustrie. Der Tekel-Beschäftigte aus Batman[12] schrieb: "An unsere hart arbeitenden und ehrenwerten Brüder und Schwestern der Zuckerfabriken! Heute bietet der Kampf der Tekel-Beschäftigten eine historische Chance für diejenigen, deren Rechte unterdrückt werden. Damit wir diese Chance nicht verpassen, würde eure Beteiligung an unserem Kampf uns glücklicher und stärker machen. Meine Freunde, ich möchte darauf hinweisen, dass im Augenblick Gewerkschafter die Hoffnung äußerten, "sie werden sich mit dieser Sache befassen". Da wir die gleiche Erfahrung gemacht haben, wissen wir, dass sie einigermaßen gut abgesichert sind und sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen müssen. Im Gegenteil, eure Rechte würde man einschränken. Wenn ihr euch nicht an unserem Kampf beteiligt, wäre es morgen zu spät für euch. Insgesamt wird dieser Kampf nur erfolgreich sein, wenn ihr euch beteiligt, wir haben keine Zweifel, dass wir uns ins Zeug legen. Weil wir uns sicher sind, wenn die Arbeiter sich zusammenschließen und wie ein einheitlicher Körper handeln, können sie jedes Hindernis überwinden. Mit diesem Gefühl grüße ich euch innigst und mit Respekt im Namen der Beschäftigten von Tekel." [13]. Dieser Brief rief nicht nur die Beschäftigten der Zuckerindustrie dazu auf, selbst in den Kampf zu treten, sondern er brachte auch deutlich zum Vorschein, was bei Tekel passiert war. Gleichzeitig zeigte er das Bewusstsein, das sich bei vielen Tekel-Beschäftigten entwickelt hatte, dass sie nicht nur für sich kämpften, sondern für die gesamte Arbeiterklassse.
Am 15. Januar kamen die Tekel-Beschäftigten nach Ankara, um sich am früher erwähnten Sit-in zu beteiligen. Die Zahl der Teilnehmer am Sakarya Platz belief sich auf ca. 10.000. Einige Familienangehörige waren mitgekommen. Die Arbeiter hatten sich teilweise krank gemeldet oder Urlaub genommen, um nach Ankara zu kommen; viele mussten mehrfach ihren Urlaubsantrag stellen, um frei zu kriegen. Jetzt waren fast alle Tekel-Beschäftigten zusammen gekommen. Eine Demonstration mit einer noch größeren Beteiligung war für Samstag, den 16. Januar vorgesehen. Die Ordnungskräfte fürchteten diese Demonstration, da sie den Boden für die Generalisierung und massive Ausdehnung des Kampfes hätte liefern können. Die Möglichkeit, dass Arbeiter, die am Samstag zur Demo kamen, die Nacht und den Sonntag mit den Beschäftigten verbringen würden, hätte zum Aufbau von starken und engen Verbindungen zwischen den ankommenden Arbeitern und den Tekel-Beschäftigten führen können. Die Ordnungskräfte bestanden darauf, die Demonstration erst am Sonntag abzuhalten, und Türk-İş manövrierte erneut und schwächte die Demonstration, indem sie die Arbeiter aus kurdischen Städten an der Beteiligung behindern wollten. Man rechnete auch damit, wenn die Arbeiter zwei Nächte in dem eiskalten Ankara verbringen und ein sit-in den Straßen abhalten würden, dass dadurch der Widerstandswille und die Kraft der Tekel-Beschäftigten gebrochen würde. Dieses Kalkül seitens der Türk-İş erwies sich jedoch am 17. Januar als falsch.
Die Demonstration am 17. Januar begann ruhig. Die Arbeiter und mehrere politische Gruppen sammelten sich am Ankaraer Bahnhof und zogen um 10.00 zum Sıhhiye Platz. Auf der Kundgebung, an der sich Zehntausende Arbeiter beschäftigten, sprachen zunächst ein Arbeiter der Tekel-Betriebe, dann ein Feuerwehrmann und ein Arbeiter der Zuckerfabrik. Die Explosion erfolgte später. Nach den Arbeitern sprach Mustafa Kumlu, der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes Türk-İş. Kumlu, der sich weder um den Kampf noch um die Lebensbedingungen der Tekel-Beschäftigten kümmerte, hielt eine sehr gemäßigte, versöhnliche und inhaltslose Rede. Türk-İş hatte versucht die Arbeiter von der Rednertribüne entfernt zu halten. Sie hatten Metallarbeiter vor ihnen postiert, die nicht im Bilde waren über das, was sich vor ihnen abspielte. Aber den Tekel-Beschäftigten, die die Metallarbeiter baten sie vorbeizulassen, gelang es bis zur Rednertribüne vorzudringen. Während Kumlus Rede gaben die Tekel-Beschäftigen ihr Bestes, um diesen mit ihren Zwischenrufen zu unterbrechen. Die letzte Beleidigung, welche eine Reaktion der Arbeiter auslöste, war die Ankündigung nach Kumlus Rede, dass Alişan, ein Popsänger, der überhaupt keinen Bezug zur Arbeiterklasse hat, ein Konzert am Ort der Kundgebung abhalten würde.
Die Arbeiter besetzten die Rednertribüne, riefen ihre eigenen Slogans, und obwohl die Gewerkschaftsführer den Ton abstellten, stimmten die anderen Arbeiter, die auch zur Kundgebung gekommen waren, in diese Slogans ein. Eine Zeitlang verloren die Gewerkschaften total die Kontrolle, sie lag in den Händen der Arbeiter. Andere Gewerkschaftsführer, die auf die Bühne eilten, fingen an auf der einen Seite radikale Reden zu schwingen und andererseits die Arbeiter aufzufordern, die Bühne zu verlassen. Als die Arbeiter ihnen nicht folgten, versuchten sie die Arbeiter zu provozieren und sie gegeneinander zu hetzen, sowie gegen die Studenten und die anderen Arbeiter, die zu ihrer Unterstützung erschienen waren. Die Gewerkschafter versuchen die Arbeiter, die seit Beginn des Kampfes in Ankara ausgeharrt hatten, gegen die zu hetzen, die erst kürzlich angekommen waren. Am Ende schafften es die Gewerkschafter die Arbeiter, welche die Bühne besetzt hielten, von dieser zu drängen und sie dazu zu bewegen, schnell wieder vor das Gewerkschaftsgebäude zu gehen. Die Tatsache, dass Reden mit der Aufforderung zum Hungerstreik und Todesfasten vorgetragen wurden, um die Aufrufe zu einem Generalstreik herunterzuspielen, ist aus unserer Sicht interessant. Es reichte aber nicht, die Wut der Arbeiter zu besänftigen, indem sie einfach vor das Gewerkschaftsgebäude zurückkehrten. Slogans wie „Generalstreik, allgemeiner Widerstand“, „Türk-İş, unsere Geduld hat Grenzen”, “Wir werden die ausverkaufen, die uns ausverkaufen“, wurden da vor dem Gewerkschaftsgebäude gerufen. Einige Stunden später durchbrach eine Gruppe von 150 Arbeitern die gewerkschaftliche Barrikade vor dem Türk-İş Gebäude, drangen in das Gebäude ein und besetzten es. Tekel-Beschäftigte, die im Gebäude auf der Suche nach Mustafa Kumlu waren, fingen an vor der Tür von Kumlus Büro zu rufen „Feind der Arbeiter, Diener der AKP“.
Nach den Demonstrationen am 17. Januar wurden von den Arbeitern Anstrengungen unternommen, ein anderes Streikkomitee zu gründen. Diesem Komitee gehörten Arbeiter an, die nicht meinten, dass ein Hungerstreik ein gangbarer Weg vorwärts sei, und die stattdessen hervorhoben, dass man nur vorwärtsgehen könne, indem man den Kampf ausdehnte. Die Bemühungen zur Bildung des Komitees wurden allen Arbeitern bekannt gemacht; die Mehrheit der Arbeiter unterstützte dies. Und diejenigen, die nicht für diese Idee waren, sprachen sich auch nicht dagegen aus. Zu den Aufgaben des Komitees gehörten neben dem Vortragen von Forderungen gegenüber den Gewerkschaften das Ermöglichen einer Verbindung unter den Arbeitern und deren Selbstorganisierung. Wie beim vorherigen Streikkomitee gehörten diesem auch ausschließlich Arbeiter an und es war völlig unabhängig von den Gewerkschaften. Die gleiche Entschlossenheit zur Selbstorganisierung machte es Hunderten von Tekel-Beschäftigten möglich, sich der Demonstration der Beschäftigten des Gesundheitswesens anzuschließen, die am 19. Januar in einen eintägigen Streik traten. Am gleichen Tag, als sich nur ca. 100 Arbeiter am dreitägigen Hungerstreik beteiligen sollten, schlossen sich diesem 3.000 an, obwohl das Gefühl weit verbreitet ist, dass dies kein adäquates Mittel ist, um den Kampf weiterzubringen. Der Grund ist, dass man die Hungerstreikenden nicht alleine lassen wollte, ihnen seine Solidarität bekunden wollte.
Obgleich die Tekel-Beschäftigten regelmäßig Versammlungen unter sich in den Städten abhalten, wo sie wohnen, ist es bislang noch zu keiner Vollversammlung mit Beteiligung aller Arbeiter gekommen. Und dennoch trug seit dem 17. Dezember die Straße vor der Türk-İş-Zentrale immer mehr die Merkmale einer informellen aber regelmäßigen Massenversammlung. Auf dem Sakarya-Platz versammeln sich in diesen Tagen Hunderte Arbeiter aus verschiedenen Städten und diskutieren, wie sie den Kampf vorwärtsbringen, ihn ausdehnen, und was sie sonst noch tun können. Ein anderes wichtiges Merkmal dieser Kämpfe war, wie die Arbeiter verschiedenen ethnischen Ursprungs es schafften, sich gegen die kapitalistische Ordnung zu vereinigen, trotz all der Provokationen und Spaltungsversuche des Regimes. Der Slogan „Kurdische und türkische Arbeiter – ein Kampf“, der seit den ersten Tagen gerufen wurde, verdeutlicht dies klar. Im Kampf um Tekel tanzten viele Arbeiter aus der Gegend des Schwarzen Meers Şemame und viele kurdische Arbeiter tanzten zum ersten Mal den Horon-Tanz [14]. Ein anderes herausragendes Merkmal ist die Wichtigkeit der Ausdehnung des Kampfes und der Arbeitersolidarität. Dies stützt sich nicht auf eine enge nationale Perspektive, sondern umfasst die gegenseitige Unterstützung und Solidarität der Arbeiter der ganzen Welt.
Den Tekel-Beschäftigten gelang es auch zu verhindern, dass die oppositionellen Parteien den Kampf für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten. Sie wussten, wie heftig die Republikanische Volkspartei [15] die Arbeiter angriff, die von Kent AŞ[16] entlassen wurden, wie die Nationalistische Bewegungspartei [17] sich an der Gestaltung der Staatspolitik beteiligte und gegen die Arbeiterklasse vorging. Ein Arbeiter brachte dieses Bewusstsein deutlich in einem Interview zum Vorschein: „Wir verstehen, wer all diese Leute sind. Leute, die zuvor für die Privatisierungen stimmten, wollen uns jetzt vorgaukeln, dass sie Verständnis für unsere Lage hätten. Bislang habe ich immer für die Nationalistische Bewegungspartei gestimmt. Ich bin zum ersten Mal auf Revolutionäre in diesem Kampf gestoßen. Ich beteilige mich an diesem Kampf, weil ich ein Arbeiter bin. Revolutionäre stehen an unserer Seite. Die Nationalistische Bewegungspartei und die Republikanische Volkspartei halten Fünf-Minuten–Reden und verschwinden dann wieder. Einige von uns klatschten ihnen am Anfang Beifall, als sie ankamen. Jetzt hat sich das Blatt gewendet.“ [18] Das deutlichste Beispiel dieses Bewusstseins konnte man erkennen, als die Tekel-Leute die Redner der faschistischen Alperen Organisation [19], vorstellten, d.h. die gleiche Organisation, die die Kent AŞ-Beschäftigten angriff, als diese im Abdi İpekçi Park demonstrierten, weil sie Kurden sind. Der Tekel-Kampf leistete auch einen großen Beitrag zum Kampf der Feuerwehrleute, die brutal nach ihrer ersten Demonstration angegriffen wurden. Sie stärkten deren Moral, was sie ermutigte, ihren Kampf weiter zu führen. Allgemein haben die Tekel-Leute nicht nur den Feuerwehrleuten Mut gemacht, sondern allen Bereichen der Klasse in der Türkei, die in den Kampf treten wollen.
Die Tekel-Beschäftigten haben es geschafft, in den Streik zu treten, der für alle Arbeiter zu einem Bezugspunkt geworden ist. Deshalb stehen heute die Tekel-Beschäftigten stolz an der Spitze der Arbeiterklasse in der Türkei, und führen unsere bislang jahrelang schlummernde Klasse in den Kampf der Arbeiter weltweit. Ihr Kampf beinhaltet den Keim des Massenstreiks, der von Ägypten bis Griechenland, von Bangladesch bis Spanien, von England bis China die Welt in den letzten Jahren erschüttert hat. Dieser Kampf geht im Augenblick noch weiter; der Moment, die Lehren daraus zu ziehen ist noch nicht gekommen. Nachdem auf der einen Seite die Idee eines Hungerstreiks und eines Todesstreiks vorgeschlagen wird, andererseits ein aus den betroffenen Arbeitern zusammengesetztes Streikkomitee der Meinung ist, dass die Idee eines Hungerstreiks nicht die beste Waffe im Kampf ist und sie stattdessen den Kampf ausdehnen wollen, und Türk-İş Gewerkschaftsbürokraten, die als Handlanger des Staates agieren und Arbeiter, die auf einen Generalstreik hinarbeiten wollen, zusammenprallen, ist es schwer vorherzusagen, wie und wohin sich der Kampf entwickeln und was aus ihm werden wird. Aber egal, was aus diesem Kampf werden wird, die sehr ehrenhafte Haltung der Tekel-Beschäftigten wird wichtige Früchte und sehr kostbare Lehren für die gesamte Arbeiterklasse hinterlassen. Gerdûn, 20.01.10
[1] Tekel verfügte früher über ein staatliches Monopol im Tabak- und Alkohol-produzierenden Gewerbe.
[2] eine linksextreme Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes. Revolutionäre Arbeitergewerkschaftsverband und die Hauptgewerkschaft des Öffentlichen Dienstes, die für ihre faschistischen Sympathien bekannt ist.
[3] ebenso der Führer der herrschenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei AKP
[4] https://www.cnnturk.com/2009/turkiye/12/05/erdogana.tekel.iscilerinden.p... [2]
[5] eine Stadt im türkischen Kurdistan.
[6] https://www.evrensel.net/haber.php?haber_id=63999 [3]
[7] Tek Gıda-İş, Nahrungsmittel, Alkohol, Tabakarbeiter Gewerkschaft, Mitglied der ürk-İş
[8] https://www.evrensel.net/haber.php?haber_id=63999 [3]
[9] Konföderation der Türkischen Gewerkschaften, der ältesten und größten Gewerkschaft in der Türkei, die eine infame Geschichte hinter sich hat, nachdem sie unter dem Einfluss der USA in den 1950er Jahren gegründet wurde, sich auf das Modell der AFL-CIO stützte und über viel Erfahrung bei der Sabotage der Arbeiterkämpfe verfügt
[10] Bekannt als die inoffizielle Hauptstadt Kurdistans, ist Diyarbakır eine Metropole in Türkischen Kurdistan
[11] https://www.kizilbayrak.net/sinif-hareketi/haber/arsiv/2009/12/30/select... [4]
[12] eine Stadt in Türkisch Kurdistan.
[13] https://tr.internationalism.org/ekaonline-2000s/ekaonline-2009/tekel-isc... [5]
[14] Şemamme ist ein sehr berühmter kuridscher Tanz, und Horon ist ein sehr berühmter Tanz aus der Schwarzmeer-Region der Türkei.
[15] Die Kemalisten, eine säkuläre, linksnationalistische Partei, Mitglieder der Sozialistischen Internationale, extrem chauvinistisch.
[16] Kommunalbeschäftigte aus İzmir, eine Metropole an der Küste der Ägäis. Diese Arbeiter wurden von der Republikanischen Volkspartei gefeuert, die die Kontrolle über die Gemeinde ausübten, und die dann brutal von der Partei angegriffen wurden, als sie gegen die Parteiführer protestierten.
[17] die größte faschistische Partei.
[18] https://www.kizilbayrak.net/sinif-hareketi/haber/arsiv/2009/12/30/select... [4]
[19] eine Mörderbande, die mit der Großen Einheitspartei verbunden ist, eine radikalfaschistische Abspaltung von der Nationalistischen Bewegungspartei.
In unserem ersten Artikel über den Streik der Tekel-Beschäftigten schilderten wir die Ereignisse bis zum 20. Januar. Mit diesem Artikel setzen wir die Schilderung des Kampfes fort und berichten über die Zeit von der Aufstellung der Zelte im Zentrum von Ankara bis zum 2. März, als die ArbeiterInnen Ankara wieder verließen.
An dieser Stelle möchten wir uns zunächst ganz herzlich bei den Tekel-Beschäftigten bedanken, die uns durch ihre Auskünfte über die Ereignisse, ihre Erfahrungen und ihre Gedanken wertvolle Fingerzeige bezüglich der weiteren Entwicklung des Tekel-Kampfes wie auch der zukünftigen Kämpfe unserer Klasse insgesamt liefern.
Wir beendeten den ersten Artikel mit dem Hinweis auf die Bemühungen der ArbeiterInnen um die Bildung eines Komitees. Von Beginn des Jahres bis zum 20. Januar gab es vier bis fünf Anläufe zur Bildung eines Komitees, und auch danach gab es weitere Versuche.
Ein Hauptproblem war die mangelnde Verständigung unter den ArbeiterInnen. Zwar verbrachten die Streikenden die meiste Zeit zusammen und diskutierten ständig miteinander. Jedoch waren sie nicht in der Lage, ein Organ - wie eine Massenversammlung beispielsweise - auf die Beine zu stellen, das einen Rahmen für ein Zusammenkommen und organisiertes Vorgehen geboten hätte. Wie wir weiter unten im Artikel erklären werden, wurde die Lage dadurch erschwert, dass die ArbeiterInnen aus den verschiedenen Städten ihre Zelte jeweils separat voneinander aufstellten und die meiste Zeit getrennt voneinander verbrachten. Diese Separierung blockierte die Verständigung.
Doch ein noch größeres Problem war, dass die meisten Arbeiter keine Alternative zu den Gewerkschaften suchten oder zumindest dabei zögerten. Viele Gewerkschafter wurden aus dem einfachen Grund geachtet, weil sie Gewerkschafter sind. Man glaubte ihnen mehr als den entschlossenen, militanten Arbeitern, die die Bewegung faktisch anführten. Dadurch entstand das Problem, dass die ArbeiterInnen nicht wirklich hinter ihren eigenen Entscheidungen standen. Die psychologische Abhängigkeit der Streikenden von den Gewerkschaftsoffiziellen verhinderte die Gründung von Arbeiterkomitees außerhalb der Gewerkschaften.
Ein Kollege aus Adıyaman bestätigte diese Beobachtung: „Wenn die Sachen in den Zelten diskutiert worden wären und wenn jedes Zelt einige Leute geschickt hätte, wäre das Komitee quasi von selbst gegründet worden. Unter diesen Umständen hätte sich dem niemand widersetzt, es wäre unmöglich gewesen. Wir versuchten diese Frage aufzuwerfen (…) Die mangelnde Kommunikation war ein Problem, wir hätten zum Beispiel ein Kommunikationszelt errichten sollen, als die Zelte aufgebaut wurden. Wenn wir das getan hätten, dann wäre wohl ein Komitee rund um das Zelt gebildet worden.“
Die ArbeiterInnen erklärten offen ihr mangelndes Vertrauen in die Gewerkschaften, aber ihr Zaudern verhinderte die Suche nach einer Alternative. In dieser widersprüchlichen Haltung kommt der Einfluss zum Ausdruck, den die Gewerkschaften noch immer auf die Beschäftigten haben. Obgleich Letztere den Gewerkschaften nicht trauen, klammern sie sich an sie und halten unbeirrt an dem Glauben fest, dass sie ihre Stimme mit Hilfe der Gewerkschaften zum Ausdruck bringen könnten.
Doch die Gewerkschaftsvertreter sind durchaus besorgt, wenn sie das Wort „Komitee“ hören. Sie sind sich sehr wohl bewusst, dass, wenn ein Komitee gegründet werden würde, sie ihre Kontrolle verlören; die Masse der ArbeiterInnen wäre nicht mehr von ihnen zu steuern. Für die ArbeiterInnen hingegen ist dies nicht klar. Dennoch: ungeachtet der Probleme, auf die die ArbeiterInnen bislang gestoßen sind, und ungeachtet der Reaktionen der Gewerkschaftsoffiziellen gab und gibt es weitere Versuche, ein Komitee zu gründen.
Kommen wir zu den Ereignissen zurück: Am 14. Januar versammelten sich nahezu alle Tekel-Beschäftigten aus fast allen Städten, wo es Tekel-Werke gibt, mit ihren Familien zu einem dreitägigen ununterbrochenen Sit-in in Ankara. Um sich vor der Kälte zu schützen, machten die Arbeiter nachts Feuer. Am dritten Tag regnete es heftig. Es wurden Plastikplanen über die Straßen gespannt, unter denen die Streikenden schliefen. So entstand mitten in Ankara eine Zeltstadt. Der Aufbau von Zelten entsprang, wie auch andere Aspekte des Kampfes, einer sehr spontanen Entwicklung. Ursprünglich hatten die Arbeiter die Aufstellung eines Kampfzeltes vor dem Gewerkschaftsgebäude gefordert.
Diese Forderung stand im Zusammenhang mit den Bestrebungen, ein Komitee zu errichten, aber die Gewerkschaften stellten sich dagegen. Wenn die Zelte schießlich doch errichtet wurden, dann geschah dies aus rein pragmatischen Gründen: Die Wetterbedingungen machten solch einen Schritt erforderlich. Die Plastikplanen, welche die Straßen überspannten, nahmen schnell die Form von Zelten an, und bald fingen Arbeiter aus den verschiedenen Städten an, ihre eigenen Zelte aufzubauen. Erst nachdem die Zelte aufgestellt waren, gaben die Gewerkschaften ihre Zustimmung dazu.
Der Grund für die räumliche Abtrennung der Zelte gemäß den verschiedenen Standorten: die Arbeiter wollten so das Eindringen von Spitzeln und Provokateuren in die Zelte unterbinden, aber auch eine mögliche Zerstreuung verhindern, indem jeder die anderen im Blick hatte. Aufgrund der Kälte wurden noch mehr Plastikplanen herbeigeschafft. Weil die Feuer viel Ruß und Rauch verursachten, schafften die Arbeiter Öfen herbei. So wuchs schließlich mitten in Ankara eine lebendige, atmende Zeltstadt heran.
Am 17. Januar fand im Anschluss an das Sit-in eine Massendemonstrationen zur Unterstützung der Tekel-Beschäftigten statt, an der die Tekel-Leute und ihre Unterstützer aus anderen Städten teilnahmen. Im Bewusstsein, dass sie den Kampf nur durch seine Ausdehnung gewinnen können, drängten Tekel-Beschäftigte den Gewerkschaftsdachverband Turk-Is zur Ausrufung eines Generalstreiks. Nachdem die Arbeiter die Rede des Turk-Is-Vorsitzenden Mustafa Kumlu gehört hatten, der den Generalstreik nicht einmal erwähnte, besetzten sie zunächst die Rednertribüne, von der die Gewerkschaftsführer zu den über 100.000 Demonstranten sprachen, und schließlich das Gewerkschaftsgebäude. Dies veranlasste Mustafa Türkel, Vorsitzender der Tek-Gida Is (die Gewerkschaft, der die Tekel-Beschäftigten angehören), dazu, sich von Kumlu zu distanzieren und darüber zu klagen, wie isoliert er in Turk-Is sei und dass die anderen Gewerkschaften inner- wie außerhalb des Dachverbandes ihre Unterstützung verweigerten.
Für und Wider des Hungerstreiks
Dieser Demonstration folgte ein vorerst auf drei Tage befristeter Hungerstreik. Nach dem dritten Tag sollte der befristete Hungerstreik in einen unbefristeten übergehen. Die Streikenden erblickten im Hungerstreik allen Ernstes den letzten Ausweg. Sie meinten, dass sie tot mehr wert seien als lebendig, da die Renten für ihre Familien im Falle ihres Todes höher wären als ihre jetzigen Löhne. Dies konnte die Zweifel an der Richtigkeit des Hungerstreiks zwar nicht ausräumen, dennoch begannen am 19. Januar 140 Arbeiter mit dem Hungerstreik.
In den folgenden Tagen kündigten die Gewerkschaften KESK und DISK einen gemeinsamen Aktionsplan an. Es wurde beschlossen, am 22. Januar die Arbeit einen Tag später zu beginnen, und die Absicht angekündigt, tägliche Unterstützungsbesuche und Proteste zu veranstalten. Am 21. Januar trafen sich Turk-Is, KESK, DISK und die eher rechte Kamu-Sen, Memur-Sen und Hak-Is und verkündeten anschließend, wenn die Regierung das Problem bis zum 26. Januar nicht löse, würden sie die „aus der Produktion kommende Macht“ mobilisieren. Sie vergaßen auch nicht, das Datum des geplanten Solidaritätsstreiks zu nennen. Noch am gleichen Tag lud Premierminister Erdogan den Turk-Is-Vorsitzenden Kumlu zu Gesprächen ein. Nach dem Treffen beauftragte die Regierung Mehmet Simsek, den Finanzminister, mit der Erstellung eines neuen Lösungsvorschlags. Ausgerechnet Simsek, der zuvor geäußert hatte: „Wenn unsere Regierung einen Fehler gemacht hat, dann den, dass wir zu nachsichtig und mitfühlend mit unseren Arbeitern waren, die ihre Stelle aufgrund der Privatisierung verlieren“.
Nun wollte er mit einem neuen Lösungsvorschlag erneut eine Turk-Is-Delegation treffen. Darüber sollten fünf Tage vergehen. In Anbetracht dieser unsicheren Lage und unter Berücksichtigung ärztlichen Rates beendeten die Arbeiter den Hungerstreik nach dem dritten Tag. Am 26. Januar verkündete die Regierung ihre abschlägige Antwort. Dennoch wurden die Verhandlungen noch bis zum 1. Februar fortgesetzt. Es war offensichtlich, dass sich die Politik im Zeitschinden übte. Letztendlich ließ die Regierung das Sparpaket 4-C nicht fallen, sondern nahm nur gewisse Modifikationen vor. Die Ausdehnung der maximalen Arbeitszeit auf elf Monate wurde nun besser entlohnt, Zuschläge für ältere Beschäftigte wurden ebenso wie die Gewährung von 22 Urlaubstagen zugesagt. Die Arbeiter antworteten: „Wir wollen keine kosmetischen Verbesserungen am 4-C“.
Da die Verhandlungen zu keinem Erfolg führten, wurde der Hungerstreik am 2. Februar wieder aufgenommen. Die Gewerkschaftsverbände Türk-Is, Hak-Is, DISK, Memur-Sen, Kamu-Sen und KESK kündigten nach einem Treffen erneut „Aktionen (an), die die Kraft aus der Produktion einsetzen“ würden. Natürlich entsprang diese Entscheidung nicht der Eigeninitiative der Gewerkschaften, sondern kam nur aufgrund des Drucks der ArbeiterInnen zu Stande. Diese hatten auf der Demonstration am 17. Januar ihre Entschlossenheit zur Durchführung eines Generalstreiks gezeigt, als sie sowohl die Rednertribüne als auch das Gewerkschaftsgebäude der Turk-Is besetzten. Die Arbeiter forderten Kumlus Rücktritt; Mustafa Türkel sah sich gezwungen, eine kritische Rede über den Gewerkschaftsverband zu halten und die anderen Gewerkschaften dazu aufzurufen, sich für einen Generalstreik zu einzusetzen. Die Entscheidung der Gewerkschaften kam also eindeutig unter dem Druck der Arbeiter zustande. Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften alles unternommen, um Zeit zu schinden, um letztlich dann doch einen Generalstreik auszurufen.
Nach dieser Ankündigung erklärte Erdogan, dass die Arbeiterdemonstrationen weit übers Ziel hinausgeschossen seien. „Bitte schön, wir haben unser Bestmögliches getan. Doch statt lediglich mehr Rechte einzufordern, hat man nun eine Kampagne gegen die Regierung begonnen.“
Nachdem die Arbeiterdemonstrationen vor dem Gewerkschaftsgebäude als illegale Besetzung erklärt wurden, äußerte Erdogan: „Wir werden bis zum Ende des Monats geduldig sein. Danach werden wir alle erforderlichen juristischen Schritte einleiten (…) weil die Ereignisse jetzt durch ideologische Gruppen und Extremisten ausgeschlachtet werden. Sie benutzen einen unverschämten Ton und zielen auf mich und meine Partei ab. Die Arbeiter werden ausgenutzt.“ Der Gouverneur von Ankara, Kemal Onal, schlug in die gleiche Kerbe. Kurz vor den Solidaritätsaktionen zugunsten der Tekel-Beschäftigten erklärte er diese für ungesetzlich und untersagte den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes die Teilnahme an solchen Protesten. Er drohte all jenen mit Repressalien, die sich an solchen Protesten beteiligten.
Auch wenn die Gewerkschaften einen Generalstreik angekündigt hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie diesen auch wirklich mittragen und nicht blockieren wollten. Viele regierungsfreundliche Gewerkschaften innerhalb des Dachverbandes Turk-Is stellten sich gegen den Generalstreik-Beschluss. Regierungsnahe Verbände wie Memur-Sen und Hak-Is sagten in letzter Minute ihre Beteiligung ab. Die Turk-Is als Ganzes beschloss lediglich ihre Teilnahme an den Demonstrationen in Ankara – und das nur in Form eines Auftritts von Gewerkschaftsführern. So wurde der Wille der Basis untergraben; die ArbeiterInnen aus den verschiedenen Städten und Branchen konnten nicht zusammenkommen. An besagtem Tag beteiligten sich vielleicht 30.000-40.000 ArbeiterInnen an den Demonstrationen, obwohl eigentlich mehr als 100.000 erwartet wurden. Die Gewerkschaften versuchten eine größere Zahl Teilnehmer zu verhindern. Ihre Mobilisierung für den Streik blieb weithin unter dem versprochenen Niveau. Dagegen beteiligten sich ca. 90 Prozent, d.h. ca. 9000 Beschäftigte der insgesamt 10.857 Tekel-Beschäftigten. In anderen Städten kam es gleichzeitig zu Solidaritätsdemos für die Tekel-Leute.
So kam kein richtiger Generalstreik zustande. Er war zu begrenzt, zu schwach. Die Stärke eines Generalstreiks ergibt sich aus der Drohung, den gesamten Produktionsprozess lahmzulegen. Doch am 4. Februar bemerkte man, wenn man über die Ausrufung des Streiks durch die Gewerkschaften nicht im Bilde war, nicht wirklich, dass ein Streik stattfand. Selbst einige Gewerkschaftsführer mussten dies eingestehen. Sami Evren, der Vorsitzende der KESK, sagte: „Die von den Tekel-Beschäftigten ausgelöste Bewegung hat eine große Solidarisierung in der ganzen Türkei hervorgerufen. Dies ist ein Erfolg der Bewegung, aber es gab Erfolge und Misserfolge bei der Einsetzung der Kräfte, die man auf der Ebene der Produktion entwickeln kann. Da wurde nicht genügend Druck gemacht, das müssen wir eingestehen.“ Der Vorsitzende der DISK, Suleyman Celebi, meinte: „In 81 Städten kam es zu ‚Wir gehen nicht zur Arbeit‘-Aktionen. Es stimmt, dass die Aktionen in Istanbul und Ankara weit unter dem erwarteten Niveau blieben, aber man kann nicht behaupten, dass dies den allgemeinen Erfolg der Solidarisierung geschmälert hätte.“
Am gleichen Tag, den 4. Februar, ergriff die Regierung einige Gegenmaßnahmen. Das neue Gesetz zur Beschäftigung von Zeitarbeitern, „4-C“, wurde im Gesetzesblatt veröffentlicht. Die Zahl der im Rahmen von 4-C Beschäftigten wurde für das Jahr 2010 auf 36.215 festgelegt; die Tekel-Beschäftigten eingerechnet. Dieses Gesetz bedeutete nicht nur die Abschaffung des Rechtes der ArbeiterInnen, acht Monate lang Arbeitslosengeld zu beziehen, sondern zwang die Beschäftigten mittels der Erpressung der Arbeitslosigkeit zur Annahme von sehr niedrigen Löhnen.
Bis zum 4. Februar hatten die ArbeiterInnen sich darauf konzentriert, die Gewerkschaftsverbände dazu zu bewegen, einen Generalstreik auszurufen und damit die Ausdehnung der Bewegung zu bewirken. Weil diese Erwartungen nicht erfüllt wurden und es zu keinem wirklichen Generalstreik kam, wurde der Schwerpunkt des Kampfes auf juristische Auseinandersetzungen verlagert. Wenn juristische Auseinandersetzungen in den Vordergrund treten, ist dies im Allgemeinen ein Ausdruck der Schwächung des Kampfes. Das Beispiel Tekel ist hier keine Ausnahme. Die Rolle der Gewerkschaften bei der Schwächung des Kampfes und bei der Ausrichtung auf die juristischen Auseinandersetzungen kann nicht unterschätzt werden.
Am 2. Februar begannen die Arbeiter einen dreitägigen Hungerstreik, welcher dann am 5. Februar beendet wurde. Doch kaum war dieser zu Ende, fingen weitere 100 Beschäftigte einen unbegrenzten Hungerstreik an. Der Vorsitzende von Tek Gida-IS, Mustafa Türkel, verkündete das Ende dieses Hungerstreiks am 11. Februar. Dann rief er 16 Arbeiter, die trotzdem weiter machen wollten, zur Aufgabe auf. Aber diese wollten nicht aufgeben.
Am 16. Februar verkündeten Turk-Is, Kamu-Sen, KESK und DISK ihren gemeinsamen Aktionsplan für den 18. Februar. Spruchbänder mit der Aufschrift: „Der Kampf der Tekel-Beschäftigten ist unser Kampf“ sollten vor allen Gewerkschaftsgebäuden der vier Verbände angebracht werden. Am 19. Februar sollten Sit-ins und Pressekonferenzen in allen Städten abgehalten werden, und für den 20. Februar war eine Solidaritätsdemo in Ankara vorgesehen. Die angereisten Demonstranten sollten sich auf dem Kolej-Platz sammeln, zum Sakarya-Platz marschieren und dort mit den Tekel-Beschäftigten die Nacht verbringen.
Tekel-Beschäftigte aus Adana riefen zur Demonstration am 20. Februar auf und betonten die Notwendigkeit der Ausdehnung des Kampfes: „Wir wollen, dass alle, die sich gegen die schlechten Verhältnisse in der Türkei auflehnen wollen, unsere Bewegung unterstützen. Es geht nicht mehr nur um uns. Die Mehrheit ist betroffen, die Unterdrückten. Hoffentlich werden wir gewinnen. Wir haben ein Feuer entfacht, und die Öffentlichkeit muss jetzt hier weitermachen. Es geht um unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder, die Zukunft der Arbeiterklasse in der Türkei. Wir haben etwas angestoßen, die anderen müssen jetzt die Bewegung weiterführen. Wir werden uns hier nicht zurückziehen, bevor wir bekommen haben, was uns zusteht, aber die Öffentlichkeit muss aufwachen und uns mit ihren Familien, Kindern usw. unterstützen..“
Am 20. Februar fanden die Solidaritätskundgebungen unter Beteiligung der Gewerkschaften, politischen Parteien und Massenorganisationen statt. ArbeiterInnen der Balnaks Logistik-Firma, die ihre Arbeit just zu dem Zeitpunkt verloren hatten, als die Tekel-Belegeschaft ihren Kampf begann, waren ebenso gekommen. Die Demonstration verlieh dem Kampf der Tekel-Beschäftigten moralischen Auftrieb.
Am 23. Februar trafen sich die vier Gewerkschaftsorganisationen erneut. Sie beschlossen die Durchführung einer großen Aktion für den 26. Mai., falls die Regierung nicht nachgab. Aber eine größere Mobilmachung erst drei Monate später zu planen hieß, die ArbeiterInnen für dumm zu verkaufen. Die Entscheidung wurde im Internet verbreitet, ehe sie offiziell verkündet wurde. Niemand wollte dies glauben. Die untere Funktionärsebene war über die Entscheidung nicht informiert worden und behauptete, es handle sich um eine Falschmeldung. Nach der Ankündigung kamen ArbeiterInnen zusammen und riefen Parolen gegen Turk-Is und Kumlu. In diesem kritischen Moment zeigte Türkel sein wahres Wesen ziemlich offen: „Wenn ihr weiter den Rücktritt von Kumlu verlangt, werde ich zurücktreten.“ sagte er den Protestierenden. Den Arbeitern war dies schnuppe.
Am 23. Februar kamen 13 Bergarbeiter in Balıkesir nach einer durch Grubengas verursachten Explosion ums Leben. Seit 2006 war dies der dritte große Unfall mit tödlichen Folgen für die Arbeiter aufgrund der Arbeitsbedingungen. 17 Arbeiter waren beim vorletzten Unfall ums Leben gekommen und drei bei einer früheren Explosion. Die Tekel-Beschäftigten waren bestürzt, als sie davon erfuhren. Die Bergarbeiter hatten ihr Leben wegen der unsicheren Arbeitsbedingungen verloren. Jetzt sollten die Tekel-Leute ähnlich unsicheren Bedingungen unterworfen werden. Die Wut der Klasse und ihr Schmerz mussten sich äußern. Ein Arbeiter aus Adıjaman erklärte: „Die Verstorbenen gehörten zu uns, wir mussten ihnen unsere Solidarität zeigen. Es gab eine hundertprozentige Beteiligung. Jeder spürte den Schmerz. Wir bereiteten Spruchbänder, schwarze Trauerbänder vor und verfassten eine Presseerklärung. Das war für unsere Klassensolidarität sehr wichtig.“ Man gedachte der Bergleute während der nunmehr regelmäßigen abendlichen Fackelzüge und hielt eine Schweigeminute zu Ehren der getöteten Bergleute ab. Der Slogan „Lang lebe die Klassensolidarität“ wurde zum Motto des Tages.
Am nächsten Morgen, dem 25. Februar, ereilte die Arbeiter eine neue Hiobsbotschaft. Ein Tekel-Kollege, Hamdullah Uysal, war bei einem Verkehrsunfall in Ankara ums Leben gekommen.
Der in Ankara geborene Hamdullah Uysal hatte bei Tekel in Samsun gearbeitet. Er war 39 Jahre alt und hatte zwei Kinder, eins davon behindert. Er hatte sich an den Hungerstreiks beteiligt. Die Tekel-Beschäftigen hatten noch weitere Verluste während des Kampfes hinnehmen müssen. Einigen war der Vater oder die Mutter gestorben oder gar Kinder, aber nun war es das erste Mal, dass einer von ihnen, ein Kollege, während des Kampfes gestorben war. Hamdullah Uysal war ein kämpferischer Arbeiter, der sich von Anfang an am Kampf beteiligt hatte. Seit dem Beginn der Bewegung war er in Ankara mit dabei, nur zweimal war er in seine Heimatstadt zurückkehrt. Die Arbeiter betrachteten ihn als einen Märtyrer des Klassenkampfes. Zudem riefen die Umstände seines Todes unter den Beschäftigten Wut und Empörung hervor. Uysal war morgens um 5:30 Uhr von einem Jeep angefahren worden, der von einem betrunkenen Fahrer auf dem Weg zum Morgengebet gesteuert wurde. Man war auf den Fahrer und die Klasse, die er verkörperte, wütend. Die Arbeiter sprachen von dem Unfallfahrer als den „reichen Typen mit dem Jeep“.
Da die Arbeiter Uysal als einen Märtyrer ihres Kampfes betrachteten und da die Zeltstadt vor dem Turk-Is-Gebäude wie ein Zuhause für sie geworden war, wollten sie eine Trauerfeier in der Zeltstadt abhalten und anschließend Uysal in seiner Heimat bestatten. Sie sprachen mit der Frau von Uysal, die meinte: „Die Straße vor dem Turk-Is Gebäude ist wie ein Zuhause für ihn geworden, das Zelt vor dem Turk-Is-Gebäude ist sein Zuhause. Er hätte sich das sicherlich gewünscht. Ihr könnt die Feier vor dem Turk-Is-Gebäude abhalten und ihn dann in die Heimat überführen.“
So begaben sich 400 bis 500 Tekel-Beschäftigte zur Gerichtsmedizin in Kecioren, wohin Uysals Leichnam überführt worden war. Eigentlich wollten fast alle ArbeiterInnen mitkommen, aber man beschloss, die Zahl zu begrenzen, um einige Arbeiter zum Schutz der Zelte abzustellen, da die Regierung weiterhin drohte, die Zelte abzureißen. Die ArbeiterInnen befürchteten, die Regierung könnte zum Angriff blasen und die Zelte abreißen, sobald Erstere den Sakarya-Platz verlassen hatten. So blieben einige zurück und harrten vor dem Turk-Is-Gebäude aus.
Die Tekel-Beschäftigten, die zur Gerichtsmedizin gingen, wollten den Leichnam mitnehmen. Sie mussten Stunden lang ausharren. Man sagte ihnen, dass Uysals Bruder und Onkel kämen, um den Leichnam in Empfang zu nehmen. Schließlich kam ein Verwandter von Uysal, der auch bei Tekel beschäftigt war, aber man verweigerte auch ihm die Aushändigung des Leichnams. Dann tauchte ein „Onkel“ auf, der der Ehemann einer Tante von Uysal zu sein behauptete. Die Gerichtsmediziner sagten, man werde ihm den Körper übergeben. Arbeiter, die wussten, dass man den Leichnam nur einem Verwandten ersten Grades übergibt, schenkten dieser Finte vom „Onkel“ keinen Glauben. Sie vermuteten hinter dem „Onkel“ einen Spitzel und stellten ihn zur Rede. Ihr Verdacht wurde bestätigt, dieser „Onkel“ gestand, ein Spitzel zu sein. Die Arbeiter pochten deshalb erneut auf Herausgabe des Leichnams an sie, doch die Polizei drängte sie zurück. Sie warteten stundenlang und versuchten vergeblich die Familie Uysal zu erreichen. Schließlich traf selbige persönlich ein. Aber die Ankaraer Polizei und die Leute des Gouverneurs setzten sie sofort unter Druck.
Schon auf dem Weg zur Gerichtsmedizin wurde sie von der Ankaraer Polizei gestoppt, die sie dazu zwingen wollte, ihre Unterschrift unter ein Schreiben zu setzen, das ihnen vorschreiben wollte, den Leichnam ohne eine Trauerfeier in Ankara direkt in Uysals Heimat zu überführen. Auch in der Gerichtsmedizin übte man Druck auf sie aus. Schließlich gab die Familie nach und willigte ein, dass der Leichnam ohne eine Trauerfeier in Ankara abtransportiert wurde.
In der Zwischenzeit sagte man den vor der Gerichtsmedizin wartenden ArbeiterInnen zu, dass man ihnen den Leichnam übergeben werde. Arbeiter stiegen auch in den Krankenwagen ein, mit dem sein Leichnam transportiert wurde. Doch eine Gruppe von Arbeitern erkannte, dass der Krankenwagen zu einem anderen Ziel fuhr als ursprünglich vereinbart. Sie stiegen aus und blockierten den Verkehr. Andere Arbeiter schlossen sich ihnen an. Die Polizei tauchte auf und stellte sich zwischen die Arbeiter, die das Auto blockierten, und denjenigen, die noch im Krankenwagen saßen. Die Arbeiter wollten sich gegenseitig unterstützen, aber die Polizei ging gegen sie mit Tränengas vor, trieb sie auseinander, woraufhin die Erstere eine zweite Barrikade errichteten. Dann griff die Polizei die kleinere Gruppe von Arbeitern an, die die Weiterfahrt des Krankenwagens blockierten, zerrte sie aus dem Wagen und wollte sie festnehmen. Jedoch konnte sich die größere Arbeitergruppe erneut sammeln und versuchte sich mit den anderen Arbeitern zusammenzuschließen. Dies gelang ihnen jedoch nicht mehr; die Polizei brachte den Krankenwagen unter ihre Kontrolle, indem sie die Arbeiter brutal verprügelte.
In der Zwischenzeit versuchten die Arbeiter, die vor dem Turk-Is ausgeharrt hatten, zur Mithat Pasha-Straße zu gelangen und am Unfallort Blumen zu hinterlegen. Die Polizei hinderte sie daran. Sie jagte die ArbeiterInnen, die auf dem Sakarya-Platz zusammengekommen waren, um ihren Kollegen vor der Gerichtsmedizin zu helfen, auseinander. Vor den Polizeiabsperrungen in der Mithat Pasha-Straße riefen die Arbeiter: „Ihr habt Angst vor unseren Toten“. Auch wurden Slogans wie „Tayyip, der Mörder“, und „Die mörderische AKP gegen die Arbeiter“ (AKP - Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, deren Vorsitzender Tayyip Erdogan ist) skandiert. Trotz all der Bemühungen der Polizei gelang es einer Gruppe von Arbeitern, Blumen am Unfallort Hamdullah Uysals zu hinterlegen.
Die Arbeiter, die von der Gerichtsmedizin zurückkehrten, zogen direkt zur Mithat Pasha-Straße. Dort errichtete die Polizei erneut Absperrungen, um die Arbeiter am Weiterkommen zu hindern. Den Arbeitern gelang es aber, die Absperrungen zu durchbrechen. Belagerer des Turk-Is-Gebäudes schlossen sich ebenso an. Insgesamt hielten sie ein 20 bis 25-minütiges Sit-in ab und riefen Slogans zur Erinnerung an Hamdullah Uysal. Die Polizei umzingelte die Arbeiter während dieser Kundgebung. Schließlich beendeten die Arbeiter das Sit-in und begaben sich zurück zur Zeltstadt.
Während all dieser Vorfälle bezogen die Gewerkschaften nie Stellung zugunsten der ArbeiterInnen. Als die Polizei die Arbeiter vor der Gerichtsmedizin angriff, war von den Gewerkschaften nichts zu sehen. Und als die Arbeiter, die vor dem Turk-Is-Gebäude verweilten, ihren Kollegen zu Hilfe eilen wollten, versuchten die Gewerkschaften, diese nur zu besänftigen und zur Rückkehr zu den Zelten zu bewegen.
Hamdullah Uysals Tod bewies erneut, wie viel Angst die Ordnungskräfte vor den ArbeiterInnen hatten. Die Polizei und der Gouverneur unternahmen alles, um die Arbeiter daran zu hindern, ihrem verstorbenen Kollegen das letzte Geleit zu geben, doch vergeblich. Vielleicht waren die Reaktionen der Arbeiter, die die Polizeiabsperrungen durchbrachen, ein Sit-in an der Unfallstelle veranstalteten und dabei kurzfristig den Verkehr blockierten, der angemessenste Abschied vom verstorbenen Kollegen.
Der Tod von Uysal hatte die Tekel-Beschäftigten ziemlich erschüttert, aber die Vorfälle halfen auch den ArbeiterInnen, die zu Hause geblieben waren, zu erkennen, wie ernst die Lage geworden war. Eines der Vermächtnisses Hamdullah Uysals war sein Aufruf zur Ausdehnung des Kampfes an die anderen ArbeiterInnen: „Alles, was die Arbeiterklasse gewonnen haben mag, wird zu einem Kompass für die Arbeiterbewegung in der Zukunft werden. Schließt euch unserem Kampf an, rettet unsere Zukunft.“
Am darauffolgenden Tag zogen 25 Arbeiter vor die AKP-Zentrale in Ankara. Die Tekel-Beschäftigten, die in das Gebäude gehen wollten, beabsichtigten ein Spruchband mit einem Bild Hamdullah Uysals aufzuhängen. Daraufhin griffen private Sicherheitskräfte und Polizei die Arbeiter im Gebäude an. Doch dies spornte die vor dem Gebäude wartenden Arbeiter an, auch ins Gebäude vorzudringen. Sie wurden ebenfalls angegriffen, viele von ihnen wurden dabei verletzt. 19 Arbeiter wurden in Untersuchungshaft genommen. Es wurden Slogans wie „Mörder der AKP, Tayyip der Mörder“ gerufen, und die Arbeiter erläuterten, weshalb die Regierung für den Tod von Hamdullah Uysal verantwortlich war. Die verbliebenen Arbeiter blockierten die Mannschaftswagen der Polizei, welche die Arbeiter in U-Haft bringen sollten. Sie riefen: „Tekel ist überall, kämpft überall.“ „Repression kann uns nicht abschrecken“. Leider gelang es ihnen nicht, die festgenommenen Arbeiter aus den Händen der Polizei zu befreien.
Als eine Gruppe von ArbeiterInnen aus dem Izmirer Zelt von der Nachricht erfuhr, dass einige Arbeiter in U-Haft saßen, zogen sie zur Polizeiwache. Die festgehaltenen Arbeiter wurden nicht registriert, mit der Schutzbehauptung, wegen laufender Bauarbeiten sei das nicht möglich gewesen. Eine Gruppe von Arbeitern vor dem Gebäude der Turk-Is übte Druck auf die Gewerkschaften aus, ihre Rechtsanwälte zu den Inhaftierten zu schicken. All das hatte sich außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften zugetragen; unter dem Druck der Arbeiter erschienen die Gewerkschaftsfunktionäre mit ihren Rechtsanwälten in der Polizeiwache. Am nächsten Tag warteten die Arbeiter von zehn Uhr vormittags bis um neun Uhr abends vor dem Gerichtsgebäude, bis ihre Kollegen freigelassen wurden. Letztere hatten ca. 40 Stunden in U-Haft gesessen. 15 Arbeiter wurden nachmittags entlassen. Gegen vier wurden Ermittlungen wegen „Beschädigung öffentlichen Eigentums und Ungehorsam gegenüber einem Polizeioffizier“ eingeleitet. Aber auch sie wurden in der gleichen Nacht wieder freigelassen. Mit den vor dem Gerichtsgebäude ausharrenden Kolleg/Innen fuhren sie zurück zur Zeltstadt.
Am 1. März urteilte die Justiz zugunsten der Klage gegen die Anwendung der Einmonatsfrist für das 4-C für die Beschäftigten. Die Arbeiter feierten dies als einen Erfolg. Obwohl die militanten Arbeiter ihre Kollegen vor dieser Einschätzung warnten, wollten die anderen dies nicht zur Kenntnis nehmen. Dieses falsche Siegesgefühl untergrub die gemeinsame Haltung der ArbeiterInnen am nächsten Tag.
Am 2. März kündigte Musta Türkel an, dass die Demonstrationen der Tekel-Beschäftigten in Ankara beendet sei und die Zeltstadt abgebaut werde. Die Arbeiter würden am 1. April nach Hause zurückkehren. Dies führte zu einer Spaltung der Arbeiter in diejenigen, die sich der Entscheidung der Gewerkschaft zur Beendigung des Kampfes unterwarfen, und denjenigen, die den Kampf weiterführen wollten. Die Gegner riefen Slogans wie: „Die Zelte sind unsere Ehre. Wir lassen es nicht zu, dass ihr unsere Ehre verletzt.“ Andere Arbeiter riefen: „Türkel (der Gewerkschaftsführer) ist unsere Ehre“. Die Verfechter der Gewerkschaftsentscheidung und die Gegner wurden nun gegeneinander ausgespielt. Einige Zelte wurden bereits abgebaut, noch bevor Türkels Rede beendet war. Den Arbeitern wurde keine Zeit gelassen, eine allgemeine Diskussion zu führen. Die Arbeiter, welche sich der Entscheidung der Gewerkschaft widersetzten, diskutierten untereinander und wollten eine Strategie festlegen. Die Gewerkschaften wollten die beiden Gruppen gegeneinander hetzen und die Gegner der Gewerkschaftsentscheidung isolieren und abdrängen. Die Gewerkschaften wollten die „Unruhestifter“ bis zum 1. April vertreiben und sie vom Rest der Klasse isolieren, um so die anderen Arbeiter wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
Doch die militanten Arbeiter liefen nicht in die gewerkschaftliche Falle. Um zu vermeiden, dass sie gegeneinander ausgespielt wurden, widersetzten sie sich nicht länger der Gewerkschaftsentscheidung. Die Gegner des Zeltabbaus waren in den Zelten aus Adiyaman, Izmir, Istanbul und Diyarbakir in der Mehrheit. Nach Absprache in ihren Reihen beugten sie sich der Entscheidung.
Tatsächlich hatten die Gewerkschaften schon lange zuvor angefangen, auf den Abbau der Zelte hin zu arbeiten. Schon in den drei Wochen zuvor hatten sie sich in diesem Sinne ausgesprochen. Ihre Vertreter hatten in den Zelten für deren Abbau plädiert. An dem Tag, als die Arbeiter vor dem Gerichtsgebäude auf die Freilassung ihrer in U-Haft befindlichen Kollegen warteten, hatten die Gewerkschaften Bezirksversammlungen abgehalten, die sich ebenfalls für den Abbau der Zelte aussprachen. Diese Wühlarbeit zahlte sich für die Gewerkschaften aus, denn die Entscheidung fiel zugunsten des Plädoyers der Gewerkschaften aus. Die Gewerkschaften und die Regierung arbeiteten Hand in Hand. Leider meinten aber viele Arbeiter, die Gewerkschaften stünden auf ihrer Seite. Neben den Arbeitern, die glücklich oder traurig waren über den Abbau der Zelte, waren auch einige sehr wütend. Ein Arbeiter, mit dem wir sprachen, meinte, alles fing damit an, dass die Gewerkschaften Mist bauten und jetzt ende auch alles damit, dass die Gewerkschaften alles vermurksten.
Der Kampf der Tekel-Beschäftigten wirkte wie ein Fanal, das die Ruhe an der Klassenfront in der Türkei, die seit den frühen 1990er Jahren herrschte, beendete. Der Kampf hatte auch ganz neue Methoden hervorgebracht. Die Errichtung einer Zeltstadt, in der die Arbeiter die ganze Zeit verbrachten, war etwas ganz Neues. Wie wir eingangs sagten, brachte dies positive Aspekte mit sich. Dadurch konnten die Arbeiter die Bewegung selbst kontrollieren. Gleichzeitig zeitigte dies auch negative Folgen. Nach einer gewissen Zeitlang trugen die Bedingungen der Zeltstadt zur Ermattung und zum Rückzug der meisten Arbeiter in die Zelte bei. Das Problem mangelnder Kommunikation wog schwer. Doch ungeachtet ihrer positiven und negativen Aspekte war die Zeltstadt ein Ausdruck, ein Ort und Symbol des Kampfes.
Das Ende der Zeltstadt hieß aber nicht, dass eine Pause im Kampf der militanten Arbeiter eingetreten wäre. Eine Gruppe von Arbeitern, die aus verschiedenen Städten kamen, beschloss in Kontakt zu bleiben und die Koordinierung ihres Kampfes in den Städten während des folgenden Monats in die Hand zu nehmen. Nach dem Abbau der Zelte richtete sich nun die Strategie der militanten Arbeiter darauf, ihre KollegInnen zu einer Rückkehr nach Ankara am 1. April zu bewegen und Kontakt mit Beschäftigten aus anderen Betrieben aufzunehmen. Obgleich der Abbau der Zelte wie eine Niederlage erschien, kann die Tatsache, dass die militanten Tekel-Beschäftigten nun auf den Zusammenschluss bestehender Kämpfe und deren Ausdehnung auf den Rest der Klasse hinarbeiten, zu einer wichtigen politischen Entwicklung nicht nur für die Tekel-Beschäftigen führen, sondern für den Klassenkampf in der Türkei insgesamt.
Sude, Anfang Mai 2010
(leicht gekürzte Fassung der türkisch-englischen Ausgabe). Die ungekürzte Fassung steht auf unseren Webseiten zur Verfügung.
Wir bedanken uns sehr bei dem Tekel-Beschäftigten, der diesen Artikel verfasst hat, und sich mit der Zeit zwischen dem 2. März und dem 2. April befasst, und Lehren aus der allgemeinen Entwicklung zieht. IKS
(Die IKS erstellt gegenwärtig auf Deutsch eine Textsammlung mit Dokumenten zum Tekel-Streik. Der hier veröffentlichte 3. Teil baut auf den 1. Teil (welcher schon auf unserer Webseite veröffentlicht wurde) und den 2. (in Übersetzung befindlichen) Teil.
Am 2. März wurden, obwohl wir das ablehnten, die Zelte von den Gewerkschaftsbossen abgerissen, die Straße vor dem Turk-Is-Gebäude geräumt, und wir wurden aufgefordert, wieder nach Hause zurückzukehren. 70-80 verblieben in Ankara, um zu beraten, was wir in den nächsten drei Tagen tun könnten. Nach diesen drei Tagen kehrten 60 von uns nach Hause zurück, und 20 von uns, ich gehörte dazu, blieben noch weitere zwei Tage. Obwohl der Kampf in Ankara 78 Tage dauerte, blieben wir 83 Tage. Wir stimmten darin überein, dass wir uns sehr anstrengen mussten, den Kampf weiterzubringen, und ich kehrte schließlich auch nach Adiyaman zurück. Sobald ich aus Ankara zurückkehrte, fuhren 40 von uns zu unseren Brüdern und Schwestern, die in Gaziantep in der Textilindustrie im Streik stehen. Der Tekel-Kampf war ein Beispiel für unsere Klasse. Als ein Tekel-Beschäftigter war ich sowohl stolz als auch bewusst, dass ich mehr für unsere Klasse tun könnte und selbst dazu beitragen müsste. Obgleich meine wirtschaftliche Lage dies nicht zuließ und trotz der Erschöpfung nach 83 Tagen Kampf und anderen Problemen wollte ich mich noch mehr anstrengen, um den Prozess weiter zu treiben. Wir wollten ein formales Komitee gründen und den Prozess in unsere eigenen Hände nehmen. Auch wenn wir dies noch nicht formalisieren können, mussten wir es zumindest gründen, indem wir in Kontakt mit Beschäftigten aus anderen Städten blieben, da wir am 1. April nach Ankara zurückkehren wollten.
Wir müssen überall hingehen wo wir können und den Leuten über den Tekel-Kampf bis ins letzte Detail berichten. Dazu müssen wir ein Komitee bilden und innerhalb der Klasse zusammenschließen. Unsere Aufgabe ist schwerer als sie erscheint. Wir müssen uns auf der einen Seite mit dem Kapital auseinandersetzen, der Regierung und den Gewerkschaftsführern auf der anderen Seite. Auch wenn unsere wirtschaftliche Lage nicht gut ist, auch wenn wir körperlich müde sind, wenn wir den Sieg wollen, müssen wir kämpfen, kämpfen und nochmals kämpfen!
Obgleich ich von meiner Familie 83 Tage getrennt war, bin ich anschließend nur eine Woche zu Hause geblieben. Ich bin nach Istanbul gefahren, um die Leute über den Widerstand der Tekel-Beschäftigten zu berichten, ohne die Gelegenheit zu haben, mit meiner Frau und meinen Kinder die Zeit nachzuholen. Wir hatten viele Treffen unter den Beschäftigten des Tekel-Komitees, insbesondere in Diyarbakir, Izmir, Hatay, und ich habe mich an vielen Treffen mit Kollegen aus dem informellen Komitee in Istanbul getroffen. Wir hatten ebenso viele Treffen in der Mimar Sinan Universität, eines in dem Lehrerwohnhein Sirinevler, eins in dem Gebäude der Ingenieursgewerkschaft, wir diskutierten mit Piloten und anderen Beschäftigten der Luftfahrtindustrie aus der dissidenten Regenbogenbewegung in Hava-Is, und mit Beschäftigten der Justiz. Wir trafen ebenso den Istanbuler Vorsitzenden der Friedens- und Demokratiepartei und baten darum, dass Tekel-Beschäftigte die Gelegenheit erhalten, am Newroz Feiertag zu reden.
In den Treffen wurden wir alle sehr warmherzig empfangen. Die Bitte der PDP wurde akzeptiert, ich wurde gebeten, auf den Newroz Demonstrationen als Redner aufzutreten. Weil ich nach Adiyaman zurückkehren musste, schlug ich einen Kollegen aus Istanbul als Redner vor. Als ich in Istanbul war, besuchte ich die kämpfenden Feuerwehrleute, die Sinter Metaller, die Esenyurt Kommunalbeschäftigten, den Sabah Verlag, und streikende ATV Fernsehbeschäftigte und am letzten Tag die Beschäftigten der Istanbuler Wasser- und Kanalisationsbetriebe (ISKI). Einen halben Tag lang diskutierten wir mit den Arbeitern, um zu sehen, wie wir den Kampf stärken können; dabei unterrichteten wir sie über den Kampf der Tekel-Beschäftigten. Die ISKI-Beschäftigten berichteten mir, dass sie ihren Kampf begannen, weil sie sich ermutigt fühlten durch den Kampf der Tekel-Beschäftigten. Egal welche Arbeiter ich besuchte, egal bei welcher Demonstration ich mich beteiligte, überall hörte ich „der Kampf der Tekel-Beschäftigten hat uns Mut gegeben“. Während der Woche meines Aufenthaltes in Istanbul machte mich dies sehr glücklich. Mein ganzer Aufenthalt in Istanbul war für mich sehr erfüllend. Natürlich gab es auch Negativerlebnisse. Leider verstarb einer meiner Angehörigen, aber ich blieb dennoch eine ganze Woche wie geplant in Istanbul.
Zu den schlechten Nachrichten gehörte, dass in dieser Zeit 24 Studenten von ihrer Schule verwiesen wurden (Mehmetcik Gymnasium), weil sie den Tekel-Kampf unterstützt haben. Und in Ankara wurde auch eine Klassenschwester von uns aus dem Wissenschafts- und Technologieforschungsrat der Türkei (TUBITAK), Aynur Camalan, entlassen. Wenn das Kapital Arbeiter wie wir so brutal angreift, müssen wir uns dagegen zusammenschließen. So verfassten wir zwei Stellungnahmen für die Presse in Adiyaman und zeigten, dass unsere Freunde nicht alleine dastanden. Wir bereiteten uns auch für Demonstration des 1. April vor. Die Gewerkschaftsführer wollten, dass lediglich 50 Beschäftigte aus jeder Stadt nach Ankara kommen sollten, so dass insgesamt nicht mehr als 1000 Arbeiter zusammenkommen sollten. Als ein informelles Komitee erhöhten wir diese Zahl von 50 auf 180 in Adiyaman allein, und ich kam am 31. März schon mit 10 Kollegen nach Ankara.
Trotz all der Ankündigungen der Gewerkschaften, die Zahl auf 50 pro Stadt zu beschränken, gelang es uns, 180 Arbeiter zu mobilisieren (wobei wir die Kosten übernahmen, nicht die Gewerkschaften), weil wir uns dessen bewusst waren, dass die Gewerkschaften wie früher wieder zu manipulieren versuchen wollten. Wir hatten viele Treffen mit Massenorganisationen, Vereinigungen und Gewerkschaften. Wir besuchten Aynur Camalan, die Klassenschwester von TUBITAK, die ihren Job verloren hatte.
Am 1. April versammelten wir uns in Kizilay, aber wir mussten uns sehr bemühen, vor das Turk- Is zu gelangen, weil 15.000 Polizisten das Gebäude bewachten. Was taten all diese Polizisten vor uns und dem Gewerkschaftsgebäude? Jetzt müssen wir diejenigen fragen, die sich gegen uns richten. (…) Wenn ein Bollwerk von 15.000 Polizisten zwischen uns und den Gewerkschaften aufgebaut wird, warum bestehen dann überhaupt Gewerkschaften? Wenn ihr mich fragt, ist es ganz natürlich, dass die Polizei die Gewerkschaften und die Gewerkschaftsführer schützt, denn stellen sich die Gewerkschaften und deren Führer nicht vor die Regierung und das Kapital? Bestehen die Gewerkschaften nicht nur, um die Arbeiter im Interesse des Kapitals unter Kontrolle zu behalten?
Am 1. April gelang es ca. 35-40 von uns trotz alledem die Barrikaden einzeln zu durchbrechen und vor das Gebäude der Gewerkschaft Turk-Is zu gelangen. Es ging uns darum, eine gewisse Mehrheit zu erreichen, und dass auch andere dort hin gelangen könnten; aber das gelang uns nicht, unglücklicherweise gelang es unserer Mehrheit nicht, mit 15.000 Polizisten fertig zu werden. Die Gewerkschaften hatten verkündet, dass nur 1000 von uns nach Ankara kommen würden. Als informellem Komitee gelang es uns, diese Zahl auf 2300 zu erhöhen. 15.000 Polizisten blockierten den 2300 den Weg. Wir versammelten uns auf der Sakarya-Straße. Dort sollten wir mindestens die Nacht verbringen, mit all denjenigen, die gekommen waren um uns zu unterstützen. Tagesüber waren wir zweimal von der Polizei angegriffen worden, die dabei Pfefferspray und Polizeiknüppel einsetzte. Wir wollten natürlich die Nacht vor dem Hauptquartier der Gewerkschaft Turk-Is verbringen, aber als wir auf die Polizei stießen, verharrten wir in der Sakarya-Straße. Im Laufe der Nacht riefen jedoch die Gewerkschaftsleute die uns unterstützenden Arbeiter leise und gerissen dazu auf, das Gebiet zu räumen. So blieben wir nur als eine Minderheit vor. Die Gewerkschafter forderten mich auch mehrmals auf, den Rückzug anzutreten, aber wir beugten uns ihnen nicht und blieben vor Ort. Aber als unsere Unterstützer gegen 23.00h abzogen, mussten wir auch gehen.
Für den 2. April wurde eine Presseankündigung erwartet. Als wir gegen 9.00 h in der Sakarya-Straße eintrafen, wurden wir von der Polizei angegriffen, die erneut Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzte. Eine Stunde später oder so gelang ca. 100 von uns, die Polizeiabsperrungen zu durchbrechen und ein Sit-in zu beginnen. Die Polizei bedrohte uns. Wir widersetzten uns. Die Polizei musste die Absperrung öffnen, und uns gelang es mit der anderen Gruppe, die draußen geblieben war, zusammenzuschließen. Wir begannen, in Richtung des Gebäudes der Turk-Is zu marschieren, aber die Gewerkschaftsbosse taten erneut das, was sie tun mussten, und machten ihre Stellungnahme gegenüber der Presse ca. 100 m von der Gewerkschaftszentrale entfernt. Egal wie stark wir dies forderten, die Gewerkschaftsführer weigerten sich, vor das Gewerkschaftsgebäude auf die Straße zu kommen. Die Gewerkschaften und die Polizei handelten Hand in Hand; und da einige von uns abrückten, gelang es uns nicht dorthin zu gehen, wohin wir wollten. Es gab einen interessanten Punkt, den die Gewerkschafter verkündet hatten. Sie sagten, sie würden am 3. Juni zurückkommen und dort drei Nächte verbringen. Es ist schon merkwürdig, wie wir dort drei Nächte verbringen sollen, da es uns nicht mal gelang, eine einzige Nacht dort auszuhalten. Danach musste die Polizei zunächst die Gewerkschafter vor uns schützen und ihnen den Fluchtweg freihalten; dann standen wir der Polizei allein gegenüber. Ungeachtet der Drohungen und dem Druck der Polizei, zerstreuten wir uns nicht; darauf folgte ein Angriff mit Pfefferspray und Schlagstöcken, worauf wir uns am Nachmittag zerstreuten. Wir ließen einen schwarzen Trauerkranz von einigen Floristen binden, um das Verhalten der Turk-Is und der Regierung zu verurteilen, den wir vor der Gewerkschaftszentrale niederlegten.
Meine lieben Klassenbrüder und –schwestern: Was wir uns fragen müssen, wenn 15.000 Polizisten vor dem Gewerkschaftsgebäude und den Arbeitern zusammengezogen sind und Absperrungen errichtet haben, wozu bestehen eigentlich Gewerkschaften? Ich rufe alle meine Klassenbrüder- und schwestern auf, wenn wir den Sieg erringen sollen, müssen wir gemeinsam kämpfen.
Wir als Tekel-Beschäftigte haben einen Funken gezündet; alle zusammen werden wir diesen zu einem gewaltigen Feuerball machen. Deshalb möchte ich meinen Respekt für euch alle zum Ausdruck bringen, indem ich meinen Text mit einem Gedicht ende:
The steam of the tea flies away while our lives are still fresh
Cloths get as long as roads, and only sorrow returns
A bown of rice, they say our food has landed on our homes
Yearnings become roads, roads, where does labour go
Hunger is for us, cold is for us, poverty is for us
They have called in fate, living with it is for us
Us who feed, us who hunger, us who are naked again
We have not written this fate, it is us who will break it yet again
Wir als Tekel-Beschäftigte sagen, auch wenn wir eine Niederlage einstecken sollten, werden wir unseren Kindern eine ehrbare Zukunft hinterlassen.
Ein Tekel-Beschäftigter aus Adiyaman
Die Rede, die wir nachfolgend wiedergeben, wurde vor ca. 200.000 Teilnehmern von den Arbeitern gehalten, die die Rednertribüne während der 1. Mai Kundgebungen auf dem Taksim Platz besetzt hatten. In Istanbul waren zuvor Kundgebungen in der Nähe des Platzes verboten worden. Die Vorsitzende der türkischen Gewerkschaft Turk-Is Mustafa Kumlu und andere Gewerkschaftsbürokraten wurden in die Flucht geschlagen. Die Tatsache, dass die Arbeiter, die die Tribüne besetzten, diejenigen sind, welche die Türkei seit den letzten Monaten erschüttert haben, und diesen Schritt ganz eigenständig und geschlossen vollzogen haben, sowie die Botschaft ihrer Rede ist aus unserer Sicht von großer Bedeutung für die Arbeiterbewegung und zeigt den Weg zum Sieg für die ganze Arbeiterklasse. IKS
Wir sind kämpfende Arbeiter der Tekel-Werke, der Istanbuler Wasser und Kläranlagen, Samatya, der Feuerwehr, der Gemeinde Esenyurt, Müllerwerker und des ATV-Fernsehsender.
Wir alle kämpfen gegen Arbeits- und Lebensbedingungen, die uns zu einem Sklavenleben zwingen, gegen Leiharbeit, den 4-C und unsichere Arbeitsbedingungen. Wir stehen zusammen, um das Feuer weiter zu tragen, das von den Tekel-Beschäftigten entfacht wurde, indem wir Verbindungen für einen gemeinsamen Kampf herstellen. Wir haben die „Plattform der kämpfenden Arbeiter“ gegründet, um ein Beispiel für alle Klassenbrüder- und Schwestern zu setzen, indem wir die wesentliche Rolle der Klassensolidarität hervorheben, und indem wir uns darum bemühen, dass der Slogan "wir werden gewinnen, indem wir uns zusammenschließen", nicht nur ein Slogan ist, sondern dies auch konkret in die Tat umgesetzt wird.
Das Kapital bringt Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Zukunftsangst und Elend für die Arbeiterklasse hervor. Das Kapital lebt von Lohnarbeit. Wir wissen, während wir gegen den 4-C kämpfen, gegen die Unsicherheit, gegen Leiharbeit, gegen Arbeitslosigkeit, müssen wir auch gegen den Kapitalismus kämpfen, der nichts anderes als ein System der Lohnsklaverei ist. Die wahre Befreiung der Arbeiterklasse besteht nicht nur darin, Teilforderungen gegen Arbeitslosigkeit, Hunger und Elend zu erheben, sondern in der Ausdehnung der vereinten Klassenaktionen gegen das Kapital, das Arbeitslosigkeit, Misere, Unsicherheit, Hunger und Krankheiten produziert.
Dieser 1. Mai wird geprägt sein durch Forderungen der Klasse. Eine Stimme wird die der kämpfenden Arbeiter sein, die sich an alle Klassenbrüder und –schwestern wenden. Wir werden den 1. Mai gewinnen, genau wie wir den Taksim-Platz erobern konnten.
Der Taksim-Platz war nicht dank einer Erlaubnis der Herrschenden und deren Staat geöffnet worden, sondern durch den gebündelten Kampf der Arbeiterklasse, die unbedingt auf dem Taksim-Platz anwesend sein wollte, trotz all der Unterdrückungsmaßnahmen und anderen Angriffe. Er wurde geöffnet dank des Tekel-Kampfes, durch eine Reihe von Arbeiterkämpfen, durch die Hungernden, die gegen die sklavenähnlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen kämpfen, die eine Dynamik entfaltet haben, so dass dem Kapital der Schlaf geraubt wird. Wir haben den Taksim-Platz befreit; jetzt ist der Taksim-Platz zweifelsohne ein Gebiet des 1. Mai. Jetzt muss die Rednertribüne von denjenigen erobert werden, denen sie wirklich zusteht. Der 1.Mai und die Rednertribüne des 1. Mai gehören der Arbeiterklasse, den militanten, kämpfenden Arbeitern. Die Tribüne gehört nicht dnr Verrätern der Gewerkschaftsbürokratie, welche der Klasse in den Rücken fallen, wenn immer diese sich zur Wehr setzt. Sie sollte den Tekel-Arbeitern übergeben werden, die dem Arbeiterkampf einen neuen Atem einhauchten, sie gehört den Feuerwehrleuten, die die Forderung nach sicherer Arbeit erhoben und verlangten, wie Menschen arbeiten zu dürfen und nicht ständig durch Zeitarbeit und Arbeitsplatzverlust bedroht zu werden, sie sollte den ISKi Arbeitern und den Samatya Bauarbeitern übergeben werden, denen keine Löhne gezahlt wurden und die wie Sklaven arbeiten müssen. Sie müsste den Marmaray Arbeitern, den Esenyurt Gemeindebeschäftigten, überlassen werden, die ihren Job verloren, weil sie einer Gewerkschaft beitraten. Und sie sollte den ATV-Sabah-Fernsehsender-Beschäftigten überlassen werden wie der Plattform der kämpfenden Arbeiter. Die Tribüne des 1. Mai sollte nicht von denen benutzt werden, die jeweils den kapitalistischen Staat um Erlaubnis fragen, und die als ein Bollwerk nicht gegen das Kapital handeln, sondern gegen die Arbeiterklasse. Sie sollte den Arbeitern übergeben werden, die auf dem Platz zusammengekommen sind, um ihre Klassenforderungen zu erheben.
Tausende sind hungrig, Tausende sind arbeitslos. Dies ist die Schuld des kapitalistischen Systems!
Nieder mit dem System der Lohnsklaverei!
Arbeiter auf die Bühne, nicht Gewerkschaftsbosse!
Eine vereinte Arbeiterklasse kann das Kapital besiegen!
Lang lebe die Klassensolidarität!“
Aus den jüngsten Arbeiterkämpfen in der Türkei sind militante Arbeiter, darunter Beschäftigte aus TEKEL (Nationale Tabak und Alkohol Monopol), Beschäftigte der Istanbuler Wasserwerke und Kläranlagen (ISKI), Feuerwehrleute, Sinter Metaller, Kommunalbeschäftigte aus Esenyurt , Bauarbeiter aus Marmaray, Beschäftigte der Müllabfuhr, Beschäftigte des Wissenschaftlichen und technologischen Forschungsrates der Türkei (TUBITAK) und Beschäftigte der ATV-Sabah News Corporation sind eine Reihe von militanten Beschäftigten zusammengekommen und haben eine Arbeitergruppe mit dem Namen „Plattform der kämpfenden Arbeiter“ gegründet. Eine Gruppe von TEKEL-Beschäftigten hatte auf die Gründung eines Komitees hingearbeitet, um zu versuchen die Lehren aus dem Kampf zu ziehen, den sie geführt hatten. Die Plattform der kämpfenden Arbeiter ist ein wichtiger Schritt bei ihren Bemühungen, Verbindungen mit anderen Arbeitern aufzubauen, insbesondere mit denjenigen, die gegen die jüngst eingeführten 4-C-Maßnahmen kämpfen, die im Wesentlichen ein Generalangriff gegen alle Beschäftigte des öffentlichen Dienstes darstellen. Die Löhne sollen gekürzt, Arbeiter versetzt, unbezahlte Überstunden erzwungen, das Management dazu ermächtigt werden, vorübergehend Beschäftigte zu entlassen und willkürlich Entlassungen vorzunehmen.
Sie rufen zu Geldspenden als Unterstützung in diesem Kampf auf. Wir möchten betonen, dass sie keine Geldspenden wollen, um sich während des Streiks zu ernähren. Obwohl diese Art Solidarität wichtig sein kann, erreichen diese Gelder oft nie die eigentlichen Streikenden, und selbst wenn das geschieht, kann man damit wenig ausrichten, um die Leiden von Zehntausenden Familienmitgliedern zu lindern, die oft von einem großen Streik betroffen sind. Sie fordern dagegen zu Geldspenden auf, um Mittel zu haben, damit sie für den Kampf notwendige Aktivitäten finanzieren können. Die Türkei ist ein sehr großes Land (die Entfernung sind oft sehr groß, von einem Landesende zum anderen ist so weit wie von London nach Warschau), und TEKEL ist zum Beispiel eine Firma mit Beschäftigten im ganzen Land. Zu Versammlungen und Kundgebungen zu reisen, kostet Geld, genau so wie das Organisieren des Verteilens von Flugblättern, Plakate kleben, öffentliche Kundgebungen. Und meist fehlt es den Arbeiter nach einem langen Streik in einem der ärmsten Länder Europas an Geld.
Zögert nicht, auch wenn ihr nicht viel zahlen könnt. Erinnert euch daran, dass die Türkei eines der ärmsten Länder Europas ist, und dass gar geringe Geldbeträge viel erreichen können. Zum Beispiel mit dem Geld für eine Zigarettenpackung und ein Bier in Europa kann man manchmal schon Arbeiter zu einem Treffen in eine andere Stadt schicken.
Ihr könnt den Paypal button auf unserer Webseite für Geldüberweisungen direkt an die “Plattform der kämpfenden Arbeiter“ benutzen.
Wir veröffentlichen nachfolgend die Kurzfassung eines Artikels der Genoss/Innen der IKS aus der Türkei Enternasyonalist Komünist Sol),
Die Genossen erinnern an einige Fußballergnisse der letzten Jahrzehnte, die aufzeigen, in welchem Maße der Sport immer wieder benutzt wird, um den Nationalismus anzufachen.
Im Juni wird die Fußbalweltmeisterschaft in Südafrika stattfinden. Der Fußball dient der herrschenden Klasse oft dazu, nationalistische Regungen zu stärken und die Arbeiterklasse zu spalten.
Im Jahr 2000 gab es in der Türkei beim Sieg Galatasary (Istanbuler Fußballclub) zwei Tote im Halbfinale und drei im Finale des UEFA-Cups.
· In den Qualifikationsspielen zur diesjährigen WM kam es ebenso 2009 zu einer Explosion nationalistischen Hasses beim Zusammentreffen der Mannschaften aus Ägypten und Algerien. In Kairo wurden sechs algerische Fans getötet, 21 verletzt. In Karthum, Sudan, wurden 23 Ägypter verletzt, 14 Algerier getötet. Man zählte sogar Hunderte Verletzte während der Siegesfeiern in Algerien nach der Qualifikation. Eine Reihe der 15.000 in Algerien lebender ägyptischer Arbeiter wurde angegriffen und zur Ausreise gezwungen. Tausende ägyptische Fußballfans lieferten sich richtige Schlachten mit der Polizei im Zentrum Kairos, wobei wiederum 11 Fußball und 24 Polizisten verletzt wurden. Einige Fans, die sich nicht mit den algerischen Fans prügeln konnten, griffen die indische Botschaft in der Nähe an.
· Im Mai 1990 spielte das Spiel Dynamo Zagreb/Red Star Belgrad eine Hauptrolle im heraufziehenden Krieg im ehemaligen Jugoslawien.
· Natürlich werden Kriege nicht durch Fußballspiele hervorgerufen. Aber solche öffentliche Aufführungen des nationalistischen Hasses dienen der Mobilisierung der Arbeiter für den Krieg. Das eben erwähnte Fußballspiel endete in einer Schlacht zwischen kroatischen und serbischen nationalistischen Banden (die Serben wurden dabei übrigens von Arkan angeführt, der später von der UNO wegen Verbrechen gegen die Menschheit angeklagt und gesucht wurde). Die Polizei wurde schnell zahlenmäßig überfordert, holte aber kurz darauf Verstärkung in Form von gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern, die dann die Gewaltspirale weiter antrieben. Eine Stunde später, selbst nachdem Hunderte verletzt, mehrere Menschen erschossen oder durch Tränengas verletzt worden waren, gingen die Zusammenstöße noch weiter. Der Jugoslawienkrieg, bei dem zwischen 1990-2001 mehr als 60.000 Menschen getötet wurden, wurde kurz darauf ausgelöst. Die Tiger Arkans, eine Miliz, die sich aus Fans von Red Star Belgrad rekrutieren, spielte eine Rolle bei einigen der schlimmsten ethnischen Säuberungsaktionen. Zvonimir Boban, der später bei AC Mailand berühmt wurde, brüstete sich, einen Polizisten während der Zusammenstöße verprügelt zu haben. Er behauptet immer noch, dass er sein Land Kroatien über alles liebe und bereit wäre für es zu sterben. Aber er hat nicht wirklich sein Leben auf dem Altar des Nationalismus geopfert, Zehntausende Arbeiter haben dies jedoch getan.
· 1969 war das Qualifikationsspiel für die Weltmeisterschaft von 1970 zwischen El Salvador und Honduras der Funken für die kriegerischen Spannungen zwischen den beiden Ländern. Nach dem Rückspiel übertrieben die Medien beider Länder maßlos und stachelten die Arbeiter der beiden Länder gegeneinander auf. Der danach ausgelöse Krieg hinterließ später 4000 Tote innerhalb von vier Tagen !
· Natürlich meinen wir nicht, dass man sich Fußballspiele nicht anschauen und Fußball nicht schätzen dürfe. Wir meinen nur, es handelt sich um ein Spiel – und die Arbeiter müssen sich vor der Falle des Nationalismus, in welche die Herrschenden sie gerne locken wollen, hüten. Sabri, 28. Mai 2010.
Na und ? Warum sollte man sich freuen ? Es reicht Nicolas Sarkozy zu hören um zu verstehen. Kurz bevor die UEFA die Wahl des Austragsungslandes offiziell bekannt gab, plädierte der französische Präsident für sein Land. « Wir meinen in Frankreich, dass der Sport eine Antwort auf die Krise sein kann. Gerade weil es eine Krise gibt, stehen wir vor Problemen, die die Mobilisierung des ganzes Landes für solche Großereignisse erfordern. (…) Für uns ist das eine strategische Entscheidung, die das ganze Land gegenüber der Krise in die Pflicht nimmt. (…) Es handelt sich um die Verpflichtung eines ganzen Volkes. (…) Es gibt dann keine Rechten und keine Linken, keinen Süden und keinen Norden, keinen Osten und keinen Westen, es gibt dann nur die Mobilisierung eines Landes für die Austragung der Spiele ! (…) Wenn wir die Euro 2016 austragen dürfen, machen Sie uns eine große Freude. »
Mit anderen Worten : die Krise schlägt sehr hart zu und die Herrschenden in Frankreich zählen auf den Fußball, um die Arbeiter abzulenken. Deshalb haben sich Sarkozy und Konsorten über die Entscheidung für Frankreich als Austragungsort gefreut.
Zur Zeit der alten Roms beruhigte Cäsar das Volk, indem er ihm « Brot und Spiele » anbot. Jetzt bleibt den modernen Cäsars nur noch das Spiel.
Ende Mai führte Südkorea Flottenmanöver im großen Maßstab entlang der nordkoreanischen Grenze durch. Als Reaktion darauf antwortete die nordkoreanische Regierung, dass es sich seitens Seoul um „eine absichtliche Provokation handele, die einen weiteren militärischen Konflikt im Gelben Meer und somit eine neue Kriegsphase herbeiführen solle.“ Nordkorea drohte damit, „militärische Maßnahmen zu ergreifen, um unsere Hoheitsgewässer zu verteidigen, Südkorea muss für die Konsequenzen die Verantwortung übernehmen.“
Die militärischen Spannungen zwischen den beiden Erzfeinden auf der koreanischen Halbinsel sind nicht jüngeren Datums. Am Ende des 2. Weltkriegs und im Kontext des Jalta-Abkommens, bei der die UdSSR und die USA jeweils ihre Einflussgebiete absteckten, hatten die beiden 1948 beschlossen, Korea entlang dem 38. Breitengrad zu spalten. Aber unter dem Vorwand der „Befreiung“ Koreas vom japanischen Joch warfen sich die beiden russischen und amerikanischen Blockführer auf das kleine Land, um dort ihre imperialistischen Interessen auszufechten, denn die Kontrolle Koreas ist mitentscheidend für die Kontrolle in dieser Region der Welt (der Ferne Osten und Südostasien). Dies brachte sehr schnell einen direkten und mörderischen Konflikt hervor, und fachte die Spannungen zwischen dem pro-russischen Nordkorea und dem pro-amerikanischen Süden weiter an.
Der Koreakrieg, der ein finsteres Vorspiel zum Vietnamkrieg darstellte, lieferte eine blutige und klare Verdeutlichung dessen, was die beiden Blockführer unter der „Befreiung“ Koreas verstanden, denn diese meinten, sie könnten über Leben und Tod der ‚schutzbedürftigen‘ Bevölkerung entscheiden. Zwischen 1950-53 warfen die USA jeden Monat fast 13.000 Tonnen Bomben auf den Norden (1 [84]), viermal mehr als seinerzeit auf Japan. Auf der anderen Seite unterstützten die russische und chinesische Armee den Norden. Das einzige Ergebnis des Krieges, bei dem die Grenzen zwischen dem Norden und dem Süden um keinen Zentimeter verschoben wurde, war die Bekräftigung der militärischen US-Vorherrschaft und dessen erklärter Willen, Japan fest im Griff zu halten.
All das zum Preis von zwei Millionen Toten, davon ¾ in Nordkorea. Diese Phase der Zeit nach dem 2. Weltkrieg wirft ein Licht auf die strategische Rolle Koreas auf dem imperialistischen Schachbrett, die seit 50 Jahren weiterhin anhält. Schon vor dem Zusammenbruch der UdSSR hat China, das zuvor ein Spielzeug Russlands gewesen und mittlerweile zur aufsteigenden Macht in den endlosen und sadistischen internationalen Konflikten zwischen den Supermächten geworden war, die unvermeidbare Nachfolgerolle Moskaus übernommen. Peking war mit dem Ende des Vietnamkriegs an die Seite des amerikanischen Blocks getreten. Aber dies geschah nicht zum Vorteil der USA, weil China sich jederzeit das Recht vorbehielt, Nordkorea als seinen Hinterhof anzusehen und als Druckmittel gegen seinen neuen Mentor im Weißen Haus einzusetzen.
In den1990er Jahren erklärte deshalb auch Washington, um einen gewissen indirekten Druck auf China auszuüben, Nordkorea zu einem der Schurkenstaaten, welche die „Demokratie“ im Auge behalten müsse. Seit 2001 wurde Nordkorea dann als Terroristenstaat eingestuft.
Und die letzten Ereignisse vom Frühjahr in dem zweigeteilten Land sind nur eine weitere Episode bei den verdeckten Zusammenstößen zwischen den USA und China, von dem man weiß, dass es das Regime in Pjöngjang kontrolliert. Nachdem Nordkorea drohte, Atomwaffen gegen den Süden einzusetzen, wurde von den USA „diplomatischer“ Druck auf Nordkorea aufgebaut, um die Lage zu beruhigen. Dies geschah als Reaktion auf den Untergang der südkoreanischen Korvette (Cheonun), bei dem am 26. März 46 Matrosen durch ein Torpedo ums Leben kamen, welches sicherlich von einem nordkoreanischen U-Boot abgefeuert wurde.
Diese Episode (wie Hillary Clinton sie bezeichnete), ist nur eine weitere in der Reihe von Zusammenstößen zwischen den beiden koreanischen Staaten; sie offenbart eine Zuspitzung der militärischen und imperialistischen Spannungen zwischen den beiden Staaten – und damit auch zwischen den sie unterstützenden Staaten. Aber weder China noch die USA haben ein Interesse daran, dass sich die Lage über eine gewisse Stufe zuspitzt. China verfügt nicht über die Mittel einer militärischen Offensive gegenüber einem Feind, welcher nur die USA sein kann. Und trotz der wiederholten Drohungen gegen Südkorea haben auch die USA kein Interesse an einer Provozierung eines mit China verbündeten Landes, was zu einer unwiderruflichen und klaren Destabilisierung dieser Region führen würde.
Aber während die großen “Patenstaaten” die Lage im Griff zu halten versuchen, birgt der wachsende Druck, den sie auf die Regierungen vor Ort ausüben, die Gefahr in sich, dass diese in eine völlig irratonale Spirale des „jeder für sich“ und in eine kriegerische Flucht nach vorne gedrängt werden. Insbesondere eine weitere Isolierung Nordkoreas würde dazu führen, wie die Drohung des Atomwaffeneinsatzes zeigt. Die gegenwärtige Lage verstärkt und verdeutlicht das Klima des Terrors, das wie ein Damoklesschwert über der Bevölkerung vor Ort und über der ganzen Menschheit hängt.
So bleibt das strategische Gleichgewicht auf der Halbinsel aufgrund des permanenten Drucks der jeweils als Hintermänner agierenden Mächte sehr zerbrechlich. Das bedeutet, dass das starke Gewicht der Armee und die quasi Militarisierung der Gesellschaft seit mehr als 60 Jahren in Nord- und Südkorea einen ständigen und unerträglichen Druck auf die Arbeiterklasse in den beiden Landesteilen ausübt. Auf diesem Hintergrund sind die Kämpfe der Arbeiterklasse in dieser Region umso mehr Zeichen des Mutes. Mulan 7.6.10
1 [85]) Während des Vietnamkrieges wurden noch mal dreimal so viele Bomben jeden Monat abgeworfen.
Die chinesische Wirtschaft sei angeblich die Ausnahme von der globalen Krise des Kapitalismus. Was mögen wohl die Tausenden Arbeiter in China davon halten, die in den letzten Wochen an einer Streikwelle in vielen Landesteilen beteiligt waren?
Zu den am meisten bekannt gewordenen Kämpfen gehören die in den Honda-Werken, die bislang von drei Streikwellen betroffen waren, selbst nachdem in den ersten Streiks eine 24%ige Lohnerhöhung gewährt wurde. Bei Foxconn, dem Hersteller von IPods, wo es in der jüngsten Zeit eine Reihe von Selbstmorden gab, haben Streiks 70%ige Lohnerhöhungen durchgesetzt. Bei KOK Maschinenbau kam es zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Arbeitern, als die Arbeiter daran gehindert werden sollten, den Streik auf die Straße zu tragen.
Diese Streiks wurden von den chinesischen Medien nicht totgeschwiegen, weil diese Firmen alle in ausländischem Besitz sind und die Auseinandersetzungen zu Propagandazwecken gegen Chinas regionale Konkurrenten aus Japan und Südkorea verwendet wurden. In Wirklichkeit aber haben sich auch Arbeiter aus vielen chinesischen Firmen in einer Reihe von Städten daran beteiligt. Auch wurden Polizei und andere Sicherheitskräfte an vielen Orten gegen die Arbeiter eingesetzt.
Die Medien außerhalb Chinas haben schnell bemerkt, dass etwas Bedeutsames passierte. Mit Schlagzeilen wie „Der Aufstieg einer chinesischen Arbeiterbewegung“ (businessweek.com), „Neue Generation erschüttert Chinas Arbeitskräftemarkt“ (Reuters) und „Streiks und Arbeiterunruhen bringen China in die Klemme“ (Associated Press), erkennen die Herrschenden in ihrer eigenen groben Art, dass nach der nicht mehr zu leugnenden wachsenden Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse in China die gegenwärtige Bewegung etwas Bedeutsameres ist.
Der Associated Press Artikel (11.6.10) schreibt: „Die Behörden haben lange begrenzte, lokale Proteste von Arbeitern, die wegen ihrer Löhne oder anderer Fragen unzufrieden waren, toleriert; vielleicht haben sie damit die Notwendigkeit eines Ventils für solchen Frust erkannt“, aber die Financial Times (11.6.10) fügt hinzu, dass „es Hinweise gibt, dass die Arbeiterproteste in China viel weiter ausgedehnt und koordinierten sind als zuvor angenommen, und damit die Angst entsteht, dass diese Unruhen sich weiter selbständig ausbreiten und damit die Kosten für die Multis in die Höhe treiben könnten“. Ein im Daily Telegraph (10.6.10) zitierter Ökonom aus Hongkong meinte: „Nur ein kleiner Funke reicht jetzt und dann breitet sich die Kunde über ganz China aus, dann könnte es zu viel mehr Arbeitsniederlegungen in anderen Betrieben kommen.“
Der Grund für die Arbeiterkämpfe und ihrer Tendenz, andere Arbeiter zu ermutigen und sich auszudehnen, wird von den “Experten” vertuscht. „Arbeiter halten sich mit Hilfe von Handys und QQ, ein Sofortnachrichtenwerkzeug, auf dem Laufenden. Sie vergleichen Löhne und Arbeitsbedingungen, oft mit Arbeitern aus ihren Heimatprovinzen und benutzten diesen Vergleich bei den Verhandlungen mit den Arbeitgebern, sagte Joseph Cheng, Professor an der City University Hong Kong. ‚[Arbeiterproteste] haben überall im Pearlflussdelta und im Jangtsedelta seit Anfang des Jahres infolge „Arbeitskräftemangel“ stattgefunden.“ (FT 11.6.10). Ein anderer „Experte“ fasst zusammen: „Ein Streik brach einfach aus, nachdem Arbeiter nach dem Versand von SMS zusammenkamen.“ (Dong Baohua, Rechtsprofessor an der East China University of Politics and Law). “Moderne Technologie lässt Streiks wahrscheinlicher werden” (ebenda).
Es stimmt, dass technologische Erneuerungen von den Arbeitern eingesetzt werden, aber dies liefert keine Erklärung dafür, warum Arbeiter streiken, und warum sie zusammenkommen möchten, um zu kämpfen. Der Grund hierfür liegt in den materiellen Bedingungen, unter denen die Arbeiter leben und arbeiten. Offiziellen Statistiken zufolge betrug der Anteil der Löhne in China am BIP 56% im Jahre 1983, im Jahre 2005 war er auf 36% abgesunken. In den letzten fünf Jahren hat einer von vier Arbeitern keine Lohnerhöhung erhalten. Wer immer von dem chinesischen Wirtschaftswunder profitiert haben mag, auf jeden Fall waren es nicht die Arbeiter. Jüngste Mindestlohnerhöhungen in einigen wichtigen Industriezentren wie Guangdong, Shandong, Ningxia und Hubei wurden als ein Versuch begründet, die Auswirkungen der Inflation auszugleichen, aber selbst in den staatlich kontrollierten Medien gesteht man ein, dass die Verhinderung von sozialen Unruhen ebenso eine Sorge ist.
In der offiziellen People’s Daily Online (9.6.10) titelte man: “Experten sagen mehr Arbeiterunruhen voraus”. Und weiter: „Die wachsenden Arbeiterunruhen, die von Südchina ausgingen, können dazu führen, dass in der nahen Zukunft Lohnerhöhungen zu einem allgemeinen Trend werden“. Man stellt dies als eine „Chance“ dar und vertuscht die Gründe für die Ursachen der Arbeiterunruhen. Aber wie alle Kapitalisten überall auf der Welt können sie rechnen, wie ein Offizieller die Investitionsplanungen der Hong Konger Geschäftswelt kommentierte: „Wenn die Lohnkosten steigen, werden die Profite fallen; dann mag es zu Verlagerungen von Arbeitsplätzen in andere Länder kommen, wo billiger produziert werden kann.“
In China sind seit langem der Frust und die Ungeduld mit den Gewerkschaften angewachsen. Diese offiziellen staatlichen Institutionen halten nicht nur von Streiks ab und verhindern sie. Bei Honda sind sie direkt gewaltsam gegen Arbeiter vorgegangen, die sich wiederum gegen Gewerkschaftsoffizielle wehrten. Kein Wunder, dass Arbeiter nach anderen Organisationsformen suchen. In einem Artikel der New York Times (10.6.10) berichtete man: „zerstreute Streiks werden in immer mehr chinesischen Provinzen gemeldet, die bislang von Arbeiterunruhen verschont geblieben waren.“ Und dann berichtete der gleiche Artikel von den Ereignissen bei Honda. „Die Streikenden haben eine hochentwickelte, demokratische Organisationsform entfaltet, bei der sie Vertrauensleute wählen, die sie bei Verhandlungen mit dem Management vertreten. Sie verlangen auch das Recht auf Gründung einer Gewerkschaft außerhalb der durch die Regierung kontrollierten nationalen Gewerkschaften, die sich seit langem darauf konzentrieren, den Arbeitsfrieden zugunsten der ausländischen Investoren aufrechtzuerhalten.“
Während man hier die Regungen erkennen kann, die im Gange sind, muss man an dieser Stelle an die Erfahrung der Arbeiter in Polen 1980-1981 erinnern. Damals entfaltete sich eine Streikbewegung im ganzen Land, in der Vollversammlungen ihre Streikkomitees und andere Organisationsformen schufen. Die ganze Stärke dieser Bewegung wurde durch den Wunsch geschwächt, eine „freie Gewerkschaft“ zu gründen, die im Gegensatz zu den staatlich kontrollierten Gewerkschaften stehen sollte. Diese Idee nahm materielle Gestalt durch die Gründung von Solidarnosc an; eine Gewerkschaft, die darauf hinwirkte, von der Untergrabung der Bewegung Anfang der 1980er Jahre ein Sparprogramm unter Federführung von Lech Walesa (der 1980 der Vorsitzende von Solidarnosc wurde) als Staatspräsident Anfang der 1990er Jahre durchzuboxen.
Die Versuche von Arbeitern, ihre Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen, können verschiedene Formen annehmen – ob mit Vertrauensleuten, gewählten Streikkomitees, Delegationen zu anderen Betrieben oder Massenversammlungen, in denen Arbeiter selbst Entscheidungen zur Organisierung ihres Kampfes treffen. Es gibt keinen vorgezeichneten Verlauf, auch kann eine Bewegung Fehler machen. Wichtig ist die Dynamik einer Bewegung zu erkennen.
Im ersten Honda-Streik brachte eine Delegation, welche ziemlich deutliche Illusionen über die Möglichkeit von Gewerkschaften hatte, auch gleichzeitig sehr gute Ideen zum Ausdruck. „Wir kämpfen nicht nur für die Rechte von 1800 Arbeitern, sondern für die Rechte der Arbeiter im ganzen Land.“ Diese Arbeiter sprechen vielleicht eher von „Rechten“ als von Befreiung, aber sie zeigen klare Bestrebungen für eine Bewegung über einen einzigen Betrieb hinaus.
Obgleich in einem Absatz eines Dokumentes steht: “Es ist die Pflicht der Gewerkschaften, die Arbeiter und deren gemeinsame Interessen zu verteidigen und in den Arbeiterstreiks die Führung zu übernehmen“, entfalten sich auch andere Ideen. „Alle Kolleg/Innen in Honda Auto Parts Manufacturing Co. Ltd. Sollten sich zusammenschließen und sich nicht durch das Management spalten lassen. Wir sehen natürlich, dass es in unseren Reihen unterschiedliche Auffassungen geben kann. Wir rufen alle Kolleg/Innen auf, ihre Meinung den Arbeitervertretern mitzuteilen. Obgleich diese Vertreter nicht Arbeiter aller Abteilungen vertreten, nehmen sie die Meinung aller Arbeiter in der Firma ernsthaft und gleichberechtigt zur Kenntnis. Fließbandarbeiter, die sich an den Verhandlungen mit dem Management beteiligen möchten, können sich mittels einer Wahl der Delegation anschließen. Ohne die Bestätigung durch die Vollversammlungen werden die Delegierten keinem Vorschlag einseitig zustimmen, der unter den oben genannten Forderungen liegen sollte.“ Dies ist ein Auszug einer Übersetzung aus libcom.org [90]. . Es ist aufschlussreich zu sehen, dass der Hinweis auf Einheit der Arbeiter in businessweek.com übersetzt wird als „Wir rufen alle Arbeiter dazu auf, die größtmögliche Einheit aufrechtzuerhalten und es nicht zulassen, dass die Kapitalisten uns spalten.“
Egal welche Formulierung am treffendsten ist, die Notwendigkeit der Arbeitereinheit gegen das „Management“ oder die „Kapitalisten“ ist für den Kampf der Arbeiterklasse grundlegend. Ob in China oder anderswo auf der Welt, überall stehen die Arbeiter der gleichen materiellen Triebkraft – der Krise – und der gleichen Frage gegenüber , wie wir uns gemeinsam wehren können. Car 11.6.10
In unserem ersten Artikel zum Streik der Tekel-Beschäftigten schilderten wir die Ereignisse bis zum 20. Januar. Mit diesem Artikel setzen wir die Schilderung des Kampfes fort und berichten über die Zeit von der Errichtung der Zelte im Zentrum von Ankara bis zum 2. März, als die Arbeiter Ankara wieder verließen.
An dieser Stelle möchten wir uns zunächst ganz herzlich bei den Tekel-Beschäftigten bedanken, die durch ihre Auskünfte über die Ereignisse, ihre Erfahrung und ihre Gedanken es uns erst ermöglich haben, dass diese Erfahrungen wertvolle Hinweise liefern für die zukünftige Entwicklung des Tekel-Kampfes wie auch für die zukünftigen Kämpfe unserer Klasse insgesamt.
Wir beendeten den ersten Artikel mit dem Hinweis auf die Anstrengungen der Arbeiter zur Bildung eines Komitees. (…) Von Jahresbeginn bis zum 20. Januar gab es 4-5 Anläufe zur Bildung eines Komitees, und danach gab es auch weitere Versuche. (…)
Eines der ersten Probleme ist die mangelnde Verständigung unter den Arbeitern. Die Arbeiter waren meistens zusammen und diskutierten ständig miteinander. Andererseits waren sie nicht dazu in der Lage, ein Organ wie eine Massenversammlung zu errichten, die einen Rahmen für ein Zusammenkommen und organisiertes Vorgehen bieten würde.
Wie wir weiter unten im Artikel erklären werden, wurde die Lage dadurch erschwert, dass Arbeiter aus den verschiedenen Städten jeweils ihre Zelte getrennt voneinander errichteten und die meiste Zeit "getrennt" von einander verbrachten. Diese Trennung von einander blockierte die Verständigung. Aber ein größeres allgemeines Problem war, dass die meisten Arbeiter keine Alternative für die Gewerkschaften suchen wollten oder zumindest dabei zögerten. Viele Gewerkschafter wurden aus dem einfachen Grund geachtet, weil sie Gewerkschafter sind. Man glaubte ihnen mehr als den entschlossenen, militanten, die Bewegung führenden Arbeitern. Dadurch entstand das Problem, dass die Arbeiter ihre eigenen Entscheidungen nicht wirklich unterstützten. Die psychologische Abhängigkeit der Arbeiter von den Gewerkschaftsoffiziellen verhinderte die Gründung von Arbeiterkomitees außerhalb der Gewerkschaften.
Ein Kollege aus Adıyaman bestätigte diese Beobachtung: "Wenn die Sachen in den Zelten diskutiert worden wären, und wenn jedes Zelt einige Leute geschickt hätte, wäre das Komitee quasi von selbst gegründet worden. Unter diesen Umständen hätte sich dem niemand widersetzt, es wäre unmöglich gewesen. Wir versuchten diese Frage aufzuwerfen (…) Die mangelnde Kommunikation war ein Problem, wir hätten zum Beispiel ein Kommunikationszelt errichten sollen, als die Zelte aufgebaut wurden. Wenn wir das getan hätten, dann wäre wohl ein Komitee um das Zelt gebildet worden."
Die Arbeiter erklärten offen ihr mangelndes Vertrauen in die Gewerkschaften, aber ihre Zögerungen verhinderten die Suche nach einer Alternative. Während dies eine widersprüchliche Lage zum Ausdruck bringt, verdeutlicht es gleichzeitig, dass die Gewerkschaften noch einen ziemlichen Einfluss auf die Arbeiter haben. Obgleich die Arbeiter den Gewerkschaften nicht trauen, klammern sie sich noch an sie und glauben weiterhin, dass sie ihre Stimme mit Hilfe der Gewerkschaften zum Ausdruck bringen könnten.
Und die Gewerkschaftsvertreter sind schon sehr besorgt, wenn sie das Wort Komitee hören. Sie sind sich sehr wohl dessen bewusst, wenn ein Komitee gegründet wird, würden sie ihre Kontrolle verlieren und die Masse der Arbeiter würden nicht mehr von ihnen gesteuert werden können. Aber in den Augen der Arbeiter ist dies nicht klar. Versuche, ein Komitee zu gründen, finden weiterhin statt, ungeachtet der Probleme, auf die die Arbeiter bislang gestoßen sind und ungeachtet der Reaktionen der Gewerkschaftsoffiziellen.
Kommen wir wieder zum Gang der Ereignisse zurück: Am 14. Januar versammelten sich nahezu alle Tekel-Beschäftigten mit ihren Familien aus fast allen Städten, wo es Standorte von Tekel-Werken gibt, in Ankara zu einem dreitägigen, ununterbrochenen sit-in. Um sich vor der Kälte zu schützen, machten die Arbeiter nachts Feuer. Am dritten Tag regnete es heftig. Plastikplanen mussten über die Straßen gespannt werden, auf denen sie schliefen. So entstand die Zeltstadt mitten in Ankara. Der Aufbau von Zelten war eine sehr spontane Entwicklung, wie auch andere Aspekte des Kampfes. Eigentlich hatten die Arbeiter die Errichtung eines Kampfzeltes vor dem Gewerkschaftsgebäude gefordert.
Diese Forderung stand im Zusammenhang mit den Bestrebungen, ein Komitee zu errichten, aber die Gewerkschaften hatten sich dagegen gestellt. Schließlich wurden die Zelte doch errichtet, aber eher weil die Wetterbedingungen solch einen Schritt erforderlich machten. Die Plastikplanen, welche die Straßen überspannten, sahen schnell wie Zelte aus, und bald fingen Arbeiter aus den verschiedenen Städten an, ihre Zelte aufzubauen. Erst nachdem die Zelte aufgespannt waren, gaben die Gewerkschaften ihre Zustimmung dazu. Der Grund für die räumliche Abtrennung der Zelte nach den verschiedenen Standorten bestand darin, dass die Arbeiter das Eindringen von Spitzeln und Provokateuren in die Zelte unterbinden wollten, aber auch um eine mögliche gewisse Zerstreuung zu verhindern, so dass jeder die anderen im Blick hatte. Aufgrund der Kälte wurden noch mehr Plastikplanen herbeigeschafft. Weil die Feuer viel Ruß und Rauch verursachten, mussten die Arbeiter Öfen herbeischaffen. Schließlich wuchs eine lebendige, atmende Zeltstadt mitten in Ankara.
Am 17. Januar hatte eine Massendemonstrationen zur Unterstützung der Tekel-Beschäftigten durch die Tekel-Leute und anderer Unterstützer aus anderen Städten im Anschluss an das sit-in stattgefunden. Tekel-Beschäftigte, die wussten, dass sie nur durch Ausdehnung des Kampfes diesen gewinnen konnten, drängten den Gewerkschaftsdachverband Turk-Is zur Ausrufung eines Generalstreiks. Nachdem die Arbeiter die Rede des Turk-Is Vorsitzenden Mustafa Kumlu gehört hatten, der einen Generalstreik nicht mal erwähnte, besetzten sie zunächst die Rednertribüne, von der die Gewerkschaftsführer zu den über 100.000 Demonstranten sprachen und schließlich das Gewerkschaftsgebäude. Das brachte Mustafa Türkel, den Vorsitzenden der Tek-Gida Is, die Gewerkschaft, der die Tekel-Beschäftigten angehören, dazu sich von Kumlu zu distanzieren und darüber zu klagen, wie isoliert er in Turk-Is sei, und wie die anderen Gewerkschaften in dem Dachverband und andere Gewerkschaften ihre Unterstützung versagten.
Ein geplanter dreitägiger Hungerstreik folgte dieser Demonstrationen. Nach Abschluss dieses dreitägigen Hungerstreiks sollte ein unbegrenzter Hungerstreik beginnen. Obgleich die Beschäftigten dachten, ein Hungerstreik sei der letzte Ausweg, meinten sie, in dieser Situation wären ihre Leichen mehr wert als ihr Leben; dass die Renten für ihre Familien im Falle ihres Todes höher wären als ihre jetzigen Löhne. (…) Aber das konnte die Zweifel an der Richtigkeit eines Hungerstreiks nicht aus dem Weg räumen. Am 19. Januar begann der Hungerstreik mit einer begrenzten Zahl von 140 Teilnehmern.
In den darauf folgenden Tagen kündigten die Gewerkschaften KESK und DISK ihren gemeinsamen Aktionsplan an. Die Entscheidung wurde getroffen, am 22. Januar die Arbeit einen Tag später zu beginnen, und ein Plan wurde vorgestellt, tägliche Unterstützungsbesuche und Proteste zu veranstalten. Am 21. Januar trafen sich Turk-Is, KESK, DISK und die eher rechte Kamu-Sen, Memur-Sen und Hak-Is und verkündeten anschließend, wenn die Regierung das Problem bis zum 26. Januar nicht löse, würden sie die „aus der Produktion kommende Macht“ einsetzen, und verkündeten das Datum des geplanten Solidaritätsstreiks. Premierminister Erdogan lud den Turk-Is Vorsitzenden Kumlu zu Gesprächen am gleichen Tag ein. Nach dem Treffen beauftragte die Regierung Mehmet Simsek, den Finanzminister, mit der Erstellung eines neuen Lösungsvorschlags. Simsek war niemand anders als der Mann, der gesagt hatte: „Wenn unsere Regierung einen Fehler gemacht hat, dann weil wir zu nachsichtig und mitfühlend mit unseren Arbeitern waren, die ihre Stelle aufgrund der Privatisierung verlieren“.
Nun wollte er nach Erstellung seines neuen Lösungsvorschlages erneut eine Turk-Is Delegation treffen. Darüber sollten fünf Tage vergehen. In Anbetracht dieser unsicheren Lage und unter Berücksichtigung der Ratschläge der Ärzte, beendeten die Arbeiter den Hungerstreik nach dem dritten Tag. Am 26. Januar verkündete die Regierung ihre negative Antwort. Die Reihe von Verhandlungen setze sich noch bis zum 1. Februar fort. In vieler Hinsicht war dies eine Politik des Zeitschindens. Schlussendlich hat die Regierung das Sparpaket 4-C nicht fallengelassen, sondern nur gewisse Änderungen vorgenommen. Die maximale Arbeitszeit, die zuvor auf 11 Monate erhöht worden war, wurde nun besser entlohnt, Zuschläge für ältere Beschäftigte wurden zugesagt wie auch 22 Urlaubstage. Die Arbeiter antworteten: „Wir wollen keine kosmetischen Verbesserungen am 4-C“.
Da die Verhandlungen zu keinem Erfolg führten, wurde der Hungerstreik am 2. Februar wieder aufgenommen. Die sechs Gewerkschaftsverbände Türk-Is, Hak-Is, DISK, Memur-Sen, Kamu-Sen und KESK verkündeten erneut nach einem Treffen „Aktionen, die die Kraft aus der Produktion einsetzen“ würde. Natürlich wurde diese Entscheidung nicht aufgrund der Eigeninitiative der Gewerkschaften getroffen, sondern nur aufgrund des Drucks der Arbeiter. Die Arbeiter hatten ihre Entschlossenheit zur Durchführung eines Generalstreiks auf der Demonstration am 17. Januar gezeigt, als sie sowohl die Rednertribüne als auch das Gewerkschaftsgebäude Turk-Is besetzten. Sie hatten auch versucht, die Eingangstür des Gebäudes einzudrücken. Die Arbeiter hatten Kumlus Rücktritt gefordert, und Mustafa Türkel war gezwungen worden, eine Rede mit Kritik an dem Gewerkschaftsverband zu halten und die anderen Gewerkschaften dazu aufzurufen, sich für einen Generalstreik zu entscheiden. Die Entscheidung der Gewerkschaften kam also eindeutig unter dem Druck der Arbeiter zustande. Gleichzeitig hatten die Gewerkschaften alles unternommen, um Zeit herauszuschinden. Schlussendlich mussten die Gewerkschaften einen Generalstreik ausrufen.
Nach dieser Ankündigung erklärte Erdogan, dass die Arbeiterdemonstrationen weit über ihr Ziel hinausgeschossen waren. „Bitte schön, wir haben unser Bestmögliches getan. Jetzt hat aber eine Kampagne gegen die Regierung eingesetzt, anstatt nur mehr Rechte einzufordern.“
Nachdem die Arbeiterdemonstrationen vor dem Gewerkschaftsgebäude als illegal und als eine Besetzung erklärt wurden, sagte er: „Wir werden bis zum Ende des Monats geduldig sein. Danach werden wir alle erforderlichen juristischen Schritte unternehmen (…) Weil die Ereignisse jetzt durch ideologische Gruppen und Extremisten ausgeschlachtet werden. Sie benutzen einen unverschämten Ton und zielen auf mich und meine Partei ab. Die Arbeiter werden ausgenutzt.“ Der Gouverneur von Ankara, Kemal Onal, schlug in die gleiche Kerbe und drohte: kurz vor den Solidaritätsaktionen zugunsten der Tekel-Beschäftigten erklärte er diese für ungesetzlich und verbot den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes die Teilnahme an solchen Protesten. Er drohte all jenen mit Repressalien, die sich an solchen Protesten beteiligten.
Aber selbst nachdem die Gewerkschaften einen Generalstreik angekündigt hatten, hieß das nicht, dass sie diesen auch wirklich mittragen und nicht blockieren wollten. Viele regierungsfreundliche Gewerkschaften innerhalb des Turk-Is Dachverbandes stellten sich gegen den Beschluss eines Generalstreiks. Verbände auf Seiten der Regierung wie Memur-Sen und Hak-Is sagten in letzter Minute ihre Beteiligung ab. Und Turk-Is im Allgemeinen beschlossen ihre Teilnahme nur bei den Demonstrationen in Ankara –und das nur in Form des Auftretens der Gewerkschaftsführer. So wurde der Wille der Basis untergraben, und die Arbeiter aus verschiedenen Städten und Branchen konnten nicht zusammenkommen. An dem Tag beteiligten sich vielleicht 30.000-40.000 Arbeiter an den Demonstrationen, wobei eigentlich mehr als 100.000 hätten zusammenkommen können. Die Gewerkschaften versuchen eine größere Zahl Teilnehmer zu verhindern. Und die Mobilisierung für den Streik durch andere Gewerkschaften blieb weiter unter dem versprochenen Niveau. Dagegen beteiligten sich ca. 90% , d.h. ca. 9000 Beschäftigte von den 10.857 Tekel-Beschäftigten. In anderen Städten kam es gleichzeitig zu Unterstützungsdemonstrationen für die Tekel-Leute.
Es kam kein richtiger Generalstreik zustande. Er war zu begrenzt, zu schwach. Die Stärke eines Generalstreiks ergibt sich aus der Drohung, den Produktionsprozess durch die Beschäftigten lahmzulegen. Aber am 4. Februar bemerkte man nicht wirklich, wenn man nicht im Bilde war über die Ausrufung des Streiks durch die Gewerkschaften, dass ein Streik stattfand. Selbst einige Gewerkschaftsführer mussten dies eingestehen. Sami Evren, der Vorsitzende der KESK, sagte: “Die von den Tekel-Beschäftigten ausgelöste Bewegung hat eine große Solidarisierung in der ganzen Türkei hervorgerufen. Dies ist ein Erfolg der Bewegung, aber es gab Erfolge und Misserfolge bei der Einsetzung der Kraft, die man auf der Ebene der Produktion entwickeln kann. Da wurde nicht genügend Druck gemacht, das müssen wir eingestehen.“ Der Vorsitzende der DISK, Suleyman Celebi meinte: „In 81 Städten kam es zu „wir gehen nicht zur Arbeit“-Aktionen. Es stimmt, dass die Aktionen in Istanbul und Ankara weit unter dem erwarteten Niveau blieben, aber man kann nicht behaupten, dass dies den allgemeinen Erfolg der Solidarisierung geschmälert hat.“
Am gleichen Tag, den 4. Februar, ergriff die Regierung einige Gegenmaßnahmen. Das neue Gesetz zur Beschäftigung von Zeitarbeitern „4-C“ wurde im Gesetzesblatt veröffentlicht. Die Zahl der durch 4-C Beschäftigten wurde für das Jahr 2010 auf 36.215 festgelegt; die Tekel-Beschäftigten eingerechnet. Dieses Gesetz bedeutete nicht nur die Abschaffung des Rechtes der Arbeiter, acht Monate lang Arbeitslosengeld zu beziehen, sondern zwang die Beschäftigten mittels der Erpressung der Arbeitslosigkeit zur Annahme von sehr niedrigen Löhnen. (…)
Bis zum 4. Februar hatten die Arbeiter sich darauf konzentriert, die Gewerkschaftsverbände dazu zu bewegen, einen Generalstreik und damit die Ausdehnung der Bewegung auszurufen. Weil diese Erwartungen nicht erfüllt wurden und es zu keinem wirklichen Generalstreik kam, wurde dadurch der Schwerpunkt des Kampfes auf juristische Auseinandersetzungen verlagert. (…) Wenn juristische Auseinandersetzungen in den Vordergrund treten ist dies im Allgemeinen ein Ausdruck der Schwächung des Kampfes. Das Beispiel Tekel ist hier keine Ausnahme. Die Rolle der Gewerkschaften bei der Schwächung des Kampfes und der Ausrichtung auf die juristischen Auseinandersetzungen kann nicht unterschätzt werden. (…)
Am 2. Februar begannen die Arbeiter einen dreitägigen Hungerstreik, welcher dann am 5. Februar beendet wurde. Aber sobald dieser zu Ende ging, fingen weitere 100 Beschäftigte einen unbegrenzten Hungerstreik an. Der Vorsitzende von Tek Gida-IS, Mustafa Türkel, verkündete das Ende dieses Hungerstreiks am 11. Februar. Dann rief er 16 Arbeiter, die trotzdem weiter Hungerstreiken wollten, zum Aufgeben auf. Aber diese wollten nicht aufgeben.
(…) am 16. Februar verkündeten Turk-Is, Kamu-Sen, KESK und DISK ihren gemeinsamen Aktionsplan für den 18. Februar. Spruchbänder mit der Aufschrift: „Der Kampf der Tekel-Beschäftigten ist unser Kampf“ sollten vor allen Gewerkschaftsgebäuden der vier Verbände angebracht werden. Am 19. Februar sollten sit-ins, Pressekonferenzen in allen Städten abgehalten werden, und für den 20. Februar war eine Solidaritätsdemo in Ankara vorgesehen. Die angereisten Demonstranten sollten sich auf dem Kolej-Platz sammeln, zum Sakarya-Platz marschieren und dort mit den Tekel-Beschäftigten die Nacht verbringen.
Tekel-Beschäftigte aus Adana riefen zur Demonstration am 20. Februar auf und betonten die Notwendigkeit der Ausdehnung des Kampfes: „Wir wollen, dass alle, die sich gegen die schlechten Verhältnisse in der Türkei auflehnen wollen, unsere Bewegung unterstützen. Es geht nicht mehr nur um uns. Die Mehrheit ist betroffen, die Unterdrückten. Hoffentlich werden wir gewinnen. Wir haben ein Feuer entfacht, und die Öffentlichkeit muss jetzt hier weitermachen. Es geht um unsere Zukunft, die Zukunft unserer Kinder, die Zukunft der Arbeiterklasse in der Türkei. Wir haben etwas angestoßen, die anderen müssen jetzt die Bewegung weiterführen. Wir werden uns hier nicht zurückziehen bevor wir bekommen haben, was uns zusteht, aber die Öffentlichkeit muss wach werden und uns mit ihren Familien, Kindern usw. unterstützen..“ (…)
Am 20.Februar fanden die Solidaritätskundgebungen unter Beteiligung der Gewerkschaften, politischen Parteien und Massenorganisationen statt. Arbeiter der Balnaks Logistik-Firma, die auch ihre Arbeit zur gleichen Zeit verloren hatten als die Tekel-Belegeschaft ihren Kampf begann, waren ebenso gekommen. (…) Die Demonstration gab den Tekel-Beschäftigten einen moralischen Auftrieb. (…)
Am 23. Februar trafen sich die vier Gewerkschaftsorganisationen erneut. Sie beschlossen die Durchführung einer großen Aktion für den 26. Mai., falls die Regierung nicht nachgeben würde. Aber eine größere Mobilmachung erst drei Monate später zu planen, hieß die Arbeiter zu verarschen. Die Entscheidung wurde im Internet verbreitet bevor sie offiziell verkündet wurde. Niemand wollte dies glauben. Der untere Funktionärskörper war über die Entscheidung nicht informiert worden und behauptete es handelte sich um eine Falschmeldung. Nach der Ankündigung kamen Arbeiter zusammen und riefen Parolen gegen Turk-Is und Kumlu. In diesem kritischen Moment zeigte Türkel sein wahres Wesen ziemlich offen: „Wenn ihr weiter den Rücktritt von Kumlu verlangt, werde ich zurücktreten.“ sagte er den Protestierenden. Den Arbeitern war dies schnuppe.
Am 23. Februar kamen 13 Bergarbeiter in Balikesir nach einer durch Grubengas verursachten Explosion ums Leben. Seit 2006 war dies der dritte große Unfall mit Todesfolgen für die Arbeiter aufgrund der Arbeitsbedingungen. 17 Arbeiter waren beim vorherigen Unfall ums Leben gekommen und drei bei einer früheren Explosion. Die Tekel-Beschäftigten waren bestürzt, als sie davon erfuhren. Die Bergarbeiter hatten ihr Leben wegen der unsicheren Arbeitsbedingungen verloren. Jetzt sollten die Tekel-Leute ähnlich unsicheren Bedingungen unterworfen werden. Die Wut der Klasse und ihr Schmerz mussten sich äußern. Ein Arbeiter aus Adiyaman erklärte: „Die Verstorbenen gehörten zu uns, wir müssen ihnen unsere Solidarität zeigen. Es gab eine hundertprozentige Beteiligung. Jeder spürte den Schmerz. Wir bereiteten Spruchbänder, schwarze Trauerbänder vor und verfassten eine Presseerklärung. Das war für unsere Klassensolidarität sehr wichtig.“ Man gedachte immer der Bergleute während der nunmehr regelmäßigen Abenddemonstrationen mit Fackeln, und hielt eine Schweigeminute zu Ehren der verstorbenen Bergleute ab. Der Slogan „Lang lebe die Klassensolidarität“ wurde zum Ruf des Tages.
Am nächsten Morgen, dem 25. Februar, ereilte die Arbeiter eine neue schlechte Nachricht. Ein Tekel-Kollege, Hamdullah Uysal, war bei einem Verkehrsunfall in Ankara ums Leben gekommen.
Der in Ankara geborene Hamdullah Uysal hatte in Samsun bei Tekel gearbeitet. Er war 39 Jahre alt und hatte zwei Kinder, eins davon behindert. Er hatte sich an den Hungerstreiks beteiligt. Die Tekel-Beschäftigen hatten andere Verluste während des Kampfes hinnehmen müssen. Einigen war der Vater oder die Mutter gestorben oder gar Kinder, aber nun war es das erste Mal, dass einer von ihnen, ein Kollege während des Kampfes gestorben war. Hamdullah Uysal war ein militanter Arbeiter, die sich von Anfang an am Kampf beteiligt hatte. Seit dem Beginn der Bewegung war er in Ankara mit dabei, nur zweimal war er in seine Heimatstadt zurückkehrt. Die Arbeiter betrachteten ihn als einen Märtyrer des Klassenkampfes. Zudem riefen die Umstände seines Todes unter den Beschäftigten Wut und Empörung hervor. Uysal war von einem Jeep angefahren worden, der morgens um 5.30 h von einem betrunkenen Fahrer auf dem Weg zum Morgengebet gesteuert wurde. Man war auf den Fahrer und die Klasse, die er verkörperte, würgend. Die Arbeiter sprachen von dem Unfallfahrer als "einem reichen Typen mit dem Jeep".
Da die Arbeiter Uysal als einen Märtyrer ihres Kampfes betrachteten, und da sie fühlten, dass die Zeltstadt vor dem Turk-Is Gebäude wie ein Zuhause für sie geworden war, wollten sie eine Trauerfeier in der Zeltstadt abhalten und anschließend Uysal in seiner Heimat bestatten. Sie sprachen mit der Frau von Uysal, die meinte: "Die Straße vor dem Turk-Is Gebäude ist wie ein Zuhause für ihn geworden, das Zelt vor dem Turk-Is Gebäude ist sein Zuhause. Er hätte sich das sicherlich gewünscht. Ihr könnt die Feier vor dem Turk-Is-Gebäude abhalten und ihn dann in die Heimat überführen."
So begaben sich 400-500 Tekel-Beschäftigte zur Gerichtsmedizin in Kecioren, wohin Uysals Leichnam überführt worden war. Eigentlich wollten fast alle Arbeiter mitkommen, aber die Arbeiter beschlossen, ihre Zahl zu begrenzen, um einige Arbeiter zum Schutz der Zelte abzustellen, da die Regierung weiter drohte, die Zelte abzureißen. Die Arbeiter befürchteten, die Regierung könnte zum Angriff blasen und die Zelte abreißen, sobald sie den Sakarya Platz verließen. So blieben einige zurück und harrten vor dem Turk-Is Gebäude aus, bis der Leichnam dorthin gebracht würde.
Die Tekel-Beschäftigten, die zur Gerichtsmedizin gingen, wollten den Leichnam mitnehmen. Sie mussten Stunden lang ausharren. Man sagte ihnen, dass Uysals Bruder und Onkel kämen, um den Leichnam in Empfang zu nehmen. Schließlich kam ein Verwandter von Uysal, der auch bei Tekel beschäftigt war, aber man verweigerte auch ihm die Aushändigung des Leichnams. Dann tauchte ein "Onkel" auf, der behauptete der Ehemann einer Tante von Uysal zu sein. Die Gerichtsmediziner sagten, man werde ihm den Körper übergeben. Arbeiter, die wussten, dass man den Leichnam nur einem Verwandten ersten Grades übergibt, wollten diese Finte vom "Onkel" nicht glauben. Sie vermuteten, dass der "Onkel" ein Spitzel sein könnte und stellten ihn zur Rede. Ihr Verdacht wurde bestätigt, nachdem dieser "Onkel" eingestand ein Spitzel zu sein. Die Arbeiter pochten deshalb erneut auf Herausgabe des Leichnams an sie, aber die Polizei drängte sie zurück. Die Arbeiter warteten stundenlang und versuchten vergeblich die Familie Uysal zu erreichen. Schließlich traf die Familie Hamdullah Uysals ein. Aber die Ankaraer Polizei und die Leute des Gouverneurs setzten sie sofort unter Druck.
Die Ankaraer Polizei, die sie schon auf dem Weg zur Gerichtsmedizin anhielten, wollten sie zwingen, ihre Unterschrift unter ein Schreiben zu setzen, wonach der Leichnam in Uysals Heimat ohne eine Trauerfeier in Ankara überführt werden sollte. Man übte weiter in der Gerichtsmedizin Druck auf sie aus. Schließlich gab die Familie nach und willigte ein, dass der Leichnam ohne eine Trauerfeier in Ankara abtransportiert würde.
In der Zwischenzeit, während die Arbeiter vor der Gerichtsmedizin warteten, sagte man ihnen zu, dass man ihnen den Leichnam übergeben werde. Arbeiter stiegen auch in den Krankenwagen ein, mit dem sein Leichnam befördert wurde. Aber eine Gruppe von Arbeitern erkannte, dass der Krankenwagen zu einem anderen Ziel fuhr als ursprünglich vereinbart. Sie stiegen aus und blockierten den Verkehr. Andere Arbeiter schlossen sich ihnen an. Die Polizei tauchte auf und stellte sich zwischen die Arbeiter, die das Auto blockierten, und denjenigen, die noch im Krankenwagen saßen. Die Arbeiter wollten sich gegenseitig unterstützen, aber die Polizei ging gegen sie mit Tränengas vor, trieb sie auseinander, woraufhin die Arbeiter eine zweite Barrikade errichteten. Dann griff die Polizei die kleinere Gruppe von Arbeitern an, die die Weiterfahrt des Krankenwagens blockierten, zerrte sie aus dem Wagen und wollte sie festnehmen. Aber die größere Gruppe von Arbeitern konnte sich erneut sammeln und versuchte sich mit den anderen Arbeitern zusammenzuschließen. Dies gelang ihnen jedoch nicht mehr; der Polizei dagegen gelang es, den Krankenwagen unter ihre Kontrolle zu bringen, indem sie die Arbeiter brutal verprügelte.
In der Zwischenzeit versuchten die Arbeiter, die vor dem Turk-Is ausgeharrt hatten, zur Mithat Pasha Straße zu gelangen und am Unfallort Blumen zu hinterlegen. Aber die Polizei hinderte sie daran. Sie jagten die Arbeiter auf dem Sakarya Platz auseinander, die dort zugekommen waren, um ihren Kollegen vor der Gerichtsmedizin zu helfen. Vor den Polizeiabsperrungen in der Mithat Pasha Straße riefen die Arbeiter: „Ihr habt Angst vor unseren Toten“. Slogan wie „Tayyip der Mörder“, und „Die mörderische AKP gegen die Arbeiter“ (AKP=Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, deren Vorsitzender Tayyip Erdogan ist) wurden ebenso gerufen. Trotz all der Anstrengungen der Polizei gelang es einer Gruppe von Arbeitern, Blumen am Unfallort Hamdullah Uysals zu hinterlegen.
Die Arbeiter, die von der Gerichtsmedizin zurückkehrten, zogen direkt zur Mithat Pasha Straße. Dort errichtete die Polizei erneut Absperrungen, um die Arbeiter am Weiterkommen zu hindern. Den Arbeitern gelang es aber, die Absperrungen zu durchbrechen. Belagerer des Turk-Is Gebäudes schlossen sich ebenso an. Insgesamt hielten sie ein 20-25 minütiges sit-in ab und riefen Slogans zur Erinnerung an Hamdullah Uysal. Die Polizei umzingelte die Arbeiter während dieser Kundgebung. Schließlich beendeten die Arbeiter das sit-in und begaben sich zurück zur Zeltstadt.
Während all dieser Vorfälle bezogen die Gewerkschaften nie Stellung zugunsten der Arbeiter. Als die Polizei die Arbeiter vor der Gerichtsmedizin angriff, war von den Gewerkschaften nichts zu sehen. Und als die Arbeiter, die vor dem Turk-Is Gebäude verweilten, ihren Kollegen zu Hilfe eilen wollten, versuchten die Gewerkschaften diese nur zu besänftigen und zur Rückkehr zum Zelt zu bewegen.
Hamdullah Uysals Tod bewies erneut wie viel Angst die Ordnungskräfte vor den Arbeitern hatten. Die Polizei und der Gouverneur hatte alles unternommen, um die Arbeiter daran zu hindern, ihrem verstorbenen Kollegen ein letztes Geleit zu geben, aber vergeblich. Vielleicht waren die Schritte der Arbeiter, die Polizeiabsperrungen zu durchbrechen und ein sit-in an der Unfallstelle abzuhalten, die kurzfristige Blockade des Straßenverkehrs, der beste Abschied für den verstorbenen Kollegen.
Der Tod von Uysal hatte die Tekel-Beschäftigten ziemlich erschüttert, aber die Vorfälle halfen auch den Arbeitern, die zu Hause geblieben waren, aufzuzeigen, wie ernst die Lage geworden war. Eines der Vermächtnisses Hamdullah Uysals war sein Aufruf zur Ausdehnung des Kampfes an die anderen Arbeiter: „Alles, was die Arbeiterklasse gewonnen haben mag, wird zu einem Kompass für die Arbeiterbewegung in der Zukunft werden. Schließt euch unserem Kampf an, rettet unsere Zukunft.“
Am darauf folgenden Tag zogen 25 Arbeiter vor die AKP-Zentrale in Ankara. Die Tekel-Beschäftigten, die in das Gebäude gehen wollten, beabsichtigten ein Spruchband mit einem Bild Hamdullah Uysals aufzuhängen. Daraufhin griffen private Sicherheitskräfte und Polizei die Arbeiter im Gebäude an. Aber dies spornte die vor dem Gebäude wartenden Arbeiter an, ebenso ins Gebäude vorzudringen. Diese wurden auch angegriffen, viele von ihnen wurden dabei verletzt. 19 Arbeiter wurden in Untersuchungshaft genommen. Slogans wie „Mörder der AKP, Tayyip der Mörder“ wurden gerufen, und die Arbeiter erläuterten, weshalb die Regierung für den Tod von Hamdullah Uysal verantwortlich war. Die übrig gebliebenen Arbeiter blockierten die Mannschaftswagen der Polizei, welche die Arbeiter in U-Haft bringen sollten. Sie riefen: „Tekel ist überall, kämpft überall.“ „Repression kann uns nicht abschrecken“. Leider gelang es ihnen nicht, die von der Polizei abtransportierten Arbeiter aus deren Händen zu entreißen.
Von der Nachricht, dass einige Arbeiter in U-Haft gelandet waren, erfuhr eine Gruppe von Arbeiterinnen aus dem Izmirer Zelt; sie zogen daraufhin vor die Polizeiwache. Die in U-Haft festgehaltenen Arbeiter wurden nicht registriert, mit der Schutzbehauptung, wegen laufender Bauarbeiten sei das nicht möglich gewesen. Eine Gruppe von Arbeitern vor dem Turk-Is Gebäude übte Druck auf die Gewerkschaften aus, dessen Rechtsanwälte zu schicken. All das hatte sich außerhalb der Kontrolle der Gewerkschaften zugetragen; unter dem Druck der Arbeiter mussten die Gewerkschaften zur Polizeiwache mit ihren Rechtsanwälten gehen. Am nächsten Tag warteten die Arbeiter vor dem Gerichtsgebäude von 10.00-21.00 h, bis ihre Kollegen freigelassen wurden. Die Arbeiter waren ca. 40 Stunden in U-Haft festgehalten worden. 15 Arbeiter wurden nachmittags entlassen. Gegen vier wurden Ermittlungen wegen „Beschädigung öffentlichen Eigentums und Ungehorsam gegenüber einem Polizeioffizier“ eingeleitet. Aber sie wurden in der gleichen Nacht wieder freigelassen. Mit den vor dem Gerichtsgebäude ausharrenden Kolleg/Innen fuhren sie zurück zur Zeltstadt.
Am 1. März beschloss die Justiz zugunsten der Klage gegen die Anwendung der Einmonatsfrist für das 4-C für die Beschäftigten. Die Arbeiter feierten dies. Während die militanten Arbeiter ihre Kollegen vor dieser Einschätzung gewarnt hatten, wollten die anderen dies nicht zur Kenntnis nehmen. Dieses falsche Siegesgefühl untergrub die gemeinsame Haltung der Arbeiter am nächsten Tag.
Am 2. März kündigte Musta Türkel an, dass die Demonstrationen der Tekel-Beschäftigten in Ankara beendet und die Zeltstadt abgebaut würde, die Arbeiter würden am 1. April nach Hause zurückkehren. Dies führte zu einer Spaltung der Arbeiter in diejenigen, die sich der Entscheidung der Gewerkschaft zur Beendigung des Kampfes widersetzten und denjenigen, die den Kampf weiterführen wollten. Die Gegner riefen Slogans wie: „Die Zelte sind unsere Ehre. Wir lassen es nicht zu, dass ihr unsere Ehre verletzt.“ Andere Arbeiter riefen: „Türkel (der Gewerkschaftsführer) ist unsere Ehre“. Die Verfechter der Gewerkschaftsentscheidung und die Gegner wurden nun gegeneinander ausgespielt. Einige Zelte wurden abgebaut bevor Türkels Rede beendet war. Den Arbeitern wurde keine Zeit gelassen, eine allgemeine Diskussion zu führen. Die Arbeiter, welche sich der Entscheidung der Gewerkschaft widersetzten, diskutierten untereinander und wollten eine Strategie festlegen. Die Gewerkschaften wollten die beiden Gruppen gegeneinander hetzen und die Gegner der Gewerkschaftsentscheidung isolieren und abdrängen. Die Gewerkschaften wollten die „Unruhestifter“ bis zum 1. April vertreiben und sie vom Rest der Klasse isolieren, um so wieder die anderen Arbeiter unter ihre Kontrolle zu bringen.
Aber die militanten Arbeiter liefen nicht in die gewerkschaftliche Falle, denn um zu vermeiden, dass sie gegeneinander ausgespielt wurden, widersetzten sie sich nicht länger der Gewerkschaftsentscheidung. Die Gegner des Abbaus der Zelte waren bei den Zelten aus Adiyaman, Izmir, Istanbul und Diyarbakir in der Mehrheit. Nach Absprache in ihren Reihen beugten sie sich der Entscheidung.
Tatsächlich hatten die Gewerkschaften schon längst vorher angefangen, auf den Abbau der Zelte hin zu arbeiten. Schon in den davor liegenden 3 Wochen hatten sie sich in diesem Sinne ausgesprochen. Die Gewerkschaftsvertreter hatten in den Zelten für deren Abbau plädiert. An dem Tag, als die Arbeiter vor dem Gerichtsgebäude auf die Freilassung ihrer in U-Haft befindlichen Kollegen warteten, hatten die Gewerkschaften Bezirksversammlungen abgehalten und sich auch für den Abbau der Zelte ausgesprochen. Diese Wühlarbeit zahlte sich für die Gewerkschaften aus, denn die Entscheidung fiel zugunsten des Plädoyers der Gewerkschaften aus. (…) Die Gewerkschaften und die Regierung arbeiteten Hand in Hand. Leider meinten aber viele Arbeiter, die Gewerkschaften stünden auf ihrer Seite. Neben den Arbeitern, die glücklich oder traurig waren über den Abbau der Zelte, waren auch einige sehr wütend. Ein Arbeiter, mit dem wir sprachen, meinte, alles fing damit an, dass die Gewerkschaften Mist bauten und jetzt ende auch alles damit, dass die Gewerkschaften alles vermurksten.
Der Kampf der Tekel-Beschäftigten wirkte wie ein Schrei, der die Ruhe an der Klassenfront in der Türkei seit den frühen 1990er Jahren beendete. Der Kampf hatte auch ganz neue Methoden hervorgebracht. Die Errichtung einer Zeltstadt, wo die Arbeiter die ganze Zeit verbrachten, war etwas ganz Neues. Wie wir eingangs sagten, brachte dies positive Aspekte mit sich. Dadurch konnten die Arbeiter die Bewegung selbst kontrollieren. Gleichzeitig entstanden damit negative Folgen. Nach einer Zeit trugen die Bedingungen der Zeltstadt zur Ermattung bei, wodurch sich die meisten Arbeiter in die Zelte zurückzogen. Das Problem mangelnder Kommunikation war schwerwiegend. Aber ungeachtet ihrer positiven und negativen Aspekte waren die Zelte ein Ausdruck, ein Ort und Symbol des Kampfes.
Das Ende der Zeltstadt hieß aber nicht, dass eine Pause im Kampf der militanten Arbeiter eingetreten wäre. Eine Gruppe von Arbeitern, mit jeweils Leuten aus verschiedenen Städten, beschloss in Kontakt zu bleiben und die Koordinierung ihres Kampfes in den Städten während des darauf folgenden Monats vorzunehmen. Nach dem Abbau der Zelte richtete sich die Strategie der militanten Arbeiter auf die Rückkehr der Arbeiter nach Ankara am 1. April, auf die Kontaktaufnahme mit Beschäftigten aus anderen Betrieben. Während der Abbau der Zelte als eine Niederlage des Kampfes erschien, kann jetzt die Tatsache, dass die militanten Tekel-Beschäftigten auf den Zusammenschluss bestehender Kämpfe und deren Ausdehnung auf den Rest der Klasse hinarbeiten, zu einer wichtigen politischen Entwicklung nicht nur für die Tekel-Beschäftigen führen, sondern für den Klassenkampf in der Türkei insgesamt.
Sude, Anfang Mai 2010
(leicht gekürzte Fassung der türkisch-englischen Ausgabe). Die ungekürzte Fassung steht auf unseren Webseiten zur Verfügung.
„Was im Golf von Mexiko zurzeit passiert, ist(…) für die Bevölkerung im Nigerdelta seit 50 Jahren Alltag. Über 2000 Öllecks sind sichtbar, jeden Tag kommt eine neue Leckage hinzu. Der jüngste größere Unfall stammt vom 1. Mai: Eine Pipeline des Erdölkonzerns Exxon Mobile barst, 4 Mio. Liter Öl verschmutzten das Delta“(The Guardian, Mai 2010).
Während die Ölpest im Golf von Mexiko die bislang größte Umweltverseuchung in der Geschichte eines der höchst entwickelten Länder, den USA, darstellt, und mit dieser Ölpest gewissermaßen schlagartig die Folgen einer langjährigen Vergewaltigung der Schutzbedürfnisse der Natur zum Ausdruck kommen, gehört die Umweltzerstörung in einem ähnlich gigantischen Ausmaß in Nigeria quasi seit Jahren zum Alltag.
Im Feuchtgebiet des Niger-Deltas, mit 20.000 Quadratkilometer das Größte seiner Art in Afrika, fördern die Ölmultis täglich rund zwei Millionen Barrel Erdöl. Nigeria ist damit siebtgrößter Ölexporteur der Welt und einer der Hauptlieferanten der USA. Wegen seines niedrigen Schwefelgehalts ist das Öl des größten afrikanischen Produzenten zudem besonders gefragt. Rund 95 Prozent der Deviseneinnahmen des Landes stammen aus der Ölproduktion des Südens. Die 7000 Kilometer Pipelines, welche die rund 1000 Pumpstationen in den 300 Onshore-Öl-Sites im Nigerdelta verbinden, stammen meistens aus den 50er und 60er Jahren. Zwischen 1976 und 2001 seien 6800 Erdölseen entstanden. Allein im Jahre 2009 gab es mehr als 2.000 Lecks bei Bohrungen und vor allem bei Pipelines; pro Jahr sollen ca.300 Öllecks in irgendeiner Form auftreten. Ca. 50% der Ölaustritte erfolgen aufgrund verrosteter Pipelines und Tanks, ca. 30% aufgrund von „Sabotage“, und 20% beim "Regelbetrieb". Das Ausmaß der Verschmutzung ist irrsinnig. Die nationale Behörde(Nosdra), die für die Aufdeckung und Beseitigung von Ölverschmutzungen zuständig ist, gibt an, dass allein zwischen 1976 und 1997 über 2,4 Millionen Barrel Öl die Umwelt verschmutzten. Unabhängige Öl-Experten und Umweltorganisationen gehen davon aus, dass in den letzten 50 Jahren zwischen 9 und 13 Mio. Barrel Rohöl in die Natur gelangten, d.h. direkt in den Mangrovenwäldern und Sümpfen des dicht besiedelten Nigerdeltas landeten statt in Pipelines und auf Tankern. Das ergibt pro Jahr eine größere Menge, als beim Tankerunglück «Exxon Valdez» 1989 vor Alaska einmalig ins Meer floss. Felder und Flussläufe sind heute chronisch verseucht. Es gibt Gegenden, in denen das Grundwasser schwarz ist, und andere, wo aufgrund des Abfackelns des bei der Ölförderung austretenden Erdgases seit Jahrzehnten kein Sternenhimmel mehr zu sehen ist. Auch sind Atemwegserkrankungen, Hautausschläge und Augenprobleme verbreitet. Sie werden auf Dioxine und andere Karzinogene zurückgeführt, die bei den Bränden in Bodennähe freigesetzt werden. (TAZ, 10.06.2010; www.afrika.info [95]). Der Blutzoll ist hoch im Delta. Unzählige Flussläufe, Mangrovenwälder, fruchtbares Ackerland und die einst fischreichen Gewässer sind schwer geschädigt oder zerstört. Überirdisch verlegte Ölpipelines durchqueren Dörfer und verlaufen oftmals direkt vor den Hauseingängen, so dass die Bewohner über die veralteten Hochdruckleitungen steigen müssen. Das Öl sickert teilweise ins Grundwasser oder bildet Seen, so groß wie Fußballfelder. In vielen Fällen ist das Trinkwasser vergiftet und die Vegetation zerstört. Die Lebenserwartung ist auf 45 Jahre für Männer, 46 Jahre für Frauen abgesunken.
Nigeria ist mit Erdgasreserven von etwa 6,5 Billionen Kubikmetern der siebtgrößte Erdgasproduzent der Erde. Dem staatlichen Erdölkonzern NNPC zufolge werden im Jahr 23 Milliarden Kubikmeter oder 40 Prozent des in Nigeria produzierten Gases abgefackelt, oft wird fast das gesamte Gas, das bei der Ölförderung anfällt, abgefackelt. Dabei entsteht auch eine Menge Methangas, das der Hauptverursacher des Treibhauseffekts und vierundsechzigmal gefährlicher für die globale Erwärmung ist als CO.
Wie kann es dazu kommen, dass ein Land, das so reich an Rohstoffen ist, das am schlimmsten verseuchte Ökosystem der Erde hervorbringt? Warum führt das Vorhandensein von solch reichhaltigen Rohstoffvorkommen nicht zu einem Leben in Wohlstand, sondern stattdessen zur Erstickung der Natur und zu einem Höllenleben für die Menschen?
„1958 wurde in Nigeria vor allem im Nigerdelta in der Nähe von Port Harcourt Öl entdeckt. Besonders fündig geworden ist man im Lande der Ogoni, im nordöstlichen Niger-Delta. Seither macht es 90 Prozent der Exporteinnahmen des Landes aus. Oft wird gesagt, dass in diesem Landstrich während der drei Dekaden der Bohrungen geschätzte 900 Millionen Barrels gefördert wurden. Man schätzt, dass seit 1960 für ca. 600 Milliarden Dollar Öl verkauft wurde, und trotzdem leben 70 Prozent der Nigerianer von weniger als 1 Dollar am Tag. (...)
35% leben in extremer Armut.
Die Lebenserwartung auf dem Land, wo mindestens die Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu Trinkwasser hat, ist seit zwei Generationen auf knapp über 40 Jahre abgefallen. Die örtliche Bevölkerung im Nigerdelta oder in der Nähe der Pipelines und Förderanlagen ist ruiniert. Die Menschen haben nichts vom Ölreichtum. Im Gegenteil, in die Armut getrieben, durch schreckliche Erkrankungen infolge der Umweltverschmutzung gemartert, werden die Menschen dazu gezwungen, nahezu täglich Ölpipelines anzuzapfen und sich dabei in Lebensgefahr begeben. Gleichzeitig werden mit der sich zuspitzenden Armut immer mehr Menschen in die Arme von bewaffneten Banden getrieben, die z.B. Beschäftigte der Ölgesellschaften kidnappen und damit Lösegeld erpressen und im Alltag Angst und Terror säen.
Trotz riesiger Öleinnahmen - mehr als 300 Milliarden Dollar an Öleinnahmen fielen dem Staat Nigeria bisher in den Schoß – ist es nirgendwo zu einer Schaffung von Industriegebieten oder zum Ausbau einer Infrastruktur gekommen. Sicher, nachdem die Öleinnahmen anfangs im Verhältnis 50/50 zwischen den ausländischen Ölfördergesellschaften (Shell, das anfangs ein Monopol innehatte, bis später Gulf, Mobil und Texaco dazu stießen) und der einheimischen herrschenden Klasse aufgeteilt wurde, fiel vermutlich mindestens die Hälfte der Einnahmen in die Hände ausländischen Kapitals. Und die Herrschenden Nigerias, vor allem die Militärs, haben sich einen Großteil einkassiert, ohne das Geld in den Aufbau von einheimischen Produktionsanlagen zu stecken. Von nennenswerten industriellen Produktionsstätten kann keine Rede sein. Nigeria blieb der Aufstieg zu einer konkurrenzfähigen Industriemacht verwehrt. Die Lage ist insofern mit vielen anderen Erdölfördernden Ländern vergleichbar, deren Ölressourcen jahrzehntelang geplündert wurden (z.B. Venezuela, Iran), und wo vor Ort keine moderne, konkurrenzfähige Industrie aufgebaut wurde. Die Bevölkerung hat nie vom Ölreichtum profitiert, stattdessen wurden noch mehr Menschen zum Überleben in die Migration gezwungen. Nach dem Zusammenbruch der Ölpreise Anfang der 1980er Jahre fielen die nigerianischen Öleinnahmen von 26 Milliarden Dollar im Jahre 1980 auf 5 Milliarden Dollar 1986. Die Reaktion der nigerianischen Regierung: Migranten aus den Nachbarstaaten wurden rausgeschmissen. Ca. 700.000 Ghanaer wurden ausgewiesen. 1985 wurden nochmal eine Viertelmillion ausgewiesen.
Innerhalb des Landes trieben mehrere Faktoren die Menschen in die Flucht. Verwüstung, Umweltverschmutzungen, Verarmung – haben auf der einen Seite die Landflucht, aber auch die Flucht aus dem Land angeheizt. Aus Nigeria kommt ein bedeutender Teil der afrikanischen Flüchtlinge, die nach Europa oder in die USA gelangen.
So ist das Land trotz sprießenden Öls keine Industriemacht sondern zum Friedhof der Natur und zur Hölle für die meisten Menschen geworden. Wie kann man diesen Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, zwischen Potenzial und Wirklichkeit erklären?
Nun behaupten einige, die ganze Kalamität sei im Wesentlichen auf die Korruption und die Unfähigkeit des Militärs zurückzuführen. Wäre das Militär nicht so bestechlich und so „egoistisch“, könnte das Land viel besser dastehen. Tatsächlich haben der Einfluss und das Gewicht der Armee seit der Entdeckung des Öls gewaltig zugenommen. Aber die Entwicklung in Nigeria bringt eine viel schwerere Last für die Gesellschaft zum Ausdruck als nur das parasitäre Leben von Militärs.
Keine zehn Jahre nach Beginn der Ölförderungen 1958 wurde das Land am 6. Juli 1967 von einem verheerenden Krieg verwüstet, der bis zum 15. Januar 1970 fortdauerte.
Wie viele andere afrikanische Staaten ist Nigeria ein von Großbritannien künstlich geschaffener Staat. Nigeria, das im Oktober 1960 von Großbritannien unabhängig wurde, zählte damals 60 Millionen Einwohner mit ca. 300 verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen. Wie in vielen anderen Teilen ihres ehemaligen Kolonialreiches hatte die Kolonialmacht durch “Divide and rule” (z.B. auf dem indischen Subkontinent durch die Teilung zwischen Indien und Pakistan/Bangladesh, die kurze später zum Krieg führte geherrscht. Auch in Nigeria hatte die Kolonialmacht auf der einen Seite ein relatives, aber immer sehr zerbrechliches „Gleichgewicht“ zwischen den wichtigsten Gruppen angestrebt; auf der anderen Seite nutzte die Kolonialmacht diese Spaltungen aus, indem sie die verschiedenen Gruppierungen gegeneinander ausspielte. Dieses Erbe und diese Praktiken übernahmen die neuen afrikanischen Machthaber nach der Unabhängigkeit im Oktober 1960. Seitdem prägen das Ringen um die Macht und ein Ausbalancieren der Pfründe und Positionen der jeweiligen Gruppen den Alltag in dem Vielvölkerstaat. Es herrscht ein Neben- und Gegeneinander einer Vielzahl ethnischer Gruppen, das noch ergänzt wird durch religiöse Gräben hauptsächlich zwischen Christen (die meist im Süden leben) und Moslimen (von denen die meisten im Norden leben). Nach dem Ende der Kolonialherrschaft existierte keine „vereinigte“ nationale herrschende Klasse, die geschlossen für das Interesse einer „geeinten“ Nation hätte eintreten können, sondern das Land war zersplittert in Regionen, wo die lokalen Machthaber meist von einer spezifischen Einkommensquelle (z.B. einem Agrarprodukt) abhingen, und die Interessen der regionalen Gruppierungen (die oft einer bestimmten ethnischen und/oder religiösen Gruppe angehören) kollidierten. Kurzum, ein Land, das auf einem brüchigen Gebäude einer Vielzahl ethnischer, religiöser, regionaler Provinzfürsten aufgebaut war, und wo es nur eine Frage der Zeit war, bis dieses Gebilde erschüttert und zerrissen würde.
Mitte der 1960er Jahre hatten ethnische Spannungen derart zugenommen, dass 1966 regelrechte Pogrome an den christlichen Ibo, die im muslimisch dominierten Norden lebten, begannen. Ca. 30.000 der 13 Millionen Ibo/Igbo verloren ihr Leben, was zu einer Flüchtlingswelle von ca. 1.8 Millionen Menschen aus dem Norden Richtung Süd-Osten führte. Teile der Armee erklärten am 30. Mai 1967 mit Unterstützung von zivilen politischen Kräften des Süd-Ostens die südöstliche Region Nigerias als eigenständigen Staat Biafra. Die nigerianische Regierung, die Unterstützung von Großbritannien, den USA, der Sowjetunion erhielt, widersetzte sich mit allen Kräften der Abspaltung. Mehr als zwei Millionen Menschen verloren ihr Leben im Kampf oder durch Verhungern.
Aber das Krebsgeschwür des Militarismus ging weit über die Auseinandersetzung um Biafra hinaus, denn seitdem haben sich Gewalt und marodierende Banden zu einem Alltagsphänomen entwickelt, das nicht auf Nigeria beschränkt blieb, sondern auch in den Nachbarstaaten Elfenbeinküste, Sierra Leone, Republik Kongo usw. ständig wütet.
Anstatt die örtliche Bevölkerung mit Energie und Kapital für Investitionen in Infrastruktur und Produktionsanlagen auszurüsten, hat die Ölförderung nicht nur zu einem Desaster an der Natur und zu einer Armutsspirale für die meisten Menschen in der Region geführt, sondern der räuberische Appetit von einigen Geiern wurde angeregt, die wiederum die Bevölkerung für ihre eigenen Zwecke einsetzen. Mittlerweile sind in den letzten Jahren „Rebellenbewegungen“ entstanden. „Die größte Rebellenbewegung Mend (Bewegung für die Emanzipation des Nigerdeltas) rief nach den ersten Militärschlägen den "totalen Krieg" aus und die "Generalmobilmachung aller Männer in kampffähigem Alter". Dies macht es dem Militär leicht, die gesamte Zivilbevölkerung als Feind zu behandeln. Und Mend hat (…) angekündigt, alle Wasserwege zu blockieren, um Nigerias Ölexporte abzuschnüren. Die Ölförderung des Landes liegt inzwischen [2009] bei 1,2 Millionen Barrel am Tag, gegenüber 2,17 Millionen im Jahr 2007.“ (www.counterpunch.org/watts08122009.html [96]). Nigeria kann 2,6 Millionen Barrel pro Tag produzieren. Tatsächlich sind es aber nur knapp über 2 Millionen. Mindestens 600.000 Barrel kommen einfach nicht auf den Markt wegen politischen Unruhen und anderer Probleme. Das ‚UN-Büro gegen Drogen und Verbrechen‘ schätzt, dass ca. 55 Millionen Barrel Öl jedes Jahr im Niger-Delta gestohlen werden und eine Schattenwirtschaft ernähren, von der viele hochrangige Militärs und Politiker leben. Jetzt führen bewaffnete Banden Krieg gegen die Öl-Multis – und gegen die eigene Regierung. Die Rebellen zerstören Ölanlagen, überfallen Konzernzentralen, stören das Geschäft mit den Petrodollars. 10.000 hochradikalisierte Kämpfer sind es neuesten Schätzungen zufolge. Überfälle, Geiselnahmen und Sabotageakte haben seit 2007 weite Teile der Ölgebiete unzugänglich gemacht und all das hat Nigerias Ölförderung zeitweise hinter die Angolas zurückfallen lassen. In dieser Region treiben Piraten ihr Unwesen, so wie in der Gegend in und vor Somalia. „Amerika versucht, das Öl zu schützen. Entlang der nigerianischen Grenze bilden US-Soldaten afrikanische Spezialtruppen im Nahkampf aus. Die Truppen sollen ein Ausweiten der Rebellenangriffe verhindern. Der „Kampf gegen den Terror“ ist auch im Ölland Nigeria angekommen.“ (https://www.3sat.de/page/?source=/boerse/magazin/94491/index.html [97])
So sieht der Alltag in dem siebtgrößten Erdölproduzierenden Land aus: Die Bevölkerung leidet nicht nur unter den Auswirkungen der Umweltverschmutzung, sie wird immer wieder zur Beute des marodierendes Militär und der Polizei, die regelmäßig Gelder erpressen, und in einem zerfallenden Staat agieren, der immer mehr Menschen in die Flucht treibt. Militarismus und Krieg werden wie die Pest im Mittelalter zu einer immer größeren Plage. Seit 1988 hätten die Staaten der Organisation Erdölexportierender Staaten (OPEC) im Schnitt 18 Prozent ihrer Staatsausgaben oder rund sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das Militär ausgegeben. Laut SIPRI hat Nigeria in den letzten Jahren seine Rüstungsausgaben verdoppelt.
Auch wenn die Situation sich noch nicht so zugespitzt hat wie in Somalia, sind alle Bestandteile vorhanden, dass auch Nigeria zu einem failed-state wird. Der vor mehr als einem halben Jahrhundert unabhängig gewordene Staat, der im Innern immer wieder von Pogromen zwischen verschiedenen Gruppen zernagt wird, birgt das Potenzial einer "Libanisierung"/ „Balkanisierung“ (d.h. ein Auseinanderfallen in miteinander verfeindete, sich gegenseitig endlos lange bekämpfende Teile eines Landes) in sich. Er scheint sich damit der Kette auseinanderfallender Staaten wie Sierra Leone, Republik Kongo, Somalia anzuschließen…
Wenn wir all diese Elemente zusammenführen:
- die unglaubliche ökologische Zerstörung,
- das Ersticken unter dem Ballast des Militarismus,
- ein ständiges Leben auf einem Pulverfass ethnisch-religiöser Pogrome,
- eine größtenteils verarmte Bevölkerung mit extrem geringer Lebenserwartung,
- ein unter den Klauen des Militarismus agierender und durch die auseinanderstrebenden partikularen Interessen strangulierter Nationalstaat,
müssen wir eine tiefergehende Erklärung für diese Fesselung der Gesellschaft durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die mit ihr verbundenen Tatbestände liefern. Während die bürgerlichen Medien zwar immer wieder, meist unverblümt über die teilweise apokalyptischen Zustände berichten, stellen sie nie einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen, miteinander verbundenen Elementen her. Dieser Aufgabe müssen sich die Revolutionäre stellen.
Dv. 21.6.10
Nachfolgend stellen wir das Manifest des 2. Treffens von Esparevol (Revolutionärer Ort für Treffen und Debatten) vor, ein Forum, das vor mehr als einem Jahr entstand [1] .
Esparevol ist Teil der Anstrengungen der Bewusstwerdung kleiner Minderheiten auf der ganzen Welt. Esparevol geht an seine Aktivitäten aus einem internationalistischen Blickwinkel heran und steht gegenüber diesen Minderheiten offen. „Wir wollen all die Initiativen ermutigen und uns an ihnen beteiligen, die über die Grenzen hinausgehen, den Kampf und die Solidarität all der Arbeiter unterstützen, die sich auf die Suche nach Selbständigkeit begeben haben und all das verwerfen, was sie unterdrückt und ausbeutet, sei es auf allgemeiner oder alltäglicher Ebene, wie den kleinen aber unabdingbaren Kämpfen ums Überleben. Wir wollen uns an all dem beteiligen, was sich in diese Richtung aus einer internationalistischen und proletarischen Perspektive bewegt, oder anders gesagt, die Perspektive, wenn jemand unseresgleichen (mit den gleichen Bedürfnissen, Interessen und Sehnsüchten) zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte oder heute an irgendeinem Ort der Erde kämpft, führen wir auch den gleichen Kampf.“
Nachfolgend stellen wir das Manifest des 2. Treffens von Esparevol (Revolutionärer Ort für Treffen und Debatten) vor, ein Forum, das vor mehr als einem Jahr entstand [1] .
Esparevol ist Teil der Anstrengungen der Bewusstwerdung kleiner Minderheiten auf der ganzen Welt. Esparevol geht an seine Aktivitäten aus einem internationalistischen Blickwinkel heran und steht gegenüber diesen Minderheiten offen. „Wir wollen all die Initiativen ermutigen und uns an ihnen beteiligen, die über die Grenzen hinausgehen, den Kampf und die Solidarität all der Arbeiter unterstützen, die sich auf die Suche nach Selbständigkeit begeben haben und all das verwerfen, was sie unterdrückt und ausbeutet, sei es auf allgemeiner oder alltäglicher Ebene, wie den kleinen aber unabdingbaren Kämpfen ums Überleben. Wir wollen uns an all dem beteiligen, was sich in diese Richtung aus einer internationalistischen und proletarischen Perspektive bewegt, oder anders gesagt, die Perspektive, wenn jemand unseresgleichen (mit den gleichen Bedürfnissen, Interessen und Sehnsüchten) zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte oder heute an irgendeinem Ort der Erde kämpft, führen wir auch den gleichen Kampf.“
Esparevol nimmt eine militante und verantwortungsvolle, engagierte Haltung ein, indem es seine Aktivitäten darauf ausrichtet: “Dies geschieht nicht mit dem Anliegen, irgendwelche sozialen Phänomene zu untersuchen, sondern aufgrund der unaufschiebbaren Notwendigkeit, gegenüber der Realität einzugreifen, um einen kleinen Beitrag (von Tausenden anderen) zur Geschichte zu leisten.“
Heute besteht der Kriegsschrei der “Kommunikationsmedien”, der Regierenden, Gewerkschafter, Parteien, welche in allen möglichen Gewändern für die Verteidigung des Systems eintreten, darin zu behaupten, dass „sie gerne die Dinge verbessern möchten, wenn sie könnten“, aber sie stießen immer wieder auf das große Hindernis der „Passivität“, der „Verbürgerlichung“, „derAblehnung jeglichen Kampfes der Arbeiter“. Diese Botschaft soll bei uns ein schlechtes Gewissen hervorrufen, uns demoralisieren, uns lächerlich machen, uns eintrichtern, dass wir „Versager“ seien.
Dem gegenüber verfällt das Dokument nicht ins wirkungslose Lamentieren „die Arbeiterklasse kämpft nicht“, „die Arbeiter schlucken alles“. Das Dokument erkennt das Auseinanderklaffen zwischen der Tragweite der Krise und dem noch schwachen Niveau des Arbeiterkampfes, aber es begreift, dass: „Aber nicht alles beschränkt sich auf das Offensichtliche; ein Baum ist nicht nur Baumrinde. Immer mehr Leute sind sich darüber im Klaren, dass dieser Zustand unhaltbar ist, dass es keine Zukunftsgarantien gibt, dass die angeblichen Organisationen des Arbeiterkampfes (Gewerkschaften, Parteien und Ähnliches) in Wirklichkeit Organisationen gegen den Kampf sind. Ein elementares Bewusstsein wird sich langsam durchsetzen, obwohl seine massive Umsetzung noch nicht greifbar ist. Diese Desillusionierung kann fruchtbar werden, wenn sie den Weg des wirklichen Kampfes einschlägt (selbstorganisiert, solidarisch, bewusst), wenn sie sich mit der Geschichte des Kampfes unserer Klasse vertraut macht und den gegenwärtig kleinen, schwachen und zerstreuten Kämpfen, die kaum wahrgenommen werden können. Man muss näher auf Griechenland schauen (trotz all seiner Grenzen) und auf die verschwiegenen Kämpfe in Rumänien, Algerien, der Türkei. Wir bekräftigen, dass die Arbeiterklasse (auch wenn sie hinterhinkt) in Bewegung geraten ist, und dass es notwendig ist, dies all ihren Feinden bekannt zu machen, welche dies zu verheimlichen und zu bremsen versuchen.“
Es geht von einer realistischen und nüchternen Analyse der Lage der Arbeiterklasse aus, auf deren Grundlage sie zum Voranschreiten und zur Überwindung der Schwierigkeiten beitragen wollen. Gegenüber „Streiks“ wie dem am 8. Juni (von den Gewerkschaften ausgerufener ‚Generalstreik‘), der von Anfang darauf ausgelegt war, die Arbeiter zu demobilisieren und zu demoralisieren, wirft er die Frage auf: „Gegen die von ihnen angekündigten „wirklichen Mobilisierungen“ müssen wir uns empört auflehnen; wir müssen an diesen teilnehmen, um aufzuzeigen, wie machtlos diese bleiben. Demgegenüber müssen wir die wirklichen Instrumente des Nachdenkens und des Klassenkampfes hervorheben: allen Arbeitern offen stehende Vollversammlungen, und zur Bildung von Kampfkomitees ermuntern, die Keime zukünftiger offener Versammlungen sein werden, welche Teil des noch seltenen aber sicheren selbständigen Handelns der Arbeiter sein werden, und die falschen Kritiker und deren (De)Mobilisierungen anprangern.“
In Anbetracht der Verschleierungsversuche und der Irreführung seitens der herrschenden Klasse gegenüber den auftauchenden Arbeiterkämpfen wollen die Genoss/Innen diese bekannt machen und ergreifen Mittel, damit es auf ihrem blog aktualisierte Informationen über jüngste Kämpfe gibt[2].
Aber die Genoss/Innen bemühen sich ebenso um Klärung und Debatte, damit Esparevol “ein Ort des Zusammenkommens, offen für die Debatte und ehrliches Handeln zwischen Menschen und Gruppen, die beanspruchen, die Welt und das Leben umwälzen zu wollen,“ wird. Und „deshalb werden wir weiter nach Mitteln der Debatte im Internet suchen (unseren eigenen bescheidenen blog) und durch direkte Anwesenheit vor Ort: offene Debatten in verschiedenen Städten, wie wir sie schon abgehalten haben, wo wir die Klärung vorantreiben und die Theorie entwickeln können, welche wir benötigen, um die „Welt“ zu begreifen und umzuwälzen.“
Wir unterstützen die Aktivitäten von Esparevol und rufen dazu auf, diese mit zu tragen. Gegenüber einer Lage, in der die Armut, Krise, Barbarei immer greifbarer werden, gibt es nur einen Ausweg, den massiven und bewussten Kampf aller Arbeiter. IKS
Ende Mai haben sich im Obst- und Gemüseanbaugebiet Valencia Genoss/Innen aus verschiedenen Teilen des Landes zum zweiten Treffen versammelt, die über Esparevol (Espacio Revolucionario de Encuentro y Debate) miteinander verbunden sind. Das erste Treffen von Esparevol fand im Januar 2009 statt, auf dem wir die Grundlagen legten für die Errichtung eines „Raums“, in dem die Bedürfnisse nach einem Dialog und einem Treffen bewusster Arbeiter und revolutionärer Minderheiten und all derjenigen erfüllt werden können, die einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Schlamassel finden wollen, in dem diese steckt [3].
Auf diesem ersten Treffen haben wir einige einfache Mittel ergriffen, um die Debatte aufrechzuterhalten und voranzutreiben. Deshalb verabschiedeten wir ein erstes (und bislang einziges) Manifest, in dem die Fragen und Sorgen behandelt wurden, mit denen wir uns befassten.
Dieses zweite Manifest trägt diese ersten Schritte weiter und versucht die Themen des 2. Treffens von Esparevol weiter voranzutreiben. Dies geschieht nicht mit dem Anliegen, irgendwelche sozialen Phänomene zu untersuchen, sondern aufgrund der unaufschiebbaren Notwendigkeit, gegenüber der Realität einzugreifen, um einen kleinen Beitrag (von Tausenden anderen) zur Geschichte zu leisten.
Es ist unmöglich voranzukommen, ohne uns auf den Alltag, die Entwicklung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise und des kapitalistischen Systems zu beziehen. Wir müssen die historische Krise des Kapitalismus, seine langsame und brutale Erschöpfung begreifen, und dass er der Menschheit eine unglaubliche Barbarei aufzwingt. Die direkten Angriffe gegen die Überlebensbedingungen der Arbeiter auf der ganzen Welt zeigen, dass das Kapital nur akkumulieren kann, indem unsere Lebensbedingungen bis aufs Äußerste verschlechtert werden, dass all dies aber auch nur ein „Schmerzmittel“ sein kann, weil es die wirklichen Widersprüche dieses Systems nicht lösen kann, welches seine Wachstumsmöglichkeiten erschöpft hat. Wir glauben nicht, dass es eine Lösung für die Krise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise gibt (auch die bürgerlichen Ökonomen glauben dies nicht); nur durch die Überwindung dieser Produkionsweise, durch ihre Zerstörung kann die Menschheit wieder ein wirkliches Leben führen.
Und wenn wir einen Blick auf die Lage der Arbeiter werfen, ihren Bewusstseinsstand, ihre Kämpfe, ihre Schwierigkeiten und Möglichkeiten, stoßen wir auf eine offensichtliche Apathie, auf die Bewegungslosigkeit der ‘Massen’ und allgemeine Mutlosigkeit. Selbst die aufgeklärtesten Minderheiten scheinen keine Antworten und noch wenig Kräfte zu haben, um der Lage Herr zu werden. Aber nicht alles beschränkt sich auf das Offensichtliche; ein Baum ist nicht nur Baumrinde. Immer mehr Leute sind sich darüber im Klaren, dass dieser Zustand unhaltbar ist, dass es keine Zukunftsgarantien gibt, dass die angeblichen Organisationen des Arbeiterkampfes (Gewerkschaften, Parteien und Ähnliches) in Wirklichkeit Organisationen gegen den Kampf sind. Ein elementares Bewusstsein wird sich langsam durchsetzen, obwohl seine massive Umsetzung noch nicht greifbar ist. Diese Desillusionierung kann fruchtbar werden, wenn sie den Weg des wirklichen Kampfes einschlägt (selbstorganisiert, solidarisch, bewusst), wenn sie sich mit der Geschichte des Kampfes unserer Klasse vertraut macht und den gegenwärtig kleinen, schwachen und zerstreuten Kämpfen, die kaum wahrgenommen werden können. Man muss näher auf Griechenland schauen (trotz all seiner Grenzen) und auf die verschwiegenen Kämpfe in Rumänien, Algerien, der Türkei. Wir bekräftigen, dass die Arbeiterklasse (auch wenn sie hinterhinkt) in Bewegung geraten ist, und dass es notwendig ist, dies all ihren Feinden bekannt zu machen, welche dies zu verheimlichen und zu bremsen versuchen.
Die Angriffe der Zapatero-Regierung, die ein griechisches Ausmaß angenommen haben und von der gesamten herrschenden Klasse orchestriert werden, finden auf zwei Ebenen statt. Die erste ist eine Zangenbewegung gegen unsere Lebensbedingungen, eine ziemlich offensichtliche und brutale Vorgehensweise. Aber die zweite Zangenbewegung sind die „Demobilisierungen“, welche von den Gewerkschaften vorbereitet und von den Gruppen der Extremen Linken unterstützt werden. Sie bieten nur die falsche Gegenüberstellung: „Entweder bleibt man zu Hause oder man geht sinnlos auf die Straße“. Deren (De)Mobilisierungen mit Trillerpfeifen versuchen eine wirkliche Debatte unter den Arbeitern zu verhindern, das Zusammenkommen in einer wirklichen Organisation, die eine Vollversammlung der Arbeiter darstellt, zu torpedieren, einen wirklichen vereinten Kampf der Arbeiter zu blockieren. Sie wollen uns glauben machen, dass „diese Streiks (ohne Debatte), diese Demonstrationszüge (die nur Prozessionen sind), diese Vollversammlungen (die das Gegenteil einer echten Vollversammlung sind) die einzig möglichen Schritte seien. Gegen die von ihnen angekündigten „wirklichen Mobilisierungen“ müssen wir uns empört auflehnen; wir müssen an diesen teilnehmen, um aufzuzeigen, wie machtlos diese bleiben. Demgegenüber müssen wir die wirklichen Instrumente des Nachdenkens und des Klassenkampfes hervorheben: allen Arbeitern offen stehende Vollversammlungen.
Wenn wir die wirkliche Lage untersuchen und eine Bilanz des Wirkens von Esparevol, und was wir sein wollen, erstellen, uns dabei als Teil der Klasse auffassen, einer Menschheit, die schon sehr stark leidet, wenig kämpft und stark zwischen Depression und Einschüchterung schwankt, können wir uns selbst erkennen. Wir können feststellen, dass Esparevol nicht das von uns gewünschte Instrument geworden ist; dass all das fehlt, was auch der Klasse insgesamt fehlt, dass wir eine Widerspiegelung dessen sind, was in der ganzen Klasse vor sich geht: Zerstreuung, Zweifel, Unsicherheiten.
Und wenn wir all die gegenwärtigen Schwächen furchtlos betrachten und uns nicht davor fürchten, durch unsere Grenzen zu Boden geworfen zu werden, meinen wir, dass Esparevol trotzdem weiterhin danach streben muss, was es sein sollte: ein Ort des Zusammenkommens, offen für die Debatte und ehrliches Handeln zwischen Menschen und Gruppen, die beanspruchen, die Welt und das Leben umwälzen zu wollen.
Deshalb werden wir weiter nach Mitteln der Debatte im Internet suchen (unseren eigenen bescheidenen blog) und durch direkte Anwesenheit vor Ort: offene Debatten in verschiedenen Städten, wie wir sie schon abgehalten haben, wo wir die Klärung vorantreiben und die Theorie entwickeln können, welche wir benötigen, um die „Welt“ zu begreifen und umzuwälzen.
Aber wir wollen auch versuchen die Gründung von Kampfkomitees zu ermutigen, die Keime der zukünftigen offenen Versammlungen sind, welche an der seltenen aber wirklichen Selbstaktivierung der Arbeiter mitwirken, und die falschen Kritiken und Demobilisierungen verwerfen. Wir meinen, es ist auch wichtig, Informationen über den Kampf der Arbeiter an irgendeinem Ort der Erde zu verbreiten, um Wege aufzuzeigen, um Antworten auf die sich immer mehr aufzwingende Frage „Was tun?“ anzubieten. Wenn wir nicht auf unsere jeweilige Erfahrungen eingehen, nicht selbstkritisch überlegen, wo wir und unsere Klassenbrüder und –schwestern stehen, werden wir in Erstarrung enden.
Gemäß dem oben Gesagten wollen wir all die Initiativen ermutigen und uns an ihnen beteiligen, die über die Grenzen hinausgehen, den Kampf und die Solidarität all der Arbeiter unterstützen, die sich auf die Suche nach Selbständigkeit und Verwerfung all dessen begeben haben, was sie unterdrückt und ausbeutet, sei es auf allgemeiner oder alltäglicher Ebene, wie den kleinen aber unabdingbaren Kämpfen ums Überleben. Wir wollen uns an all dem beteiligen, was sich in diese Richtung aus einer internationalistischen und proletarischen Perspektive bewegt, oder anders gesagt, die Perspektive, wenn jemand unseresgleichen (mit den gleichen Bedürfnissen, Interessen und Sehnsüchten) zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte oder heute an irgendeinem Ort der Erde kämpft, führen wir auch den gleichen Kampf.
Revolutionärer Ort für Treffen und Debatten
Wenn ihr Kontakt aufnehmen wollt, schreibt an: [email protected] [103]
Besucht und beteiligt euch an unserem Forum: https://esparevol.forumotion.net [104]
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Griechenland, Türkei, Portugal, Spanien, Italien, England, Irland, Frankreich, Deutschland, Rumänien, USA, Japan, China...
Die Wut ist ungeheuer groß in Griechenland, die soziale Lage explosiv. Der griechische Staat hat eine Reihe äußerst heftiger Angriffe gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Alle Generationen, alle Bereiche der Arbeiterklasse sind von diesen Angriffen betroffen. Ob die Beschäftigten der Privatwirtschaft, die Beamten, Arbeitslose, Rentner oder die prekär Beschäftigten - niemand bleibt verschont. Die Arbeiterklasse droht in die Verarmung zu stürzen.
Doch die Arbeiter und Arbeiterinnen sind angesichts dieser Angriffe nicht passiv geblieben. Sie haben auf der Straße protestiert, sie kämpfen und zeigen, dass sie nicht bereit sind, die Angriffe des Kapitals widerstandslos hinzunehmen.
Aber bislang ist es den Arbeitern und Arbeiterinnen nicht gelungen, ihre Kämpfe auszudehnen, ihnen die nötige Massivität zu verleihen. Die Arbeiterklasse Griechenlands steckt in einer schwierigen Lage. Was tun, wenn alle Massenmedien und sämtliche verantwortlichen Politiker behaupten, es gebe keine andere Wahl, als den Gürtel enger zu schnallen, um das Land vor dem Bankrott zu bewahren? Wie kann sich gegen den staatlichen Moloch wehren? Wie soll man kämpfen, um das Kräftemessen mit der herrschenden Klasse zu seinem eigenen Gunsten zu beeinflussen?
Vor all diesen Fragen stehen jedoch nicht allein die Arbeiter und Arbeiterinnen Griechenlands; alle Ausgebeuteten müssen sich weltweit mit diesen Fragen auseinandersetzen. Man darf keine Illusionen hegen. Die „griechische Tragödie" ist nur ein Vorgeschmack dessen, was auf die Arbeiter und Arbeiterinnen auf allen Kontinenten zukommen wird. Schon wurden „Sparpakete auf griechische Art" in Spanien, Portugal, Rumänien und Japan angekündigt. Diese simultanen Angriffe beweisen aufs Neue, dass die Ausgebeuteten, gleich welcher Nationalität, einer einzigen Klasse angehören, dass sie überall die gleichen Interessen haben und dem gleichen Gegner gegenüberstehen. Die Herrschenden haben die Arbeiterklasse an die Lohnarbeit gekettet, doch gleichzeitig schweißen diese Ketten die Arbeiter und Arbeiterinnen aller Länder über alle Grenzen hinweg zusammen.
In Griechenland werden heute unsere Klassenbrüder und -schwestern angegriffen; sie haben begonnen, sich langsam und mühevoll zur Wehr zu setzen. Ihr Kampf ist auch unser Kampf.
Wir müssen all die Spaltungsversuche, die die Herrschenden unternehmen, abwehren. Dem alten Prinzip der Herrschenden: „Teile und herrsche!" müssen wir den Schlachtruf der Ausgebeuteten entgegensetzen: „Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!"
Die verschiedenen nationalen Regimes Europas versuchen uns weiszumachen, dass wir es „den Griechen" zu verdanken hätten, wenn jetzt auch wir den Gürtel enger schnallen sollen. Die Verlogenheit des griechischen Regimes, das mutwillig die Zahlen seiner Etats verfälscht hat, habe uns die Suppe eingebrockt, sei die Hauptursache für die Krise der „internationalen Reputation" des Euro. Die Regierungen nutzen jeden Vorwand, und sei er noch so fadenscheinig, um die Notwendigkeit von Sparmaßnahmen und die Verabschiedung von drakonischen sozialen Einschnitten zu rechtfertigen. In Griechenland selbst fachen alle offiziellen Parteien, mit der Kommunistischen Partei an der Spitze, die nationalistischen Ressentiments an. Sie behaupten, „ausländische Kräfte" seien letztendlich für die Sparbeschlüsse verantwortlich. „Nieder mit dem IWF und der EU!", „Nieder mit Deutschland!" skandieren die linken und linksextremistischen Parteien auf den Kundgebungen und nehmen dabei die Herrschenden in Griechenland bewusst aus.
Wenn in den USA die Aktienkurse in den Keller rauschen, dann geschehe dies wegen der Instabilität der EU. Wenn darüber hinaus Betriebe dichtmachen, dann nur wegen der Euro-Schwäche, die den Dollar und damit die Exporte verteuere... Jedes nationale Regime weist mit dem Finger auf die anderen und greift gegenüber den Ausgebeuteten daheim zu infamer Erpressung: „Akzeptiert die Opfer, andernfalls wird unser Land geschwächt, und die Konkurrenten profitieren davon." Die Herrschenden versuchen allerorten, der Arbeiterklasse den Nationalismus, der Gift für ihre Kämpfe ist, schmackhaft zu machen.
Diese Welt, die in Hunderte von miteinander konkurrierenden Nationen gespalten ist, ist nicht unsere Welt. Die Arbeiter und Arbeiterinnen dürfen sich nicht an das nationale Kapital fesseln lassen. Heute im Namen der „Verteidigung der Volkswirtschaft" Opfer zu akzeptieren heißt, in der Zukunft noch mehr und noch größere Opfer hinzunehmen.
Wenn heute Griechenland am Rande des Abgrundes steht, wenn Spanien, Italien, Irland, Portugal abrutschen, wenn Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die USA in den Sog der Krise geraten, dann liegt der Grund hierfür darin, dass der Kapitalismus als Ganzes ein dahinsiechendes System geworden ist. Kein Land auf der Erde kann diesem Sog widerstehen. Seit 40 Jahren steckt die Weltwirtschaft in der Krise. Eine Rezession folgte der anderen. Nur eine immer verzweifeltere Flucht in die Verschuldung hat es dem Kapitalismus bis dato ermöglicht, Wachstum (wenn auch nur geringes) zu erzielen. Die Folge: heute sind die Privathaushalte, die Unternehmen, die Banken, die Staaten tief verschuldet. Der Bankrott Griechenlands ist nur die Spitze des allgemeinen und historischen Bankrotts dieses Ausbeutungssystems.
Die angekündigten Sparmaßnahmen stellen einen Frontalangriff auf unsere Lebensbedingungen dar. Die einzig mögliche Antwort kann nur der massive Widerstand der Arbeiterklasse sein. Allerdings ist es unmöglich, sich zur Wehr zu setzen, wenn jeder für sich allein, isoliert in seinem Betrieb, seiner Schule usw. handelt. Es ist unbedingt notwendig, dass wir uns gemeinsam und massiv zur Wehr setzen, andernfalls werden wir platt gemacht und in die Verarmung getrieben.
Doch was machen die Gewerkschaften, die sich offiziell als „Kampfexperten" ausgeben? Sie organisieren Streiks in verschiedenen Betrieben... ohne jedoch auch nur ansatzweise zu versuchen, sie zu vereinigen. Sie fördern aktiv das berufsbezogene Denken und spielen vor allem die Angestellten des öffentlichen Dienstes gegen die Beschäftigten in der Privatwirtschaft aus. Sie rufen die Beschäftigten zu einem wirkungslosen Aktionstag nach dem anderen auf. In Wirklichkeit sind sie Experten darin, die Arbeiter und Arbeiterinnen zu spalten! Selbst den Nationalismus versuchen die Gewerkschaften in unseren Reihen zu verbreiten. Ein Beispiel: seit Mitte März lautet der am häufigsten skandierte Slogan auf den Demonstrationen der GSEE (griechischer Gewerkschaftsverband): „Kauft Produkte aus Griechenland!"
Der gewerkschaftlichen Orientierung zu folgen heißt stets, sich spalten zu lassen und die eigene Niederlage zu besiegeln. Daher müssen die Erwerbstätigen ihren Kampf in die eigenen Hände nehmen, indem sie selbst Vollversammlungen abhalten, kollektiv über Forderungen und Slogans zu entscheiden, indem sie jederzeit abwählbare Delegierte ernennen und große Delegationen wählen, die mit Beschäftigten aus nahegelegenen Betrieben, Verwaltungen, Schulen, Krankenhäuser etc. Kontakt aufnehmen und sie dazu ermuntern, sich ihrer Bewegung anzuschließen.
Auf die Gewerkschaften zu verzichten, es zu wagen, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen, die Initiative bei der Kontaktaufnahme zu anderen LohnarbeiterInnen zu ergreifen - all das mag als ziemlich schwierig erscheinen. Dies ist es, was die Entwicklung von Kämpfen zurzeit bremst: Der Arbeiterklasse fehlt es insbesondere an Selbstvertrauen. Sie ist sich noch nicht der ungeheuren Kraft bewusst, die in ihr steckt. Im Augenblick lähmen die brutalen Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die brutalen Angriffe des Kapitals und das mangelnde Selbstvertrauen der Arbeiter und Arbeiterinnen ihren Kampf. Dennoch liegt unsere Zukunft in der Entwicklung des Klassenkampfes. Angesichts der Angriffe besteht die einzige Perspektive in der Entfaltung von immer massiveren Bewegungen.
Manche mögen jetzt fragen: „Warum sollen wir solche Kämpfe führen? Was sollen sie bezwecken, wenn das System pleite ist und daher nichts mehr hergeben kann? Eigentlich gibt es keinen Ausweg." Innerhalb dieses Ausbeutungssystems gibt es in der Tat keinen Ausweg. Doch sich dagegen zu wehren, wie ein Hund behandelt zu werden, und sich gemeinsam zur Wehr zu setzen heißt, unsere Menschenwürde zu verteidigen. Wir müssen uns darüber bewusst werden, dass es auch in dieser Welt der Ausbeutung möglich ist, Solidarität zu entwickeln und diese großartige menschliche Eigenschaft zu spüren und zu leben. Dann wird die Möglichkeit einer anderen Welt greifbar: eine Welt ohne Grenzen und ohne Vaterland, ohne Ausbeutung und Armut, eine für die Menschen und nicht für den Profit gemachte Welt. Die Arbeiterklasse kann und muss ihr Selbstvertrauen wiedererlangen. Nur sie ist in der Lage, diese neue Gesellschaft aufzubauen und die Menschheit mit sich selbst zu versöhnen, indem sie vom „Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit eintritt" (Marx) eintritt.
Der Kapitalismus ist ein bankrottes System. Aber eine andere Welt ist möglich: der Kommunismus!
Internationale Kommunistische Strömung, 22.5.2010
www.internationalism.org [109]
Kontaktadressen:
[email protected] [110]
[email protected] [111]
Mitte Mai verkündete das Verteidigungsministerium eine lange Sparliste.
Könnte man meinen, dass unter dem Druck der Wirtschaftskrise dem Militarismus endlich Grenzen gesetzt, Abrüstung durch Sparmaßnahmen erzwungen werden? Mitnichten!
Im Rahmen der Sparmaßnahmen wurde auch die Verkürzung des Wehrdienstes von 9 auf 6 Monate beschlossen. Auch wenn sich Militärs und Politiker durch den ausschließlichen Einsatz von Berufssoldaten in den immer mörderischer und bestialischer werdenden Kriegsoperationen erhoffen, die Kampfmoral einigermaßen intakt zuhalten, hinterlassen jedoch auch die jüngsten Einsätze von Berufssoldaten tiefe Narben bei denselben. In allen Berufsarmeen nimmt die Zahl der Traumata-Erkrankten zu.
Mitte Mai verkündete das Verteidigungsministerium eine lange Sparliste. "Experten des Verteidigungsministeriums empfehlen laut einem Bericht der Bild-Zeitung, 15 Transall-Transportflugzeuge nicht mehr zu nutzen und die Zahl der neuen A400M zu reduzieren. Auch die Zahl neuer Kampfflugzeuge und Helikopter soll stark reduziert werden. Darunter sind Militärhubschrauber des Typs NH-90 (nur noch 80 statt 122 sollen gekauft werden) und die Tiger-Kampfhubschrauber (nur noch 40 statt 80). Bei den Flugzeugen soll die Tornado-Kampfjetflotte von 185 auf 85 reduziert werden. Auch auf die Lieferung von 37 Flugzeugen des Typs Eurofighter soll die Bundeswehr verzichten. (…) Auch bei der Marine soll es zu Einsparungen kommen. Acht Fregatten, zehn Schnellboote und 21 Sea-King-Hubschrauber sollen nicht mehr genutzt werden. Statt vier sollen nur noch drei Fregatten der Klasse 125 bestellt werden. Das Luftabwehrsystem Meads soll von den Sparplänen hingegen nicht berührt sein. " https://www.welt.de/politik/deutschland/article8347558/Bundeswehr-soll-9... [114]
Könnte man meinen, dass unter dem Druck der Wirtschaftskrise dem Militarismus endlich Grenzen gesetzt, Abrüstung durch Sparmaßnahmen erzwungen werden? Mitnichten!
Im Mai meldete das SIPRI: "Die weltweite Finanzkrise und riesige Staatsschulden haben den Anstieg der Militärausgaben bisher nicht bremsen können. Im letzten Jahr kletterten sie um Jahr 5,9 Prozent auf 1,5 Billionen Dollar (1,2 Billionen Euro), wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI mitteilte. Nach den in Stockholm veröffentlichten Angaben aus dem neuen SIPRI-Jahrbuch sind die Militärausgaben in den letzten zehn Jahren global um 49 Prozent gestiegen. Allein 54 Prozent der zusätzlichen Rüstungsausgaben im letzten Jahr entfielen auf die Vereinigten Staaten. Die USA wendeten 2009 mit 661 Milliarden Dollar mehr als sechsmal so viel Steuergelder für ihr Militär auf wie China mit dem weltweit zweitgrößten Militär-Haushalt (100 Milliarden Dollar). Mit ausschlaggebend für die massiven Ausgabensteigerungen in Washington war die annähernde Verdoppelung der Truppenstärke in Afghanistan.“ „Deutschland nahm im letzten Jahr in der Liste der zehn größten Militärhaushalte mit 37,5 Milliarden Euro (SIPRI-Berechnung) den siebten Platz hinter Japan und vor Saudi-Arabien ein. (Spiegelonline).“ Weltweit nimmt der Militarismus weiter zu.
Während weltweit die Rüstungsausgaben anstiegen, die USA und China dabei mit die größten Steigerungsraten verzeichnen, sind jedoch einige europäische Staaten zu Kürzungen auch im Militärhaushalt gezwungen.
Auch wenn die Bundeswehr nun mit Kürzungen leben muss, geschieht das auf dem Hintergrund einer vor Jahren eingeleiteten Anpassung. „Wie es in einem kürzlich vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt publizierten Überblick über die Entwicklung der bundesdeutschen Militäreinsätze heißt, ist der Umbau der deutschen Marine vom Verteidigungsmittel aus der Zeit der Systemkonfrontation ("Escort Navy") zum in aller Welt einsetzbaren Kriegsinstrument ("Expeditionary Navy") inzwischen recht weit fortgeschritten. Für den Transformationsprozess seien neben Rüstungsprojekten - etwa dem Bau der sogenannten Einsatzgruppenversorger [1] - und strukturellen Veränderungen vor allem die Einsätze der Marine am Horn von Afrika von Bedeutung gewesen. Dies gelte insbesondere für den Marine-Einsatz vor der Küste Ostafrikas im Jahr 1994, mit dem das deutsche UNO-Kontingent aus Somalia evakuiert wurde. Weil bis 1990 Ausrüstung, Führungsverfahren und Aufklärungsmittel der Marine auf einen "zentraleuropäischen Einsatzraum zugeschnitten" gewesen seien, habe beim Einsatz in den heißen äquatorialen Gewässern "vielfach improvisiert werden" müssen, schreibt das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA).[2] (German-Foreign-Policy.com).
Konnte die deutsche Kriegsmarine bei ihren Einsätzen vor dem Horn von Afrika (1994, 2002 bis 2010) und vor dem Libanon (seit 2006) umfangreiche Erfahrungen für Interventionen in südlichen Gewässern sammeln, so testet sie gegenwärtig - wieder vor dem Horn von Afrika - im Rahmen der EU-Piratenbekämpfung neue Operationstechniken aus.“ Erfahrung mit direkten Kampfeinsätzen erfordert neue Ausrüstung. Vor allem bei der Marine sind umfangreiche „Fähigkeitsanpassung" u nötig. „Dabei geht es unter anderem darum, ihre "Flugkörperbewaffnung zur Bekämpfung von Luftzielen" zu regenerieren.[4] Zudem sieht die gültige Konzeption der Bundeswehr vor, dass Marineschiffe gegen Landziele in Stellung gebracht werden können. "Für diese neue Aufgabe", schreibt der zuständige Referatsleiter im Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung, "besitzt sie bisher keine geeigneten Flugkörper."[5] In naher Zukunft sollten Marinewaffen bereitgestellt werden, um "den Einsatz von Landstreitkräften zu ermöglichen oder zu unterstützen, indem Ziele am Boden von See aus präzise und auf Abstand bekämpft werden".(ebenda). Die Sparmaßnahmen bei der Bundeswehr ordnen sich somit ein in eine tatsächlich vollzogene Umrüstung.
Im Rahmen der Sparmaßnahmen wurde auch die Verkürzung des Wehrdienstes von 9 auf 6 Monate beschlossen. Auch wenn sich Militärs und Politiker durch den ausschließlichen Einsatz von Berufssoldaten in den immer mörderischer und bestialischer werdenden Kriegsoperationen erhoffen, die Kampfmoral einigermaßen intakt zuhalten, hinterlassen jedoch auch die jüngsten Einsätze von Berufssoldaten tiefe Narben bei denselben. In allen Berufsarmeen nimmt die Zahl der Traumata-Erkrankten zu. „Wir hatten 145 in 2007, in 2008 waren es 245 und 2009 dann 466 Fälle mit posttraumatischen Belastungsstörungen", PTBS“, berichten offizielle Bundeswehrquellen. (angriff-auf-die-seele.de/ptbs/informationen/aktuelles/274-immer-mehr-traumatisierte-bundeswehrsoldaten.html). In Großbritannien schrieb am 26. September 2009 die : [115]“Schockierende Zahlen belegen, dass mehr als 10% der Gefängnisinsassen in England Veteranen sind”. Die „National Association of Probation Officers (Napo) (Bewährungshelfer) berichtete, dass in England und Wales ca. 20.000 ehemalige Soldaten entweder in Haft sind oder unter Bewährung stehen. Die Zahl der straffällig gewordenen ehemaligen Soldaten ist um ein Drittel gestiegen. 12.000 ehemalige Soldaten werden von Bewährungshelfern „betreut“, ca. 8.500 ehemalige Soldaten stecken im Knast. Die Gesamtzahl von 20.000 betroffenen ehemaligen Soldaten liegt doppelt so hoch wie die zur Zeit in Afghanistan eingesetzten Soldaten. Ein Viertel der Veteranen klagen über PTBS, wobei noch viele Soldaten hinzukommen, die sich nicht in Behandlung begeben. „Psychologisch geschädigte ehemalige Soldaten kämpfen oft jahrelang mit verkrüppelnden Symptomen wie Flashbacks (Rückblenden), Alpträumen, Depressionen und Angstanfällen, Gefühlsschwankungen und gestörte Beziehungen zu Familien und Freunden. Dies wird durch die Tatsache unterstrichen, dass mehr im Falklandkonflikt eingesetzte britische Soldaten, die (im April 1982 kämpften argentinische und britische Truppen 74 Tage lang um die Falklandinseln, 255 britische, 649 argentinische Soldaten wurden getötet) seitdem Selbstmord begangen haben als im Krieg selbst getötet wurden – ca. 270 gegenüber 255 im Kampf getöteten Soldaten.“ (https://www.dailymail.co.uk/news/article-1216015/More-British-soldiers-prison-serving-Afghanistan-shock-study-finds.html#ixzz0t4GPn9Fp [116]) 20.07.10
Die Menschenverachtung, für die Duisburg nur stellvertretend steht, ist ein Überlebensprinzip der einzelnen Protagonisten der herrschenden Klasse. Sie zu überwinden erfordert weitaus mehr als die Mobilisierung von Kategorien wie Schuld und Sühne, Rücktritt oder Abwahl. Es erfordert nichts Geringeres, als das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Dass dies nicht in einer Gesellschaft wie der Kapitalismus zu bewerkstelligen ist, die, wie keine andere Gesellschaft vor ihr, die Ausbeutung und Entfremdung bis zur Perfektion kultiviert hat, ist dabei selbstredend.
Nun sind schon fast drei Wochen vergangen, seitdem am 24. Juli einundzwanzig junge Menschen auf der „Love Parade“ in Duisburg ihr Leben gelassen hatten und 500 weitere verletzt worden waren, und noch immer dreht sich das Karussell der Schuldzuweisungen und Unschuldsbeteuerungen von Politik, Polizei und Betreiber dieser Veranstaltung. Wenn die Angelegenheit nicht so ernst wäre, könnte man meinen, man sei im Kindergarten: ‚Ich bin’s nicht gewesen, der andere war’s.‘ Die Stadt Duisburg versucht sich mit Hilfe eines Gutachtens aus der Verantwortung stehlen und bezichtigt den Betreiber der „Love Parade“ in Duisburg, Auflagen nicht eingehalten zu haben. Dieser weist seinerseits alle Schuld von sich und macht stattdessen die Polizei für die Tragödie verantwortlich. Und die? „Ich werde nicht zulassen, dass die Polizei als Sündenbock für die Fehler und Versäumnisse anderer herhalten muss“, donnert NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) zurück. Nicht die Polizei sei Schuld an den Geschehnissen, sondern... die Stadt Duisburg und der Veranstalter. Welch schäbiges Schauspiel die Charaktermasken der herrschenden Klasse hier darbieten!
Dabei war die ganze Mischpoke ausnahmslos und federführend an der Planung und Durchführung dieser „organisierten Katastrophe“ (SPIEGEL-Titel) beteiligt und somit voll und ganz verantwortlich für den grausamen Tod dieser Menschen. Nehmen wir den Veranstalter, Rainer Schaller, ein Empokömmling aus ärmeren Verhältnissen (oftmals die schlimmsten Finger) und Inhaber einer Fitness-Kette: Er witterte ein großes Geschäft, wofür er bedenkenlos die Gesundheit und das Leben von Hunderttausenden von Ravern aufs Spiel setzte. Nehmen wir die Politiker wie den Duisburger Oberbürgermeister Sauerland oder Landespolitiker aller Couleur: Letztere einte die Absicht, die „Love Parade“, die in Bochum 2009 schon einmal abgesagt worden war, dieses Jahr in Duisburg nachzuholen – koste es, was es wolle; und Erstgenannter war ihr willfähriges Instrument, das alle Sicherheitsbedenken subalterner Beamter und sämtliche Vorschriften souverän ignorierte. Oder die Polizei: Sie versteckte sich am Tag der Katastrophe viel zu lange hinter der Verantwortung des Veranstalters und erlaubte sich, als sie schließlich das Kommando übernommen hatte, auch noch eine Reihe verhängnisvoller Pannen.
Sie alle ließen jede Vorsicht fahren und führten 21 junge Menschen sehenden Auges ins Verderben. Der Veranstalter, der insgeheim auf mehr als 500.000 Besucher hoffte, obwohl das Gelände lediglich Platz für maximal 220.000 Menschen bot. Und dessen untaugliches Konzept beispielsweise einen 155 Meter breiten Tunnel als Ein- und Ausgang für eine nach Hunderttausenden zählenden Menschenmenge vorsah – besser kann man in der Tat eine Katastrophe nicht organisieren. Die Behörden, die sich zum Büttel von Privatinteressen machten und dieses „Konzept“, das gegen alle erdenklichen Vorschriften der Bauordnung verstieß, durchwinkten. Die Politik, die aus Sorge, dass bei einer nochmaligen Absage „die Love Parade endgültig gestorben gewesen (wäre) für das Ruhrgebiet“, wie der schon erwähnte Sauerland unkte, alle Sicherheitsbedenken in den Wind schrieb und 21 Menschen sterben ließ. Der Polizeiapparat, der seine Beamten nicht nur ohne Entscheidungsbefugnisse, sondern auch ohne Funkgeräte (sic!) in diese Großveranstaltung schickte, während er bei Veranstaltungen der Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Kultur keine Mühen und Kosten scheut und nötigenfalls ganze Regionen hermetisch abriegelt, um die Sicherheit der Hautevolee zu gewährleisten. (1) Nichts wirft ein grelleres Licht auf den Klassencharakter dieses Staates und seiner Behörden!
Und wofür das Ganze? Die Motive des Herrn Schaller liegen auf der Hand: Mehr Aufwand für die Sicherheit hätte Mehrausgaben bedeutet, die der Inhaber einer aufstrebenden Fitness-Kette nicht schultern wollte. Doch was hat die Kommunal- und Landespolitik aus allen Parteien dabei geritten, als sie diesen Hasardeur, entgegen aller Warnungen der Experten, mit einem Persilschein ausstattete? Warum blies selbst die örtliche Presse ins gleiche Horn? Wie ist diese blinde Liebe etablierter Parteipolitiker, die meisten längst in einem „reiferen“ Alter, zur „Love Parade“ zu erklären? Alles Raver, oder was?
Es ist davon auszugehen, dass die Gründe für ihr Tun und Lassen irdischerer Natur sind. Und sie sind denen des privatkapitalistischen Novizen Schaller gar nicht so unähnlich. Geht es dem einen darum, sich auf dem heiß umkämpften Markt der „Körperkultur“ zu etablieren, ist es das Anliegen der bürgerlichen Parteifunktionäre, ihrem Wahlkreis, ihrer Kommune, ihrem Bundesland zwecks Wiederwahl Vorteile auf allen möglichen Gebieten zuzuschanzen. Schon seit Jahrzehnten ist ein sich ständig verschärfender Wettbewerb unter den Kommunen, Städten und Bundesländern zu konstatieren. Anfangs beschränkte sich der Kampf um den besten „Standort“ auf die Praxis, anderen Kommunen oder Bundesländern Großbetriebe und andere Gewerbetreibende durch die Gewährung von besonders „großzügigen“ Zuschüssen und Subventionen abspenstig zu machen. Mittlerweile tobt der Konkurrenzkampf in allen Bereichen der kommunalen und Landespolitik, besonders aber auf dem Gebiet der Bildungs- und Kulturpolitik. Es ist ein Kampf mit harten Bandagen, der gelegentlich zu ernsthaften Verstimmungen unter den Landesregierungen oder Bürgermeistern führt. Ein Kampf, in dem es darum geht, dem Anderen seine Kulturinstitute, Buchverlage, Mode- und Musikmessen abzujagen und um dessen Bildungsressourcen zu buhlen (z.B. durch Abwerbungskampagnen unter den Lehramtsaspiranten anderer Bundesländer). Es ist, ähnlich wie in der Privatwirtschaft, ein Verteilungs- und Verdrängungskampf. Mit jeder Verschärfung der allgemeinen Wirtschaftskrise wird die Standortfrage für Städte, Gemeinden und Länder zu einer immer akuteren Existenzfrage. Nur wer genügend kulturelle Angebote in Aussicht stellt, über hochqualifizierte Manpower verfügt und hochrangige Bildungsstätten bietet, kann bei der Jagd nach finanzkräftigen Investoren und anderen potenten Steuerzahlern noch punkten.
Vor diesem Hintergrund ist die Suche nach den „Schuldigen“ für die Tragödie von Duisburg, wie sie derzeit von der Öffentlichkeit betrieben wird, reine Augenwischerei und verfolgt allein den Zweck, die Empörung in der Bevölkerung auf einzelne Buhmänner und Sündenböcke zu fokussieren. Bei aller Abscheu über das verantwortungslose Treiben dieser Herrschaften sollte aber nicht übersehen werden, dass nicht nur die Schallers, sondern auch die Sauerlands den blinden Gesetzen der kapitalistischen Konkurrenz unterworfen sind. „Friss oder stirb!“ – dieser Imperativ gilt nicht nur fürs Privatkapital, sondern auch für die politische Klasse. In diesem Sinn stellt sich die Schuldfrage anders, als es uns die herrschende Ideologie suggerieren möchte. Sie lautet nicht: Wer hat Schuld? Sondern: Was sind die äußeren Umstände, die solch ein Versagen, die solch einen bodenlosen Leichtsinn im Umgang mit „Schutzbefohlenen“ ernst begünstigen?
So formuliert, wird aus der Schuldfrage schnell eine Systemfrage. Es ist nicht der böse Wille, der das Individuum, gleich ob Krimineller oder Politiker, letztendlich zum Täter macht, sondern die kapitalistisch geprägte Umwelt. Es ist eine Umwelt, in der die Entfremdung des Menschen die Mitmenschen zu Konkurrenten, Kostenfaktoren und Waren stempelt. Eine Umwelt, in der Rücksichtslosigkeit, Skrupellosigkeit und Gier Tugenden und Todesopfer Kollateralschäden beim Streben nach Profit und Renommee sind.
Die Menschenverachtung, für die Duisburg nur stellvertretend steht, ist ein Überlebensprinzip der einzelnen Protagonisten der herrschenden Klasse. Sie zu überwinden erfordert weitaus mehr als die Mobilisierung von Kategorien wie Schuld und Sühne, Rücktritt oder Abwahl. Es erfordert nichts Geringeres, als das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Dass dies nicht in einer Gesellschaft wie der Kapitalismus zu bewerkstelligen ist, die, wie keine andere Gesellschaft vor ihr, die Ausbeutung und Entfremdung bis zur Perfektion kultiviert hat, ist dabei selbstredend.
16.8.10
(1) Ein Polizeiapparat, der fast jede Demonstration oder Kundgebung mit allem möglichen Bürgerkriegsmaterial zum Zurückdrängen, Einkesseln, Festsetzen, Festnehmen usw. mit oft Tausenden von martialisch sich gebärdenden Polizisten „begleitet“, der Bewegungen von Menschenmassen auf der Straße mit high-tech (Videoaufnahmen usw.) überwacht und ggf. steuert, dieser Polizeiapparat bekundete nach der Katastrophe, man sei für die Sicherheit auf dem Veranstaltungsgelände nicht zuständig gewesen, sondern nur für die Sicherheit auf der Straße. Ein Sicherheitsapparat, der Unheil ahnte, die Menschen aber ins Verderben laufen ließ!
Im ersten Teil dieser neuen Artikelreihe haben wir versucht aufzuzeigen, dass es zwischen internationalistischen Anarchisten und der Kommunistischen Linken grundsätzliche Gemeinsamkeiten gibt. Ohne bestehende wichtige Divergenzen zu leugnen, besteht aus der Sicht der IKS der wesentliche Punkt darin, dass wir alle gemeinsam die Eigenständigkeit der Arbeiter verteidigen und uns weigern, (auf „kritische“ oder „taktische“ Weise) einen Teil der Herrschenden zu unterstützen – weder die „demokratischen“ gegen die „faschistischen“ Machthaber, noch die Linken gegen die Rechten, auch nicht palästinensische gegen israelische Herrscher usw. Eine solche Politik hat zwei konkrete Folgen:
- Jede Unterstützung der Wahlen, einer Zusammenarbeit mit den Parteien, die das kapitalistische System verwalten oder verteidigen (Sozialdemokratie, Stalinismus, „Chavismus“, usw.), muss abgelehnt werden.
- Vor allem in Kriegen muss man einen kompromisslosen Internationalismus aufrechterhalten und sich weigern, die eine oder andere Kriegspartei zu unterstützen.
Alle jene, die theoretisch und praktisch diese wesentlichen Positionen verteidigen, müssen sich darüber im Klaren sein, dass sie dem gleichen Lager angehören : dem der Arbeiterklasse, der Revolution.
Unter den Individuen, den Gruppen und Tendenzen dieses Lagers gibt es notwendigerweise Meinungsunterschiede und unterschiedliche Positionen. Indem auf internationaler Ebene offen, brüderlich und ohne falsche Konzessionen debattiert wird, wird es den Revolutionären gelingen, besser zur allgemeinen Entwicklung des Arbeiterbewusstseins beizutragen. Aber damit dies gelingt, müssen sie die Wurzeln der Schwierigkeiten begreifen, die heute noch die Debatte behindern.
Diese Schwierigkeiten sind das Ergebnis der Geschichte. Die revolutionäre Welle von Kämpfen, die von 1917 an in Russland und 1918 in Deutschland den Weltkrieg zu Ende brachte, wurde von der herrschenden Klasse besiegt. Es folgte eine schreckliche Konterrevolution gegen die Arbeiterklasse aller Länder, deren furchtbarster Ausdruck der Stalinismus und Nationalsozialismus waren, die nicht zufällig in jenen beiden Ländern entstanden, deren Arbeiterklasse an der Spitze der Revolution gestanden hatte.
Die Anarchisten begriffen die Etablierung jener Furcht einflößenden Polizeidiktatur im Land der Oktoberrevolution von 1917 durch die Partei, die sich auf den „Marxismus“ berief, als eine Bestätigung ihrer Kritik, die sie seit langem an den Auffassungen des Marxismus geübt hatten. Sie warfen ihm sein „autoritäres Wesen“, seinen „Zentralismus“ vor, dass der Marxismus nicht zu einer Abschaffung des Staates sofort nach der Revolution aufruft und dass die marxistischen Auffassungen sich nicht um die Hauptachse, das Prinzip der Freiheit, drehen. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Anarchisten den Triumph des Reformismus und des „parlamentarischen Kretinismus“ innerhalb der sozialistischen Parteien als Bestätigung ihrer Ablehnung einer Beteiligung an jeglichen Parlamentswahlen gewürdigt.(1) Nahezu dieselben Schlussfolgerungen wurden aus dem Sieg des Stalinismus gezogen. Aus ihrer Sicht war dieses Regime nur die logische Konsequenz des „angeborenen autoritären Wesens“ des Marxismus. Insbesondere gebe es eine „Kontinuität“ zwischen der Politik Lenins und der Stalins, da die politische Polizei und der Terror schon zu Lebzeiten Lenins, ja kurz nach der Revolution ihren Einstand gefeiert hatten.
Zur Verdeutlichung dieser „Kontinuität“ wird angeführt, dass schon ab dem Frühjahr 1918 einige anarchistische Gruppen in Russland unterdrückt und ihre Presse geknebelt wurden. Doch als das entscheidende Argument gilt die blutige Niederschlagung des Kronstädter Aufstands im März 1921 durch den bolschewistischen Machtapparat, mit Lenin und Trotzki an der Spitze. Die Kronstädter Episode ist fraglos sehr aufschlussreich, denn die Matrosen und Arbeiter dieses Marinestützpunktes hatten im Oktober 1917 an der Spitze des Aufstandes gestanden, in dem die bürgerliche Regierung gestürzt und die Macht auf die Arbeiter- und Soldatenräte übergegangen war. Und genau dieser fortgeschrittenste Teil der Revolution erhob sich 1921 mit der Parole „Die Macht in die Hände der Räte – ohne die Parteien“.
Unter den verschiedenen Tendenzen der Kommunistischen Linken herrscht völlige Übereinstimmung über wichtige Punkte :
- Anerkennung des konterrevolutionären und bürgerlichen Wesens des Stalinismus;
- Ablehnung jeglicher „Verteidigung des Arbeiterbastions“, den die UdSSR angeblich darstellte, und insbesondere Ablehnung jeglicher Beteiligung am 2. Weltkrieg im Namen dieser Verteidigung (oder eines anderen Vorwands);
- Charakterisierung des ökonomischen und sozialen Systems der UdSSR als eine besondere Form des Kapitalismus, eine der extremsten Formen des Staatskapitalismus.
Hinsichtlich dieser drei entscheidenden Punkte herrscht Übereinstimmung zwischen der Kommunistischen Linken und den internationalistischen Anarchisten. Sie stehen dagegen im völligen Gegensatz zu den Trotzkisten, die den stalinistischen Staat als einen „entarteten Arbeiterstaat“, die „kommunistischen“ Parteien als „Arbeiterparteien“ bezeichnen und die sich überwiegend am 2. Weltkrieg beteiligt hatten (insbesondere in den Reihen der Résistance).
Innerhalb der Kommunistischen Linken gibt es wiederum beträchtliche Meinungsunterschiede hinsichtlich der Analyse des Prozesses, der von der Oktoberrevolution 1917 zum Stalinismus führte.
So vertritt die Strömung der Holländischen Linken (die „Rätekommunisten“ oder „Rätisten“) die Meinung, dass die Oktoberrevolution eine bürgerliche Revolution gewesen sei, die das Ziel verfolgt habe, das feudale zaristische System durch einen bürgerlichen Staat zu ersetzen, der der Entwicklung einer modernen kapitalistischen Wirtschaft förderlicher sei. Die bolschewistische Partei, die an der Spitze der Revolution stand, wird als eine bürgerliche Organisation der besonderen Art beurteilt, die zur Aufgabe gehabt habe, den Aufbau des Staatskapitalismus in die Hand zu nehmen, auch wenn ihre Mitglieder und Führer sich dessen nicht wirklich bewusst gewesen seien. Aus rätistischer Sicht gibt es somit eine Kontinuität zwischen Lenin und Stalin. Letzterer sei gewissermaßen der „Testamentsvollstrecker“ des Ersteren gewesen. In dieser Hinsicht gibt es eine gewisse Konvergenz zwischen den Anarchisten und den Rätisten, doch Letztgenannte berufen sich weiterhin auf den Marxismus.
Die andere wichtige Tendenz der Kommunistischen Linken, die mit der Kommunistischen Linken Italiens verbunden ist, geht davon aus, dass die Oktoberrevolution und die bolschewistische Partei proletarischer Natur gewesen seien.(2) Der Rahmen, innerhalb dessen diese Tendenz den Sieg des Stalinismus begreift, ist die Isolierung der Revolution in Russland aufgrund der Niederlage der revolutionären Kämpfe in den anderen Ländern, insbesondere in Deutschland. Vor der Oktoberrevolution meinte die gesamte Arbeiterbewegung - und die Anarchisten stellten in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar -, dass die Revolution, wenn sie sich nicht weltweit ausdehnte, besiegt werden würde. Das tragische Schicksal der Russischen Revolution bestand darin, dass diese Niederlage nicht von „außen“ gekommen war (die von der Weltbourgeoisie unterstützten Weißen Armeen wurden sogar besiegt), sondern von „innen“, durch den Machtverlust der Arbeiterklasse, insbesondere den Verlust jeglicher Kontrolle über den Staat, der nach der Revolution entstand, sowie durch die Degeneration und den Verrat der Partei, welche die Revolution angeführt hatte, aufgrund ihrer Einverleibung in den Staat.
Jedoch vertreten die verschiedenen Gruppen, die sich auf die Italienische Linke berufen, nicht die gleichen Analysen hinsichtlich der Politik der Bolschewiki während der ersten Jahre nach der Revolution. Aus der Sicht der „Bordigisten“ gibt es nichts zu kritisieren an dem Machtmonopol einer politischen Partei, an der Errichtung einer Art Monolithismus in der Partei, am Einsatz von Terror und an der blutigen Niederschlagung des Kronstädter Aufstands. Im Gegenteil: heute noch berufen sie sich uneingeschränkt darauf. Da die Strömung der Italienischen Linken international hauptsächlich unter dem Begriff des „Bordigismus“ bekannt war, hatte diese Strömung und mit ihr die Idee der Kommunistischen Linken insgesamt abschreckend auf die Anarchisten gewirkt.
Doch die Strömung der Italienischen Linken beschränkt sich nicht auf den Bordigismus. So hatte die Linksfraktion der Kommunistischen Partei Italiens (die später zur Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken wurde) in den 1930er Jahren eine umfassende Bilanz der russischen Erfahrung erstellt (so hieß ihre Zeitung auf Französisch Bilan). Zwischen 1945 und 1952 hatte die Kommunistische Linke Frankreichs (Gauche communiste de France, die Internationalisme veröffentlichte) dieses Werk fortgesetzt; diese Strömung trug die Fackel 1964 nach Venezuela und 1968 nach Frankreich zurück, ehe 1975 die IKS gegründet wurde.
Diese Strömung (zum Teil auch jene, welche sich an den Partito comunista internazionalista in Italien anlehnte) hält die Kritik an bestimmten Aspekten der Politik der Bolschewiki nach der Revolution für notwendig. Insbesondere viele Aspekte, die die Anarchisten anprangern - die Machtergreifung durch eine Partei, der Terror, vor allem die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands -, werden von unserer Organisation (nach Bilan und der GCF) als Fehler seitens der Bolschewiki eingeschätzt, die sehr wohl innerhalb des Rahmens der Marxismus kritisiert werden können und selbst mit den Auffassungen Lenins, insbesondere jener, die von ihm in „Staat und Revolution“ (1917) artikuliert wurde, kollidieren. Diese Fehler sind auf verschiedene Ursachen zurückzuführen, auf die wir hier nicht näher ausführlich eingehen können, die aber ein Teil der allgemeinen Debatte zwischen der Kommunistischen Linken und den internationalistischen Anarchisten sind. Wir wollen hier nur darauf verweisen, dass der Hauptgrund darin besteht, dass die Russische Revolution die erste historische Erfahrung (und bislang die einzige) einer zunächst erfolgreichen proletarischen Revolution war. Es ist die Aufgabe der Revolutionäre, die Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen, wie es von Beginn der 1930er Jahre an Bilan vorgemacht hatte. Für Bilan war die „tiefgreifende Kenntnis der Ursachen dieser Niederlage eine fundamentale Notwendigkeit. Und diese Kenntnis darf nicht vor Verboten zurückschrecken. Die Erfahrung aus den Ereignissen nach dem Krieg zu ziehen heißt die Grundlagen zu legen für den Sieg der Revolution in allen Ländern.“ (Bilan, Nr. 1, November 1933).
Konterrevolutionäre Zeiträume sind kaum günstig für die Zusammenarbeit oder gar Vereinigung revolutionärer Kräfte. Verwirrung und Zerstreuung, die überall in der Arbeiterklasse zu spüren sind, greifen schließlich auch über auf die bewusstesten Kräfte in ihren Reihen über. Genauso schwierig, wie schon in den 1920er und 1930er Jahren die Debatte unter den Gruppen war, die mit dem Stalinismus brachen und sich dabei weiterhin auf die Oktoberrevolution beriefen, erwies sich auch die Debatte zwischen Anarchisten und der Kommunistischen Linken in der ganzen Zeit der Konterrevolution.
Wie oben erwähnt, trug die Tatsache, dass der Ausgang der Russischen Revolution Wasser auf die Mühlen der Kritiker des Marxismus zu leiten schien, zur vorherrschenden Haltung innerhalb der anarchistischen Bewegung bei, jegliche Diskussion mit den „notwendigerweise autoritären“ Marxisten der Kommunistischen Linken abzulehnen. Zumal die anarchistische Bewegung in den 1930er Jahren aufgrund ihrer herausragenden Stellung innerhalb der Arbeiterklasse Spaniens, wo es damals zu entscheidenden historischen Auseinandersetzungen gekommen war, viel bekannter war als die kleinen Gruppen der Kommunistischen Linken.
Umgekehrt hat die Tatsache, dass die anarchistische Bewegung die Ereignisse in Spanien nahezu einhellig als eine Art Bestätigung ihrer Auffassungen betrachtete, während die Kommunistische Linke dagegen in ihnen den Beweis des Scheiterns der Anarchisten sah, lange Zeit eine Hürde für die Zusammenarbeit mit den Anarchisten dargestellt. Es sollte aber betont werden, dass Bilan sich weigerte, alle Anarchisten in dieselbe Schublade zu stecken. Als im Mai 1937 der italienische Anarchist Camillo Berneri von den Stalinisten ermordet wurde, hat Bilan, ungeachtet ihrer kompromisslosen Kritik an der Politik der Führung der spanischen CNT, einen Nachruf veröffentlicht.
Noch wichtiger ist die Tatsache, dass 1947 eine Konferenz stattgefunden hatte, an der sich die Italienische Kommunistische Linke (vertreten von der Gruppe aus Turin), die Kommunistische Linke Frankreichs, die Holländische Linke … und einige internationalistische Anarchisten beteiligten ! Einer von ihnen arbeitete im Präsidium der Konferenz mit.
Dies beweist, dass selbst während der Konterrevolution bestimmte Mitglieder der Kommunistischen Linken und des internationalistischen Anarchismus von einer wirklich offenen Geisteshaltung, einem Willen zur Debatte und einer Fähigkeit geprägt waren, die grundlegenden Kriterien anzuerkennen, die die Revolutionäre über die bestehenden Divergenzen hinweg vereinigten!
Die Haltung dieser Genossen des Jahres 1947 sollte uns eine Lehre sein; sie stellt eine Hoffnung für die Zukunft dar.
Natürlich stellen die vom Stalinismus im Namen des Marxismus und des Kommunismus begangenen Grausamkeiten noch heute eine große Bürde dar. Sie wirken wie eine emotionale Mauer, die immer noch die aufrichtige Debatte und die loyale Zusammenarbeit behindert. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ [Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 11625).
(vgl. MEW Bd. 8, S. 115)]
Diese uns behindernde Mauer kann nicht von heute auf morgen niedergerissen werden. Aber es sind erste Risse aufgetreten. Wir müssen die Debatte, die sich vor unseren Augen entwickelt, fördern, uns bemühen, in einem brüderlichen Geist zu handeln und immer vor Augen zu haben, dass wir alle aufrichtig darum bestrebt sind, auf den Kommunismus, eine klassenlose Gesellschaft, hinzuarbeiten. IKS, August 2010
1) Für Lenin „In Westeuropa ist der revolutionäre Syndikalismus in vielen Ländern eine direkte und unvermeidbare Folge des Opportunismus, Reformismus und parlamentarischen Kretinismus“ (Lenins Vorwort zu einer Broschüre von Woinow, (Lunacharski) zur Haltung der Partei gegenüber den Gewerkschaften – 1907). Der Anarchismus, der lange vor dem revolutionären Syndikalismus entstanden war, aber diesem nahe stand, profitierte auch von der Entwicklung der sozialistischen Parteien in diese Richtung.
2) Es gab mehrere Gruppen, die aus der Bolschewistischen Partei hervorgingen, und diese gleiche Analyse teilten. Siehe unser Buch „The Russian Communist Left“.
3) Tatsächlichen waren Debatte, Zusammenarbeit und gegenseitiger Respekt zwischen internationalistischen Anarchisten und Kommunisten damals nichts Neues. Als ein Beispiel von vielen mag die Aussage der amerikanischen Anarchistin Emma Goldman dienen, die in ihrer Autobiographie (welche 1931, 10 Jahre nach Kronstadt, veröffentlicht wurde) schrieb: „Der Bolschewismus war eine Gesellschaftsauffassung, welche von den hellsten Geistern aufgegriffen wurde, die von dem Eifer und dem Mut von Märtyrern beseelt waren. (…) Es war sehr dringend, dass die Anarchisten und andere echte Revolutionäre diese diffamierten Leute und ihre Sache entschlossen bei den damaligen Ereignissen in Russland verteidigten.“ (Living my life). Ein anderer berühmter Anarchist, Victor Serge, benutzte 1920 in einem Artikel: „Die Anarchisten und die Erfahrung der russischen Revolution“ einen ähnlichen Ton, und obwohl er sich immer noch als Anarchist betrachtete und bestimmte Aspekte der Politik der Bolschewiki kritisierte, unterstützte er diese Partei. Die Bolschewiki wiederum luden eine Delegation der anarcho-syndikalistischen CNT aus Spanien zum 2. Kongress der Kommunistischen Internationale ein. Es fanden sehr brüderliche Diskussionen statt; die CNT wurde zum Beitritt zur Komintern aufgefordert.
In Italien existiert eine Gruppe, welche von sich nicht nur behauptet, die Avantgarde der Arbeiterklasse, sondern auch ein Teil der Kommunistischen Linken zu sein. Damit meinen sie, mindestens politisch, oder gar organisatorisch, zu dieser politischen Bewegung zu gehören, welche während der 1920er Jahre begonnen hatte sich der Degeneration der Dritten Internationale entgegenzustellen. Wir werden hier aufzeigen, dass dies überhaupt nicht der Realität entspricht und welche Ziele Lotta Comunista tatsächlich verfolgt.
Lotta Comunista ist der Name der Zeitung der sog. Leninistischen Gruppen der Kommunistischen Linken. Doch Lotta Comunista hat nie erklärt, auf was genau an der Kommunistischen Linken sie sich politisch und theoretisch bezieht, auf welche Erfahrungen dieser Minderheiten, welche sich in verschiedenen Ländern wie Italien, Deutschland, Holland, Belgien, Russland, Mexiko und Frankreich gegen die Kräfte der kapitalistischen Repression gestemmt und versucht haben, den roten Faden der marxistischen Kontinuität aufrecht zu erhalten. Wenn Lotta Comunista sorgfältig versucht, jeden klaren Bezug auf die Positionen der Kommunistischen Linken zu umgehen, und sich dabei auf ihrem Namen ausruht, dann nur deshalb, weil die Wurzeln dieser Organisation in einem direkten politischen Gegensatz zur Kommunistischen Linken stehen. Ihre Wurzeln liegen in der Partisanenbewegung gegen die deutsche Besetzung Italiens während des Zweiten Weltkrieges. Einige dieser Partisanen, wie Cervetto, Masini und Parodi schlossen sich danach der anarchistischen Bewegung an und gründeten 1951 die GAAP (Anarchistische Gruppen der Proletarischen Aktion). Der Gründungskongress der GAAP vom 28. Februar 1951 in Genua wird von Lotta Comunista als der Ausganspunkt ihrer Organisation, so wie man sie heute kennt, bezeichnet. Es fand im Februar 1976 in Genua ein Gedenkanlass zum 25-jährigen Bestehen unter dem Motto „Lotta Comunista - 25 Jahre" statt. Dass Lotta Comunista sich zur Kommunistischen Linken zählt, ist schlicht und einfach eine Geschichtsfälschung.
Für Lotta Comunista ist der Marxismus etwas Metaphysisches, geschneidert außerhalb der Gesellschaft und der Klassen, die sich gegenüberstehen. Er ist für sie nicht Ausdruck der realen Bewegung zur Emanzipation der Arbeiterklasse, sondern mehr eine Eingebung, eine Religion - welche als zu erlernende Wissenschaft ausgegeben wird -, losgelöst von der Realität und vom Wesen des Proletariates in seinem widersprüchlichen Verhältnis mit dem Kapital. Der „Marxismus" von Lotta Comunista ist nichts anderes als das Produkt ideologischer Gedanken, die auf philosophischen Spekulationen gründen. Um sich eine Legitimation zu verschaffen, klebt Lotta Comunista das Wort „wissenschaftlich" an all ihre magischen Hirngespinste, laut denen die Partei Geburtsort und Leben der „Wissenschaft der Revolution" ist, mit einem revolutionären „wissenschaftlichen" Programm und einer „revolutionären Wissenschaft". Die Entwicklung der angeblichen marxistischen Wissenschaft spielt sich in den Gehirnen der Denker ab, welche mit der „revolutionären Wissenschaft" bewaffnet sind, und es gibt offenbar keine durch das Proletariat in seinen Kämpfen gegen den Kapitalismus entwickelte Theorie. Heute scheint dieser unveränderbare Schatz der „marxistischen Wissenschaft" bei Lotta Comunista gelagert zu sein, welche sich dessen bedient, ganz unabhängig von allen Schicksalsschlägen der Arbeiterbewegung und vom Auf und Ab des Klassenkampfes.
Für Lotta Comunista existiert die Krise nicht. Diese scheint für sie lediglich eine erfundene Geschichte der Unternehmer zu sein, um die Arbeiter anzugreifen. Lotta Comunista hat dazu eine Broschüre mit dem bemerkenswerten Titel Welche Krise denn? veröffentlicht. Der Kapitalismus scheint danach in einem permanenten Wachstum zu sein, mit fremden Gebieten und Märkten, die der Kapitalismus noch erobern könne. Um dies zu belegen, führt Lotta Comunista die Statistiken der OECD oder der Zeitschriften Fortune und Financial Times an. Ihre eigene Zeitung, die neben einer Studienzeitschrift auch eine Zeitschrift für die Propaganda und den Kampf sein will, entblößt sich schon auf der ersten Seite als philologisch und führt Chroniken der Konzentration von Unternehmen an, ohne irgend eine Sorge für eine revolutionäre Perspektive. Die Rubriken über Klassenkämpfe in aller Welt, genau wie die Schnappschüsse von Streiks, erscheinen ohne jegliche Analyse über das Bewusstsein, die Kampfbereitschaft oder die Selbstorganisierung. All dies ist kein Zufall: Lotta Comunista sieht in der Arbeiterklasse nichts mehr als das variable Kapital, einen Produzenten von Mehrwert, genau so wie das Kapital es tut. Man findet keine Analyse, keine dynamische Vision des Klassenkampfes und seiner Perspektiven, sondern nur eine statische Vision, bei der das Proletariat als eine atomisierte Summe von Individuen verstanden wird, die es dann morgen zur Revolution zu führen gälte - oder was auch immer.
Um die Position von Lotta Comunista über die Arbeiterklasse und den Klassenkampf zu verstehen, muss man drei Grundelemente der Konzeption von Lotta Comunista betrachten: ihre „leninistische" Parteiauffassung, die Rolle der Gewerkschaften und die aktuelle ökonomische Phase, welche einen „geordneten Rückzug" verlange. Lotta Comunista vertritt eine Auffassung des Bewusstseins und der Partei, nach der das Proletariat nicht selber fähig sei, ein kommunistisches Bewusstsein hervorzubringen, und dieses dem Proletariat einzig und allein durch die Partei eingeflößt werden kann. Eine Partei, die von bürgerlichen Intellektuellen, die sich der revolutionären Sache verschrieben haben, gebildet wird. Diese Auffassung wurde von Lenin selber explizit verworfen. Mit dieser Auffassung bezieht sich Lotta Comunista überhaupt nicht auf die wirklichen Kämpfe der Arbeiterklasse, sondern strebt nur eine Vergewerkschaftung der Arbeiterklasse und eine Vergrößerung ihres Einflusses innerhalb der Gewerkschaft ihrer Wahl an, der „roten" CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro). Die Parole von Lotta Comunista ist simpel: als revolutionäre Partei muss man die Arbeiterklasse organisieren und dirigieren und, um zu diesem Ziel zu gelangen, mit allen Mitteln die Führung in den Gewerkschaften übernehmen. Die Interventionen von Lotta Comunista gegenüber der Arbeiterklasse haben nie die Absicht das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu heben, sondern zielen darauf ab, gewisse Kaderposten zu erobern, um mehr politisches Gebiet kontrollieren zu können. Da sich der Kapitalismus für Lotta Comunista in einer permanenten ökonomischen Wachstumsperiode befindet und die Aufgabe der Arbeiterklasse vor allem darin besteht, zu warten, bis die Bedingungen reif sind und sich der Kapitalismus auf dem gesamten Planeten mit seinem Luxus ausgebreitet hat, hat diese Gruppe 1980 den Slogan des „geordneten Rückzugs" lanciert: „...wir haben seit langem den mutigen leninistischen Slogan der Gruppierung der bewussten und klaren Kräfte der Arbeiterklasse rund um die Partei aufgenommen, um eine Anstrengung für einen geordneten Rückzug zu machen, ohne Unordnung, Enttäuschungen, Konfusionen, Demagogie".[1] Im Klartext: alles unternehmen, um dem Kampf der Arbeiter die Spitze zu brechen, um damit alles zu verhindern, was nach einem „Weg in die Unordnung" aussieht. Lotta Comunista geht sogar soweit, die alte stalinistische Partei Italiens, die PCI, zu „tadeln", sie sei zu weit gegangen: „Es ist kein Zufall, dass die PCI sich mit den staatsstreichlerischen Kräften in den Gewerkschaften zusammentut, die Unordnung stiften in den Arbeiterkämpfen, nur um ihr eigenes parlamentarisches Gewicht zu verteidigen im exklusiven Interesse der bürgerlichen Fraktionen."[2] Dieselbe Kritik wurde gegenüber der „großen Gewerkschaft" CGIL erhoben, in der Lotta Comunista davon träumt, die Führung zu übernehmen: „Die große Gewerkschaft hat im Gegenteil die Aufgabe zurückgewiesen, die wir ihr zu Beginn der Restrukturierungskrise angeraten haben, einen geordneten Rückzug zu organisieren, um dann wieder fähig zu sein, die Wiederaufnahme an die Hand zu nehmen. Sie brachte die Unternehmer und die Regierung zum weinen, nicht weil sie stark war, sondern weil sie an einer Autoritäts- und Vertrauenskrise litt."[3] Das also raten diese Wichtigtuer den Gewerkschaften - zwar ohne erhört zu werde. Diese hören nicht zu, geraten in eine Krise und bringen - und das ist das Schönste an der Sache - die Patrons und Regierung zum weinen. Weshalb wohl weinen die Patrons und die Regierung über die Krise der Gewerkschaften? Dazu gibt es nur eine Antwort: Weil ihnen so das Instrument fehlt, das aufgrund seiner moralischen Autorität die Arbeiter an das Kapital fesselt. Was wirklich entsteht sind die Basiskomitees[4]. Wenn die Gewerkschaften aber den Ratschlägen von Lotta Comunista gefolgt wären, würde sie dies dennoch nicht davon befreien, sich mit den Basiskomitees auseinanderzusetzen, das heißt, mit der Tendenz der Arbeiter, sich von den gewerkschaftlichen Fesseln zu befreien und sich selber zu organisieren. Die Gewerkschaften müssten sich radikalisieren, um die Arbeiter besser kontrollieren zu können. All das ist eine politische Arbeit, welche nicht das Bewusstsein der Arbeiterklasse fördern, sondern lediglich die Position der « Partei » zu Ungunsten der Arbeiterklasse stärken will. Hier ein Beispiel dieser durch und durch negativen Politik: Als sich 1987 die Beschäftigten der Schulen in Italien in Basiskomitees organisierten, erschien Lotta Comunista in einigen Vollversammlungen, um zu erklären, dass es nun nicht um die Gründung neuer Gewerkschaften gehe, sondern darum, die Geschicke der schon Bestehenden in die Hände zu nehmen. Im Klartext also: nicht die CGIL hinter sich lassen, sondern die Führung der Bewegung Lotta Comunista überlassen, und alles wende sich zum Guten. Aber die Bewegung der Beschäftigten in den Schulen 1987 war eine Bewegung, die sich auf einer Klassenbasis zu organisieren begann, trotz all ihrer Schwächen. Daraufhin bevorzugte es Lotta Comunista die Bewegung öffentlich als eine „süditalienische" Bewegung zu verleumden (weil sie sich vor allem in Süditalien entfaltete, konstruierte Lotta Comunista daraus eine regionalistische Erscheinung), die eine „Brutstätte zukünftiger Führungskräfte parlamentarischer Parteien" sei, und rief zu einem außerordentlichen Kongress der CGIL auf. Also ganz simpel, dass die CGIL aufwachen solle, um die Beschäftigten an den Schulen am kämpfen zu hindern. So also gehen die großen Revolutionäre von Lotta Comunista ans Werk!
Lotta Comunista behauptet, „gegen alle parlamentarischen Parteien" zu sein und auch „gegen den demokratischen Staat", unterzeichnete aber zusammen mit PCI, DC, PR, DP und der PSI (alles Parteien des italienischen Staatsapparates) eine Presseerklärung zur „bestimmten Verurteilung des Terrorismus und all der Kräfte, die ihn unterstützen" mit dem Aufruf, „dass alle Arbeiter, die schweren Angriffe dieser ökonomischen und politischen Kräfte zurückweisen, welche die Demokratie unseres Landes destabilisieren" (von uns unterstrichen). Bezüglich der Wahlen behauptet Lotta Comunista, abstentionistisch zu sein, sich also strikte weder am Parlamentarismus, an Wahlen oder Abstimmungen zu beteiligen. Doch als der Abstentionismus allzu unpopulär wurde wie 1974 beim Referendum über die Abschaffung der ehelichen Trennung, empfahl Lotta Comunista, ein „Nein" in die Urne zu legen, und versuchte seine Position mit Slogans wie „Abstimmen genügt nicht, der Kampf muss weitergehen" schmackhaft zu machen. In Wirklichkeit bezog Lotta Comunista keine andere Position wie all die sog. Außerparlamentarischen Linken der damaligen Zeit und unterstützte eine Fraktion der Bourgeoisie gegen die andere.
Die Frage der Beteiligung am imperialistischen Krieg ist besonders bedeutsam, denn sie unterscheidet das Lager der Arbeiterklasse von dem der Bourgeoisie. Lotta Comunista behauptet zwar, internationalistisch zu sein, ist aber auf diesem Gebiet ganz besonders unklar. In einer Broschüre von 1975 erklärt Lotta Comunista, dass 1943 „sich angesichts der Zerstrittenheit der Bourgeoisie die ersten Arbeiterkerne spontan organisiert haben: vom Streik ist man zum bewaffneten Kampf übergegangen. DAS IST DER BEGINN DER RESISTANCE! Die Arbeiter haben die Berge erobert, sie organisierten sich heimlich in den Städten und den Fabriken. Dem Aufbau einer neuen Gesellschaft stellte sich als größtes Hindernis, als größter Feind, die Präsenz der Faschisten und Nazis in den Weg. Gegen diese Knechte des Kapitals mussten die Arbeiter als erstes den Kampf aufnehmen. Doch die Arbeiter wussten genau, dass dies nicht das Ziel war, sondern lediglich eine notwendige Zwischenstufe, um zum Sozialismus zu gelangen ».[5] Diese Argumentation befindet sich vollkommen auf dem bürgerlichen Terrain. In Tat und Wahrheit waren die Partisanenbanden gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in Italien klassenübergreifende Formationen im Dienste des „demokratischen" Imperialismus. Und selbst die Organisationen, welche sich in den Städten und Fabriken bildeten, die GAP und die SAP[6] die von Arbeitern gegründet wurden, waren total in den Händen des stalinistischen PCI und anderer bürgerlicher Parteien. Die Revolutionäre sind aber verpflichtet, es bloßzustellen, wenn sich die Arbeiter in einen „Volkskrieg" im Dienste des Imperialismus verwickeln lassen, in welchem sie nicht mehr ihre eigenen Interessen, sondern die der herrschenden Klasse verteidigen. Es ist wahr, dass die Arbeiter 1943 mit Klassenforderungen in den Streik traten, und nicht im Namen des Antifaschismus, doch es ist auch eine Tatsache, dass diese Streiks und die darauf folgenden ihre Natur änderten und auf das Terrain des Antifaschismus abglitten. Die Arbeiter in Uniform der deutschen Armee hatten - sei es aus Klasseninstinkt oder aus den vermittelten Erinnerungen ihrer Eltern an die Klassenkämpfe heraus - einige Male versucht, mit den streikenden Arbeitern Kontakt aufzunehmen und ihnen ihre Sympathie kundgetan, indem sie ihnen Zigaretten schenkten[7]. Doch sie stießen nur auf die stalinistischen Schergen des PCI, die sie niederschossen, um eine Verbrüderung der Arbeiter über Nationalität und Sprache hinweg zu verhindern. Die italienischen Arbeiter und die deutschen Arbeiter in Uniform - wir sprechen hier von der deutschen Armee, die wie alle anderen Armeen zu großen Teilen aus Arbeitern bestand, und nicht von der Gestapo oder der SS - hatten begonnen, spontan einen proletarischen Internationalismus zu entfalten. Lotta Comunista hingegen sieht in diesen Arbeitern - die kurzweg als Nazis dargestellt werden - den Hauptfeind. In derselben Broschüre liest man auch, die Arbeiter seien sich bewusst gewesen, dass man die Macht von der Bourgeoisie übernehmen müsse: „Und dies versuchen wir zu tun dort, wo wir die Macht ergreifen können, auch wenn nur für eine gewisse Zeit: Bildung neuer politischer Strukturen, in denen sich die Macht versammeln kann, um Gesetze zu erlassen und diese durchzusetzen, indem man direkt Gemeindeverwaltungen und Funktionäre ernennt, Fabrikverwaltungen, direkte Ausführungen der juristischen Macht und die Liquidation der Faschisten ».[8] Die Unverschämtheit von Lotta Comunista kennt keine Grenzen. Man will uns glauben machen, dass die Komitees zur Nationalen Befreiung (Comitato di Liberazione Nazionale, CLN), auf die sie sich in diesen Passagen explizit beziehen, proletarische Organe gewesen seien, obwohl die CLN ausschließlich von bürgerlichen Parteien gebildet wurden, welche die Arbeiter in den Dienst des imperialistischen Krieges stellten. Es ist eine Katastrophe, wenn Gruppen wie Lotta Comunista, die sich als Erben der Kommunistischen Linken und Lenins ausgeben, die Partisanenbewegung als eine Beinahe-Revolution darstellen. Die Partisanenbewegung war im Gegenteil der Höhepunkt der Konterrevolution.
Nach all dem kann man sich fragen, woraus denn der Internationalismus einer Gruppe wie Lotta Comunista - die selber aus der Partisanenbewegung kommt - besteht, wenn sie diese Erfahrungen nicht einmal mit einem Minimum an Kritik hinterfragt? Auf nichts anderes fokussiert als auf die Vollendung der bürgerlichen Revolution vor der Arbeit für die proletarische Revolution hat sich Lotta Comunista auf all die nationalen Befreiungskämpfe gegen den sogenannten Imperialismus fixiert. Lotta Comunista hat es nicht geschafft, sich die Lehren von Rosa Luxemburg anzueignen, nach denen in der heutigen Epoche der Dekadenz des Kapitalismus alle Staaten, ob klein oder groß, ob stark oder schwach, gezwungen sind, eine imperialistische Politik zu betreiben. Aus diesem Grunde behauptet Lotta Comunista: «Die aktive Intervention gegen alle Ausdrücke der imperialistischen Hauptmacht im eigenen Lande bedeutet, sich in die erste Reihe des internationale Klassenkampfes zu stellen. Teilnehmen an jedem Kampf, der direkt oder indirekt einen oder alle Sektoren des Imperialismus bekämpft, teilnehmen, indem man sich ideologisch und politisch mit seinen eigenen Thesen, Losungen, Resolutionen abgrenzt und die einheitliche Dialektik des Imperialismus denunziert. » Lotta Comunista sieht als Aufgabe « in den Kolonien und Halbkolonien den Kampf mit allen Mitteln gegen den Imperialismus, der sich auf die Aktionen und Initiativen der nationalen Bourgeoisie stützt, welche sich wirklich und konkret gegen die fremden und die lokalen imperialistischen Kräfte richten.»[9] Lotta Comunista druckte sogar all die Artikel von Cervetto wieder ab, die zugunsten von Korea argumentierten: « ...wir sehen als Aufgabe der arbeitenden Massen den Kampf dafür, dass die amerikanischen und chinesischen Truppen das Land verlassen, damit das koreanische Volk sich seiner eigenen nationalen und sozialen Emanzipation zuwenden kann und damit den einzigen revolutionären Weg einschlägt, ohne sowjetische, chinesische oder von der UNO bestimmte Einmischung. »[10] Desgleichen «für die Unabhängigkeit Afrikas »: « Die antiimperialistische Revolte der afrikanischen Bevölkerung ist kein Vorspiel für die Bildung der sozialistischen Gesellschaft auf diesem Kontinent. Es ist eine notwendige Etappe, um eine Bresche in die imperialistische Dominanz zu schlagen, für die Zersetzung der feudalen Schichten, für die Befreiung der notwendigen ökonomischen Kräfte und Energien zur Bildung eines nationalen Marktes und einer industriellen kapitalistischen Struktur. (...) Aus diesem Grunde unterstützen wir die Unabhängigkeitskämpfe in Afrika ».[11] Dies führte Lotta Comunista zur Beweihräucherung bürgerlicher Persönlichkeiten in ihrem Kampf gegen andere Teile der herrschenden Klasse: « Lumumba[12] ist ein Kämpfer der kolonialen Revolution, auf dessen Grabstätte das Proletariat eines Tages eine rote Blume legen wird. Wir, die auf eine marxistische Art die Konfusionen in seinem Werk kritisiert haben und kritisieren, verteidigen ihn gegen Beschimpfungen. (...) Lumumba ist gestorben für die Unabhängigkeit seines Landes. Wir, die Internationalisten, wir verteidigen seinen Nationalismus gegen diejenigen, die aus ihrem (weißen) Nationalismus eine Berufung gemacht haben."[13] Lotta Comunista findet auch zu schmeichelhaften Parolen gegenüber dem Castrismus, welcher „revolutionär wird, trotz seiner Wurzeln, das heißt, er ist gezwungen, endgültig mit seiner Vergangenheit zu brechen".[14] Und zu guter letzt folgendes zu Vietnam: „Für diejenigen, welche wie wir immer den Kampf für die staatliche Einheit als einen Prozess der demokratischen bürgerlichen Revolution in Vietnam befürwortet haben, ist der politische und militärische Sieg Hanois ein historisches Ereignis.".[15]
Es gäbe noch viele Punkte der Vergangenheit und auch der jetzigen Aktivitäten von Lotta Comunista zu kritisieren. Was konkret hervorsticht ist, dass Lotta Comunista gegenüber dem Klassenkampf und der Frage des Internationalismus nie eine wirklich proletarische Position bezieht. Und deshalb: Trotz all dem guten Willen, den einzelne Genossen von Lotta Comunista als Triebfeder für ihre Arbeit haben mögen, die Aktivitäten von Lotta Comunista gehen in die genau gegenteilige Richtung, als es der Kampf der Arbeiterklasse erfordert.
Ezechiele, 6.4.2010
[1] Lotta Comunista Nr. 123, November 1980
[2] ebenso
[3] Parodi, Critica del sindicato subalterno,, Verlag Lotta Comunista
[4] Parodi, siehe oben
[5] Viva la Resistenza operaia, Broschüre von Lotta Comunista, April 1975, Seite 5
[6] „Gruppen der Patriotischen Aktion" und „Equipen der Patriotischen Aktion"
[7] siehe: Roberto Battaglia, Storia della resistenza italiana, Einaudi
[8] Viva la Resistenza operaia, Broschüre von Lotta Comunista, April 1975, Seite 5
[9] Aus: L'Impulso, 15. Dezember 1954, heute publiziert in: L'imperialismo unitario, Seite 113, Verlag Lotta Comunista (Unterstreichungen durch uns)
[10] Aus: Il Libertario, 13 Dezember 1950, heute publiziert in: L'imperialismo unitario, Seite 258, Verlag Lotta Comunista
[11] Aus: Azione Comunista Nr. 44, 10 April 1959, heute publiziert in: L'imperialismo unitario, Seite 258, Verlag Lotta Comunista
[12] Patrice E. Lumumba, von Juni bis September 1960 erster Ministerpräsident des unabhängigen Kongo
[13] Aus: Azione Comunista Nr. 59, März 1961, heute publiziert in: L'imperialismo unitario, Seite 326, Verlag Lotta Comunista
[14] Aus: Azione Comunista Nr. 54, Oktober 1960, heute publiziert in: L'imperialismo unitario, Seite 329, Verlag Lotta Comunista
[15] Lotta Comunista Nr.57, Mai 1975, heute publiziert in: L'imperialismo unitario, Seite 1175, Verlag Lotta Comunista
Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe.
Wie die Kämpfe in die eigene Hand nehmen?
Die Bewegung gegen die Rentenreform dauert nun schon sieben Monate. Der erste Aktionstag fand am 23. März statt, damals beteiligten sich 800.000 Menschen, die Atmosphäre war eher schlaff und ein wenig hoffnungslos. Aber seitdem hat der Kampf an Stärke gewonnen. Mehr und mehr Beschäftigte, Arbeitslose, Prekäre, ganze Arbeiterfamilien, Gymnasiasten und Studenten haben sich schrittweise der Bewegung angeschlossen. Gegenwärtig kommen regelmäßig mehr als drei Millionen auf der Straße zusammen!
In Wirklichkeit ist diese Reform zum Symbol der allgemeinen und brutalen Verschlechterung unserer Lebensbedingungen geworden. Die Jugendlichen stehen wie vor einer Mauer: im öffentlichen Dienst werden fast keine Leute mehr eingestellt; in der Privatindustrie gibt es kaum Stellen, und wenn dann nur zu sehr prekären, unhaltbaren Bedingungen. Eingefrorene Löhne, Preissteigerungen, insbesondere Mieterhöhungen, drastische Kürzungen bei der Erstattung von medizinischen Leistungen und der Sozialhilfe, Kürzungen bei Beschäftigungsgesellschaften usw… all diese unzähligen Angriffe treiben uns alle langsam aber sicher in die Armut.
In dieser Lage war es lange bei vielen die Vorstellung, nach Jahren Plackerei und Lohnsklaverei bald eine „wohlverdiente Rente“ zu bekommen, die einen hoffen und durchhalten ließ. Es war das Licht am Ende des Tunnels. In den 1950er und 1960er Jahren konnten noch viele Beschäftigte von diesem relativen „Eldorado“ profitieren. Aber seit 20 Jahren sinken die Renten unaufhörlich. Mittlerweile sind sie auf ein miserables Niveau gefallen; viele Rentner sind gezwungen, noch irgendwelche kleine Jobs anzunehmen. Und jeder weiß, dass diese Reform diese dramatische Lage noch weiter zuspitzen wird. Wie viele Demonstranten rufen, ist die einzige Zukunft, die uns das Kapital bieten kann: „Métro, boulot, caveau“ („Zur Arbeit pendeln, schuften, verrecken“).
Die Weltwirtschaftskrise treibt heute die ganze Menschheit in eine Spirale der Verarmung. Die Lage spitzt sich immer weiter zu. Sieben Monate Kämpfe … immer wieder Aktionstage, ganze Wirtschaftsbereiche haben wiederholt gestreikt, ganze Standorte wurden von entschlossenen und kämpferischen Beschäftigten lahmgelegt, die zudem noch mit der staatlichen Repression konfrontiert wurden. „Die Jugend steckt in einer Galeere, die Alten in der Misere“. Kein Zweifel, die Wut ist riesig und in der ganzen Arbeiterklasse zu spüren!
Und dennoch die Regierung zieht ihre Rentenreform nicht zurück. Selbst zu Millionen auf die Straße zu ziehen, reicht nicht. Jeder spürt, dass irgendetwas dieser Bewegung fehlt. Was fehlt ist, dass die Arbeiter die Bewegung in die eigenen Hände nehmen. Wenn wir nur wie Schafe den gewerkschaftlichen Anordnung folgen, werden wir wie 2003 und 2007 eine Niederlage einstecken. Das Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften wird unter den Arbeitern immer größer. Aber bislang hat nur eine Minderheit gewagt, diesen Schritt zu vollziehen, hat es gewagt, sich selbst in unabhängigen Vollversammlungen zu organisieren, die nicht von den Gewerkschaften kontrolliert werden. So weit wir wissen, gibt es heute ein gutes Dutzend branchenübergreifende Vollversammlungen dieser Art in Frankreich. Zum Beispiel kommen regelmäßig Eisenbahner, Lehrer, Arbeitslose und prekär Beschäftigte in der Bahnhofshalle des Pariser Ostbahnhofs zusammen. Straßenversammlungen werden regelmäßig in Toulouse vor den Arbeitsbörsen abgehalten und am Ende von Demonstrationen. Aber sie werden bislang nur von Minderheiten getragen.
Die Arbeiterklasse muss ihr Selbstvertrauen in ihre Fähigkeit zu kämpfen und sich kollektiv als Klasse zu organisieren, entwickeln. Wie? Wie können die Arbeiter ihre Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wir versuchen darauf in den nachfolgenden Artikeln einzugehen, weil diese Frage wesentlich und ausschlaggebend ist für den weiteren Verlauf der Kämpfe. IKS 22.10.2010
Raffinerien blockieren – ein zweischneidiges Schwert
20% der Tankstellen ohne Benzin. Endlos lange Schlagen. Überall Schlagzeilen in den Medien wegen der wirtschaftlichen Lähmung des Landes. Kämpferische und entschlossene Arbeiter. Und ein Präsident der Republik, der mit der Faust auf den Tisch schlägt, die „Diebe“ mit den schlimmsten Repressalien bedroht. Diese Szenen sind überall in den Medien zu sehen und werden weltweit verbreitet.
Die Beschäftigten, die vor den Raffinerien ausharren, tun dies im Namen der Arbeitersolidarität. Wenn sie den Mut haben, sich der wütenden Polizeirepression und den Strafen ihrer Arbeitgeber auszusetzen (z.B. Grandpuits, in der Pariser Region, der gedroht hat, den Standort dicht zu machen und alle zu entlassen), tun sie dies, weil sie sich dessen bewusst, sind, dass sie für eine gerechte Sache kämpfen, die weit über ihr sie hinausgeht: Die Rentenreform, die uns alle betrifft, und die miserablen Renten, die sich daraus ergeben. Sie kämpfen für die Interessen der gesamten Klasse.
Die Lähmung des Verkehrs, welche durch die Blockade entstanden ist, offenbart auch, dass die Arbeiterklasse die Kraft ist, von der alle Räder in dieser Welt abhängen. Die Arbeiter produzieren alle Reichtümer. Die Kapitalisten sind letzten Endes nur Parasiten, die auf unsere Kosten leben und sich die Erzeugnisse unserer Arbeit aneignen. Es reicht aus, dass ein strategischer Bereich wie die Raffinerien nicht mehr normal funktioniert, und schon gerät die ganze Wirtschaft aus den Fugen.
Aber diese Waffe ist ein zweischneidiges Schwert.
Die Blockade der Raffinerien verfolgt das erklärte Ziel der Lähmung der Wirtschaft, um Druck auf das Kapital auszuüben. Es stimmt, dass den Kapitalisten nichts wichtiger ist als der Profit. Aber wer wird am meisten durch die Benzinknappheit getroffen? Wer ist wirtschaftlich am härtesten getroffen? Das Kapital oder die Arbeiter? Konkret sind die größten Betriebe des Landes (Carrefour, L’Oréal, BNP Paribas, Société Générale, Danone usw.) nicht in Gefahr. Sie sitzen relativ fest im Sattel und können auf die Unterstützung des Staates bauen (auch auf finanzielle Hilfe). Aber die Arbeiter leiden tag- täglich unter den Schwierigkeiten, Benzin zu tanken und zur Arbeit zu fahren. Sie leiden unter den Strafen der Arbeitgeber oder den Sanktionen durch ihre Vorgesetzten, weil man zu spät zur Arbeit kommt. Und die Beschäftigten, die seit Wochen immer wieder gestreikt haben, müssen sich jetzt den Gürtel enger schnallen wegen der dadurch entstandenen Lohnverluste.
„Die Wirtschaft lahmzulegen, um Druck auf das Kapital auszuüben“, ist übrigens ein Mythos, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Vor mehr als einem Jahrhundert konnten die Beschäftigten ihre Betriebe lahmlegen und somit ihre Arbeitgeber zum Nachgeben zwingen. Einerseits ermöglichten die Solidaritätskassen, den Arbeitern „durchzuhalten“, andererseits musste der bestreikte Unternehmer mit ansehen, wie seine Konkurrenten die Lage auszunutzen und ihm Kunden webschnappten. Es gab ernste Gefahren, bankrott zu gehen, und oft konnten die Arbeiter einen Sieg davontragen. Heute sind die Verhältnisse aber ganz anders. Es mag zwar noch Solidaritätskassen geben; so gibt es welche für die „Blockierer“ der Raffinerien. Aber die Arbeitgeber fallen sich in einem Arbeitskampf nicht mehr gegenseitig in den Rücken; im Gegenteil sie unterstützen sich gegenseitig. Sie verfügen gar über schwarze Kassen, um mit solch einer Lage umzugehen. Somit treten die Beschäftigten der Raffinerien nicht nur „ihrem“ Arbeitgeber gegenüber, sondern dem Kapital insgesamt, und vor allem der geballten Staatsmacht. Das Kräfteverhältnis auf rein ökonomischer Ebene besteht nicht mehr zugunsten der Streikenden. Aber das ist nicht die einzige Falle.
Streiks, über deren jeweilige Fortsetzung immer von neuem entschieden wird, sind heute noch nicht sehr verbreitet. Nur in einigen Bereichen wird zurzeit ununterbrochen gekämpft: im Verkehrswesen (vor allem bei der SNCF), den Häfen und der Müllabfuhr in Marseille und den Raffinerien. Weil sie isoliert sind, laufen diese Beschäftigen Gefahr, sich zu erschöpfen, im Falle einer Niederlage entmutigt und gewaltsam bestraft zu werden. Deshalb sind ja auch so viele Arbeiter zu den blockierten Raffinerien gekommen, um vor Ort ihre Solidarität durch ihre Anwesenheit zu bekunden.
Aber es gibt ein noch größeres Risiko, nämlich dass diese Bewegung „unpopulär“ wird. Im Augenblick unterstützt noch der größte Teil der Arbeiterklasse und der Bevölkerung insgesamt diesen Kampf gegen die Rentenreform. Seit dem ersten Aktionstag am 23. März haben sich immer mehr Lohnabhängige der Bewegung angeschlossen (selbst kleine Händler, Freiberufler, Handwerker und Bauern). Ihre Stärke besteht gerade darin, dass immer mehr Bereiche sich dem Kampf anschließen. Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes haben sich Schritt für Schritt die der Privatindustrie, ganze Arbeiterfamilien (insbesondere während der Samstagsdemos), prekär Beschäftigte, Arbeitslose, dann Gymnasiasten und Studenten angeschlossen… Der Kampf gegen die Rentenreform ist für alle eine Kampf gegen die Verschlechterung unserer Lebensbedingungen und gegen die Verarmung geworden.
Aber weil die Blockade des Verkehrswesens schlussendlich in erster Linie diejenigen trifft, die sich am Kampf beteiligen, besteht die Gefahr der Spaltung und dass diese Dynamik gebrochen und ein Hindernis wird für die notwendige massive Ausdehnung der Kämpfe. Bislang unterstützen viele Arbeiter diese Blockadeaktionen, aber im Laufe der Zeit kann sich das Blatt wenden.
Übrigens würde die vollständige Lähmung des Transportwesens ein Zusammenkommen bei den Demonstrationen unmöglich machen. Eine große Erleichterung für das Zusammenkommen wäre es vielmehr, wenn man kostenlos mit der Bahn reisen könnte, wäre das keine wirksamere Vorgehensweise zur Stärkung der Bewegung?
Soll das damit heißen, wir würden sagen, Blockaden und Besetzungen wären keine nützlichen Kampfmittel? Natürlich nicht! Es geht nur darum, dass diese Aktionen nicht als vorrangiges Ziel haben können, ökonomisch zu punkten, sondern sie müssen ein politisches Kräfteverhältnis aufzubauen.
Jegliches Handeln sollte bestimmt sein durch das Bemühen, den Kampf auszudehnen. Unsere Stärke ist unsere massive Einheit und unsere Solidarität im Kampf.
Zum Beispiel fingen die Streiks an den Unis während der Bewegung gegen den CPE im Frühjahr 2006 durch Blockaden an. Mit Hilfe der Blockaden gelang es den bewusstesten und kämpferischsten Studenten, eine große Zahl von Kommilitonen/Innen für die Vollversammlungen zu mobilisieren, wo ein beträchtlicher Teil der Studenten, die nicht die Bedeutung der Angriffe der Regierung oder die Notwendigkeit eines Abwehrkampfes dagegen verstanden hatte, von der Debatte und den darin vorgebrachten Argumenten überzeugt wurde.
Die Blockade und die Besetzung eines Industriestandortes, einer schulischen Einrichtung oder einer Verwaltung kann auch dieses massive Zusammenkommen in Vollversammlungen, diese Debatten ermöglichen, wo die am meisten Zögernden überzeugt werden und sich dem Kampf anschließen. Einzig diese Dynamik der Ausdehnung jagt den Herrschenden wirklich Angst ein. Und schlussendlich, welche Rolle auch immer eine Fabrikbesetzung oder eine Blockade zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Streik spielen mag, auf den Straßen können die Beschäftigten, Rentner, Arbeitslosen, Arbeiterfamilien usw. am leichtesten massiv zusammenkommen. IKS, 22.10.2010
Die Gewerkschaftsbündnisse führen uns in die Niederlage
„Wir sind zu Millionen auf die Straße gezogen und haben an den vergangenen Aktionstagen gestreikt. Die Regierung gibt immer noch nicht nach. Nur eine Massenbewegung wird sie dazu zwingen. Diese Idee kommt immer mehr in Diskussionen um einen unbegrenzten, jeweils erneuerbaren Generalstreik und der Blockierung der Wirtschaft auf. (…) Die Gestalt, die diese Bewegung annehmen wird, hängt von uns ab. (…) Wir müssen über die Aktionsformen, Forderungen usw. selbst entscheiden. Niemand anders darf uns dies abnehmen.
Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, stehen nur neue Niederlagen bevor. Chérèque ist für die Regelung, dass 42 Beitragsjahre gezahlt werden müssen [was dem Vorhaben der Regierung entspricht]. Thibault verlangt nicht die Rücknahme des Gesetzentwurfes. Wir haben auch nicht vergessen, dass er 2009 mit Sarkozy Champagner trank, während Tausende von uns entlassen wurden und wir alleine, isoliert voneinander kämpfen mussten. Wir haben auch kein Vertrauen mehr in die angeblich „Radikalen“. Die Radikalität Mailly (FO/Gewerkschaft) besteht darin, der PS-Vorsitzenden Aubry die Hand zu schütteln, während die PS selbst für die 42-Beitragsjahre stimmt. (…)
Wenn sie heute die Idee eines erneuerbaren Streiks propagieren, dann wollen sie vor allem vermeiden, dass sie von der Bewegung überrollt werden. Deren Kontrolle über unsere Kämpfe gilt für sie als Faustpfand, um zum Verhandlungstisch zugelassen zu werden. Warum? In einem Brief von sieben Gewerkschaftsorganisationen der CFTC an Sud-Solidaires, schrieben diese: „Um den Standpunkt der Gewerkschaftsorganisationen bekannt zu machen mit dem Ziel, eine Gesamtheit von gerechten und wirksamen Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des bisherigen Rentensystems sicherzustellen“. Soll man wirklich glauben, dass es eine gemeinsame Basis mit den Leuten geben kann, die seit 1993 unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen systematisch untergraben haben?
Die einzige wirkliche Einheit, die diese Regierung und die herrschende Klasse zurückdrängen kann, besteht in dem Zusammenschluss der Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und der Privatindustrie, von Beschäftigten und Arbeitslosen, Rentnern und Jugendlichen, legal und illegal Beschäftigten, Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht-Gewerkschaftsmitgliedern, an der Basis in den Betrieben in den gemeinsamen Vollversammlungen und indem wir den Kampf in die eigene Hand nehmen.“
Dies ist ein Auszug aus einem Flugblatt, das bei den Demonstrationen in Paris massenhaft verbreitet und unterzeichnet wurde von „Arbeitern und prekär Beschäftigten der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs“.
Zahlreiche andere Texte mit der gleichen Stoßrichtung und einem ähnlichen Ton sind von anderen branchenübergreifenden Zusammenschlüssen, Kampfkomitees, Diskussionsgruppen oder kleinen politischen Organisationen verfasst worden, die ihr wachsendes Misstrauen gegenüber dem Gewerkschaftsbündnis geäußert haben und dieses beschuldigen, uns absichtlich in die Niederlage zu führen. Alle ermuntern die Arbeiter, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen.
Die Sabotage der Kämpfe durch das Gewerkschaftsbündnis 2003, 2007 und heute 2010 wirft die breitere Frage des wahren Wesens der Gewerkschaften auf. Stehen sie heute immer noch auf Seiten der Arbeiterklasse? Ein kurzer Rückblick auf die letzten Jahrzehnte belegt, dass sie ins Lager der Herrschenden übergewechselt sind.
Seit mehr als 100 Jahren waren die großen Kämpfe jeweils wilde, spontane und massive Streiks. Und all diese Kämpfe stützten sich bei ihrer Organisierung nicht auf die Gewerkschaften sondern auf Vollversammlungen, in denen alle Arbeiter über den Kampf und die Probleme diskutieren, mit gewählten und abwählbaren Komitees, die für die Zentralisierung des Kampfes sorgen. Die großen Streiks im Mai 1968 in Frankreich wurden gegen den Widerstand der Gewerkschaften ausgelöst. Während der Streiks des „Heißen Herbst“ 1969 in Italien verjagten die Arbeiter die Gewerkschaftsvertreter aus den Streikversammlungen. 1973 griffen die streikenden Hafenarbeiter von Antwerpen das Gewerkschaftsbüro an. In den 1970er Jahren setzen die Arbeiter den Gewerkschaften in England hart zu, genau wie in Longwy, Denain, Dünkirchen in Frankreich während der Streiks 1979. Im August 1980 lehnten die Arbeiter in Polen die Gewerkschaften ab (die zum Räderwerk des Staates gehörten); sie organisierten den Massenstreik auf der Grundlage von Vollversammlungen und gewählten und abwählbaren Streikkomitees (MKS). Die Arbeiter konnten sich per Mikrofon in die Verhandlungen einschalten, so dass alle diese verfolgen, das Wort ergreifen und die Delegierten kontrollieren konnten. Man muss sich vor allem daran erinnern, wie dieser Kampf zu Ende ging: Durch die Illusion über die Möglichkeit einer neuen, freien, unabhängigen und kämpferischen Gewerkschaft, der die Arbeiterklasse vertrauen und der man die Leitung der Kämpfe übertragen könnte. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Die neue Gewerkschaft, Solidarnosc, stellte die Mikrofone ab, um geheime Verhandlungen mit dem polnischen Staat zu führen, und um in Abstimmung mit diesem die Zerstreuung und Spaltung der Arbeiter zu organisieren. Es folgte die gewaltsame Niederlage der Arbeiter.
Den Gewerkschaften zu folgen, heißt immer auf eine Niederlage zuzusteuern. Um einen massiven Kampf zu entfalten, der von der Arbeitersolidarität getragen wird, muss man den Kampf in die eigenen Hände nehmen.
»Die Emanzipation der Arbeiter [muss] das Werk der Arbeiterklasse selbst sein«
Wie sich im Kampf organisieren?
Eine Kampfbewegung lebt und entfaltet sich wie ein Mäander. Fliegende Streikposten, Blockaden, Besetzungen, Flugblattverteilungen, spontane Demonstrationen usw. all das sind mögliche Aktionsformen. Und die Arbeiterklasse wird sicherlich noch andere in zukünftigen Kämpfen erfinden.
Aber im Mittelpunkt jeden Kampfes steht notwendigerweise die Vollversammlung. In den Vollversammlungen können wir diskutieren, debattieren, kollektiv entscheiden. Die Vollversammlungen sind DER Ort offener Diskussionen und eventueller gemeinsamer Entscheidungen im Kampf. Deshalb werden sie auch immer zur Zielscheibe aller Sabotageversuche.
Solange nicht gekämpft wird, gibt es meist nur harmlose gewerkschaftlich organisierte Vollversammlungen. In allen Betrieben gibt es gewerkschaftlich organisierte „Aktionen“, bei denen meist Gewerkschaftsfunktionäre unter sich zusammenkommen und die meisten Leute der Basis, Gewerkschaftsmitglieder und solche, die keiner Gewerkschaft angehören, eine reine Beobachterrolle übernehmen, und die man nur von Zeit zu Zeit um ein Votum bittet. Zu allen diesen Treffen erscheinen meist nur wenige Leute. Die meisten Arbeiter wissen, dass sie völlig irrelevant sind.
Aber wenn – wie jetzt - Kämpfe ausbrechen, passen die Gewerkschaften sich an und spielen verschiedene Karten:
- Solange sie können, unternehmen sie alles, damit so wenige Leute wie möglich sich an den Treffen beteiligen. Entweder halten sie gar keine ab, oder nur heimlich, mit möglichst wenig Werbung für sie.
- Manchmal ist die Wut unter den Arbeitern zu groß. Um spontane Diskussionen auf Treffen zu verhindern, die nicht unter ihrer Kontrolle stehen, halten sie dann eine Reihe von Versammlungen ab. Aber diese Versammlungen sind nach Branchen, Standorten, Geschäftsbereichen usw. organisiert. Die Gewerkschaften säen somit die Spaltung, zerstreuen unsere Kräfte nach altbekannter Salamitaktik, anstatt sie zu bündeln und zu vereinigen. Im Augenblick hält man bei den Eisenbahnen der SNCF gewerkschaftliche Versammlungen ab für Lokführer, für Schaffner, Verwaltungsangestellte usw. In einigen Krankenhäusern in der Region Toulouse wird das völlig lächerlich: man hält Versammlungen auf jeder Station ab!
- Um auf jeden Fall die Kontrolle dieser Vollversammlungen zu bewahren, sind die Gewerkschaften zu allen Tricks bereit. Im Pariser Ostbahnhof war für den 14. Oktober eine Vollversammlung am Morgen anberaumt worden. Die Eisenbahner sollten gemeinsam über die Fortführung des Streiks entscheiden. Aber schließlich haben die Gewerkschaftsfunktionäre es vorgezogen, die Fortführung des Streiks selbst am Vorabend, am 13. Oktober, zu entscheiden. Es gab also keinen Grund mehr, auf der Vollversammlung am Donnerstag überhaupt zu erscheinen, weil alles ohnehin schon im Voraus entschieden war. Und in der Tat erschien fast niemand an dem Tag. So wurde das kollektive Leben der kämpfenden Arbeiterkasse abgewürgt. Eine gewerkschaftliche Sabotage wie aus dem Bilderbuch!
In ihrem Artikel „Was ist eine Vollversammlung“ beschreibt die CNT-AIT des Departement Gers sehr genau andere „Bedrohungen“, die über einer Vollversammlung schweben können:
- „Monopolisierung der Debatte. Die Vollversammlung ist nicht demokratisch. Die klassische Rolle ist die des Gewerkschaftsdelegierten, welcher die Rolle des Moderators beansprucht, sich an Debatten beteiligt, dabei aber systematisch seine Meinung aufzwingt (…)
- Undemokratisches Verhalten der Vollversammlung: Abstimmungen werden nicht respektiert. Die Tagesordnungen werden nicht eingehalten; man stellt mehrfach eine schon getroffene Entscheidung zur Abstimmung, bis die Abstimmenden erschöpft sind. Oft werden die Treffen am Ende einer Versammlung manipuliert, um sie schadlos zu machen.
- Neutralisierung einer Vollversammlung. Egal wie fruchtbar eine Vollversammlung war, sie werden nicht fortgesetzt. Oft werden Vollversammlungen für Streikende abgehalten, damit diese Luft ablassen können.“ Aber richtige Vollversammlungen müssen genau das Gegenteil sein. Sie müssen von vornerein alle Branchen- oder Berufsspaltungen überwinden. Sie müssen nicht nur allen Belegschaften offenstehen, egal welcher Branche sie angehören, und vor allem den Beschäftigten anderer Betriebe, den prekär Beschäftigten, den Rentnern, Arbeitslosen, Studenten, Gymnasiasten …., all denjenigen, die sich an der Ausdehnung der Bewegung beteiligen und die Frage klären wollen: „Wie kämpfen“?
- Wie die anarcho-syndikalistische Organisation des Departement Gers schreibt: „Die Vollversammlung ist demokratisch; sie garantiert das Rederecht, mit gleicher Redezeit und keiner Themenzensur. Dieses Rederecht wird durch ein Mandat garantiert, durch den Moderator. (…)
- Die Vollversammlungen treffen Entscheidungen, die Abstimmung finden durch Handheben statt (…)
- Die Vollversammlung ist von unbeschränkter Dauer, es wird ein Bericht erstattet, der von einem dafür eigens bei Beginn der Versammlung Benannten angefertigt wird, der zur Aufgabe hat, die Debatten und Entscheidungen der Vollversammlung zu protokollieren und zu verbreiten. Auf der Vollversammlung wird das Datum und der Ort der nächsten VV geplant.“
- Diese letzten Punkte sind wesentlich. Eine VV ist kein Ort zum einfachen Luftablassen der Wut der Beschäftigten. Sie ist viel mehr als das. Man kann sich hier zu Wort melden; und sie ist oft der einzige Ort, wo die Arbeiter wirklich das Wort ergreifen können. Aber in einer Vollversammlung wird auch die Einheit der Arbeiterklasse geschmiedet.
- Unsere Klasse kann in solchen VV kollektiv Entscheidungen treffen. Deshalb ist es wichtig, dass eine VV durch die Verabschiedung von Texten und gegebenenfalls Aktionen konkretisiert wird.
- Hier kann die Ausdehnung eines Kampfes beschlossen und organisiert werden, indem massive Delegationen zu anderen Arbeitern geschickt werden (Fabriken, Verwaltungen, Krankenhäuser…), die geographisch am nächsten liegen, und wo die Belegschaften am kämpferischsten sind, und sie dazu aufzurufen, sich ihrem Kampf anzuschließen.
- In den VV können sich die Beschäftigten verschiedener Standorte und Branchen absprechen. Die VV müssen untereinander durch Komitees koordiniert werden, die auch aus gewählten Delegierten zusammengesetzt sind, und ständig ihnen gegenüber Rechenschaft ablegen und immer abwählbar sein müssen.
Die gegenwärtige Bewegung gegen die Rentenreform hat das Ausmaß der Wut der Arbeiter deutlich werden lassen, die Macht ihrer Entschlossenheit und ihrer Fähigkeit, sich massiv zu mobilisieren. Aber unserer Klasse ist es bislang noch nicht gelungen, sich gemeinsam im Kampf in souveränen und autonomen Vollversammlungen zu organisieren. Das ist die Hauptschwäche dieses Kampfes. Diese Stufe muss die Arbeiterklasse notwendigerweise hinter sich lassen, wenn sie ihre Kämpfe in die Hand nehmen und geeint und solidarisch dem Kapital entgegentreten will. IKS, 22.10.2010
Staatliche Provokationen, Einschüchterungen und Repression
In Lyon zog am 21. Oktober ein Demonstrationszug zum Bellecour-Platz. Der Zug traf auf einige Dutzend Jugendliche, die mit der Polizei zusammenprallten und alles zerschlugen, was ihnen vor die Füße kam. Sofort verhinderte eine polizeiliche Absperrung sie daran weiterzuziehen und drängte sie aufgrund einer „Anweisung von Oben“ ruppig zurück.
Die Herrschenden wollen vor allem nicht, dass die Demonstranten mit den „Randalierern“ diskutieren und sie davon überzeugen, ihre Wut anders zum Ausdruck zu bringen, indem sie sich nämlich dem Kampf gegen die Rentenreform anschließen. Sie wünschen genau das Gegenteil: dass die Demonstrationen entarten und in einer blinden Gewalt enden.
Um ihr Ziel zu erreichen, haben sie voll zugeschlagen. Die Bullen hatten Order, auf alles zu prügeln, was sich bewegte und weniger als 20 Jahre alt war. Überall in Frankreich wurden die Gymnasiasten provoziert und geschlagen. Das Ziel dieses Vorgehens ist klar: den Jugendlichen, ihren Eltern und der ganzen Arbeiterklasse Angst einjagen und zu versuchen, die Bewegung unpopulär zu machen, indem dieser Kampf fälschlicherweise mit Zerstörung und Gewalt identifiziert wird.
Aus unserer Sicht haben diese Ereignisse erneut den wahren Charakter der Herrschenden und der Arbeiterklasse zutage treten lassen.
Auf der einen Seite eine Klasse, die Hass und Spaltung schürt; mit ihrem gewaltsamen Vorgehen, dem Einsatz von Flash-balls, Schlagstöcken und Tränengas die Jugendlichen terrorisieren und ihnen Angst einjagen will.
Ihr gegenüber steht die Arbeiterklasse, die sich für Solidarität einsetzt. Jugendliche kämpfen dafür, dass ihre Eltern und Großeltern nicht in Armut leben, und die ältere Generation, die sich weigert, die Galeere hinzunehmen, in die die junge Generation gesteckt werden soll.
Nieder mit dem staatlichen Terror, Es lebe der Klassenkampf. IKS 22.10.2010
Wir veröffentlichen nachfolgend eine kurze Chronologie der verschiedenen Ereignisse und Etappen der Bewegung des Kampfes gegen die Rentenreform, die sich seit Monaten in Frankreich entfaltet hat.
Wir werden diese Aufstellung weiter ergänzen, sobald weitere Schritte erfolgen.
Diese Bewegung ist schon reich an Lehren für die Weltarbeiterklasse. Gegenüber der Lügenpropaganda der Staaten, der französischen Medien und der internationalen Presse müssen unbedingt Zeugenaussagen und verschiedene Informationen über den Kampf so breit wie möglich in allen Ländern verbreitet werden. Wir fordern also alle unsere LeserInnen dazu auf, die nachfolgende Chronologie der Ereignisse (die notwendigerweise unvollständig und auf bestimmte Teile beschränkt ist) zu ergänzen. Ihr könnt dazu unser Diskussionsforum benutzen (und wir werden uns bemühen, so weit unsere Kräfte es erlauben, diese Texte in die Hauptsprachen zu übersetzen).
Ein gewerkschaftlicher Zusammenschluss (dem fast alle französischen Gewerkschaften angehören, von den Gewerkschaften, die am offensten mit der Regierung „kollaborieren“, bis zu den „radikalsten“) ruft zu einem ersten Aktionstag auf.
800.000 Demonstranten versammeln sich auf den Straßen. Die Atmosphäre zeigt eher Zurückhaltung, es herrscht Resignation vor. Die Rentenreform war seit mehreren Monaten, ja Jahren von der Regierung vorbereitet worden. Die Politiker, die Medien, die „Experten“ aller Couleur behaupten ununterbrochen, dass diese Reform unabdingbar und unumgänglich sei, ja der Fortbestand der Zahlungsfähigkeit der Rentenkassen und des Staatshaushalts stünde auf dem Spiel. Übrigens forderten die Gewerkschaften nicht „Rücknahme des Angriffs auf die Renten“. Sie riefen dazu auf, für „mehr Verhandlungen zwischen Staaten und Gewerkschaften“ zu kämpfen und für eine „gerechtere, menschlichere“ Reform.
Kurzum, alle – Staat, Arbeitgeber, Gewerkschaften – behaupteten, dieses Opfer sei eine „nützliche Notwendigkeit“. Die Unzufriedenheit über den starken Druck dieser Propaganda war zwar groß, aber die Kampfbereitschaft war noch nicht so angewachsen.
Das gleiche Schauspiel ging wieder los. Der gewerkschaftliche Zusammenschluss ruft zu einem zweiten Aktionstag nach dem gleichen Szenario auf mit den gleichen Forderungen. Die Teilnehmerzahl liegt leicht höher (ca. eine Million Teilnehmer), aber die Stimmung ist immer noch eher durch Hoffnungslosigkeit geprägt.
Die Gewerkschaften hoffen darauf, der Bewegung den Gnadenstoß zu versetzen. Ein dritter Aktionstag ist geplant. In Anbetracht der ziemlich gedrückten Stimmung der ersten beiden Aktionstage sollte dieser Aktionstag vor der Sommerpause eine Art „Begräbnistag“ werden. Die Maschine ist gut geölt: Ein Aktionstag mit gleicher Beteiligung hieße, dass die „Sache abgeschlossen“, über die Bühne gebracht sei. In Anbetracht der zwei bevorstehenden Monate Sommerpause soll jeder Funken Hoffnung auf eine Verstärkung des Kampfes ausgelöscht werden. Die Gewerkschaften hatten sich schon in ihren Reden darauf eingestimmt: „Wir haben alles versucht, aber die Kampfbereitschaft der Beschäftigten war nicht stark genug“. Die Entmutigung war vorhersehbar!
Diese Technik war früher schon mehrfach, oft erfolgreich, ausprobiert worden. Aber der Schuss ging daneben. Am 24. Juni ziehen zwei Millionen Beschäftigte, Arbeitslose und prekär Beschäftigte auf die Straße.
Neben der großen Teilnehmerzahl schlägt auch die Stimmung um: Wut und Empörung nehmen deutlich zu. Seit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise 2008 verschärfen sich Verarmung und Ungerechtigkeit. Die Rentenreform wird zum Symbol der brutalen Verschlechterung der Lebensbedingungen.
Der Aktionstag des 24. Juni hat der Moral der Arbeiterklasse wieder Auftrieb verliehen. Die Idee, dass ein druckvoller Kampf möglich ist, gewinnt an Boden. Die Gewerkschaften verspüren natürlich auch, dass der Wind sich dreht. Sie wissen, die Frage „Wie kämpfen“ weicht nicht aus den Köpfen. Sie beschließen, sofort das Terrain zu besetzen und ideologisch vorzurücken. Sie wollen verhindern, dass die Arbeiter selbständig, außerhalb der gewerkschaftlichen Kontrolle denken und handeln. Sie kündigen deshalb sofort am Tag nach dem 24. Juni einen neuen Aktionstag für die Zeit nach der Sommerpause an (7. September).
Um sicherzustellen, dass „das selbständige Denken“ eingedämmt wird, heuern sie gar Flugzeuge an, die mit Spruchbändern mit Aufrufen zu den Kundgebungen am 7. September über die Badestrände fliegen.
Aber ein anderes Ereignis, das unter „Sonstiges“ gehandelt werden könnte, lässt im Sommer die Wut weiter ansteigen – „die Woerth-Affäre“ (es geht um politische Begünstigung unter gegenwärtig an der Macht befindlichen Politikern und eine der reichsten Erbinnen des französischen Kapitals, Frau Bettencourt, Chefin von L’Oréal, mit der Beschuldigung von Steuerhinterziehungen und illegalen Absprachen aller Art). Nun ist Eric Woerth niemand anders als der für die Rentenreform verantwortliche Minister. Die empfundene Ungerechtigkeit ist groß: Die Arbeiterklasse soll den Gürtel enger schnallen, während die Reichen und Mächtigen „ihre Geschäfte untereinander machen“.
Von Anfang an konnte man für diesen Aktionstag eine große Beteiligung erwarten. Dabei wurde ein Aktionstag zum ersten Mal so früh nach dem Ende der Sommerferien angesetzt. Schon vor dem 7. September und in Anbetracht der hochkochenden Wut der Arbeiter verkünden die Gewerkschaften eine neue Demonstration für einen Samstag, damit „jeder teilnehmen“ könne.
Am 7. September strömen 2.7 Millionen Demonstranten zusammen. Die Sommerpause hat nichts bewirkt; es scheint, ein heißer Herbst stehe bevor, der die Dynamik der Entwicklung vor dem Sommer fortsetzen werde. Aufrufe zu weiteren Streiks machen die Runde.
In Anbetracht des Ausmaßes der Wut und der massiven Mobilisierung reagiert der gewerkschaftliche Zusammenschluss sofort. Im Handumdrehen wird die Samstags-Demonstration abgesagt, die Möglichkeit von erneuten Streiks wird verworfen. Ein neuer Aktionstag wird für 15 Tage später (23. September) verkündet. Die Dynamik soll gebrochen, Zeit geschunden werden. Dieses „verantwortungsbewusste Handeln“ des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses wird dann später von den höchsten Instanzen des französischen Staates gelobt werden.
Drei Millionen Demonstranten auf der Straße! Die Bewegung steigt also weiter an. Zum ersten Mal zögern die Demonstrationszüge nach dem Ende der Kundgebungen, sich aufzulösen. Genauer gesagt bleiben in zahlreichen Städten nach den Kundgebungen einige Dutzend Leute hier, einige Hundert Leute da zusammen. Es zirkulieren zum ersten Mal Flugblätter aus branchenübergreifenden Bereichen, die dazu aufrufen, dass die Arbeiter den Kampf in die eigenen Hände nehmen. 2 [140]. In einigen Städten organisiert die CNT-AIT “Volksversammlungen”, damit sich jeder “frei zu Wort” melden kann (die IKS schloss sich später dieser ausgezeichneten Initiative an). Von da an wurden erfolgreich diese Versammlungen auf der Straße abgehalten; es gelang mehreren Dutzenden Leuten, insbesondere in Toulouse, jede Woche zusammenzukommen (3 [141].)
Dieser Wille zur Selbstorganisierung, der hier durch die Minderheiten zum Vorschein kommt, zeugt davon, dass in der ganzen Klasse die Gewerkschaftsstrategie infragegestellt wird, ohne daraus natürlich schon all die Konsequenzen zu ziehen.
Die erste Demonstration, die an einem Samstag stattfand. Die Zahl der Teilnehmer bleibt im Wesentlichen unverändert. Aber zu den drei Millionen Teilnehmern gehören dieses Mal auch neben den üblichen Teilnehmern Familien und Beschäftigte der Privatindustrie, die üblicherweise nicht in den Streik treten können.
Mehrere Versuche, Straßenversammlungen nach Kundgebungsende abzuhalten, scheitern:
- In Paris wird von der branchenübergreifenden Gruppe Turbin (der Name rührt von ihrer E-mail [email protected] [142] her) ein Flugblatt mit dem Aufruf verteilt, an einem Zeitungsstand nach Ende der Kundgebung bei dem Spruchband „Die beste Rente ist der Angriff“, „Nehmen wir unsere Kämpfe in die eigenen Hände“ zusammenzukommen. Ein Beleg, dass dieser Aufruf tatsächlich verbreitet wurde: am vorgeschlagenen Treffpunkt warten Dutzende… Polizisten (mit Kamera!). Weil es keinen geeigneten Ort für eine Versammlung gab, konnte diese nicht abgehalten werden. Der Zug der branchenübergreifenden Gruppe beschließt daraufhin, weiter zu demonstrieren. Ca. 50 Teilnehmer ziehen los, innerhalb einer Stunde versammeln sich ca. 300 Leute.
- In Tours ruft das Komitee „Für die Ausdehnung der Kämpfe“ per Flugblatt dazu auf, „die Straße für uns zu gewinnen“.
- In Lyon sprechen sich einige Dutzend Demonstranten dafür aus, nicht sofort auseinanderzugehen, sondern zusammenzubleiben, um in einer Straßenversammlung zu diskutieren und gemeinsam zu überlegen, wie sie die Bewegung fortsetzen und entfalten können. Die Lautsprecher der CGT (die größte französische Gewerkschaft) ersticken schließlich diese Initiative; deren dröhnender Lärm macht jede wirkliche Debatte unmöglich.
Diese gescheiterten Versuche zeigen einerseits die Anstrengungen unserer Klasse, die Kämpfe in die eigenen Hände zu nehmen, andererseits aber auch die Schwierigkeiten der jetzigen Zeit (insbesondere das mangelnde Selbstvertrauen, das noch eine Fessel für die Ausgebeuteten ist).
In Toulouse dagegen finden die Volksversammlungen weiterhin statt. Die Initiative nimmt immer größere Ausmaße an, da die CNT-AIT und die IKS am Ende der Demonstration ein Spruchband aufstellen, auf dem steht: „Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner, nehmen wir den Kampf in die eigenen Hände“. Vor Ort wird eine Versammlung auf der Straße abgehalten, mehrere Dutzend Leute beteiligen sich daran.
An diesem neuen Aktionstag kommen ca. 3.5 Millionen Teilnehmer zusammen, ein neuer Rekord!
Wichtiger noch, die Stimmung ist ziemlich aufgewühlt. Es werden immer mehr branchenübergreifende Vollversammlungen abgehalten; es entstanden mehrere Dutzend in ganz Frankreich. Es beteiligen sich jeweils zwischen 100-200 Leuten. Die Politik der zusammengeschlossenen Gewerkschaften wird immer offener kritisiert. In zahlreichen Flugblättern der branchenübergreifenden Zusammenschlüsse wird gar ausdrücklich gesagt, dass diese absichtlich in die Niederlage führen 4 [143]. Als Zeichen dieser Dynamik wird in Toulouse neben den von der CNT-AIT (und in einem geringeren Maße von der IKS) organisierten Volksversammlungen ein Aufruf zur Abhaltung einer Straßenversammlung jeden Tag vor den Gewerkschaftshäusern um 18.00 h verfasst (bis heute, 20. Oktober, trifft man sich weiterhin täglich), und weitere Aufrufe per Flugblatt werden verfasst.
Ein neuer Streik wurde schließlich von den meisten Gewerkschaften beschlossen. Nach diesem ganzen Marathon (die Bewegung hat vor sieben Monaten angefangen!) und zahlreichen Streiktagen, an denen sich die Arbeiter an früheren Aktionstagen wiederholt beteiligten, kommt dieser verlängerbare Streik sehr spät. Die Arbeiter haben schon große Lohnverluste hinnehmen müssen. Darauf setzen jedenfalls die Gewerkschaften. Aber auch an dieser Bewegung beteiligen sich viele.
Bei den Eisenbahnern und den Lehrern der Pariser Region wurden viele Vollversammlungen abgehalten, die von den Gewerkschaften organisiert wurden. Das Ausmaß der Spaltung und Sabotage erscheinen hier schon fast lächerlich. Bei den französischen Eisenbahnen SNCF werden die gewerkschaftlichen Vollversammlungen je nach Beschäftigungsbereich organisiert (Lokführer auf der einen, Schaffner auf der anderen Seite, und das Verwaltungspersonal wiederum für sich in seiner Ecke); in einigen Krankenhäusern organisiert jede Station ihre eigene Vollversammlung. Sie sind absolut nicht souverän. Zum Beispiel am Pariser Ostbahnhof steht die Entscheidung über die Verlängerung des Streiks für Donnerstag, den 14. Oktober morgens an; die Gewerkschaftsfunktionäre stimmen schon am Mittwoch unter sich darüber ab. Diese Strategie zeigt zwei Folgen:
- Die Vollversammlung verliert ihren Zweck; die Beschäftigten gehen nicht mehr hin, da ohnehin schon alles beschlossen ist;
- Sie ermöglichen den Medien, die Abstimmung über die Verlängerung des Streiks als die Angelegenheit einer winzigen Minderheit darzustellen; so möchte man die Bewegung unpopulär machen.
Und hier spielen die Gewerkschaften ihren größten Trumpf aus: Lähmung des öffentlichen Verkehrs (vom 12. Oktober an fallen viele Züge aus, die Blockade der Raffinerien gefährdet die Benzinversorgung), um so Spannungen innerhalb der Arbeiterklasse zu schüren und diejenigen, die arbeiten wollen (und müssen), gegen die Streikenden aufzuwiegeln.
Die zweite Demonstration an einem Samstag. Erneut ziehen ca. drei Millionen Menschen auf die Straße.
Ein neues Element tritt in Erscheinung: die Jugend. Gymnasiasten, die einige Tage zuvor in den Kampf eingetreten sind, nehmen an den Protestzügen teil.
Am darauffolgenden Monat werden ca. 1000 Schulen blockiert und es kommt zu vielen Demonstrationen der Gymnasiasten. Die UNL, die größte Gewerkschaft der Gymnasiasten (nicht der Studenten), die diese Bewegung mit angeleiert hat, gesteht ein, von dem Ausmaß der Bewegung überrollt zu sein.
Der Staat schlachtet das Auftreten einiger weniger jugendlicher Randalierer unter den Gymnasiasten aus, um einige “Blockierer” und junge Demonstranten äußerst gewaltsam zu unterdrücken (ein siebzehnjähriger Jugendlicher verliert infolge eines Flash-Ball-Schusses in Montreuil in einem Pariser Vorort fast ein Auge). Die Ordnungskräfte fachen die Wut weiter an mit ihren polizeilichen Provokationen. Das Ziel ist klar: die Bewegung soll entarten, in blinder Gewalt versinken und in sinnlosen Zusammenstößen mit den Bullen verenden. Damit will der Staat den Kampf unpopulär machen, die Jugendlichen, ihre Eltern und die ganze Arbeiterklasse einschüchtern.
Die Studenten, die im Mittelpunkt der siegreichen Bewegung gegen den CPE 2006 standen, scheinen sich jetzt auch der Bewegung anzuschließen. In einigen Universitäten wird deren Blockade beschlossen (insbesondere in Paris, Toulouse, Rennes), aber bislang beteiligen sich nur ganz wenige Studenten daran.
Die Drohung der Blockade der Raffinerien, die seit dem 12. Oktober in der Luft lag, wird umgesetzt. Ohne irgendeine Entscheidung in Vollversammlungen zu berücksichtigen, folgen die Truppen der CGT den Anweisungen ihrer Gewerkschaft und legen die Raffinerien lahm. Sehr schnell geht vielen Tankstellen (nach Schätzungen zwischen 1000-2000) das Benzin aus.
Die Mobilisierungen nehmen auch bei der SNCF zu; mehr und mehr Züge fallen aus.
Trotz dieser Lähmung des Transportwesens wird die Bewegung nicht unpopulär. Selbst jene Medien, die üblicherweise Passanten auf der Straße interviewen, von denen dann oft viele ihren ganzen Hass äußern, weil in irgendeinem Bahnhof Züge ausfallen, müssen dieses Mal zugeben, dass dieselben „Reisenden“ mit der Bewegung solidarisch sind, dass sie Geduld und Nachsicht zeigen und die Streikenden voll unterstützen, denn „sie kämpfen für unser gemeinsames Interesse“. Einige Gewerkschaftsvollversammlungen und einige branchenübergreifende Gruppierungen beschließen gar die Unterstützung der Blockierer der Raffinerien, vor denen es oft zu sehr brutalen Übergriffen seitens der Polizei bei der „Räumung der Raffinerien“, der „Wiederherstellung der Ordnung“ und dem Vorgehen „gegen Diebe“ kommt (so der Präsident der Republik, Nicolas Sarkozy).
Trotz des Benzinmangels, trotz der ausgefallenen Züge, trotz der Einschüchterungen und der Repression strömen am 19. Oktober dreieinhalb Millionen Menschen auf der Straße zusammen. Dies spiegelt das Ausmaß der Wut der Arbeiter wider!
Gegenüber dem Ausmaß dieser neuen Mobilisierung greift der Staat noch mehr zum Polizeiknüppel und den Flash-Balls. Insbesondere in Lyon wartet ein massives Polizeiaufgebot auf den eintreffenden Demonstrationszug. Die Polizisten schüren bewusst den Hass unter den Jugendlichen. Eine Handvoll von ihnen lässt sich provozieren. Die Repression endet damit in einer Kette von Gewalt; die Bullen schlagen auf alles ein, was sich bewegt: auf Jugendliche, die irgendwie wie Randalierer aussehen (d.h. es reicht eine Kappe zu tragen) oder ganz einfach nur jung aussehen, aber auch auf Ältere. Der Staat hat sicherlich gespürt, dass er dieses Mal zu weiter gegangen ist, denn einige Minister rufen „zu Ruhe und Besonnenheit“ auf (in Wirklichkeit sind diese Aufrufe an ihre eigenen Truppen gerichtet). Die Demonstration in Paris fand anschließend „ohne Zusammenstöße“ statt, wie die Presse unterstrich.
Zusammenfassend gesagt; die Bewegung entfaltet sich nunmehr seit sieben Monaten. Die Wut ist sehr groß. Die Forderungen gegen die Rentenreform neigen dazu, in den Hintergrund zu treten. Die Medien gestehen ein, dass die Bewegung sich „politisiert“ habe. Die ganze Verarmung, die prekären Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung usw. werden offen verworfen. Die Solidarität zwischen den verschiedenen Branchen hat auch zugenommen. Aber bislang ist es der Arbeiterklasse nicht gelungen, ihre Kämpfe wirklich in die eigene Hand zu nehmen. Sie wünscht das immer mehr; einige Minderheiten nehmen hier und da immer mehr Anläufe in diese Richtung. Das Misstrauen gegenüber den zusammengeschlossenen Gewerkschaften wächst; aber noch gelingt es den Arbeitern nicht, sich mittels autonomer und souveräner Vollversammlungen und somit außerhalb der Gewerkschaften zu organisieren. Aber solche Vollversammlungen waren das Herz der Bewegung gegen den CPE 2006; damals hatten diese der Bewegung ihre Stärke verliehen. Der Arbeiterklasse scheint es noch an Selbstvertrauen zu mangeln. Die weitere Entwicklung der Kämpfe wird uns zeigen, ob es ihr gelingen wird, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn es dieses Mal nicht gelingt, dann eben das nächste Mal. Die gegenwärtigen Kämpfe verheißen viel für die zukünftigen Kämpfe!
Fortsetzung folgt… IKS
1 [144] All diese Teilnehmerzahlen sind Angaben des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses. Manchmal weichen die Angaben, welche die Gewerkschaften und die Polizei machen, im Verhältnis 1:10 voneinander ab. Die Medien sprechen schon von einem „Krieg der Zahlen“. Diese Zahlenspiele erwecken den Eindruck, es gebe einen radikalen Gegensatz zwischen den Gewerkschaften und dem Staat (obwohl sie nur ein anderes Instrument im gleichen Orchester und mit der gleichen Partitur spielen); die Wirklichkeit soll vernebelt werden. Niemand kennt die wirkliche Teilnehmerzahl der Demonstrationen. Wir haben immer die Angaben der Gewerkschaften herangezogen, die sicherlich der Wirklichkeit eher nahekommen, denn dadurch kann man Tendenzen erkennen und sehen, ob die Teilnehmerzahl weiter steigt oder rückläufig ist.
2 [145] Beispiele dieser Flugblätter findet ihr auf unserem Forum unter: "Prenons nos luttes en main".
3 [146] Siehe zum Beispiel einen der Aufrufe zu diesen Volksversammlungen: “In diesem Herbst ragen die massiven Demonstrationen heraus, die durch die Rentenreform hervorgerufen werden. Hunderttausende beteiligen sich an diesen von den Gewerkschaften organisierten Kundgebungen. Wie viele kehren frustriert nach Hause zurück? Frühere Erfahrungen haben zu genüge gezeigt, dass diese wiederholten Aktionstage nichts anderes als hilflose Sparziergänge sind. Wenn wir nicht reagieren, wenn wir nicht das Wort ergreifen, um gemeinsam zu entscheiden, wie wir unseren Kampf entfalten können, werden wir besiegt werden, und andere Niederlagen werden folgen. Deshalb fordern wir euch auf zusammenzukommen um zu debattieren, die Atomisierung zu durchbrechen. Was könnte passieren, wenn diejenigen, die ohne Stimme oder isoliert sind, zusammenkommen und ihre Stimme erheben? Muss man immer noch auf den „richtigen Augenblick“ warten oder auf eine Erlaubnis dazu? Wir schlagen vor, kommt am Montag, den 11. Oktober um 13.00 h vor der Arche zusammen, um zu diskutieren, um jetzt gemeinsam vorzugehen, damit wir eine gemeinsame Antwort geben können. Überwinden wir die Zerstreuung. Nutzen wir diesen Moment aus, um einen wirklichen Ort der brüderlichen Debatte, die allen offen steht, zu schaffen.“
4 [147] Lest insbesondere das Flugblatt “Aufruf an alle Beschäftigten”, unterzeichnet mit “Beschäftigte und prekär Beschäftigte der branchenübergreifenden Vollversammlung des Ostbahnhofs”. In diesem Flugblatt wird zum Beispiel betont: „Wenn wir die Chérèque (CFDT), Thibault (CGT) & Co. An unserer Stelle entscheiden lassen, bereiten wir nur neue Niederlagen vor.“ Und „Die Form, die die Bewegung annehmen wird, liegt in unseren Händen. Wir müssen diese selbst schaffen – an unserem Arbeitsplatz, mit Streikkomitees, in unseren Wohnvierteln mittels souveräner Vollversammlungen. Sie müssen die arbeitende Bevölkerung im größtmöglichen Umfang zusammenbringen, die auf nationaler Ebene koordiniert mit gewählten und jederzeit abwählbaren Delegierten vorgeht. Wir selbst müssen Aktionen, Forderungen beschließen. Niemand anders kann das an unserer Stelle machen.“
Trotz dieser offensichtlichen Tatsache gibt es seit langem nur wenige bis gar keine Beziehungen zwischen diesen beiden revolutionären Strömungen. Erst in den letzten Jahren wurde begonnen, miteinander zu debattieren und zusammenzuarbeiten. Dies ist das Ergebnis einer leidvollen Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Haltung der Mehrheit in der bolschewistischen Partei zwischen 1918-1924 (unterschiedsloses Verbot jeglicher anarchistischen Presse, die Zusammenstöße mit der Armee Machnos, die blutige Niederschlagung der Matrosenrevolte in Kronstadt…) hat einen Graben zwischen den revolutionären Marxisten und den Anarchisten entstehen lassen. Aber vor allem der Stalinismus, der Tausende von Anarchisten im Namen des „Kommunismus“ getötet hat(2 [150]), hat ein reales, jahrzehntelang wirkendes Trauma bewirkt (3 [151]).
Noch heute gibt es auf beiden Seiten gewisse Ängste vor der Diskussion und Zusammenarbeit. Um diese Schwierigkeiten zu überwinden, muss man davon überzeugt sein, dass man ungeachtet all der Divergenzen dem gleichen Lager angehört, nämlich dem der Revolution und des Proletariats. Aber das reicht nicht. Wir müssen auch bewusste Anstrengungen unternehmen, um die Qualität unserer Debatten zu verbessern. Vom „Abstrakten zum Konkreten“ zu gelangen ist immer die schwierigste Etappe. Deshalb möchten wir mit diesem Artikel genauer darstellen, in welchem Geist wir dieses mögliche und notwendige Verhältnis zwischen der Kommunistischen Linken und internationalistischem Anarchismus gestalten wollen.
In unserer Presse haben wir mehrfach in verschiedener Form die Aussage gemacht, dass der Anarchismus von Anfang an mit kleinbürgerlichen Merkmalen behaftet sei. Diese in der Tat radikale Kritik wird von den anarchistischen Militanten als inakzeptabel angesehen, selbst von denjenigen, die der Diskussion zumeist offen gegenüberstehen. Und selbst heute noch reicht die Kennzeichnung des „Anarchismus“ als „kleinbürgerlich“ manchem Anarchisten aus, um nichts mehr von uns hören zu wollen. Neulich noch hat jemand, der sich auf den Anarchismus beruft, auf unserem Internet-Forum diese Kritik als eine echte „Beleidigung“ bezeichnet. Wir sind nicht dieser Ansicht.
So tiefgreifend unsere jeweiligen Divergenzen auch sind, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass die Mitglieder der Kommunistischen Linken und des internationalistischen Anarchismus als Revolutionäre miteinander debattieren. Übrigens richten auch die internationalistischen Anarchisten heftige Kritik gegen den Marxismus, angefangen von den angeblichen natürlichen Neigungen zum „Autoritären“ und zum „Reformismus“. Auf der Webseite der CNT-AIT in Frankreich zum Beispiel findet man viele Beispiele dieser Art: „Die Marxisten wurden schrittweise (von 1871 an) zu den Einschläfern der Ausgebeuteten und unterzeichneten die Geburtsurkunde des Arbeiterreformismus“ (4 [152]).
“Der Marxismus ist verantwortlich für die Ausrichtung der Arbeiterklasse auf parlamentarische Aktionen [...]. Erst wenn man dies verstanden hat, kann man sehen, dass der Weg zur sozialen Befreiung uns zur glücklichen Welt des Anarchismus führt, und dabei müssen wir den Marxismus überwinden“ (5 [153]).
Es handelt sich hier nicht um „Beleidigungen“, sondern um radikale Kritiken…, mit denen wir natürlich überhaupt nicht einverstanden sind. In diesem Sinne wollen wir auch unsere Analyse hinsichtlich des Charakters des Anarchismus verstanden wissen. Wir wollen hier diese Kritik kurz in Erinnerung rufen. In dem Kapitel „Das kleinbürgerliche Wesen des Anarchismus“ schrieben wir 1994: „Das Wachstum des Anarchismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Produkt des Widerstandes der kleinbürgerlichen Schichten – Handwerker, Intellektuelle, Ladenbesitzer, Kleinbauern – gegen den Triumphmarsch des Kapitals, ein Widerstand gegen den Prozess der Proletarisierung, der sie ihrer früheren gesellschaftlichen ‚Unabhängigkeit‘ beraubte. Am stärksten in jenen Ländern, wo das Industriekapital spät auf die Bühne trat, in den südlichen Randgebieten Europas, drückte er sowohl die Rebellion dieser Schichten gegen den Kapitalismus als auch ihre Unfähigkeit aus, darüber hinweg auf die kommunistische Zukunft zu blicken; stattdessen verlieh er ihrem Sehnen nach einer semi-mystischen Vergangenheit der freien lokalen Gemeinschaften und der strikt unabhängigen Produzenten Ausdruck, frei von der Unterdrückung durch das Industriekapital und den zentralisierenden bürgerlichen Staat. Der ‚Vater‘ des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon, war die klassische Verkörperung dieser Haltung, mit seinem erbitterten Hass nicht nur gegen den Staat und den großen Kapitalisten, sondern auch gegen den Kollektivismus aller Schattierungen, einschließlich der Gewerkschaften und ähnlicher Ausdrücke der Kollektivität der Arbeiterklasse. Entgegen all der realen Trends, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft entwickelten, war Proudhons Idee eine ‚mutualistische‘ Gesellschaft, die sich auf der individuellen Handwerksproduktion gründet, verbunden mit freiem Austausch und Kredit.“ (6 [154]).
Oder auch in “Anarchismus und Kommunismus” im Jahre 2001: „In der Genese des Anarchismus hat man den Standpunkt des Arbeiters, der gerade proletarisiert wurde und seinen neuen Status mit jeder Faser seines Leibes ablehnt. Nachdem sie gerade aus der Bauernschaft oder dem Handwerkstum herausgetreten sind, oft noch auf dem halben Wege vom Handwerker zum Arbeiter (wie die Uhrmacher aus dem Jura zum Beispiel), drücken diese Arbeiter angesichts ihres Abstiegs unter die Bedingungen der Arbeiterklasse ihre Trauer um den Verlust der Vergangenheit aus. Ihr gesellschaftliches Streben war es, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Im Zentrum dieser Konzeption stand die Nostalgie für das kleine Eigentum. Daher analysieren wir, getreu Marx, den Anarchismus als den Ausdruck des Eindringens der kleinbürgerlichen Ideologie in die Reihen des Proletariats.“ (7 [155]). Anders gesagt, meinen wir, dass der Anarchismus von Anbeginn durch ein tiefes Gefühl für die Revolte gegen die Barbarei der kapitalistischen Ausbeutung geprägt war, dass er aber auch den Einflüssen der „Handwerker, Händler, Kleinbauern“ ausgesetzt ist, die zu seiner Gründung beigetragen haben. Das heißt keineswegs, dass alle anarchistischen Gruppen „kleinbürgerlich“ sind. Es ist offensichtlich, dass die CNT-AIT, die KRAS (8 [156]) und andere Gruppen von einem revolutionären Geist der Arbeiterklasse durchdrungen sind. Im 19. und 20. Jahrhundert haben zahlreiche Arbeiter, die anarchistische Sache vertretend, für die Abschaffung des Kapitalismus sowie für die Herbeiführung des Kommunismus gekämpft, von Louise Michel über Volin und Malatesta bis hin zu Durruti. Während der Welle revolutionärer Kämpfe 1917 hat ein Teil der Anarchisten selbst Arbeiterbataillone aufgestellt, die zu den kämpferischsten gehörten.
Seit jeher gibt es innerhalb der anarchistischen Bewegung einen Kampf gegen die Beeinflussung durch die radikalisierte kleinbürgerliche Ideologie. Dies spiegelt sich auch in den tiefen Divergenzen zwischen individualistischen, genossenschaftlichen, reformistischen, kommunistisch-nationalistischen und kommunistisch-internationalistischen Anarchisten wider, wobei nur die Letztgenannten wirklich dem revolutionären Lager angehören. Doch selbst die internationalistischen Anarchisten werden durch die historischen Wurzeln ihrer Bewegung beeinflusst. Hier liegt z.B. die Ursache für ihre Neigung, den Kampf der Arbeiterklasse durch den „autonomen Volkswiderstand“ zu ersetzen.
Die IKS betrachtet es deshalb als ihre Pflicht, alle Divergenzen ehrlich aufzuzeigen, um so gut wie möglich zur allgemeinen Verstärkung des revolutionären Lagers beizutragen. Genau wie es die Pflicht der internationalistischen Anarchisten ist, weiterhin ihre Kritik am Marxismus zu äußern. Dies darf auf keinen Fall ein Hindernis für die brüderliche Haltung in unseren Debatten oder eine Bremse für eine eventuelle Zusammenarbeit sein, im Gegenteil (9 [157]).
All diese Kritiken an den Anarchisten hat die IKS nicht wie ein Lehrer an seine Schüler gerichtet, der diese korrigiert. Dennoch wurde in einigen Wortmeldungen auf unserem Forum unserer Organisation ein „oberlehrerhafter“ Ton vorgeworfen. Neben der Frage des Geschmacks für diesen oder jenen literarischen Stil verbirgt sich hinter diesen Bemerkungen eine echte theoretische Frage. Erfüllt die IKS gegenüber der CNT-AIT - oder allgemeiner, erfüllt die Kommunistische Linke gegenüber dem internationalistischen Anarchismus eine „Führungsrolle“, kann sie als Vorbild dienen? Halten wir uns für eine aufgeklärte Minderheit, die den anderen DIE Wahrheit, DAS Bewusstsein einflößen muss?
Solch eine Auffassung stünde im völligen Gegensatz zur ganzen Tradition der Kommunistischen Linken. Und diese Tradition verweist noch in einem tieferen Sinn auf die Verbindung zwischen den revolutionären Kommunisten und ihrer Klasse. Marx behauptete in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“: „Wir treten dann nicht der Welt doktrinär mit einem neuen Prinzip entgegen: Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder! Wir entwickeln der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien. Wir sagen ihr nicht: Lass ab von deinen Kämpfen, sie sind dummes Zeug; wir wollen dir die wahre Parole des Kampfes zuschrein. Wir zeigen ihr nur, warum sie eigentlich kämpft…“ (10 [158]).
Die Revolutionäre, Marxisten oder internationalistische Anarchisten, stehen nicht über der Arbeiterklasse; sie sind ein integraler Bestandteil ihrer Klasse; sie sind mit ihr durch unzählige Verbindungen vernetzt. Ihre Organisation ist der kollektive Ausdruck des Proletariats.
Die IKS hat sich nie als eine Organisation verstanden, die der Arbeiterklasse oder anderen revolutionären Gruppen ihren Standpunkt aufzwingen möchte. Wir stellen uns voll hinter die Aussagen des „Kommunistischen Manifestes“ von 1848: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen.“ [Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 2640 (vgl. MEW Bd. 4, S. 474)]
Das gleiche Prinzip vertrat Bilan, Organ der Italienischen Kommunistischen Linken, auch schon in der Erstausgabe ihrer Zeitschrift im Jahre 1933: „Sicher beruft sich unsere Fraktion auf eine lange politische Vergangenheit, auf eine lange Tradition in der italienischen und internationalen Bewegung, auf eine Gesamtheit politischer Grundsatzpositionen. Aber sie beansprucht keineswegs aufgrund ihrer politischen Vorgeschichte, Zustimmung einzufordern für Lösungen, die sie in der gegenwärtigen Lage für richtig hält. Im Gegenteil, wir fordern die Revolutionäre dazu auf, im Lichte der Ereignisse die Positionen zu überprüfen, die wir gegenwärtig vertreten, wie auch die politischen Positionen, die wir in unseren Grundsatzpositionen dargelegt haben.“
Seit ihrer Gründung hat unsere Organisation versucht, denselben Geist der Offenheit und den Willen zur Diskussion zu entfalten. So schrieben wir schon 1977:
„In unseren Beziehungen zu den (anderen revolutionären Gruppen), die der IKS nahestehen, aber nicht uns angehören, verfolgen wir ein klares Ziel. Wir versuchen eine brüderliche und vertiefte Diskussion über die verschiedenen Fragen zu führen, vor denen die Arbeiterklasse steht“. „Wir können unsere Rolle (…) gegenüber ihnen nur wirklich erfüllen, wenn wir gleichzeitig dazu in der Lage sind:
- uns davor zu hüten, uns als die heute einzige und alleinige bestehende revolutionäre Gruppierung zu betrachten,
- ihnen gegenüber unsere Positionen entschlossen zu vertreten;
- ihnen gegenüber eine für die Diskussion offene Haltung zu bewahren. Die Diskussionen sollen öffentlich und nicht durch den Austausch vertraulicher Korrespondenz stattfinden“ (11 [159]).
Es handelt sich hier um eine Verhaltensmaßregel. Wir sind von der Richtigkeit unserer Positionen überzeugt (wobei wir gleichzeitig einer begründeten Kritik gegenüber offenstehen), aber wir betrachten sie nicht als die „Lösung für alle Probleme auf der Welt“. Wir wollen einen Beitrag zum kollektiven Kampf der Arbeiterklasse leisten. Deshalb legen wir besonderen Wert auf die Debattenkultur. 2007 hat die IKS gar einen ganzen Orientierungstext zu dieser Frage verfasst: „Die Debattenkultur – eine Waffe des Klassenkampfes“. Wir schrieben darin: „ Wenn revolutionäre Organisationen ihre fundamentale Rolle bei der Entwicklung und Ausbreitung von Klassenbewusstsein erfüllen wollen, ist die Kultivierung einer kollektiven, internationalen, solidarischen und öffentlichen Diskussion absolut notwendig“ (12 [160]).
Aber der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass wir neben der Notwendigkeit der Debatte auch betonen, dass die IKS ihre politischen Positionen entschlossen vertreten muss. Dies ist kein Widerspruch. Offen miteinander zu diskutieren heißt nicht, dass alle Ideen gleich und alle Positionen gleichwertig sind. Wie wir in unserem Text aus dem Jahr 1977 schrieben: „Weit davon entfernt, sich gegenseitig auszuschließen, gehören für uns Prinzipienfestigkeit und eine offene Haltung zusammen. Wir haben keine Angst zu diskutieren, weil wir von der Richtigkeit unserer Positionen überzeugt sind.“
In der Vergangenheit wie in der Zukunft brauchte und braucht die Arbeiterbewegung offene, freimütige und brüderliche Debatten unter ihren verschiedenen revolutionären Tendenzen. Diese Vielfalt verschiedener Standpunkte und Herangehensweisen stellt einen Reichtum und einen unabdingbaren Beitrag zum Kampf des Proletariats und der Entwicklung seines Bewusstseins dar. Wir möchten hier wiederholen, dass, ausgehend von einer gemeinsamen Grundlage der Revolutionäre, es tiefgreifende Divergenzen geben kann. Diese müssen unbedingt zum Ausdruck kommen und debattiert werden. Wir verlangen von den internationalistischen Anarchisten nicht, dass sie auf ihre Kriterien verzichten oder ihr theoretisches Erbe über Bord werfen. Im Gegenteil, wir wünschen sehr, dass sie diese in größtmöglicher Klarheit vortragen, als eine Antwort auf die Fragen, vor denen wir alle stehen; dass sie Kritik und Polemik genauso akzeptieren wie wir und dass sie ebenso wie wir die eigenen Positionen nicht als „das letzte Wort“ auffassen, sondern diese als einen offenen Beitrag in einer von Widersprüchen gekennzeichneten Debatte verstehen. Wir sagen diesen Genossen nicht: „Streckt die Waffen vor der Überlegenheit des Marxismus!“.
Wir respektieren zutiefst den revolutionären Charakter des internationalistischen Anarchismus; wir wissen, dass wir Seite an Seite kämpfen werden, wenn massive Kämpfe ausbrechen. Aber wir werden ebenso entschlossen und voller Überzeugung (und wir hoffen: überzeugend) unsere Positionen zur russischen Revolution und bolschewistischen Partei, zur Zentralisierung, zur Übergangsperiode, zur Dekadenz des Kapitalismus, zur arbeiterfeindlichen Rolle des Syndikalismus vertreten… Damit wollen wir nicht – wie bereits gesagt - die Rolle eines Lehrers übernehmen und haben es auch nicht darauf abgesehen, einige Anarchisten für unsere Organisation zu gewinnen; wir wollen damit schlicht und einfach zur notwendigen Debatte unter den Revolutionären beitragen.
Wie ihr seht, Genoss/Innen, kann diese Debatte sehr lebhaft und leidenschaftlich werden!
Wir möchten diese dreiteilige Artikelserie zur “Kommunistischen Linken und den internationalistischen Anarchismus” mit einem Zitat Malatestas schließen:
“Wenn wir Anarchisten die Revolution alleine machen könnten oder wenn die Sozialisten (13) sie alleine machen könnten, könnten wir uns den Luxus leisten, dass jeder in seiner Ecke handelt und womöglich handgreiflich wird. Aber die Revolution muss von der Arbeiterklasse insgesamt gemacht werden, vom ganzen Volk, in dem die Sozialisten und Anarchisten zahlenmäßig nur eine Minderheit darstellen, auch wenn das Volk für uns viel Sympathie zu haben scheint. Uns zu spalten, selbst da, wo wir geeint sein könnten, hieße das Proletariat zu spalten, oder genauer gesagt seine Sympathien abkühlen zu lassen und es weniger geneigt zu machen, diese gemeinsame edle sozialistische Orientierung zu verfolgen, die den Sozialisten und Anarchisten gemeinsam im Schoße der Revolution den Triumph ermöglichen könnten. Die Revolutionäre, insbesondere die Sozialisten und Anarchisten, müssen darauf achten, die Gründe ihrer Divergenzen nicht aufzubauschen und sich insbesondere mit den Tatsachen und Zielen zu befassen, die sie zusammenführen und in die Lage versetzen könnten, das größtmögliche revolutionäre Ziel zu erreichen.“ (Volontà, 1. Mai 1920).
IKS, September 2010
1 [161]) Siehe den ersten Teil dieser Serie: “Was die Kommunistische Linke und die internationalistischen Anarchisten gemeinsam haben”.
2 [162]) Wie übrigens Tausende Marxisten und Millionen Arbeiter im Allgemeinen.
3 [163]) Siehe den zweiten Teil dieser Serie „Zu unseren Schwierigkeiten in der Debatte und wie man diese überwinden kann“
4 [164]) cnt-ait.info/article.php3 ?id_article=472&var_recherche=r%E9formisme+marxisme
5 [165]) Es handelt sich hier genau gesagt um ein Zitat Rudolf Rockers, auf das die CNT-AIT sich beruft.
6 [166]) Der Kommunismus ist kein schönes Ideal, sondern eine materielle Notwendigkeit” (10. Kapitel).
7 [167]) https://fr.internationalism.org/rinte102/anar.htm [168]
8 [169]) Es handelt sich um die Sektion der AIT in Russland, mit der wir sehr gute brüderliche Beziehungen haben und von der wir schon mehrfach Stellungnahmen in unserer Presse veröffentlicht haben.
9 [170]) Während der letzten Monate haben anarchistische Genoss/Innen und ihre Sympathisanten zu Recht gegen übertriebene Formulierungen protestiert, die eine endgültige Einschätzung des Anarchismus darstellen. Nachdem wir einige unserer früher veröffentlichen Artikel nachgelesen haben, haben wir in der Tat einige Aussagen gefunden, die wir heute nicht mehr verwenden würden. Zum Beispiel: „Arbeiter mögen denken, sie unterstützen die Revolution mittels des Anarchismus, aber um ein revolutionäres Programm zu unterstützen, muss man mit dem Anarchismus brechen“ ((https://fr.internationalism.org/rinte102/anar.htm [168]).
– “Deshalb muss sich die Arbeiterklasse entschlossen von diesen anarchistischen Illusionshändlern abwenden.“ (https://fr.internationalism.org/ri321/anarchisme.htm [171]).
– Unser Artikel “Anarchismus und Kommunismus”, der sehr sorgfältig den Kampf der “Freunde Durrutis” in der spanischen CNT in den 1930er Jahren behandelt, karikiert mittels eines Satzes die Auffassung der IKS vom Anarchismus durch die Behauptung, dass die „revolutionäre Flamme“ 1936 in der CNT erloschen sei. Unsere jüngste Artikelserie zum Anarcho-Syndikalismus, in der wir erneut die Integration der Führung der CNT in das Räderwerk des Staates anprangern sowie deren Beitrag zur politischen Entwaffnung der anarchistischen Arbeiter (was später die Arbeit der stalinistischen Henker erleichtert hat), zeigte die sehr komplexe Lage auf. International gab es innerhalb der CNT richtige Kämpfe zur Verteidigung echter proletarischer Positionen und gegen den Verrat, den die Eingliederung dieser Organisationen in den spanischen Staat darstellte. (Siehe unsere Artikelserie zum revolutionären Syndikalismus).
10 [172]) Karl Marx, Briefe aus den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, MEW Bd. 1, S. 344
11 [173]) In “Les groupes politiques prolétariens”, Revue internationale no 11, 4e trimestre 1977. In „Proletarische politische Gruppen“, Revue internationale Nr. 11, 4. Quartal 1977
12 [174]) Dieser Artikel steht auf unserer Webseite zur Verfügung.
13 [175]) Zum Zeitpunkt, als Malatesta diesen Artikel schrieb, befanden sich in der sozialistischen Partei Italiens noch neben den Reformisten revolutionäre Elemente, die im Januar 1921 auf dem Kongress von Livorno die KPI gründeten.
Seit der Krise des Finanzsystems 2008 scheint nichts mehr das Ausmaß der historischen Krise des Kapitalismus übertünchen zu können. Während immer mehr Angriffe auf die Arbeiterklasse niederprasseln, die Armut sich ausbreitet, spitzen sich die imperialistischen Spannungen zu, leiden Hunderte Millionen Menschen Hunger und Naturkatastrophen hinterlassen immer mehr Tote. Die Herrschenden selbst können das Ausmaß der Schwierigkeiten nicht mehr leugnen, ja sie können immer weniger eine bessere Zukunft unter ihrer Herrschaft vorgaukeln. Selbst ihre Propagandaorgane müssen eingestehen, dass die gegenwärtige Krise die schlimmste seit den 1930er Jahren ist, und dass die Ausdehnung der Armut ein Übel ist, mit dem man „lernen müsse zu leben“. Aber die herrschende Klasse verfügt auch über viele Anpassungsfähigkeiten. Während sie aufgrund der unleugbaren Tatsachen aber auch aufgrund eines politischen Kalküls eingestehen muss, dass sich die Lage verschlechtert und keine Besserung zu erwarten ist, schafft sie es immer noch, die Probleme ziemlich irreführend darzustellen, um das kapitalistische System insgesamt in Schutz zu nehmen.
Seit der Krise des Finanzsystems 2008 scheint nichts mehr das Ausmaß der historischen Krise des Kapitalismus übertünchen zu können. Während immer mehr Angriffe auf die Arbeiterklasse niederprasseln, die Armut sich ausbreitet, spitzen sich die imperialistischen Spannungen zu, leiden Hunderte Millionen Menschen Hunger und Naturkatastrophen hinterlassen immer mehr Tote. Die Herrschenden selbst können das Ausmaß der Schwierigkeiten nicht mehr leugnen, ja sie können immer weniger eine bessere Zukunft unter ihrer Herrschaft vorgaukeln. Selbst ihre Propagandaorgane müssen eingestehen, dass die gegenwärtige Krise die schlimmste seit den 1930er Jahren ist, und dass die Ausdehnung der Armut ein Übel ist, mit dem man „lernen müsse zu leben“. Aber die herrschende Klasse verfügt auch über viele Anpassungsfähigkeiten. Während sie aufgrund der unleugbaren Tatsachen aber auch aufgrund eines politischen Kalküls eingestehen muss, dass sich die Lage verschlechtert und keine Besserung zu erwarten ist, schafft sie es immer noch, die Probleme ziemlich irreführend darzustellen, um das kapitalistische System insgesamt in Schutz zu nehmen. Banken gehen pleite und reißen somit die Weltwirtschaft in den Abgrund? Die Schuld liegt bei den Händlern! Die Staatsverschuldung hat solche Ausmaße erreicht, dass sie zahlungsunfähig geworden sind? Schuld daran sind korrupte Regierungen! Kriege wüten in einigen Teilen der Erde? Schuld daran ist der mangelnde politische Wille! Umweltkatastrophen nehmen immer mehr zu und hinterlassen immer mehr Opfer? Die Natur ist schuld! Wenn die verschiedenen Analysen, die die Herrschenden uns anbieten, Unterschiede aufweisen, stimmen sie dennoch alle darin überein, die eine oder andere Regierungsform zu verurteilen, dagegen wird der Kapitalismus als Produktionsform nie an den Pranger gestellt. In Wirklichkeit sind all die Kalamitäten, vor denen die Arbeiterklasse steht, das Ergebnis der Widersprüche, die sich jeden Tag zuspitzen, die Gesellschaft erwürgen, egal welche Regierungsform, ob „liberal“ oder „staatlich“, „demokratisch“ oder „diktatorisch“ man vorfindet. Um besser den Bankrott ihres Systems zu verbergen, behauptet die herrschende Klasse ebenso, dass die Wirtschaftskrise, welche sich 2008 beschleunigt hat, langsam wieder abflaut. Aber die Wirtschaftskrise ist überhaupt noch nicht ausgestanden, sondern sie bringt immer deutlicher die Zuspitzung der historischen Krise des Kapitalismus zum Ausdruck.
Manchmal preist die herrschende Klasse anhand der jüngsten Wirtschaftsdaten die positiven Perspektiven; insbesondere lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die Wachstumszahlen, die langsam wieder anziehen. Aber hinter diesen „guten Nachrichten“ verbirgt sich eine ganz andere Wirklichkeit. Seit 2008 hat die herrschende Klasse zur Vermeidung des Katastrophenszenarios der Krise der 1930er Jahre Milliarden verpulvert, um strauchelnde Banken zu unterstützen, dazu wurde eine Reihe von keynesschen Maßnahmen ergriffen. Diese Maßnahmen bestehen vor allem darin, die Leitzinsen der Zentralbanken, welche für die Aufnahme eines Kredits entscheidend sind, zu senken, und hohe Staatsausgaben zur Ankurbelung der Konjunktur zu beschließen, die oft durch Schulden finanziert werden. Von dieser Politik wird behauptet, sie ermögliche einen starken Wachstumsschub. Aber heute fällt als allererstes auf, dass das Wirtschaftswachstum im Vergleich zu den astronomischen Ankurbelungsausgaben und der Aggressivität der inflationistischen Politik ziemlich schwach ausfällt. So stecken die USA in einer Lage, welche die bürgerlichen Ökonomen in Ermangelung einer marxistischen Analyse nicht begreifen können: Der US-Staat hat sich um mehrere Hundert Milliarden Dollar verschuldet, und die Leitzinsen der FED sind nahe Null. Für 2010 erwartet man ein Wachstum von lediglich 1.6%, im Vergleich zu den erhofften 3.7%. Das Beispiel der USA verdeutlicht: Man hat seit 2008 das Schlimmste durch eine massive Verschuldung verhindert, aber der Aufschwung kommt trotzdem nicht. Unfähig zu begreifen, dass die kapitalistische Produktionsweise ein vorübergehendes System ist, und Gefangener von sklerosierten Schemen, erkennen die bürgerlichen Ökonomen nicht, was so augenscheinlich ist: Der Keynesianismus ist historisch seit den 1970er Jahren gescheitert, weil die Widersprüche des Kapitalismus nunmehr unüberwindbar geworden sind. Selbst Verschuldungstricks können nicht mehr die grundlegenden Gesetze des Kapitalismus aushebeln.
Die kapitalistische Wirtschaft hält sich seit Jahrzehnten unter großen Schwierigkeiten durch eine Schuldenblase in allen Ländern aufrecht, um künstlich einen Markt zu schaffen, der einen Teil der chronischen Überproduktion aufsaugen soll.
Aber das Verhältnis des Kapitalismus zur Verschuldung ähnelt dem Verhalten des Drogensüchtigen: Je mehr Drogen er einnimmt, desto weniger wirksam wird die Dosis. Mit anderen Worten: die Herrschenden haben sich lange Zeit über Wasser gehalten, indem sie sich an einem verfaulten Ast festhielten, der 2008 brach. So kommt zur offensichtlichen Unwirksamkeit der Staatsverschuldung das Risiko der Zahlungsunfähigkeit zahlreicher Länder hinzu, insbesondere Griechenland, Italien, Irland oder Spanien. In dieser Situation sind die Regierungen aller Länder dazu gezwungen, auf Sicht zu steuern, sich von Tag zu Tag durchzuschlagen und ihre Wirtschaftspolitik jeweils anzupassen, von Ankurbelungsmaßnahmen bis hin zur Sparpolitik je nach dem Gang der Dinge, ohne dass irgendeine Maßnahme eine dauerhafte Verbesserung mit sich bringen würde. Der Staat, Rettungsanker in der historischen Krise des Kapitalismus, ist nun nicht mehr dazu in der Lage, seine Unfähigkeit zu verbergen.
Überall auf der Welt wird ein Angriff nach dem anderen gegen die Arbeiterklasse so schnell beschlossen wie die Arbeitslosenzahlen steigen. Ob Rechts oder Links, alle Regierungen zwingen den Arbeitern „Reformpakete“ und Haushaltskürzungen auf, die eine bislang nicht gekannte Brutalität erreichen. In Spanien zum Beispiel mussten die Beamten u.a. Gehaltseinbußen von 5% im Jahre 2010 hinnehmen, und die sozialistische Zapatero-Regierung hat schon Einfrierungen der Bezüge für 2011 angekündigt. In Griechenland ist das Durchschnittsalter der Pensionierung um 14 Jahre erhöht worden, während gleichzeitig die Renten bis 2012 eingefroren wurden. In Irland, das bis vor kurzem noch wegen seines wirtschaftlichen Dynamismus gepriesen wurde, beträgt die offizielle Arbeitslosigkeit 14%, während die Beamtenbezüge gleichzeitig um 5-15% gekürzt wurden, wie auch die Leistungen für Arbeitslosen oder Familien. Der Weltarbeitsorganisation (ILO) ist die Zahl der Arbeitslosen auf der Welt um 30 Millionen seit 2007 auf 210 Millionen im Jahre 2010 gestiegen. 1 [176]. Man könnte eine Reihe von weiteren Beispielen auf allen Kontinenten nennen, egal wo, die Herrschenden bitten die Arbeiter am stärksten zur Kasse. Aber hinter den Sparbeschlüssen, die heuchlerisch Reformen genannt werden, hinter den Entlassungen und Werkschließungen verbergen sich schreckliche Schicksale von ganzen Familien, die in die Armut getrieben werden. In den USA leben einem Bericht des Census Bureau zufolge nahezu 44 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, d.h. eine Steigerung um 6.3 Millionen Arme seit zwei Jahren, und das zusätzlich zu den in den letzten drei Jahren neu hinzugekommenen Armen. Während des ganzen letzten Jahrzehnts sind die Einkommen der ärmsten Haushalte in den USA nochmals stark gesunken.
Nicht nur in den „reichen Ländern“ führt die Krise zur Armut. Vor kurzem verkündete die Welternährungsorganisation (FAO) stolz, 2010 sei es zu einem Rückgang der Unterernährung gekommen, die noch besonders häufig in Asien (578 Millionen Menschen) und Afrika (239 Mio. Menschen) auftritt, bei einer Gesamtzahl von 925 Millionen Betroffener auf der ganzen Welt. Aber die Statistiken lassen nicht sofort deutlich werden, dass diese Zahl noch weit über der von 2008 liegt, bevor die Auswirkungen der spekulativen Inflation der Nahrungsmittelpreise zu spüren waren, welche viele Hungersrevolten in zahlreichen Ländern hervorgerufen hat.
Der signifikante Rückgang der Agrarpreise hat sicherlich zu einem bescheidenen “Rückgang des Hungers” auf der Welt geführt, aber die langfristige Tendenz, über mehrere Jahre hinweg betrachtet, d.h. unabhängig von der unmittelbaren Wirtschaftslage, verläuft in die andere Richtung. Des Weiteren haben die Dürreperioden in Russland, Osteuropa und jüngst in Lateinamerika deutliche Ernteeinbußen weltweit hervorgerufen, was auf dem Hintergrund steigender Preise das Problem der Unterernährung nächstes Jahr noch verschärfen wird. So tritt der Bankrott des Kapitalismus nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene zum Vorschein. Die Klimaveränderungen und der Umgang der Herrschenden mit den Umweltkatastrophen haben immer mehr Tote und bittere Armut hinterlassen.
Diesen Sommer haben zerstörerische Katastrophen überall auf der Welt die Menschen heimgesucht: Flammeninferno in Russland, Portugal und zahlreichen anderen Ländern; verheerende Monsunregen mit Überschwemmungen und Schlammlawinen in Pakistan, Indien, Nepal und China.
Im Frühjahr verursachte die Explosion der Ölplattform Deepwater Horizon die schlimmste Umweltverschmutzung der Geschichte im Golf von Mexiko. Die Liste der Katastrophen des Jahres 2010 ist lang. Die Zunahme dieser Phänomene und die immer verheerenderen Auswirkungen sind keine Zufallserscheinung, denn bei den Ursachen dieser Katastrophen und dem Umgang mit ihnen trägt der Kapitalismus eine große Verantwortung. Vor kurzem hat der Dammbruch eines Auffangbeckens einer Aluminiumfabrik eine industrielle und ökologische Katastrophe in Ungarn verursacht: Mehr als eine Million Kubikmeter giftiger, “roter Schlamm” hat sich ausgebreitet. Mehrere Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt. Die Umwelt- und Gesundheitsschäden sind enorm. Aber um die „Auswirkungen dieser Abfälle zu begrenzen“ entsorgt die Industrie den roten Schlamm auf folgende Art: Entweder wird er tonnenweise ins Meer oder in riesige Becken, ähnlich wie das, dessen Mauern brachen, geschüttet. Dabei existiert seit langem die Technologie, um solche Abfälle zu recyceln, insbesondere für die Bauwirtschaft oder den Gartenbau.
Die Zerstörung des Planeten durch die herrschende Klasse beschränkt sich aber nicht auf die unzähligen industriellen Katastrophen, die jedes Jahr zahlreiche Regionen heimsuchen. Der Meinung zahlreicher Wissenschaftler zufolge spielt die Erderwärmung eine Hauptrolle bei der Häufung der extremen Wetterschwankungen: „Diese Phänomene werden sich aufgrund des durch die Treibhausgase gestörten Klimas noch häufen und an Intensität zunehmen“, so der Vizepräsident der Expertengruppe IPCC ( Intergovernmental Panel on Climate Change). Während die Erderwärmung von 1997-2006 anstieg, hat die Zahl der Katastrophen, die immer zerstörerischer werden, um 60% im Vergleich zum letzten Jahrzehnt zugenommen. Dabei waren immer mehr Opfer zu melden. Bis 2015 wird eine Zunahme der Opfer infolge der Klimakatastrophe um 50% erwartet.
Die Wissenschaftler im Solde der Ölgesellschaften mögen sich erregen und erklären, dass die Erderwärmung nicht auf die zunehmende Verschmutzung der Atmosphäre zurückzuführen sei. In Wirklichkeit zeigen alle ernsthaften wissenschaftlichen Untersuchungen einen unleugbaren Zusammenhang zwischen dem Treibhauseffekt, der Klimaerwärmung und der Zunahme der Naturkatastrophen. Jedoch täuschen sich die Wissenschaftler, wenn sie behaupten, mit ein wenig politischem Willen der Regierungen könnte man die Dinge ändern. Der Kapitalismus ist unfähig, die Treibhausgasverschmutzungen einzudämmen, denn dann müsste er gegen seine eigenen Gesetze vorgehen, die Profitproduktion und die Produktion mit den geringsten Kosten sowie gegen das Konkurrenzprinzip. Die notwendige Unterwerfung unter diese Gesetze bewirkt, dass die Herrschenden unter anderem mit ihrer Schwerindustrie die Umwelt verschmutzen oder dass sie Erzeugnisse Hunderte von Kilometern nutzlos transportieren.
Die Verantwortung des Kapitalismus für das Ausmaß der Katastrophen beschränkt sich nicht auf die Luftverschmutzung und den Klimawandel. Die unablässige Zerstörung der Ökosysteme zum Beispiel durch die massive Abholzung der Wälder, die Lagerung von Müll in natürlichen Abflussgebieten, oder die anarchische Urbanisierung, die sich manchmal auf Gebiete trockengelegter Flüsse oder Gebiete mit besonders großer Brandgefahr erstreckt, haben all diese Katastrophen noch verstärkt.
Die Reihe von Bränden in Russland im Sommer, insbesondere in einem großen Gebiet um Moskau, zeigt die Fahrlässigkeit der Herrschenden und ihre Unfähigkeit, diese Dinge in den Griff zu kriegen. Den Flammen sind Hunderttausende Hektar Wald zum Opfer gefallen, eine unbekannte Anzahl von Menschen ist dabei gestorben oder verletzt worden. Mehrere Tage lang lag eine dicke Rauchwolke über der Hauptstadt, mit schlimmen Gesundheitsfolgen, z.B. verdoppelte sich die Sterblichkeitsrate in jenen Tagen. Hinzu kommen noch die großen atomaren und chemischen Gefahren, welche die Bevölkerung weit über die Landesgrenzen Russlands hinaus bedrohen, insbesondere nachdem der Boden in Brand geraten ist, der durch die Explosion des Kernkraftwerks in Tschernobyl oder durch die Waffenarsenale und Müllberge an chemischen Stoffen, die irgendwo in der Natur „entsorgt“ worden, verseucht wurde.
Ein wesentlicher Punkt für das Begreifen der Rolle der Herrschenden beim Ausmaß der Brände ist die unglaubliche Vernachlässigung der Wälder. Russland verfügt über große und dichte Waldbestände, die besondere Maßnahmen und Sorgfalt erfordern, um schnell ausbrechende Feuer einzudämmen und so zu verhindern, dass sie unkontrollierbar werden. Dabei sind aber in vielen Waldgebieten in Russland nicht mal Zugangsstraßen vorhanden, so dass Feuerwehrlöschfahrzeuge bei den meisten Bränden gar nicht zum Brandherd vordringen können. In Russland gibt es gerade mal 22.000 Feuerwehrleute zur Brandbekämpfung, d.h. weniger als in einem kleineren Land wie Frankreich. Und die oft besonders korrupten Gouverneure der Regionen geben lieber die knappen Mittel, über die sie für die Waldwirtschaft verfügen, für den Kauf von Luxusautos aus, wie mehrere Skandale ans Tageslicht gebracht haben.
Der gleiche Zynismus trifft auf die berühmten Torffeuer zu, wo der Boden aus besonders leicht entzündlichen Stoffen besteht. Nicht nur hat man die Torfgebiete quasi aufgegeben; sondern man hat diese Gebiete für den Bau von Wohnungen freigegeben, obwohl es schon 1972 zu großen Bränden in diesen Gebieten gekommen war. Die Rechnung war ganz einfach: in diesen risikoreichen Gebieten konnten Immobilienmakler Bauland zu Spottpreisen kaufen.
So verwandelt der Kapitalismus Naturphänomene, die von den Menschen eigentlich im Griff gehalten werden könnten, zu wahren Katastrophen. Aber für die Herrschenden gibt es keine Grenzen bei all diesen Schrecken. Denn die zerstörerischen Überschwemmungen Pakistans haben die schändlichen imperialistischen Machtkämpfe ausgelöst. Wochenlange sintflutartige Regenfälle in Pakistan haben dort zu gewaltigen Überschwemmungen und Erdrutschen geführt, die mehr als 20 Millionen Menschen obdachlos machten und großen materiellen Schaden angerichtet haben. Hunger und die Ausbreitung von Seuchen, insbesondere Cholera, haben die ohnehin schon verzweifelte Lage noch schlimmer werden lassen. Mehr als einen Monat lang haben die Herrschenden in Pakistan und ihre Armee eine unglaubliche Inkompetenz und einen wahnsinnigen Zynismus an den Tag gelegt, indem sie die Natur für schuldig erklärten, obwohl genau wie in Russland in Anbetracht einer anarchischen Urbanisierung und unfähigen Rettungsdiensten die Gesetze des Kapitalismus als das wesentliche Element für das Begreifen des Ausmaßes der Katastrophe erscheinen.
Aber ein besonders ekelerregender Aspekt dieser Tragödie ist die Art und Weise, wie die imperialistischen Mächte dabei noch versuchen, diese Lage der Opfer zu ihren Gunsten auszuschlachten, indem sie „humanitäre Hilfsmaßnahmen“ als ein Alibi einsetzen. So unterstützen die USA im Rahmen des Krieges im benachbarten Afghanistan die sehr umstrittene Regierung Yusuf Raza Gilani. Sie haben schnell die Ereignisse ausgenutzt, um mit ihren „humanitären Einsatztruppen“ aufzumarschieren; sie haben dabei Hubschrauberträger, amphibische Landungsfahrzeuge usw. eingesetzt. Unter dem Vorwand, eine Erhebung des terroristischen AlQuaida zu verhindern, deren Einfluss durch die Überschwemmungen gestärkt werde, bremsten und behinderten die USA so stark wie möglich das Eintreffen der „internationalen Hilfe“ anderer Länder, die ebenfalls hauptsächlich aus Militärs, Diplomaten und skrupellosen Investoren besteht. Wie bei jeder größeren Katastrophe wurden alle Mittel von den Staaten eingesetzt, um ihre imperialistischen Interessen zu verfechten. Zu diesen Mitteln gehört mittlerweile die systematische Zusage von Hilfeleistungen: alle Regierungen kündigen offiziell substanzielle Finanzhilfen an, die aber jeweils an die Erfüllung von Bedingungen und Wünschen der Geberländer geknüpft sind. So wurde zum Beispiel bis heute nur 10% der im Januar 2010 nach dem Erdbeben in Haiti versprochenen internationalen Hilfe den Herrschenden in Haiti ausgezahlt. Und Pakistan wird natürlich keine Ausnahme sein. Die versprochenen Millionen werden nur überwiesen werden, sobald entsprechende Gegenleistungen vorliegen.
Die Grundlagen des Kapitalismus, die Profitjagd, Konkurrenz usw., stehen auf jeder Ebene im Mittelpunkt der Umweltzerstörung. Aber die Kämpfe um Pakistan haben ebenso die wachsenden imperialistischen Spannungen in vielen Teilen der Erde deutlich werden lassen.
Die Wahl Barack Obamas an die Spitze der ersten Weltmacht hat eine Menge Illusionen über die Möglichkeit der Befriedung der internationalen Beziehungen hervorgerufen. In Wirklichkeit hat die neue US-Administration die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks entstandene imperialistische Dynamik nur weiter mit angetrieben. All unsere Analysen, wonach die „rigide imperialistische Blockdisziplin“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks durch eine Abwesenheit von Disziplin, ein grenzenloses Chaos, einen Kampf des jeder gegen jeden und die unkontrollierbare Zunahme lokaler militärischer Konflikte ersetzt werden würde, ist vollauf bestätigt worden. Die Zuspitzung der Krise hat die imperialistischen Spannungen unter den Nationen noch weiter angefacht. Dem Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut zufolge sind 2009 nicht weniger als 1.531 Milliarden Dollar in Rüstungsausgaben gesteckt worden; d.h. eine Steigerung von 5.9% gegenüber 2008 und 49% gegenüber 2000. Dabei berücksichtigen diese Zahlen nicht mal die illegalen Waffenlieferungen. Selbst wenn die Herrschenden bestimmter Staaten aufgrund des Drucks der Krise gezwungen sind, Rüstungsausgaben zu kürzen, spiegelt die wachsende Militarisierung der Erde die einzige Zukunft wider, die das System für die Menschheit bereithält: die Zunahme der imperialistischen Konflikte. Die USA mit ihren 661 Milliarden Rüstungsausgaben 2009 verfügen über eine absolute militärische Überlegenheit. Jedoch ist das Land seit dem Zusammenbruch des Ostblocks immer weniger dazu in der Lage, andere Länder hinter sich zu mobilisieren, wie der Irak-Krieg Anfang 2003 bewies, als die US-Truppenzahl damals erst mehrere Zehntausend Soldaten betrug. Nicht nur ist es den USA nicht gelungen, andere Mächte um sich zu scharen, insbesondere Russland, Frankreich, Deutschland und China, sondern andere Mächte haben sich schrittweise aus dem Konflikt zurückgezogen, insbesondere Großbritannien und Spanien. Vor allem scheint die amerikanische Bourgeoisie immer weniger dazu in der Lage, die Stabilität eines eroberten Landes (die Schlamassel in Afghanistan und dem Irak zeigen dies symptomatisch) oder einer Region sicherzustellen. Das wird ersichtlich anhand der Art und Weise, wie der Iran die USA ohne Angst vor Repressalien herausfordert. Der US-Imperialismus befindet sich voll im Abstieg. Er versucht, seine seit Jahren verloren gegangene Führung mittels Kriege wiederherzustellen, welche aber wiederum zu seiner weiteren Schwächung beitragen.
Gegenüber den USA versucht China seine imperialistischen Ambitionen durch seine Rüstungsanstrengungen (100 Milliarden Dollar Militärausgaben 2009, seit den1990er Jahren sind diese zweistellig pro Jahr gestiegen) und Anstrengungen vor Ort durchzusetzen. Zum Beispiel hat China im Sudan wie auch in anderen Ländern wirtschaftlich und militärisch Fuß fassen können. Das sudanesische Regime mit seinen Milizen, die von China bewaffnet werden, massakriert weiter die Bevölkerung, der vorgeworfen wird, die Darfur-Rebellen zu unterstützen, die wiederum von Frankreich mit Hilfe des Tschads ausgerüstet werden, wie auch durch den alten Gegner Frankreichs in der Region, den USA. All diese schmutzigen Manöver haben Hunderttausenden Menschen den Tod gebracht oder zu Vertreibungen von Millionen von Menschen geführt.
Die USA und China sind natürlich nicht allein für das kriegerische Chaos auf der Erde verantwortlich. In Afrika zum Beispiel versucht Frankreich direkt oder mit Hilfe von Milizen zu retten, was zu retten ist insbesondere im Tschad, der Elfenbeinküste, im Kongo und anderswo. Die Cliquen in Israel und Palästina, die jeweils von ihren Paten geschützt werden, setzen einen endlosen Krieg fort. Die israelische Entscheidung, den Siedlungsstopp in den besetzten Gebieten nicht fortzusetzen, während von den USA organisierte „Friedensverhandlungen“ stattfinden, belegen die Sackgasse der Politik Obamas, der sich von seinem Vorgänger Bush durch mehr Diplomatie abgrenzen wollte. Russland wiederum versucht mittels des Georgienkrieges und der Besetzung Tschetscheniens, wieder eine Einflusszone um sich herum aufzubauen.
Die Reihe imperialistischer Konflikte ist zu lang, um sie hier weiter ausführlich zu behandeln. Aber die Zunahme dieser Konflikte beweist, dass alle nationalen Fraktionen der herrschenden Klasse, egal wie stark oder schwach sie sind, keine andere Alternative haben als ihre imperialistischen Interessen blutig durchzusetzen.
Im Vergleich zur Tragweite der Krise des Kapitalismus ist die Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse sicherlich nicht ausreichend entwickelt; die Last der Niederlagen der Arbeiter trübt noch stark das Bewusstsein unserer Klasse. Aber die Waffen der Revolution werden in den Kämpfen geschmiedet, welche die Krise jetzt immer mehr antreibt. Seit mehreren Jahren haben immer mehr offene Kämpfe stattgefunden, manchmal gar international gleichzeitig. Die Kampfbereitschaft kommt auch gleichzeitig in mehreren „reichen“ Ländern zum Vorschein – in Deutschland, Spanien, USA, Griechenland, Irland, Frankreich, Japan usw. – aber auch in „armen“ Ländern. Wenn die Herrschenden der reichen Länder die irreführende Idee und Lüge verbreiten, dass die Arbeiter der armen Länder den Arbeitern der reichen Länder die Jobs wegnehmen, verhängen sie oft ein quasi Black-out über die Kämpfe dieser Arbeiter, denn dadurch würde offensichtlich, dass diese auch Opfer der gleichen Angriffe sind, die der Kapitalismus in allen Ländern der Welt aufzwingt.
In China, wo der Anteil der Löhne am BIP von 56% 1983 auf 36% 2005 gefallen ist, haben die Arbeiter mehrerer Werke versucht, sich von den Gewerkschaften zu lösen, auch wenn sie noch viele Illusionen über die Möglichkeit einer freien Gewerkschaft haben. Vor allem haben es die chinesischen Arbeiter geschafft, ihre Kämpfe selbständig zu organisieren und den Kampf über die Fabriktore hinaus auszudehnen.
In Panama ist am 1. Juli ein Streik der Bananenplantagenarbeiter in der Provinz Bocas de Toro ausgebrochen, wobei die Beschäftigten die Zahlung ausstehender Löhne und eine Abschaffung streikfeindlicher Gesetze forderten. Trotz einer heftigen polizeilichen Repression und vieler gewerkschaftlicher Sabotageversuche haben die Arbeiter sofort erfolgreich versucht, ihre Bewegung auszudehnen. Die gleiche Solidarität und der gleiche Willen, kollektiv zu kämpfen, waren das Motiv wilder Streiks in Bangladesch, die ebenso gewaltsam von den Ordnungskräften niedergeschlagen wurden.
In den zentralen Ländern werden wieder zahlreiche Kämpfe in Griechenland und insbesondere in Spanien gemeldet, wo es immer wieder Streiks gegen die drakonischen Sparmaßnahmen gibt. Die von den Beschäftigten der Madrider Metro organisierten Streiks spiegeln den Willen der Beschäftigten wider, ihren Kampf auszudehnen und sich gemeinsam mit Hilfe von Vollversammlungen zu organisieren. Deshalb wurden sie zur Zielscheibe einer Verleumdungskampagne, die von der sozialistischen Regierung unter Zapatero und den Medien gesteuert wurde. Auch wenn in Frankreich die Gewerkschaften die Streiks und Demonstrationen weiterhin kontrollieren, die sich gegen die Verschiebung des Rentenalters richten, sind große Teile der Arbeiterklasse in Bewegung geraten. Auch wenn dies bislang noch auf Minderheiten beschränkt ist, sieht man deutliche Anzeichen eines Willens, sich außerhalb der Gewerkschaften mittels souveräner Vollversammlungen zu organisieren und den Kampf auszudehnen.
Natürlich ist das Bewusstsein der Weltarbeiterklasse noch unzureichend entwickelt. Und diese zwar gleichzeitig stattfindenden Kämpfe sind nicht unmittelbar in der Lage, die Bedingungen für einen gemeinsamen Kampf auf internationaler Ebene zu schaffen. Aber die Krise, in welche der Kapitalismus immer mehr versinkt, die Sparprogramme und die wachsende Armut werden unausweichlich immer mehr massive Kämpfe auslösen, in denen die Arbeiter dann Stück für Stück ihre Klassenidentität, ihre Einheit, ihre Solidarität, ihren Willen, sich gemeinsam zur Wehr zu setzen, entfalten werden. Dies liefert den Nährboden für eine wachsende Politisierung, die unerlässlich ist für die Befreiung der Arbeiterklasse. Der Weg hin zur Revolution ist noch lang, aber wie Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ schrieben: „Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden – die modernen Arbeiter, die Proletarier.“ [Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 2628, (vgl. MEW Bd. 4, S. 468)]
V. (08/10/10)
1 [177]. Diese Statistiken zeigen eine allgemeine offizielle Zunahme der Arbeitslosigkeit, welche die Tricks der Herrschenden nicht mehr übertünchen können. Aber diese Zahlen spiegeln nicht das wahre Ausmaß des Phänomens wider, denn in allen Ländern, auch dort, wo das ausgefeilteste System sozialer „Abfederung“ eingeführt wurde, bedeutet Arbeitslosigkeit letztendlich nach einer gewissen Zeit, dass man nicht mehr als Arbeitsloser registriert wird.
(aus International Review, Nr. 143, 4. Quartal 2010).
Ausgehend von einer Einschätzung der italienischen Gruppe Lotta Comunista durch die IKS hat Genosse Riga sich dazu kritisch bzw. ablehnend geäußert. Nachfolgend unsere Antwort auf seine Reaktion.
Welche internationalistische Haltung gegenüber der deutschen Wehrmacht?
Weshalb empört sich der Genosse so über unseren Artikel? Scheinbar nicht über unsere Sichtweise der Partisanenbewegungen gegen Hitlerdeutschland im Weltkrieg als bürgerlich. Denn er räumt ein, dass die Partisanen „historisch gesehen“ dies auch waren. Dies, schreibt er, sehr zu recht, ist eine „schwierig zu vermittelnde, aber notwendige Einsicht“. Sondern er empört sich über unsere Darstellung der deutschen Wehrmacht als eine teilweise aus „Proletariern in Uniform“ bestehende imperialistische Armee, wie die anderen Armeen auch, so dass die Haltung der Marxisten darin bestehen müsste, diese Proletarier dazu zu gewinnen, sich gegen ihre Befehlshaber zu empören, anstatt sie abzuknallen, wie die Partisanen es taten. Es hat den Anschein, als ob für den Genossen Riga die internationalistische Pflicht im Weltkrieg, die Soldaten auf allen Seiten aufzufordern, sich zu verbrüdern, in diesem Krieg nicht mehr galt, zumindest der deutschen Armee gegenüber. Und warum? Weil die Wehrmacht eine „der Kapitalherrschaft direkt unterworfene Armee bestialischer Killer“ war.
Genosse Riga kommentiert einen Artikel auf unserer Webseite, in welchem wir die Behauptung einer Gruppe aus Italien, Lotta Comunista, zu widerlegen bestrebt waren, dass diese zum Lager der Kommunistischen Linken gehöre. Der Genosse zeigt sich wenig überzeugt von der Notwendigkeit einer solchen Klarstellung, zumal die Gruppe im deutschsprachigen Milieu nicht sehr bekannt ist. Dass diese Gruppe der IKS „eben missfällt“, so der Genosse, „unterstreicht nicht gerade die Bedeutung des Artikels“.
Aus unserer Sicht ist es selbstverständlich, dass man eine solche Behauptung von Seiten einer Gruppe wie Lotta Comunista widerlegen muss. Aber dass dies für unsere Leserinnen und Leser alles anders als selbstverständlich erscheinen muss, sehen wir natürlich gerne ein. So gesehen, hätte unser Artikel sich wahrscheinlich zuallererst damit befassen müssen, warum die zu behandelnde Gruppe überhaupt von Relevanz ist. Wir sind also für den Hinweis des Genossen in dieser Sache dankbar.
An dieser Stelle aber nur so viel dazu: Aus der Sicht des Alltagsbewusstseins ist Christ, wer sich auf Christus einschwört, Moslem, wer nach dem Koran lebt, und Marxist, wer sich auf Marx bezieht. Aus dieser Sicht ist es selbstredend, dass die „Kommunistischen Parteien“ der 1930er und 1940er Jahre und ebenso die Trotzkisten Marxisten waren. Daraus folgert man, dass die marxistische Haltung im 2. Weltkrieg ohne jeden Zweifel darin bestand, erstens die Sowjetunion zu unterstützen und zweitens auf der Seite der Kriegsgegner von Hitlerdeutschland zu stehen (eine andere, daraus sich ergebende, durchaus spannende Frage, was dann die „selbstverständliche“ marxistische Haltung während des Hitler-Stalin-Paktes wäre, wird dann meistens doch nicht gestellt).
Gerade weil die meisten Menschen auch heute noch von den oben beschriebenen Annahmen ausgehen, ist es uns um so wichtiger darauf hinzuweisen, dass es während des Zweiten Weltkrieges Marxisten gab, welche die Unterstützung aller Kriegsparteien ablehnten und den proletarischen Internationalismus von Lenin und Karl Liebknecht hochhielten. Nicht nur, dass es in erster Linie die Kommunistische Linke war, welche diese Haltung einnahm (auch einige Abspaltungen vom Trotzkismus taten dies): diese Einstellung ist das eigentliche politische Markenzeichen der Kommunistischen Linken (dass es außerdem auch andere, nicht marxistische Internationalisten gab, wollen wir an dieser Stelle nicht verschweigen).
Nun, mit welchen Schwächen unser Artikel zu Lotta Comunista auch immer behaftet sein mag, wir denken, dass er zu Genüge bewiesen hat, dass besagte Gruppe nicht proletarisch-internationalistisch ist!
Jetzt gibt der Genosse Riga einen wichtigen Hinweis, indem er schreibt, dass „das Kapitel Faschismus-Antifaschismus längst nicht so abgeschlossen (ist) innerhalb der Kommunistischen Linken, wie diese manchmal den Anschein erwecken will“. Wir nehmen an, dass der Genosse hier auf die Tatsache anspielt, dass die IKS der Internationalistischen Kommunistischen Partei in Italien (aus der sowohl die verschiedenen „bordigistischen“ Gruppen wie auch Battaglia Comunista hervorgegangen sind) vorwirft, hier und da auf unzulässige Weise während des Zweiten Weltkriegs sich auf Gruppen der Partisanen eingelassen zu haben. Das ändert aber nichts daran, dass die Gruppe Lotta Comunista, welche sich politisch auf die Partisanen (wie auch auf den Stalinismus) beruft, mit dem Erbe der Kommunistischen Linken nichts zu tun hat. Unsere Kritik an anderen Strömungen der Kommunistischen Linken in dieser Frage ist etwas ganz was anderes. Diese Strömungen kritisieren wir lediglich dafür, den proletarischen Internationalismus nicht immer konsequent genug vertreten zu haben. Wir kämen im Traum nicht auf die Idee, die proletarisch-internationalistische Gesinnung der PC Int in Italien während des Weltkrieges in Frage zu stellen. Es handelt sich aus unserer Sicht hier um Schwankungen innerhalb des Lager des Proletariats (die traditionelle Bezeichnung hierfür ist Opportunismus), während Lotta Comunista aus unserer Sicht eine bürgerliche, nationalistische Strömung darstellt (was keineswegs ausschließt, dass GenossInnen aus einer solchen Gruppe zum wirklichen proletarischen Internationalismus stoßen können).
Jetzt erst kommt der Genosse Riga zu seiner Hauptkritik an unserem Artikel, und dies bezieht sich nicht auf Lotta Comunista, sondern auf die Darstellung der Frage des proletarischen Internationalismus im Zweiten Weltkrieg selbst. Hier wird er heftig, er wirft uns vor, Behauptungen aufzustellen, welche „nicht mal am Stammtisch unter euch“ unhinterfragt bleiben dürfen.
Folgen wir nun der Argumentation des Genossen. Zunächst räumt er ein, dass der Faschismus wie der Antifaschismus beide bürgerlich, beide „antiproletarische“ Ideologien sind. So weit so gut. Dann schreibt er, dass der Faschismus, besonders in seiner deutschen Form, nicht bloß Ideologie geblieben ist, sondern einen historisch einmaligen Zivilisationsbruch darstellt, „der weit über die konterrevolutionären Strömungen dieser Zeit, auch den Stalinismus hinausreicht“. Und er schließt daraus: „wer diese Differenz nicht (an)erkennt, der kann nicht wirklich an einer Aufarbeitung der Geschichte interessiert sein, sondern nur an Ideologiebildung.“
Anders als der Genosse selbst anzunehmen scheint, können wir uns seinen Ausführungen hierzu ganz und gar anschließen. Denn das, was er hier schreibt, gehört zum Kern der Analyse der Weltlage, welche die sog. Italienische Fraktion der Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren entwickelte. Die beiden Hauptsätze dieser Analyse lauteten: 1. Durch die Niederlage des Proletariats in Deutschland war es die Bourgeoisie gelungen, in diesem zentralen Land des europäischen Kapitalismus ein Regime von unerhörter Brutalität zu etablieren. 2. Dieser Sieg der deutschen Bourgeoisie bedeutete die Niederlage nicht nur der Arbeiterklasse in Deutschland, sondern die des gesamten Weltproletariats. Denn gerade die beispiellose Barbarei des Naziregimes ermöglichte es der Bourgeoisie der anderen Länder, auch ohne physische Niederschlagung die eigenen Arbeiter gegen den Faschismus und somit für den imperialistischen Krieg zu mobilisieren.
So weit so gut. An dieser Stelle dennoch zwei Klarstellungen. Erstens: Das Stalinregime war eines der mörderischsten Regime der Weltgeschichte, und trotzdem nicht so mörderisch wie der Nazismus. Aber in anderer, und zwar in politischer Hinsicht, war es in einem gewissen Sinne schlimmer. Denn der Hitlerismus war die offene Konterrevolution gegen den Marxismus, während der Stalinismus die versteckte, heimtückische Konterrevolution im Namen des Marxismus, im Namen der Revolution selbst war. Sicherlich hat der Stalinismus mehr als jede andere politische Strömung es zustande gebracht, den Namen des Kommunismus auf Jahrzehnte hinaus zu diskreditieren. Zweitens: die Westmächte gingen weniger brutal vor als die Nazis im Weltkrieg; gewiss, und dennoch stellten auch Hiroshima und Nagasaki einen Zivilisationsbruch dar, und zwar einen, welcher die atomare Vernichtung der gesamten Menschheit ankündigte, falls es nicht gelingt, noch rechtzeitig den Kapitalismus abzuschaffen. Das hat übrigens nichts zu tun mit einem Abwiegen dieses Verbrechens mit dem des Holocausts: Solch ein Abwiegen wäre selbst barbarisch.
Weshalb empört sich der Genosse so über unseren Artikel? Scheinbar nicht über unsere Sichtweise der Partisanenbewegungen gegen Hitlerdeutschland im Weltkrieg als bürgerlich. Denn er räumt ein, dass die Partisanen „historisch gesehen“ dies auch waren. Dies, schreibt er, sehr zu recht, ist eine „schwierig zu vermittelnde, aber notwendige Einsicht“. Sondern er empört sich über unsere Darstellung der deutschen Wehrmacht als eine teilweise aus „Proletariern in Uniform“ bestehende imperialistische Armee, wie die anderen Armeen auch, so dass die Haltung der Marxisten darin bestehen müsste, diese Proletarier dazu zu gewinnen, sich gegen ihre Befehlshaber zu empören, anstatt sie abzuknallen, wie die Partisanen es taten. Es hat den Anschein, als ob für den Genossen Riga die internationalistische Pflicht im Weltkrieg, die Soldaten auf allen Seiten aufzufordern, sich zu verbrüdern, in diesem Krieg nicht mehr galt, zumindest der deutschen Armee gegenüber. Und warum? Weil die Wehrmacht eine „der Kapitalherrschaft direkt unterworfene Armee bestialischer Killer“ war.
Nun, dass die Wehrmacht einer der Kapitalherrschaft direkt unterworfene Armee bestialischer Killer war, steht außer Frage. Längst ist die Mär wiederlegt worden, derzufolge die Massenerschießungen und Vernichtungsfeldzüge allein von der SS, der Sonderpolizei und anderen gesonderten Staffeln ausgeführt wurden! Aber bedeutet dies, dass es in einer solchen Lage nicht mehr die Aufgabe der Marxisten wäre, auch gegenüber einer solchen Armee sich an das Klassenbewusstsein der Proletarier in Uniform zu richten? Etwa weil die Soldaten dieser Armee irreversibel in der „Volksgemeinschaft“ der Nazis integriert waren, und zwar so, dass man die Proletarier innerhalb dieser Armee faktisch als Vertreter der Bourgeoisie zu bekämpfen hätte? Wohlgemerkt: Es geht hier um das Prinzip, und nicht um das Wie, denn dass die Internationalisten von damals (von denen übrigens einige auch Juden waren) sich nicht direkt und offen an die deutschen Soldaten richten konnten, versteht sich von selbst.
Was die Geschichte angeht, ist man hinterher immer viel klüger. In Nazideutschland blieb der von den Internationalisten erhoffte proletarische Aufstand gegen den Krieg aus. Aber gab es für die Bolschewisten und Spartakisten 1914-15 eine Garantie, dass die von ihnen angestrebte Umwandlung des imperialistischen Krieges in einen Bürgerkrieg auch gelingen würde?
Nicht nur die Revolutionäre, auch die Herrschenden gingen davon aus, dass auch der Zweite Weltkrieg – der Niederlage des Weltproletariats in den 1930er Jahren zum Trotz – die Möglichkeit der Revolution in sich bergen könnte. Das galt übrigens auch für die Nazis. Für sie war die Novemberrevolution von 1918, welche die Beendigung des Ersten Weltkrieges erzwang, die größte Schmach in der deutschen Geschichte. Um diese Schmach zu „tilgen“, veranstalteten sie sowohl den sog. Hitlerputsch von 1923, wie auch die sog. Reichskristallnacht von 1938 am 9. November. Und auch während des Zweiten Weltkrieges taten sie alles, um dieser Gefahr vorzubeugen.
Wie gingen sie dabei vor? Anders als beispielsweise die Westalliierten, anders auch als der deutsche Imperialismus im Ersten Weltkrieg. Denn diese konnten auf die „freien Gewerkschaften“ und die „Arbeiterparteien“ zurückgreifen, sowie auf die Ideologien der Humanität oder der Demokratie, um die Arbeiter bei der Stange zu halten. Hitlerdeutschland konnte darauf verzichten, weil das deutsche Proletariat zunächst niedergeschlagen war. Und Hitlerdeutschland glaubte, darauf verzichten zu müssen, weil die einzige Chance, den kommenden Waffengang erfolgreich gestehen zu können, darin zu bestehen schien, rücksichtslos einen klaren rüstungsmäßigen Vorsprung zu erzielen. Da der totalitäre Staatskapitalismus damals noch nicht so weit entwickelt war wie heute, ging das am besten mittels einer offenen und brutalen Diktatur.
Aber die Notwendigkeit, eine eventuelle Revolte gegen den Krieg zu bekämpfen, blieb dennoch bestehen. Hierzu entwickelte der Nazismus eine Strategie, welche zwei Hauptpfeiler besaß. Der erste bestand darin, möglichst bis zum letzten Kriegstag eine ausreichende materielle Versorgung der Soldaten und der „Heimatfront“ zu sichern. So ist beispielsweise bekannt, dass eines der Motive, schon im Spätsommer 1941 in die Sowjetunion einzumarschieren (obwohl die Militärstrategen dringend davon abrieten und auf die Gefahren eines Winterfeldzugs hinwiesen) darin bestand, angesichts drohender Versorgungsengpässe in Deutschland die Ernte in der Ukraine abzuholen. Das Ganze lief auf das perfide Vorgehen hinaus, durch die Erschießung von großen Teilen der Bevölkerung der okkupierten Gebiete bzw. ihre Versklavung die Versorgung der Wehrmacht und in Deutschland selbst zu gewährleisten. Aber bereits die Ausplünderung der Juden in Deutschland diente u.a. diesem Ziel (wohlgemerkt: dieses Vorgehen gegenüber der Arbeiterklasse ist nur ein Aspekt der Politik der Nazis, erklärt weder den Antisemitismus der Nazis noch den Holocaust!). Der zweite bestand aber darin, gerade durch die Brutalität des Vorgehens in den besetzten Ländern und v.a. durch die Beteiligung der einfachen Soldaten an den Verbrechen der Wehrmacht bewusst die Arbeiter an ihre Ausbeuter zu binden und ein Verbrüderung mit dem „Feind“ von vorn herein zu verunmöglichen.
Mit anderen Worten: Darauf zu verzichten, in der Wehrmacht die Proletarier in Uniform zu sehen, auch als Opfer des Kapitals, würde auch bedeuten, der Strategie der Nazis auf den Leim zu gehen – nicht nur damals, sondern heute noch.
Und dennoch kam es gerade in der Wehrmacht beispielsweise zu Desertationen. In der amerikanischen Armee „musste“ im gesamten Weltkrieg ein einziger Soldat, so viel wir wissen, wegen Desertation hingerichtet werden. In der Wehrmacht waren es wohl zehntausende. Und wir als Nachwelt wissen von Fällen, wo solche Soldaten aufgrund der Unterstützung der Bevölkerung überlebten – Beweise dafür, dass es selbst in dieser „Mitternacht des Jahrhunderts“ Momente der Menschlichkeit und des Internationalismus gab. KS
Im November 1910 verstarb L. Tolstoi. Wir veröffentlichen nachfolgend einen Artikel von Rosa Luxemburg zur Würdigung seines Werkes.
In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Denker. Die Grundfragen des menschlichen Lebens, der Beziehungen der Menschen zueinander, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäftigten seit jeher tief das innerste Wesen Tolstois, und sein ganzes langes Leben und Schaffen war zugleich ein unermüdliches Grübeln über „die Wahrheit" im Menschenleben. Dasselbe rastlose Suchen nach Wahrheit wird gewöhnlich auch einem anderen berühmten Zeitgenossen Tolstois, Ibsen, nachgesagt Während aber in den Ibsenschen Dramen der große Ideenkampf der Gegenwart in dem großspurigen, meistens kaum verständlichen Puppenspiel zwerghafter Gestalten grotesken Ausdruck findet, wobei der Künstler Ibsen unter den unzureichenden Anstrengungen des Denkers Ibsen kläglich erliegt, vermag die Denkarbeit Tolstois seinem künstlerischen Genie nichts anzuhaben
In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Denker. Die Grundfragen des menschlichen Lebens, der Beziehungen der Menschen zueinander, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschäftigten seit jeher tief das innerste Wesen Tolstois, und sein ganzes langes Leben und Schaffen war zugleich ein unermüdliches Grübeln über „die Wahrheit" im Menschenleben. Dasselbe rastlose Suchen nach Wahrheit wird gewöhnlich auch einem anderen berühmten Zeitgenossen Tolstois, Ibsen, nachgesagt Während aber in den Ibsenschen Dramen der große Ideenkampf der Gegenwart in dem großspurigen, meistens kaum verständlichen Puppenspiel zwerghafter Gestalten grotesken Ausdruck findet, wobei der Künstler Ibsen unter den unzureichenden Anstrengungen des Denkers Ibsen kläglich erliegt, vermag die Denkarbeit Tolstois seinem künstlerischen Genie nichts anzuhaben. In jedem seiner Romane fällt diese Arbeit irgendeiner Person zu, die mitten in dem Getümmel lebenstrotzender Gestalten die etwas linkische, ein wenig lächerliche Rolle eines verträumten Räsoneurs und Wahrheitsuchers spielt, wie Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden", wie Lewin in „Anna Karenina", wie Fürst Nechljudow in der „Auferstehung". Diese Personen, die immer die eigenen Gedanken, Zweifel und Probleme Tolstois in Worte kleiden, sind in der Regel künstlerisch am schwächsten, schemenhaftesten gezeichnet, sie sind mehr Beobachter des Lebens als Mitwirkende Teilnehmer. Allein die Gestaltungskraft Tolstois ist so gewaltig, dass er selbst nicht imstande ist, die eigenen Werke zu verpfuschen, wie sehr er sie in der Sorglosigkeit eines gottbegnadeten Schöpfers misshandeln mag. Und als der Denker Tolstoi mit der Zeit über den Künstler den Sieg davongetragen hatte, so geschah es nicht, weil das künstlerische Genie Tolstois versiegte, sondern weil ihm der tiefe Ernst des Denkers Schweigen gebot. Wenn Tolstoi in dem letzten Jahrzehnt statt herrlicher Romane nunmehr künstlerisch oft trostlose Traktate und Traktätchen über Religion, Kunst, Moral, Ehe, Erziehung, Arbeiterfrage schrieb, so war es, weil er mit seinem Grübeln und Denken zu Ergebnissen gelangt ist, die ihm sein eigenes künstlerisches Schaffen als eine frivole Spielerei erscheinen ließen.
Welches sind nun diese Ergebnisse, welche Ideen verfocht und verficht jetzt noch bis zum letzten Atemzuge der greise Dichter? Kurz gefasst, ist die Ideenrichtung Tolstois bekannt als, eine Abkehr von den bestehenden Verhältnissen mitsamt dem sozialen Kampf in jeglicher Gestalt zu einem „wahren Christentum". Schon auf den ersten Blick mutet diese geistige Richtung reaktionär an. Gegen den Verdacht freilich, als hätte das von ihm gepredigte Christentum irgend etwas mit dem bestehenden offiziellen Kirchenglauben zu tun, ist Tolstoi schon durch den öffentlichen Bannstrahl geschützt, mit dem ihn die russische orthodoxe Staatskirche getroffen hat Allein auch eine Opposition gegen das Bestehende schillert in reaktionären Farben, wenn sie sich in mystische Formen kleidet. Doppelt verdächtig erscheint aber ein christlicher Mystizismus, der jeden Kampf und jede Form der Gewaltanwendung verabscheut und die Lehre von der „Nichtvergeltung" predigt, in einem sozialen und politischen Milieu wie dem des absolutistischen Russland. Tatsächlich äußerte sich der Einfluss der Tolstoischen Lehren auf die junge russische Intelligenz – ein Einfluss, der übrigens nie weittragend war und sich nur auf kleine Zirkel erstreckte – Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre, d. h. in der Periode des Stillstands des revolutionären Kampfes, in der Verbreitung einer indolenten ethisch-individualistischen Strömung, die eine direkte Gefahr für die revolutionäre Bewegung hätte werden können, wäre sie nicht räumlich wie zeitlich bloß eine Episode geblieben. Und endlich unmittelbar vor das geschichtliche Schauspiel der russischen Revolution gestellt, wendet sich Tolstoi offen gegen die Revolution, wie er bereits in seinen Schriften schroff und ausdrücklich gegen den Sozialismus Stellung genommen, speziell die Marxsche Lehre als eine ungeheure Verblendung und Verirrung bekämpft hat.
Gewiß, Tolstoi war und ist kein Sozialdemokrat, und für die Sozialdemokratie, für die moderne Arbeiterbewegung hat er nicht das geringste Verständnis. Allein, es ist ein hoffnungsloses Verfahren, an eine geistige Erscheinung von der Größe und von der Eigenart Tolstois mit dem armseligen steifen Schulmaß herantreten und ihn danach beurteilen zu wollen. Die ablehnende Haltung zum Sozialismus als einer Bewegung und einem Lehrsystem kann unter Umständen nicht von der Schwäche, sondern von der Stärke eines Intellekts herrühren, und dies ist gerade bei Tolstoi der Fall.
Einerseits herangewachsen noch in dem alten leibeigenen Russland Nikolaus' L, in einer Zeit, wo es im Zarenreich weder eine moderne Arbeiterbewegung noch auch die nötige wirtschaftliche und soziale Vorbedingung dazu, eine kräftige kapitalistische Entwicklung, gab, war er in seinem kräftigsten Mannesalter Zeuge des Versagens zuerst der schwächlichen Anläufe einer liberalen Bewegung, dann auch der revolutionären Bewegung in der Form der terroristischen „Narodnaja Wolja", um erst im Alter fast eines Siebzigjährigen die ersten kräftigen Schritte des industriellen Proletariats und schließlich als hochbetagter Greis die Revolution zu erleben. So ist es kein Wunder, dass für Tolstoi das moderne russische Proletariat mit seinem geistigen Leben und Streben nicht existiert, da ihm der Bauer, und zwar der ehemalige tiefgläubige und passiv duldende russische Bauer, der nur eine Sehnsucht kennt – mehr Land zu besitzen, ein für allemal das Volk schlechthin bedeutet.
Anderseits aber gehört Tolstoi, der alle kritischen Phasen und den ganzen qualvollen Werdegang des russischen öffentlichen Gedankens miterlebt hat, zu jenen selbständigen, genialen Geistern, die sich sehr viel schwerer in fremde Denkformen, in fertige Lehrsysteme fügen als Durchschnittsintelligenzen. Sozusagen geborener Autodidakt – nicht in bezug auf die formale Bildung und das Wissen, sondern in bezug auf das Denken –, muss er zu jedem Gedanken auf einem eigenen Wege gelangen. Und sind die Wege für andere meist unbegreiflich und die Resultate bizarr, so erreicht der kühne Einzelgänger dabei doch Ausblicke von überwältigender Weite.
Wie bei allen Geistern dieser Art, liegt die Stärke Tolstois und das Schwergewicht seiner Gedankenarbeit nicht in der positiven Propaganda, sondern in der Kritik des Bestehenden. Und hier erreicht er eine Vielseitigkeit, Gründlichkeit und Kühnheit, die an die alten Utopistenklassiker des Sozialismus, an Saint-Simon, Fourier und Owen, erinnern. Es gibt nicht eine von den hergebrachten geheiligten Institutionen der bestehenden Gesellschaftsordnung, die er nicht unbarmherzig zerpflückt, ihre Verlogenheit, Verkehrtheit und Verderblichkeit aufgezeigt hätte. Kirche und Staat, Krieg und Militarismus, Ehe und Erziehung, Reichtum und Müßiggang, physische und geistige Degradation der Arbeitenden, Ausbeutung und Unterdrückung der Volksmassen, das Verhältnis der Geschlechter, Kunst und Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt – alles unterzieht er einer schonungslosen, vernichtenden Kritik, und zwar stets vom Standpunkt der Gesamtinteressen und des Kulturfortschritts der großen Masse. Liest man z. B. die Anfangssätze seiner „Arbeiterfrage", so meint man, eine populäre sozialistische Agitationsschrift in der Hand zu haben:
„In der ganzen Welt gibt es mehr als eine Milliarde, Tausende Millionen Arbeiter. Das ganze Getreide, sämtliche Waren der ganzen Welt, alles, wovon die Menschen leben und was ihren Reichtum ausmacht, ist das Produkt des arbeitenden Volkes. Allein nicht das arbeitende Volk, sondern die Regierung und die Reichen genießen alles, was es erzeugt. Das werktätige Volk aber lebt in ewiger Not, Unwissenheit, Sklaverei und Verachtung bei allen denjenigen, die es kleidet, nährt, für die es baut und denen es dient. Das Land ist ihm weggenommen worden, und es ist das Eigentum derer, die nicht arbeiten, so dass der Arbeiter alles das machen muss, was die Grundbesitzer von ihm verlangen, um vom Grund und Boden leben zu können. Verlässt aber der Arbeiter das Land und geht in die Werkstatt, so gerät er in die Sklaverei bei den Reichen, bei welchen er das ganze Leben 10, 12, 14 und noch mehr Stunden am Tag eine fremde, eintönige und oft für das Leben schädliche Arbeit ausführen muss. Kann er sich aber auf dem Lande oder bei der fremden Arbeit so einrichten, um nur in Not leben zu können, so lässt man ihn nicht in Ruhe, sondern verlangt von ihm Steuern, zieht ihn selbst für drei, für fünf Jahre zum Soldatendienst heran und zwingt ihn, für das Kriegswerk besondere Steuern zu zahlen. Will er aber den Boden benutzen, ohne Rente zu zahlen, einen Streit anfangen oder die Arbeitswilligen verhindern, seine Stelle einzunehmen, oder die Steuern verweigern, so schickt man gegen ihn das Militär, das ihn verwundet, tötet und mit Gewalt zwingt, nach wie vor zu arbeiten und zu zahlen ... Und so leben die meisten Menschen in der ganzen Welt, nicht bloß in Russland, sondern auch in Frankreich, Deutschland, England, China, Indien, Afrika, überall."'
Seine Kritik des Militarismus, des Patriotismus, der Ehe wird an Schärfe von der sozialistischen Kritik kaum übertroffen und bewegt sich in derselben Richtlinie wie diese. Wie originell und tief die soziale Analyse Tolstois ist, zeigt z. B. der Vergleich seiner Ansicht über die Bedeutung und den sittlichen Wert der Arbeit mit der Ansicht Zolas. Während dieser die Arbeit als solche in echt kleinbürgerlichem Geiste auf das Piedestal erhebt, wofür er bei manchen hervorragenden französischen und anderen Sozialdemokraten in den Geruch eines Sozialisten von reinstem Wasser gekommen ist, bemerkt Tolstoi ruhig, indem er mit wenigen Worten den Nagel auf den Kopf trifft: „Herr Zola sagt, dass die Arbeit den Menschen gut mache; ich habe immer das Gegenteil bemerkt: Die Arbeit als solche, der Stolz der Ameise auf ihre Arbeit, macht nicht nur die Ameise, sondern auch die Menschen grausam ... Aber wenn sogar die Arbeitsamkeit kein erklärtes Laster ist, so kann sie in keinem Falle eine Tugend sein. Die Arbeit kann ebenso wenig eine Tugend sein wie das Sichernähren. Die Arbeit ist ein Bedürfnis, das, wenn es nicht befriedigt wird, ein Leiden und nicht eine Tugend ausmacht Die Erhebung der Arbeit zu einer Tugend ist ebenso verkehrt wie die Erhebung des Sichernährens des Menschen zu einer Würde und Tugend. Die Arbeit konnte die Bedeutung, die man ihr in unsrer Gesellschaft zuschreibt, nur als eine Reaktion gegen den Müßiggang gewinnen, den man zum Merkmal des Adels erhoben hat und den man noch als Merkmal der Würde in reichen und wenig gebildeten Klassen hält ... Die Arbeit ist nicht bloß keine Tugend, sondern sie ist in unsrer falsch geordneten Gesellschaft zum größten Teil ein das sittliche Empfindungsvermögen ertötendes Mittel."
Wozu zwei Worte aus dem „Kapital" das knappe Gegenstück bilden: „Das Leben des Proletariats beginnt, wo seine Arbeit aufhört." Bei der obigen Zusammenstellung der beiden Urteile über die Arbeit zeigt sich übrigens genau das Verhältnis Zolas zu Tolstoi im Denken wie im künstlerischen Schaffen: das eines biederen und talentvollen Handwerkers zum schöpferischen Genie.
Tolstoi kritisiert alles Bestehende, erklärt, dass alles wert sei, zugrunde zu gehen, und er predigt: Abschaffung der Ausbeutung, allgemeine Arbeitspflicht, ökonomische Gleichheit, Abschaffung des Zwanges in der Staatsorganisation wie im Verhältnis der Geschlechter, völlige Gleichheit der Menschen, der Geschlechter, der Nationen und die Völkerverbrüderung. Welcher Weg soll uns aber zu dieser radikalen Umwälzung der sozialen Organisation führen? Die Rückkehr der Menschen zu dem einzigen und einfachen Grundsatze des Christentums: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Man sieht, Tolstoi ist hier reiner Idealist. Durch sittliche Wiedergeburt der Menschen will er sie zur Umkrempelung ihrer sozialen Verhältnisse bringen, und die Wiedergeburt will er durch laute Predigt und durch Beispiel erreichen. Und er wird nicht müde, die Notwendigkeit und Nützlichkeit dieser sittlichen „Auferstehung" zu wiederholen mit einer Zähigkeit, einer gewissen Dürftigkeit der Mittel und einer naiv-schlauen Überredungskunst, die lebhaft an die ewigen Wendungen Fouriers von dem Eigennutz der Menschen erinnern, den er in verschiedensten Formen für seine sozialen Pläne zu interessieren suchte.
Das soziale Ideal Tolstois ist also nichts anderes als Sozialismus. Will man aber den sozialen Kern und die Tiefe seiner Ideen in schlagendster Weise erkennen, so muss man sich nicht sowohl an seine Traktate über ökonomische und politische Fragen, sondern an seine Schriften über die Kunst wenden, die übrigens auch in Russland zu den am wenigsten bekannten gehören. Der Gedankengang, den Tolstoi hier in glänzender Form entwickelt, ist folgender: Die Kunst ist - entgegen allen ästhetischen und philosophischen Schulmeinungen - nicht ein Luxusmittel, in schönen Seelen die Gefühle der Schönheit, der Freude oder dergleichen auszulösen, sondern eine wichtige geschichtliche Form des gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen untereinander wie die Sprache. Nachdem er durch eine köstliche Abschlachtung aller Kunstdefinitionen von Winckelman und Kant bis Taine diesen echt materialistisch-historischen Maßstab gewonnen hat, tritt Tolstoi mit demselben in der Hand an die gegenwärtige Kunst heran und findet, da der Maßstab in keinem Gebiet und in keinem Stück auf die Wirklichkeit passt; die gesamte bestehende Kunst ist – mit einigen ganz geringen Ausnahmen – der großen Masse der Gesellschaft, nämlich dem arbeitenden Volke, unverständlich. Statt daraus mit der landläufigen Meinung auf die geistige Rohheit der großen Masse und die Notwendigkeit ihrer „Hebung" zum Verständnis der heutigen Kunst zu schließen, zieht Tolstoi den umgekehrten Schluss: Er erklärt die gesamte bestehende Kunst für „falsche Kunst": Und die Frage, wie ist es denn gekommen, dass wir seit Jahrhunderten eine „falsche" statt einer „wahren", d. h. volkstümlichen Kunst haben, führt ihn zu einem weiteren kühnen Ausblick: eine wahre Kunst hätte es in den uralten Zeiten gegeben, wo das gesamte Volk eine gemeinsame Weltanschauung – Tolstoi nennt sie „Religion" – hatte; aus dieser seien solche Werke wie Homers Epos oder die Evangelien entstanden. Seit jedoch die Gesellschaft in eine ausgebeutete große Masse und eine kleine herrschende Minderheit zerklüftet sei, diene die Kunst nur dazu, die Gefühle der reichen und müßigen Minderheit auszudrücken, da dieser aber heute jede Weltanschauung überhaupt abhanden gekommen sei, so hätten wir den Verfall und die Ausartung, die die moderne Kunst charakterisieren. Zu einer „wahren Kunst" kann es nach Tolstoi nur dann kommen, wenn sie aus einem Ausdrucksmittel der herrschenden Klassen wieder zur Volkskunst, d. h. zum Ausdruck einer gemeinsamen Weltanschauung der arbeitenden Gesellschaft, wird. Und mit starker Faust schleudert er in das Verdammnis der „schlechten, falschen Kunst" die größten und kleinen Werke der berühmtesten Sterne der Musik, der Malerei, der Dichtkunst hinab und zum Schluss – seine sämtlichen eigenen herrlichen Werke. „Sie stürzt, sie zerfällt, die schöne Welt, ein Halbgott hat sie zerschlagen." Nur noch einen letzten Roman – „Auferstehung" – schrieb er seitdem, sonst hielt er es nur für wert, einfache, kurze Volksmärchen und Traktätchen zu schreiben, „die jedermann verständlich sind".
Der schwache Punkt Tolstois: die Auffassung der ganzen Klassengesellschaft als einer „Verirrung" statt einer historischen Notwendigkeit, die die beiden Endpunkte seiner geschichtlichen Perspektive, den Urkommunismus und die sozialistische Zukunft, verbindet, liegt auf der Hand. Wie alle Idealisten, glaubt er ja auch an die Allmacht der Gewalt und erklärt die ganze Klassenorganisation der Gesellschaft als das bloße Produkt einer langen Kette nackter Gewaltakte. Aber eine wahrhaft klassische Größe liegt in dem Gedanken über die Zukunft der Kunst, die Tolstoi zugleich in der Vereinigung der Kunst als Ausdrucksmittel mit dem sozialen Empfinden der arbeitenden Menschheit und der Ausübung der Kunst, d. h. der Künstlerlaufbahn, mit dem normalen Leben eines arbeitenden Gesellschaftsgliedes erblickt. Die Sätze, in denen Tolstoi das Abnorme in der Lebensweise des heutigen Künstlers geißelt, der nichts anderes tat als „seiner Kunst leben", sind von lapidarer Wucht, und es liegt ein echt revolutionärer Radikalismus darin, wenn er die Hoffnungen zerschlägt, eine Verkürzung der Arbeitszeit und Hebung der Bildung in den Massen werde ihnen das Verständnis für die Kunst, wie sie heute gestaltet ist, verschaffen :
„Das alles sagen die Verteidiger der heutigen Kunst mit Vorliebe, doch bin ich überzeugt, dass sie selbst nicht glauben, was sie sagen. Sie wissen wohl, dass die Kunst, wie sie sie auffassen, die Unterdrückung der Massen zur notwendigen Bedingung hat und sich auch durch die Aufrechterhaltung dieser Unterdrückung selbst aufrechterhalten kann. Es ist unerlässlich, dass sich Massen von Arbeitern in der Arbeit erschöpfen, damit unsre Künstler, Schriftsteller, Musiker, Sänger und Maler auf den Grund der Vollkommenheit gelangen, der ihnen gestattet, uns Vergnügen zu bereiten ... Doch selbst angenommen, dass diese Unmöglichkeit möglich ist und dass man ein Mittel fände, die Kunst, wie man sie auffasst, dem Volke zugänglich zu machen, so drängt sich eine Betrachtung auf, die beweist, dass diese Kunst nicht eine universelle sein könnte: nämlich der Umstand, dass sie für das Volk völlig unverständlich ist. Früher schrieben die Dichter lateinisch, doch jetzt sind die künstlerischen Erzeugnisse unsrer Dichter ebenso unverständlich für den gemeinen Menschen als wären sie in Sanskrit geschrieben.
Man wird nun antworten, die Schuld liege an dem Mangel von Kultur und Entwicklung des gemeinen Menschen, und unsre Kunst werde von allen dann verstanden werden, wenn sie eine genügende Erziehung genossen haben. Das ist wieder eine unsinnige Antwort, denn wir sehen, dass die Kunst der höheren Klassen zu jeder Zeit nur ein einfacher Zeitvertreib für diese Klassen selbst gewesen ist, ohne dass die übrige Menschheit etwas davon begriffen hat. Die unteren Klassen mögen sich noch so sehr zivilisieren, die Kunst, die von Anfang an nicht für sie geschaffen war, wird ihnen stets unzugänglich bleiben ... Für den denkenden und aufrichtigen Menschen ist es eine unbestreitbare Tatsache, dass die Kunst der höheren Klassen nie die Kunst der ganzen Nation werden kann."
Der das schrieb, ist in jedem Zoll mehr Sozialist und auch historischer Materialist als jene Parteigenossen, die, in der neuerdings aufgekommenen Kunstfexerei machend, mit gedankenloser Geschäftigkeit die sozialdemokratische Arbeiterschaft zum Verständnis für die dekadente Kleckserei eines Slevogt oder eines Hodler „erziehen" wollen.
So muss Tolstoi in seiner Stärke wie in seinen Schwächen, im tiefen und scharfen Blick seiner Kritik, im kühnen Radikalismus seiner Perspektiven wie im idealistischen Glauben an die Macht des subjektiven Bewusstseins in die Reihe der großen Utopisten des Sozialismus gestellt werden. Es ist nicht seine Schuld, sondern sein historisches Pech, dass er mit seinem langen Leben von der Schwelle des 19. Jahrhunderts, an der die Saint-Simon, Fourier und Owen als Vorläufer des modernen Proletariats standen, bis an die Schwelle des 20. reicht, wo er als Einzelgänger dem jungen Riesen verständnislos gegenüber-
steht. Aber die reife revolutionäre Arbeiterklasse kann ihrerseits dem großen Künstler und dem kühnen Revolutionär und Sozialisten trotz seiner selbst mit verständnisinnigem Lächeln heute die ehrliche Hand drücken, die die guten Worte geschrieben hat:
„Jeder kommt auf seinem Wege zur Wahrheit, eins aber muss ich sagen: Das, was ich schreibe, sind nicht nur Worte, sondern ich lebe danach, darin ist mein Glück, und damit werde ich sterben."
Leipziger Volkszeitung, Nr. 209 vom 9. September 1908.
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verfasst von Teilnehmern der branchenübergreifenden Vollversammlung des Pariser Ostbahnhofs und Ile de France.
Wir sind eine Gruppe Beschäftigter verschiedener Wirtschaftszweige (Eisenbahnen, Bildungswesen, Informatik usw.), Arbeitsloser und prekär Beschäftigter. Während der jüngsten Streiks in Frankreich haben wir uns als branchenübergreifende Vollversammlung zunächst auf einem Bahnsteig des Pariser Ostbahnhofs, dann in einem Saal in der Arbeitsbörse versammelt. Wir wollten soviel Beschäftige wie möglich aus anderen Städten der Pariser Region zusammenbringen. Weil wir die Schnauze voll hatten von der Klassenzusammenarbeit der Gewerkschaften, die uns erneut in die Niederlage führten, wollten wir uns selbst organisieren, um zu versuchen, die verschiedenen streikenden Branchen zu vereinigen, den Streik auszudehnen und dass die Streikenden selbst den Kampf kontrollieren.
In Großbritannien, Irland, Portugal, Spanien, Frankreich… - in allen Ländern werden wir mit harten Angriffen konfrontiert. Unsere Lebensbedingungen verschlechtern sich zusehends. In Großbritannien hat die Regierung Cameron angekündigt, 500.000 Stellen im öffentlichen Dienst zu streichen. Milliarden sollen im Sozialhaushalt gestrichen werden, die Uni-Einschreibungsgebühr wurde verdreifacht. In Irland hat Premierminister Cowen den Mindeststundenlohn um mehr als einen Euro sowie die Renten um neun Prozent gesenkt. In Portugal ist die Arbeitslosigkeit auf ein Rekordniveau angestiegen. In Spanien kürzt der sehr sozialistische Premierminister Zapatero rücksichtslos Arbeitslosenzahlungen, Sozialhilfe und im Gesundheitsbereich. In Frankreich untergräbt die Regierung weiterhin unsere Lebensbedingungen. Nach den Renten ist jetzt der Gesundheitsbereich an der Reihe. Für die Beschäftigten wird es immer schwieriger, medizinische Leistungen zu erhalten; mehr und mehr Medikamente müssen aus eigener Tasche bezahlt werden, private Zusatzversicherungen werden immer teurer, in den öffentlichen Krankenhäusern werden Stellen gestrichen. Im gesamten öffentlichen Dienst (Post, EDG-GDF, Telekom) werden Betriebe geschlossen oder privatisiert. Die Folge: für Millionen ArbeiterInnenfamilien werden medizinische Leistungen zu teuer, sie können sie sich nicht mehr leisten.
Diese Politik ist für die Kapitalisten lebenswichtig. In Anbetracht der Zuspitzung der Krise und des Zusammenbruchs ganzer Bereiche der kapitalistischen Wirtschaft finden sie immer weniger Märkte, auf denen sie Profite für ihr Kapital erwirtschaften können. Und sie sind umso mehr bestrebt, die öffentlichen Dienste zu privatisieren. Aber diese neuen Märkte sind als produktive Absatzmärkte für die großen Stützpfeiler der Weltwirtschaft wie die Bauindustrie, die Automobilindustrie, Ölindustrie zu limitiert. Sie stellen auf keinen Fall einen neuen Rettungsanker für die Weltwirtschaft dar. So wird angesichts von Zusammenbrüchen ganzer Wirtschaftsbereiche der Kampf um die Märkte für die Multis umso heftiger. Mit anderen Worten – für die Kapitalinvestoren geht es um Leben und Tod. In diesem Kampf wird sich jeder Kapitalist hinter seinem Staat verschanzen, um sich zu verteidigen. Im Namen der Verteidigung der Volkswirtschaft werden die Kapitalisten versuchen, uns für ihren Wirtschaftskrieg einzuspannen. In diesem Krieg sind die ArbeiterInnen die Hauptopfer. Denn im Namen der „Verteidigung der nationalen Wirtschaft“ versucht jede nationale Bourgeoisie, jeder Nationalstaat, jeder Arbeitgeber die Kosten zu senken, um seine Wettbewerbsfähigkeit aufrecht zu halten. Konkret verschärfen sie unaufhörlich die Angriffe auf unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Wenn wir sie walten lassen, wenn wir bereit sind, den Gürtel noch enger zu schnallen , so werden diese Opfer grenzenlos sein. Und schließlich werden sie unsere Existenzbedingungen infrage stellen!
Arbeiter und Arbeiterinnen! Wir dürfen uns nicht durch Branchen, Berufe oder Nationalitäten spalten lassen. Wir dürfen uns nicht für den Wirtschaftskrieg einspannen lassen. Wir müssen gemeinsam kämpfen und uns im Kampf zusammenschließen. Der alte Schlachtruf von Karl Marx ist heute mehr denn je gültig: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ Wir müssen unsere Kämpfe selbst in die Hand nehmen. Heute kämpfen die ArbeiterInnen in Griechenland, Spanien, die Studenten in England. Sie sind den Angriffen ihrer Regierungen ausgesetzt, die im Dienst der herrschenden Klasse stehen, ob sie nun rechts oder links sind. Und wie wir in Frankreich, steht auch ihr Regierungen gegenüber, die gewaltsam gegen die ArbeiterInnen, die Arbeitslosen, die Studenten, und Gymnasiasten vorgehen. In Frankreich haben wir uns im vergangenen Herbst verteidigen wollen. Unsere Aktionen: zu Millionen auf die Straße gehen, um diesen neuen Angriff abzuwehren. Wir haben gegen dieses neue Gesetz gekämpft und gegen all die anderen Sparmaßnahmen, die uns sehr weh tun. Wir haben „nein“ gesagt zur Verschärfung der prekären Bedingungen und der Verarmung. Aber der Zusammenschluss der Gewerkschaften (Intersyndicale) hat uns absichtlich eine Niederlage beigefügt, indem er sich gegen die Ausdehnung der Streikbewegung gestellt hat:
1) Anstatt die Berufsschranken und die Branchenhürden zu überwinden, um die größtmögliche Zahl von ArbeiterInnen zusammenzuschließen, wurde die Beteiligung der anderen Beschäftigten an den Vollversammlungen verhindert.
2) Es wurden spektakuläre Aktionen zur Blockierung der Wirtschaft durchgeführt, aber nichts unternommen, um Streikposten vor Ort oder fliegende Streikposten zu organisieren, die andere ArbeiterInnen zur Beteiligung am Kampf ermuntert hätten. Erst die ArbeiterInnen und prekär Beschäftigte haben diesen Schritt vollzogen.
3) Sie haben hinter unserem Rücken, hinter den verschlossenen Türen der Ministerien unsere Niederlage ausgehandelt. Der gewerkschaftliche Zusammenschluss hat nie das Gesetz zur Rentenreform abgelehnt; im Gegenteil, er hat immer wieder wiederholt, dass diese Reform notwendig und unvermeidbar sei. Ihm zufolge hätten wir uns damit zufrieden geben müssen, mehr „Verhandlungen zwischen Regierung-Arbeitgebern-Gewerkschaften“ zu fordern, „mehr Änderungen des Gesetzes, um eine gerechtere Reform zu erreichen“. Um uns gegen all diese Angriffe zur Wehr zu setzen, können wir nur auf unsere eigenen Kräfte bauen. Wir haben in dieser Bewegung die Notwendigkeit vertreten, dass die ArbeiterInnen sich betrieblich in unabhängigen Vollversammlungen selbst organisieren, ihre Aktionen landesweit abstimmen, um die Streikbewegung zu kontrollieren; dazu sollen jederzeit abwählbare Delegierte gewählt werden. Nur ein Kampf, der von allen ArbeiterInnen getragen, organisiert und kontrolliert wird und dessen Mittel und Ziele von ihnen selbst bestimmt wird, kann die erforderlichen Bedingungen für einen Sieg schaffen.
Wir wissen, dass der Kampf nicht vorüber ist. Die Angriffe werden an Schärfe zunehmen; unsere Lebensbedingungen werden sich noch weiter verschlechtern, die Folgen der Wirtschaftskrise werden noch stärker spürbar. Überall auf der Welt müssen wir uns zur Wehr setzen. Dazu müssen wir wieder Vertrauen in unsere eigene Kraft entwickeln.
Wir sind in der Lage, die Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen und uns gemeinsam zu organisieren.
Wir sind in der Lage, offen und brüderlich miteinander zu diskutieren, indem wir selbst das Wort ergreifen.
Wir sind in der Lage, den Verlauf unserer Debatten und unsere Entscheidungen selbst zu kontrollieren.
Die Durchführung von Vollversammlungen darf nicht bei den Gewerkschaften liegen, sondern muss von den ArbeiterInnen selbst organisiert werden.
Wir werden darum kämpfen müssen, unser Leben und die Zukunft unserer Kinder zu schützen.
Die Ausgebeuteten dieser Erde sind unsere Klassenbrüder und –schwestern, die ein- und derselben Klasse angehören.
Nur unser Zusammenschluss über alle Grenzen hinweg wird dieses Ausbeutungssystem überwinden können.
Teilnehmer und Teilnehmerinnen der branchenübergreifenden Vollversammlung
des Pariser Ostbahnhofs und Ile de France.
Nehmt mit uns Kontakt auf:
[email protected] [187]
Auf der Webseite des Daily Mail erschien am 22.11.10 folgender Titel:
„Studentische Militante beziehen Streikposten vor Schulen im Streit um Schulgebühren“
„Studentische Militante haben sich mit französischen Kommunisten zusammengeschlossen, um vor den Secondary Schools Streikposten zu beziehen und schon die 15 Jährigen zu einem walkout wegen des Streits um die Uni-Gebühren zu bewegen. Den Anhängern des Gebrauchs von „legitimer Gewalt“, die versuchen die Anhebung der Uni-Gebühren zu verhindern, haben sich Mitglieder der Internationalen Kommunistischen Strömung (IKS) angeschlossen, um die Schüler/Innen zu mobilisieren.
Aktivisten wollen vor den Schulen des ganzen Landes an dem Aktionstag diesen Mittwoch Flugblätter verteilen. Mehr als 20.000 junge Leute wollen sich am Mittwoch an einem „landesweiten walkout“ beteiligen. Die Mehrheit sind Schüler/Innen und Student/Innen weiterführender Schulen/Universitäten.
Die Kampagnegruppe Education Activist Network hielt eine Protestversammlung am Samstag im Birkbeck College, London, ab. Daran nahm mindestens ein Mitglied der IKS teil. Die IKS hat eine lange Tradition direkter Aktion, die aus den Studentenprotesten von 1968 stammt, welche seinerzeit Frankreich lahmlegten. Der Rädelsführer des EAN ist Mark Bergfeld, 23, der sich für die Verwendung „legitimer Gewalt“ zum Sturz der Regierung einsetzt und zur Errichtung von „verbarrikadierten Schulen“ aufruft.
Herr Bergfeld, der an der Essex Universität studiert, meinte auf dem Treffen am Samstag: „Ihr könnt bis zum 24. November vor den Schulen Flugblätter verteilen, damit sie erfahren, was wir machen. Dann können sie sich euch am Aktionstag anschließen.“ Ebenso anwesend waren Beschäftigte der Stadtverwaltung und des Gesundheitswesens, Lehrer/Innen und Uni-Dozenten.“
Als erste Reaktion auf diesen Artikel in der Daily Mail haben wir uns über diesen lustig gemacht. Dann dachten wir, „keine Werbung ist schlechte Werbung“. Aber schließlich fragten wir uns, was wohl dahinter steckt.
Die Verschwörungstheorien des bürgerlichen Journalismus, der sich nie eine reine Bewegung der Revolte von Unten vorstellen kann, sondern diese jeweils auf einen teuflischen und trickreichen Moriaty (fiktive Romanfigur) zurückführt, der seine Fäden im Dunkeln zieht, diese Verschwörungstheorien haben eine lange Geschichte. Sie reicht bis weit in die Tage von Marx und die Erste Internationale zurück. Die kapitalistische Presse beschuldigte normalerweise die Arbeiterinternationale (I. Internationale Arbeiterassoziation), jeglichen Widerstand gegen die bürgerliche Ordnung hoch zu puschen, vom kleinsten lokalen Streik bis zur mächtigen Pariser Kommune 1871. Damals verfügte die Internationale natürlich über einen gewissen Einfluss, aber dieser stand in keinem Verhältnis zu dem von den Dienern der herrschenden Klasse heraufbeschworenen.
Wir sind eine winzige Gruppe. Wir beteiligen uns am Klassenkampf so gut wie unsere Kräfte es erlauben. Auch mischen wir an einer Reihe von Diskussionen, Treffen und Demonstrationen mit, die Teil der gegenwärtigen Bewegung der Studenten gegen die Uni-Gebühren und die Abschaffung der EMA-Zahlungen sind. Wir waren in der Tat auf dem erwähnten ENA-Treffen anwesend. Wir sind stolz, eine internationale Organisation zu sein (das ist natürlich etwas Anderes als eine rein französische Organisation zu sein), und wir führen unseren Ursprung auf die gewaltige Streikwelle zurück, die im Mai 1968 Frankreich erschütterte.
Aber wir behaupten nicht, die Organisatoren der gegenwärtigen Bewegung zu sein, wir betrachten dies nicht mal als unsere Rolle. Es macht keinen Sinn, dies gegenüber der Daily Mail zu argumentieren, da es unerheblich ist, ob deren Schreiberlinge glauben, die geheime Macht hinter der gegenwärtigen Rebellion der Jugend der Arbeiterklasse in Großbritannien entdeckt zu haben.
Das wirkliche Ziel dieser und anderer Artikel liegt woanders. In der jüngsten Zeit wurden auch ähnliche Artikel dieser Art von anderen Zeitungen veröffentlicht: Anarchistische Gruppen wie Solidarity Federation und die Anarchistische Föderation wurden als die Organisatoren der Besetzungen und der Stürmung der Tory-Parteizentrale am 10. November ausgemacht. Nach diesen Vorfällen wurde ein besonders bösartiger Artikel im Daily Telegraph veröffentlicht. Darin wurde ein regelmäßiger Teilnehmer am Libcom Internet-Forum verpfiffen; sein Name und der seines Vaters wurden genannt; ihnen wurde – ohne irgendwelche Beweise vorzulegen – vorgeworfen, für den Schaden an der Tory Parteizentrale in Milbank verantwortlich zu sein.
Bloßstellungen dieser Art dienen dazu, Revolutionäre und revolutionäre Organisationen an den Pranger zu stellen, sie so abschreckend und unattraktiv wie möglich erscheinen zu lassen, um so letztendlich eine Atmosphäre zu schaffen, in der sie direkt von den Polizeikräften angegriffen werden können. Schließlich befürworten wir die Anwendung von „legitimer Gewalt“ und – hört, hört – wir sind auch bereit, unschuldige Schüler/Innen mit unseren Ideen zu vergiften. Und natürlich sind wir Ausländer, warum dürfen wir eigentlich im Lande sein?
Die Einkesselung der Londoner Studentendemonstration vom 24. November war eine eklatante Zurschaustellung der Macht, die eine Bewegung einschüchtern sollte, von der die Herrschenden noch nicht sicher sein können, sie in den Griff zu kriegen, zudem diese Bewegung sich den üblichen Regeln des Vorgehens, wie sie von den Gewerkschaften und den linken Parteien durchgesetzt werden, nicht unterwerfen. Indem Anarchisten und Kommunisten Sachen untergeschoben werden, geht die herrschende Klasse auf die gleiche Weise vor. Sie wollen den in Gang gekommenen Prozess der Politisierung der jungen Leute blockieren, eine Politisierung, die weit über die falsche Polarisierung hinausgeht, welche die kapitalistische Linke aufzuzwingen versucht.
Und dahinter braucht man keine Verschwörung zu vermuten: Diese Art Reaktionen sind ungefähr so „spontan“ aus der Sicht der herrschenden Klasse wie eine Demonstration, die auf Facebook organisiert wird. Aber hier spielt auch das Bewusstsein eine Rolle: Unsere Herrscher lernen aus früheren Ereignissen und aus der Erfahrung in anderen Ländern. Ihnen schweben z.B. die Bilder aus Griechenland und Frankreich vor Augen, wo innerhalb der jüngsten Widerstandsbewegungen gegen die Sparpolitik kleine, aber erkennbare Minderheiten einige sehr politische Fragen aufwarfen: die Selbstorganisierung und die Ausdehnung der Kämpfe, und die Zukunft, die die kapitalistische Gesellschaft für uns bereithält. Die Studenten in Großbritannien stellen sich auch die Frage, wie es um ihre Zukunft bestellt ist, und der herrschenden Klasse wäre es lieber, dass diese nicht ermutigt würden zu erkennen, dass sie Teil einer Bewegung sind, die in Richtung Revolution getrieben wird. World Revolution 27.11.10
Siehe dazu: https://www.dailymail.co.uk/news/article-1331892/Tuition-fee-militants-picket-school-gates.html#ixzz16OoPiMUH [190]
Wir veröffentlichen nachfolgend das Einleitungsreferat zu unseren Diskussionsveranstaltungen in Frankreich im September dieses Jahres
In der gegenwärtigen Situation fällt auf, dass es einen gewaltigen Graben gibt zwischen der Wut, den eine Flut von Angriffen ausgelöst hat, und dem zahlenmäßig noch sehr geringen Interesse gegenüber Fragen der Revolution. Die Ausgebeuteten erkennen immer klarer, dass der Kapitalismus ein sterbendes System ist, welches die ganze Menschheit ins Verderben führt, aber sie glauben nicht an die Revolution. 1968 schien die Revolution möglich, aber nicht als notwendig; heute ist genau das Gegenteil der Fall.
Welche “andere Welt” ist möglich?
Es wird eine ausbeutungsfreie Zeit sein, in der es keine Armut, keine Grenzen, keine Kriege geben wird, und die menschlichen Bedürfnisse befriedigt sein werden. Es handelt sich um die freie Vereinigung der Produzenten, d.h. derjenigen, die die Reichtümer durch ihre assoziierte Arbeit herstellen. Dies ist der Kommunismus, in dem sich die Menschen frei entfalten können. Die Arbeit wird nicht mehr Leiden verursachen und eine grenzenlose Langeweile auslösen, stattdessen wird sie zu einem Faktor der Entfaltung der Menschen werden.
Wir veröffentlichen nachfolgend das Einleitungsreferat zu unseren Diskussionsveranstaltungen in Frankreich im September dieses Jahres
In der gegenwärtigen Situation fällt auf, dass es einen gewaltigen Graben gibt zwischen der Wut, den eine Flut von Angriffen ausgelöst hat, und dem zahlenmäßig noch sehr geringen Interesse gegenüber Fragen der Revolution. Die Ausgebeuteten erkennen immer klarer, dass der Kapitalismus ein sterbendes System ist, welches die ganze Menschheit ins Verderben führt, aber sie glauben nicht an die Revolution. 1968 schien die Revolution möglich, aber nicht als notwendig; heute ist genau das Gegenteil der Fall.
Es wird eine ausbeutungsfreie Zeit sein, in der es keine Armut, keine Grenzen, keine Kriege geben wird, und die menschlichen Bedürfnisse befriedigt sein werden. Es handelt sich um die freie Vereinigung der Produzenten, d.h. derjenigen, die die Reichtümer durch ihre assoziierte Arbeit herstellen. Dies ist der Kommunismus, in dem sich die Menschen frei entfalten können. Die Arbeit wird nicht mehr Leiden verursachen und eine grenzenlose Langeweile auslösen, stattdessen wird sie zu einem Faktor der Entfaltung der Menschen werden. Dann wird auch das Gefangenendasein aufgrund der extremen Spezialisierung auf eine gleiche Aktivität zu Ende kommen, denn wie Marx sagte: „
„ Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ [Marx/Engels: Die deutsche Ideologie. Marx/Engels: Ausgewählte Werke, S. 1298
(vgl. MEW Bd. 3, S. 33)]
Natürlich geht es hier um die grundsätzliche Idee dieses Zitats, und nicht um die Idee, dass man im Kommunismus auf der Stufe des Jägerdaseins leben werde. Es wird natürlich Jäger geben, aber diese wird man im Museum sehen.
Der Überfluss, während bislang der Mangel das Merkmal der Klassen- und Ausbeutungsgesellschaften gewesen ist.
Seitdem der Mensch nicht mehr mit Methoden der primitiven kommunistischen Gemeinschaft produziert, ist die Arbeitsproduktivität mit den Klassengesellschaften beträchtlich gestiegen, insbesondere unter dem Kapitalismus. Dieser hat mehr als alle anderen früheren Klassengesellschaften alles vorangetrieben, was der Produktion von Produktions- und Kommunikationsmitteln dient: Maschinen, Technologie, Wissenschaften usw. Das gegenwärtige Niveau der Arbeitsproduktivität kann durch die Tatsache bemessen werden, dass die Arbeit eines prozentual sehr kleinen Teils der Weltbevölkerung zur Ernährung der Weltbevölkerung reicht.
Es liegt auf der Hand, wenn die Produktionskapazitäten anders ausgerichtet wären, könnte der Hunger auf der Welt ausgelöscht werden; man bräuchte viel weniger für unsere Bedürfnisbefriedigung arbeiten usw.. Zur Verdeutlichung: 2008 starben bei einer Bevölkerung von sechs Milliarden Menschen jeden Tag 100.000 Menschen durch Hungertod; 2008 hätte die Landwirtschaft weltweit 12 Milliarden ernähren können (gemäß einem Bericht der UNO, vorgelegt von Jean Ziegler, Sonderberichterstatter). Aber dies unter dem Kapitalismus zu verwirklichen, ist eine Utopie.
Sicher nicht die Herrschenden. Es kann keinen harmonischen Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus geben. Die herrschende Klasse innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, die ihren ganzen Reichtum aus der Ausbeutung der Arbeiterklasse zieht, wird sich nie dazu entschließen, das Ausbeutungssystem fallenzulassen, da es dieser schließlich ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft verschafft. Einzelne Angehörige der herrschenden Klasse können den Kampf für eine andere Gesellschaft unterstützen oder sich ihm anschließen. Aber die herrschende Klasse als Ganzes kann das nie machen.
Der Motor der gesellschaftlichen Umwälzung ist die Arbeiterklasse: Sie ist die Klasse der Gesellschaft, die mit kapitalistischen Produktionsmethoden ausgebeutet wird:
- Die Arbeiterklasse hat keine eigene Interessen in diesem System zu verteidigen;
- Sie ist Trägerin eines Gesellschaftsprojektes, das der freien Vereinigung der Produzenten, welches ermöglicht, die Widersprüche des gegenwärtigen Systems zu überwinden.
- Um den Kapitalismus zu überwinden und ihr Projekt der revolutionären Klasse zu verwirklichen, verfügt sie über die notwendige Kraft, die sie durch ihre Zahl, ihre Bündelung und die Tatsache erreicht, dass sie den Hauptteil der Reichtümer dieser Gesellschaft produziert.
So hat der Kapitalismus nicht nur die Produktivkräfte entwickelt, die Überfluss ermöglichen, sondern er hat die revolutionäre Klasse geschaffen, die sein Totengräber sein wird – die Arbeiterklasse.
Solch eine Umwandlung wird nicht das Werk der ganzen Menschheit sein, auch wenn sie Leidtragender des gegenwärtigen Systems ist und sie sehr an ihrer Umwälzung interessiert ist. Die revolutionäre Klasse ist der Motor der Revolution.
Die Notwendigkeit stellt die Grundlage für die revolutionäre Umwälzung dar. Wie alle früheren Ausbeutungsgesellschaften wird der Kapitalismus an seinen unüberwindbaren Widersprüchen zugrunde gehen, wenn er nicht durch ein anderes System ersetzt wird, welches diese Widersprüche aus der Welt schafft. Kurz gesagt produziert dieses System nicht für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern für Profit. So liefern all die materiellen Reichtümer, die es produziert, die Grundlagen für den Überfluss für alle. Das Problem ist, dass gleichzeitig diese Entwicklung einhergeht mit einer wachsenden Verarmung, die einem immer größeren Teil der Bevölkerung aufgezwungen wird. Die Arbeiterklasse wird somit gezwungen, gegen die Verhältnisse zu rebellieren, und deshalb die Perspektive der Umwälzung dieser Gesellschaft zu suchen. So ist die proletarische Revolution nicht das Ergebnis eines moralischen Imperativs, sondern der Notwendigkeit, auch wenn es viele moralische und menschliche Gründe gibt, dieses System zu überwinden. Die gegenwärtige Stufe der Krise (die in Wirklichkeit schon seit dem Ende der 1960er Jahre andauert) ist eine schreiende Verdeutlichung der Tatsache, dass die Widersprüche des Kapitalismus unlösbar sind.
Im Gegensatz zum Kapitalismus kann der Sozialismus sich nicht schrittweise von einem Land zum anderen entwickeln. Er kann nur weltweit existieren und all die Produktivkräfte sowie das Vertriebsnetz in Bewegung setzen, die der Kapitalismus entwickelt hat. Die proletarische Revolution muss sich also auf dieser Ebene entfalten, um die sozialistische Umwälzung zu ermöglichen. Die Macht der Arbeiterklasse, isoliert in einem Land, oder gar in einer Reihe von Ländern, wird weiterhin von den Gesetzen des Kapitalismus bestimmt, unabhängig davon welche Maßnahmen diese ergreift.
Die anderen früheren revolutionären Klassen sind nicht zu ausbeutenden Klassen geworden, nachdem sie die Macht ergriffen hatten. Sie waren dies schon vorher gewesen. Die revolutionäre Klasse muss die alte Gesellschaft überwinden; sie muss ebenso die revolutionäre Umwälzung leiten, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Diese revolutionäre Klasse ist ebenso im Unterschied zu allen anderen revolutionären Klassen der Vergangenheit zum ersten Mal in der Geschichte die ausgebeutete Klasse. Durch die Abschaffung ihrer Ausbeutung schafft sie jegliche Ausbeutung ab. So hat sie nicht nur zur Aufgabe, sich selbst zu befreien, sondern sie muss die ganze Menschheit befreien.
Niemand kann mit Bestimmtheit und Sicherheit sagen, dass die Revolution stattfinden und siegen wird, und dass die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zum Kommunismus erfolgreich durchgeführt werden wird.
Als die Revolution in Russland entartete, geschah dies nicht so sehr wegen ihrer Fehler, sondern wegen der internationalen Isolierung, in welche sie mit dem Zurückweichen und dem Scheitern der revolutionären Welle 1917-23 geriet, aus der sie hervorgegangen war. Der Aufbau des Sozialismus in einem Land ist unmöglich; auch kann sich die Macht der Arbeiter nicht lange isoliert in einem Land halten. Unter diesen Bedingungen kann sie nur zur Entartung neigen. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Revolution weltweit auszudehnen und die Umwälzung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse durchzuführen. Wenn diese Ziele aufgrund eines international ungünstigen Kräfteverhältnisses nicht umgesetzt werden können, gerät diese Macht zunehmend unter den Druck des Weltkapitalismus: militärische und diplomatische Offensiven mit dem Versuch seiner Erstickung, weltweite ökonomische Konkurrenz usw. Dieses Schicksal erlitt Sowjetrussland.
Die politische Macht des Proletariats auf Weltebene wird durch ihre weltweit bestehende Organisierung in Arbeiterräten ausgeübt. Diese Organisationsform, die zum ersten Mal spontan in Russland 1905 entstanden ist, ist die einzige Organisationsform, die es der Arbeiterklasse ermöglicht, als ein Ganzes zu denken und zu handeln; und dies trotz der sehr großen Heterogenität, die in ihren Reihen existieren kann. Ihre Stärke stützt sich auf zwei wesentliche Eigenschaften:
- die Vollversammlungen an der Basis sind ein Ort, wo ständig Diskussionen geführt werden können, an denen sich die gesamte Arbeiterklasse beteiligt.
- Sie wählen abwählbare Delegierte, die wiederum in Delegiertenversammlungen zusammenkommen, welche mit den gleichen Prinzipien funktionieren wie die Versammlungen an der Basis, und die wiederum Delegierte wählen. So kann die Bewegung zentralisiert und Entscheidungen getroffen werden, die auf den verschiedenen Ebenen der Zentralisierung gefasst werden; somit können diese wirklich ein Ausdruck der Arbeiterklasse sein, die in Bewegung geraten ist.
Es handelt sich um die einzige Organisationsform, die dazu in der Lage ist, der schnellen Entwicklung des Bewusstseins in ihren Reihen Rechnung zu tragen, die so prägend ist für revolutionäre oder vorrevolutionäre Phasen.
Dies ist die Organisationsform der Diktatur des Proletariats nach der Machtübernahme.
Das Ziel der Macht der Arbeiter besteht darin, die revolutionäre Umwälzung im Hinblick auf eine neue klassenlose Gesellschaft, ohne Staat, ohne politische Macht in der Gesellschaft, zu leiten; dadurch schafft sie die Grundlagen für ihr eigenes politisches Verschwinden. Sie ist übrigens die einzige politische Macht, die jemals in der Geschichte existiert hat, welche nicht auf ihre Aufrechterhaltung abzielt.
Aber nichts von dem oben Gesagten stellt eine Garantie gegen die Entartung dar. Diese kann als Folge eines dauerhaften Rückflusses der Revolution auf Weltebene eintreten.
Wenn die Revolution nicht zustande kommt oder nicht siegt, wird nicht nur ein einfaches Blutbad stattfinden, sondern unzählig viele. Das Unvermögen der Arbeiterklasse, das System zu überwinden, bedeutet, dass die gegenwärtige Lage der historischen Krise des Kapitalismus sich in immer mörderischeren Kriegen, einer noch größeren Umweltzerstörung, und einer Explosion und noch größeren Ausbreitung der Armut in all ihren Formen äußern wird. Dadurch würde das Leben auf der Erde zu einer wahren Hölle; ja es wird unmöglich werden.
Da die Revolution darauf hinarbeitet, die Klassendiktatur der Bourgeoisie zu brechen, wird sie notwendigerweise auf Gewalt nicht verzichten können, aber es wird sich um eine befreiende Gewalt handeln, die eine Welt ermöglichen soll, in der es keine Barbarei mehr geben wird. In der Russischen Revolution war die Zahl der Todesopfer während des Aufstands im Oktober 1917 nahezu lächerlich im Vergleich zu den unzähligen Toten, die jeden Tag im Weltkrieg zu beklagen waren, und während der Reaktion der Weißen Armeen, die der Weltkapitalismus gegen die Russische Revolution mobilisiert hatte oder auch während der stalinistischen Konterrevolution und der mit ihr verbundenen Repression. Die erste revolutionäre Welle von weltweiten Kämpfen, insbesondere die Revolution in Deutschland zwang die herrschende Klasse den Ersten Weltkrieg zu beenden, da dessen Fortsetzung ein gefährlicher Nährboden für die Radikalisierung der Massen und damit der Revolution dargestellt hätte.
Um die Revolution als Schreckgespenst an die Wand zu malen, benutzt die herrschende Klasse zur Abschreckung oft Ereignisse, die nichts mit dieser zu tun haben, sondern im Gegenteil ein Ausdruck des Treibens verschiedener Fraktionen der Herrschenden sind: die stalinistische Konterrevolution, die angebliche maoistische Revolution, die Aktivitäten Pol Pots aus Kambodscha usw.
Ja. Auch wenn der erste weltweite revolutionäre Anlauf nach dem Ersten Weltkrieg gescheitert ist, beweist dies nicht das Gegenteil.
Die russische Arbeiterbastion war der am meisten fortgeschrittene Ausdruck einer weltrevolutionären Welle. An dieser weltrevolutionären Welle hatte sich ebenfalls das deutsche Proletariat beteiligt, das damals am weitesten entwickelt war, und das damals drei Jahre lang heldenhaft gegen die herrschende Klasse gekämpft hat. Leider wurde es besiegt. Seine Niederlage bedeutete die Niederlage der weltweiten revolutionären Welle und den Niedergang der Russischen Revolution. Umgekehrt hätte ein Sieg der Revolution in Deutschland die Möglichkeit geboten, die Revolution auf Mitteleuropa und später auf Westeuropa und den Rest der Welt auszudehnen.
Um mit der aufgeworfenen Frage abzuschließen, es geht nicht darum zu wissen, ob die Revolution möglich ist, sondern sich dessen bewusst zu werden, dass es unmöglich ist, ohne eine Revolution weiter zu leben. Die einzige Alternative ist Sozialismus oder Barbarei. IKS , September 2010
(der erste Teil wurde auf unserer Webseite veröffentlicht)
Im ersten Teil [193] dieser Chronologie haben wir die Ereignisse vom 23. März bis zum 19. Oktober detailliert aufgegriffen. Im provisorischen Schlussteil schrieben wir:
„Zusammenfassend gesagt; die Bewegung entfaltet sich nunmehr seit sieben Monaten. Die Wut ist sehr groß. Die Forderungen gegen die Rentenreform neigen dazu, in den Hintergrund zu treten. Die Medien gestehen ein, dass die Bewegung sich „politisiert“ habe. Die ganze Verarmung, die prekären Arbeitsbedingungen, die Ausbeutung usw. werden offen verworfen. Die Solidarität zwischen den verschiedenen Branchen hat auch zugenommen. Aber bislang ist es der Arbeiterklasse nicht gelungen, ihre Kämpfe wirklich in die eigene Hand zu nehmen. Sie wünscht das immer mehr; einige Minderheiten nehmen hier und da immer mehr Anläufe in diese Richtung. Das Misstrauen gegenüber den zusammengeschlossenen Gewerkschaften wächst; aber noch gelingt es den Arbeitern nicht, sich mittels autonomer und souveräner Vollversammlungen und somit außerhalb der Gewerkschaften zu organisieren. Aber solche Vollversammlungen waren das Herz der Bewegung gegen den CPE 2006; damals hatten diese der Bewegung ihre Stärke verliehen. Der Arbeiterklasse scheint es noch an Selbstvertrauen zu mangeln. Die weitere Entwicklung der Kämpfe wird uns zeigen, ob es ihr gelingen wird, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Wenn es dieses Mal nicht gelingt, dann eben das nächste Mal. Die gegenwärtigen Kämpfe verheißen viel für die zukünftigen Kämpfe!“
Wie hat sich die Bewegung schließlich entwickelt?
Die Frage der Blockierung der Raffinerien stand von Mitte Oktober an im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen.
Die Medien und die Politiker lenken die ganze Aufmerksamkeit auf den Treibstoffmangel, auf die „Zwangslage der Autofahrer“ und das Kräftemessen zwischen den Blockierern und den Ordnungskräften. In allen Vollversammlungen (ob von den Gewerkschaften organisiert oder nicht) drehen sich die Debatten fast ausschließlich um die Frage „wie kann man den Beschäftigten der Raffinerien helfen?“, „wie können wir unsere Solidarität zum Ausdruck bringen?“, „was können wir lahmlegen?“ Tatsächlich begaben sich einige Dutzend Beschäftigte aus allen Bereichen, Arbeitslose, prekär Beschäftigte, Rentner jeden Tag vor die Werkstore der 12 blockierten Raffinerien, um gegenüber den CRS ihr „Gewicht in die Waagschale“ zu werfen, ihnen Essenskörbe, ein wenig Geld und vor allem moralische Unterstützung zu bringen.
Dieser Elan an Solidarität ist ein wichtiges Element, er zeigt erneut das wirkliche Wesen der Arbeiterklasse.
Aber trotz der Entschlossenheit und der guten Absichten der Streikenden und ihrer Unterstützung tragen diese Blockaden im Allgemeinen nicht zur Verstärkung des Kampfes sondern zu deren Schwächung bei. Warum?
Diese Blockaden wurden vom Anfang bis zum Ende von der CGT (der größten französischen Gewerkschaft) initiiert und vollständig kontrolliert. Es gab praktisch keine einzige Vollversammlung, in der die Beschäftigten der Raffinerien gemeinsam hätten diskutieren und entscheiden können. Und als eine Vollversammlung einberufen wurde, wurden andere Beschäftigte nicht hineingelassen. Diese „Fremden“, die sich an den Streikposten beteiligten, wurden nicht dazu aufgefordert mitzudiskutieren und noch weniger sich an den Entscheidungen zu beteiligen. Ihnen wurde sogar der Zutritt verboten. Die CGT spricht wohl von Solidarität… aber nur platonisch, nicht aufrichtig gemeint. Unter dem Deckmantel einer „starken und radikalen“ Aktion organisiert die CGT die Isolierung der sehr kämpferischen Arbeiter dieses Teils der Raffinerien.
Am Vorabend der Herbstferien rufen die größten Gewerkschaften der Gymnasiasten und Studenten (UNL, Fidl, Unef) zu Demonstrationen auf. Es stimmt, dass die Wut der Jugend immer mehr zunimmt. Und an jenem Tag zogen in der Tat mehrere Zehntausend auf die Straße.
Der Gesetzesvorschlag zur Rentenform überwindet alle Hürden der “Demokratie”, vom Senat bis zur Nationalversammlung.
Neuer Aktionstag, zu dem der gewerkschaftliche Zusammenschluss (Intersyndicale) aufruft. 1.2 Millionen Teilnehmer, d.h. nur ein Drittel soviel Teilnehmer wie beim vorherigen Mal, am 19. Oktober. Die Zahlen sind stark rückläufig, Resignation breitet sich immer mehr aus.
Auch findet dieser Aktionstag mitten in den Herbstferien statt. Die Schüler, die sich der Bewegung mittlerweile angeschlossen hatten (überall ging die Polizei sehr gewalttätig gegen sie vor[1]), fehlten gänzlich.
Bis dahin hatten die Gewerkschaften alles unternommen, um entweder die Zahl der Vollversammlungen zu senken oder sie für Beschäftigte anderer Bereiche nicht zugänglich zu machen. Aber nachdem die Bewegung nun nachließ, versuchten sie „nationale Treffen“ verschiedener branchenübergreifender Zusammenschlüsse zusammenzubringen. In dem Aufruf der „vereinigten Gewerkschaften“ wagt man gar zu behaupten. „Der Kampf gegen die Rentenreform tritt in eine entscheidende Phase. Während die Regierung und die Medien das Ende der Mobilisierung ankündigen, finden landesweit Blockade- und Solidaritätsaktionen in einem branchenübergreifenden Rahmen, oft von branchenübergreifenden Vollversammlungen organisiert, statt. Aber abgesehen von dieser Strukturierung auf lokaler Ebene gibt es sehr wenig oder keine Beziehungen unter den verschiedenen branchenübergreifenden Vollversammlungen, so dass sie sich auf einer höheren Stufe miteinander absprechen könnten. Aber wenn wir die Regierungspolitik aufhalten wollen, müssten wir uns mehr strukturieren und unsere Aktionen besser koordinieren. Die Arbeiter, Arbeitslosen, Jugendlichen und Rentner, die sich der Bewegung angeschlossen haben, müssen ein Instrument entwickeln, um ihren Kampf über die örtlichen Grenzen hinweg zu vereinigen. Deshalb schlägt die Vollversammlung in Tours, die sich am 28. Oktober 2010 getroffen hat, vor, ein branchenübergreifendes Treffen zu organisieren, an dem sich Delegierte beteiligen, die von den landesweit abzuhaltenden Vollversammlungen ein Mandat erhalten.“ [2]
Dies ist ein Maskenspiel. All diese Leute, die uns unaufhörlich spalten, rufen jetzt, nach dem Kampf, dazu auf, “unsere Aktionen mehr abzustimmen“. Diejenigen, die uns absichtlich die Zügel aus den Händen gerissen haben, rufen jetzt die Beschäftigten nach dem Kampf dazu auf, „ihren Kampf selbst zu organisieren“. Mitglieder der nicht-gewerkschaftlichen berufsübergreifenden Versammlung (wie die vom Pariser Ostbahnhof) und Mitglieder der IKS sind zu diesem „nationalen Treffen“ hingefahren. Alle hoben die gewerkschaftliche Manipulation hervor, und dass die Debatten abgewürgt wurden und es unmöglich war, die Bilanz des gewerkschaftlichen Vorgehens infrage zustellen. Die NPA und die Libertäre Alternative (zwei linksextreme Gruppen, die eine ‚trotzkistisch’, die andere ‚anarchistisch’) scheinen in dieser nationalen Koordination federführend zu sein.
Neuer Aktionstag: 1.2 Millionen Teilnehmer kommen erneut auf der Straße zusammen. Seit nunmehr acht Monaten folgt eine Demonstration dieser Art der anderen. Aber niemand glaubt mehr an die Möglichkeit irgendeines Rückzugs der Regierung, auch nicht an eine teilweise Rücknahme des Angriffs. Dies belegt die weitreichende Wut. Die Beschäftigten kämpften nicht mehr allein gegen diesen Angriff, sondern um ihre allgemeine Wut über die Verarmung zum Ausdruck zu bringen.
Das Gesetz wurde verabschiedet und trat in Kraft. Der gewerkschaftliche Zusammenschluss rief sofort zu einem neuen Aktionstag am 23. November auf. Und um sicherzustellen, dass die Bewegung endgültig zu Grabe getragen wird, schlug der gewerkschaftliche Zusammenschluss einen Tag „vielschichtiger Aktionen“ vor. Konkret wurden aber von den Gewerkschaften keine landesweiten Anweisungen erteilt. Jede Region, jede gewerkschaftliche Sektion, jede Branche kann das veranstalten, was ihr gefällt.
Nur wenige Tausend demonstrieren. In Paris orchestrieren die Gewerkschaften eine “symbolische Aktion” – man zieht mehrmals um den Palais Brongniard, Sitz der Börse, und ruft den Slogan „Umzingeln wir das Kapital“. Das Ziel ist erreicht: ein entmutigendes Fiasko. Dieser Tag wird gar umgetauft: „Demo für nix“. Die Teilnahme von 10.000 Leuten an der Demo in Toulouse lässt deutlich werden, dass die Wut weiter anschwillt. Dies ist verheißungsvoll für die Zukunft und zukünftige Kämpfe. Die Arbeiterklasse ist in diesen langen Auseinandersetzungen nicht geschlagen und auch nicht erschöpft worden. Im Gegenteil: die vorherrschende Stimmung scheint zu sein „wir werden sehen, was das nächste Mal auf uns zukommt“.
Diese Bewegung gegen die Rentenreform mit ihren zahlreichen Demonstrationen ist nun zu Ende gegangen. Aber der Prozess des Nachdenkens hat erst angefangen.
Dieser Kampf ist dem Schein nach eine Niederlage, die Regierung hat nicht nachgegeben. Aber für unsere Klasse stellt sie einen Schritt nach vorne dar. Die Minderheiten, die aus dieser Bewegung hervorgegangen sind und versucht haben sich zusammenzuschließen, in den branchenübergreifenden Vollversammlungen oder in den auf der Straße abgehaltenen Versammlungen zu diskutieren, diese Minderheiten, die versucht haben, den Kampf in die eigenen Hände zu nehmen und sich dabei wie die Pest vor den Gewerkschaften gehütet haben, bringen die Fragestellungen in der Klasse zum Vorschein, mit denen sich immer mehr Arbeiter vertieft auseinandersetzen.
Dieses Nachdenken wir weiterhin seinen Weg suchen und es wird langfristig auch seine Früchte tragen.
Dies ist kein Aufruf zum Abwarten, zur Passivität. Auch heißt das nicht, dass die reife Frucht einfach vom Baum fallen wird. Alle diejenigen, die sich bewusst sind, dass es in der Zukunft noch mehr Angriffe hageln wird, und eine wachsende Verarmung auf uns zukommt, gegen die wir uns zur Wehr setzen müssen, sollten jetzt die zukünftigen Kämpfe vorbereiten. Wir müssen weiterhin debattieren, diskutieren, die Lehren aus dieser Bewegung ziehen und sie so breit wie möglich streuen. Diejenigen, die ein Vertrauensverhältnis und brüderliche Beziehungen untereinander in dieser Bewegung bei den Demonstrationen und Vollversdammlungen aufgebaut haben, sollten sich weiterhin treffen (als Diskussionszirkel, Kampfkomitee, Volksversammlungen oder als „Treffpunkt zum Reden“….), denn alle Fragen stehen weiterhin zur Klärung im Raum:
- Welche Rolle spielen „wirtschaftliche Blockaden“ im Klassenkampf?
- Was ist der Unterschied zwischen staatlicher Gewalt und der Gewalt der Beschäftigten?
- Wie kann man der Repression entgegentreten?
- Wie können wir unsere Kämpfe in die eigene Hand nehmen? Wie können wir uns organisieren?
- Was ist eine gewerkschaftliche Vollversammlung und was ist eine souveräne Vollversammlung?
- usw. usw.
IKS, 6.12.2010
Ein Teil der Leute, die sich im Rahmen der Vollversammlung „Pariser Ostbahnhof – Ile de France“, [3] trafen, trifft sich weiterhin und versucht eine allgemeine Bilanz der Bewegung zu ziehen. Sie haben zum Beispiel das nachfolgende Flugblatt verfasst und verteilt:
Seit Anfang September sind wir zu Millionen auf die Straße gezogen, Tausende von uns haben in bestimmten Branchen immer wieder gestreikt (Raffinerien, Transportwesen, Erziehung, Gymnasien, Unis usw.) oder uns an Blockaden beteiligt.
Wir hätten den „Kampf um die öffentliche Meinung“ gewonnen
Die Regierung hat den Kampf um die Reformen gewonnen
Heute wird verkündet, der Kampf sei vorüber. Wir hätten den „Kampf um die öffentliche Meinung“ gewonnen. Alles sei gelaufen, und wir könnten nun resigniert das Jahr 2012 abwarten. Als ob es nun einzig um die Wahlen ginge. Wir dürfen keinesfalls bis 2012 auf einen „Wechsel“ warten. Heute stellen sich in Griechenland und Spanien die Linksparteien an die Spitze der Angriffe gegen die Beschäftigten. Von diesen Parteien gibt es bei den nächsten Wahlen nichts Besseres zu erwarten.
Die Krise des Kapitalismus ist nicht überwunden.
Es hagelt weiter Angriffe, die immer heftiger werden.
Wir müssen uns heute schon darauf vorbereiten, den nächsten Angriffen und den zu erwartenden Stellenstreichungen und Entlassungen entgegenzutreten. Der Angriff gegen die Renten ist der Baum, der den Wald verdeckt. Die Rücknahme dieser Maßnahmen zu verlangen, ist das Mindeste, was man tun muss. Aber das hätte nicht gereicht. Seit dem Beginn der Krise greift die im Dienst des Kapitals stehende Regierung unsere Lebens- und Arbeitsbedingungen an, während gleichzeitig den Banken und Privatleuten Milliarden zugeschustert werden.
Hunderttausende ältere Arbeiter/Innen überleben mit weniger als 700 Euro pro Monat, und Hunderttausende Jugendliche darben unter dem RSA (Hartz-IV ähnliche Unterstützung für Jugendliche), wenn sie überhaupt Anspruch darauf haben. Millionen von uns stehen jetzt schon vor der Frage, wie ausreichend essen, wie die Mieten und Gesundheitskosten bezahlen? Mit der Zuspitzung der Krise werden die meisten von uns mit der Verarmung konfrontiert.
Unter diesen Umständen von „der nachhaltigen Sicherung der Renten“ zu reden, wie es der gewerkschaftsübergreifende Zusammenschluss tut, während der krisengeschüttelte Kapitalismus all unsere Lebensbedingungen untergräbt, heißt uns eigentlich gegenüber der herrschenden Klasse zu entwaffnen.
Die Kapitalistenklasse führt einen gesellschaftlichen Krieg gegen die Beschäftigten aller Länder.
Überall auf der Welt richten die Kapitalisten Angriffe gegen die Arbeiterklasse. Die Finanz- und Industrietrusts (BNP, AXA, Renault…) plündern uns und wollen uns niederstrecken. In Griechenland ist die Erstattung im Gesundheitswesen fast vollständig gestrichen worden. In England sollen mehr als 500.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes auf die Straße fliegen. In Spanien werden die Arbeitsverträge aufgekündigt.
Wie wir sind die Beschäftigten in Griechenland, Spanien, England, Portugal den gleichen Angriffen ausgesetzt; sie müssen sich ebenso wehren – auch wenn es uns noch nicht gelungen ist, unsere jeweiligen Regierungen und Arbeitgeber zum Nachgeben zu zwingen.
Aber jetzt sind immer noch Hunderttausende nicht bereit, diese Angriffe hinzunehmen; die Wut sitzt noch immer sehr tief; der Wille, sich dagegen zu wehren, ist weiterhin ungebrochen. Warum stehen wir jetzt da? Warum haben unsere Kampfbereitschaft und unsere Mobilisierung nicht ausgereicht, um die Arbeitgeber und den Staat zum Nachgeben zu zwingen.
Nur ein Massenstreik, der auf örtlicher Ebene organisiert und auf nationaler Ebene mit Hilfe von Streikkomitees, branchenübergreifenden Vollversammlungen koordiniert werden muss, und der es erforderlich macht, dass wir selbst über unsere Forderungen und Handlungen entscheiden und dabei die Kontrolle über die Bewegung bewahren, hat Aussicht auf Erfolg.
Die Führung des Kampfes in den Händen des branchenübergreifenden Zusammenschlusses der Gewerkschaften belassen…
Zu keinem Zeitpunkt hat der Gewerkschaftszusammenschluss versucht, diese Politik zu betreiben. Im Gegenteil: er hat zu zwei neuen Aktionstagen am 28. Oktober und 6. November aufgerufen, während denen im Streik befindlichen Branchen die Puste ausging. Die Streikbewegung auf einige Branchen und nur die Rentner zu begrenzen, hieß die Streikbewegung zu fesseln. Deshalb ist es uns nicht gelungen, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen.
Wir konnten nichts von jemandem wie Chérèque (CFDT) erwarten, der für die 42 Beitragsjahreregelung eintritt. Und der trügerische Radikalismus eines Maillys (Force Ouvrière, FO, eine weitere Gewerkschaft), welcher auf Demonstrationen Aubry die Hand schüttelt, während die PS selbst für die 42-Beitragsjahre stimmt, bietet sicherlich keinen anderen Weg. Und Solidaires/Sud-Rail schlug lediglich vor, der CGT zu folgen. Niemand von ihnen trat für die unabhängige Organisierung der Beschäftigten, für die Verteidigung unserer Interessen und dass wir zur Offensive übergehen müssen.
Sie sind an die Spitze der Kämpfe getreten und haben die Losung der verlängerbaren Streiks übernommen, um zu vermeiden, von der Bewegung überrollt zu werden. Ihnen lag nicht daran, die Regierung zum Nachgeben zu zwingen. Während der Bewegung versuchte der Gewerkschaftszusammenschluss nur als ein verantwortungsbewusster Gesprächspartner gegenüber der Regierung und den Arbeitgebern aufzutreten, um „der Stimme der Gewerkschaftsorganisationen Gehör zu verschaffen, damit eine Reihe von gerechten und wirksamen Maßnahmen ins Auge gefasst werden könne, die die nachhaltige Sicherung des Rentensystems ermöglichen. Deshalb soll eine lange öffentliche Debatte und eine wahre gesellschaftliche Konzertation stattfinden.“
Aber welchen Dialog kann der Gewerkschaftszusammenschluss mit dieser Regierung führen, die Anästhesie-Krankenpfleger oder Gymnasiasten verprügeln lässt, Beschäftigte der Raffinieren mit Waffengewalt verjagt und Roma und andere Illegale abschiebt? Ihnen geht es nur darum, die Sache im Interesse des Kapitals über die Bühne zu bringen, wie 2003, 2207 und 2009. Vor Jahren schon haben sie sich entschieden, mit den Arbeitgebern und dem Staat zusammenzuarbeiten, um die Krise gemeinsam zu managen.
Aber wir dürfen nicht zögern, das industrielle und finanzielle Privateigentum und den Großgrundbesitz infrage zu stellen. Wir dürfen nur auf unsere eigenen Kräfte bauen und sicher nicht auf die Linksparteien (PS, PCF, PG…), die nie das Privateigentum infrage gestellt haben und deren Konsorten gegenwärtig eine Offensive gegen die Beschäftigten in Spanien und Griechenland führen.
In diesem Kampf müssen die Beschäftigten für die Interessen aller Ausgebeuteten eintreten, auch die kleinen Bauern, die Fischer, kleinen Handwerker, die kleinen Händler eingeschlossen, die wegen der Krise des Kapitalismus in ihrer Existenz bedroht werden. Sagen wir es klar und deutlich: ob Arbeitslose, Beschäftigte, Prekär-Beschäftigte, Beschäftigte mit oder ohne Papiere, mit oder ohne Gewerkschaftskarte, egal welcher Nationalität, wir sind alle im gleichen Boot.
1. Siehe zum Beispiel den Bericht [194] eines unserer Leser, der die Prügelei der CRS in Lyon mitbekommen hat.
2. www.syndicalistesunitaires.org/Appel-a-une-rencontre [195]
3. Um mit ihnen Kontakt aufzunehmen, schreibt an: [email protected] [187]
Ganze Serien von Demonstrationen im ganzen Land, Streiks in Universitäten, Weiterbildung, in den gymnasialen Oberstufen und Realschulen, Besetzungen einer langen Reihe von Universitäten, zahllose Versammlungen, um den weiteren Weg zu diskutieren…. die Schüler- und Studentenrevolte gegen die Verteuerung der Studiengebühren und die Streichung der EMA-Zahlungen (EMA – Education Maintainance Allowance; etwa dem hiesigen BaFög vergleichbar) sind noch immer im Gange. Studenten und ihre Unterstützer kommen in Hochstimmung zu den Demonstrationen, fabrizieren ihre eigenen Transparente und Slogans. Einige unter ihnen protestieren zum ersten Mal, viele von ihnen finden neue Wege, die Proteste zu organisieren. Die Streiks, Demonstrationen und Besetzungen sind alles andere als lauwarme Ereignisse, wo sich die Gewerkschaften und die „offizielle“ Linke an die Spitze schwingen. Spontanes Verlassen des Unterrichts bzw. der Vorlesung, die Erstürmung des Hauptquartiers der Torys in Millbank, die Missachtung oder kreative Umgehung von Polizeiketten, das Eindringen in die Rathäuser und andere öffentliche Räume sind nur einige Ausdrücke dieses offen rebellischen Auftretens. Und die Empörung über die Verurteilung der Millbank-Demonstranten durch NUS-Chef Aaron Porter (NUS ist eine Art Dachverband der offiziellen Studentenvertretungen) war so breit, dass er kriecherisch Abbitte leisten musste. Dieser anschwellende, kaum zu kontrollierende Widerstand hat unsere Herrscher beunruhigt. Ein klares Anzeichen hierfür ist das Ausmaß der polizeilichen Repression, die gegen die Demonstrationen eingesetzt wurde. Am 24. November wurden Tausende von Demonstranten wenige Minuten, bevor sie sich vom Trafalgar Square entfernen wollten, von der Polizei eingekesselt; und trotz einiger erfolgreicher Versuche, die Polizeiketten zu durchbrechen, wurden Tausende von ihnen stundenlang in der Kälte festgehalten. An einem Punkt preschte berittene Polizei direkt durch die Menge. In Manchester, im Rathaus von Lewisham, und anderswo spielten sich ähnliche Szenen roher Gewalt ab. Die Zeitungen spielten ihre übliche Rolle, druckten Fotos angeblicher „Plünderer“ nach Millbank, verbreiteten Schauergeschichten über revolutionäre Gruppen, die es mit ihrer üblen Propaganda auf die Jugend der Nation abzielten. All dies zeigt den wahren Charakter der „Demokratie“, in der wir leben. Die Studentenrevolte in Großbritannien ist die beste Antwort auf die fixe Idee, dass die Arbeiterklasse in diesem Land im Begriff ist, die Sturzflut von Angriffen passiv hinzunehmen, die die neue Regierung (in Kontinuität mit der vorherigen Regierung) gegen jeden Aspekt unseres Lebensstandards - Jobs, Löhne, Gesundheit, Arbeitslosengeld, Invalidenrenten, Bildung – richtet. Sie sind eine Warnung an die Herrscher, dass eine ganze Generation der ausgebeuteten Klasse ihre Logik der Opfer und Sparpolitik nicht akzeptiert. In diesem Sinn ist ihr Widerstand ein Echo auf die massiven Kämpfe, die Griechenland, Frankreich und Italien erschüttern und die in Irland, Portugal und in vielen anderen Ländern zu explodieren drohen.
Doch die kapitalistische Klasse ist angesichts der schlimmsten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte nicht nur dabei, unsere Forderungen zu entkernen. Nicht die Ideologie, sondern die sehr materielle Logik ihres sterbenden Systems zwingt sie zu diesen Angriffen. Und um sie selbst zu den kurzlebigsten Zugeständnissen zu zwingen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was sie am meisten fürchten: eine Arbeiterklasse, die organisiert, vereint und sich dessen bewusst ist, wofür sie kämpft. Dies ist keine Utopie. Es nimmt bereits Gestalt vor unseren Augen an. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation zeigt sich in den Initiativen der Demonstranten auf den Straßen und in dem Beharren auf kollektive Entscheidungen in den Besetzungen und Versammlungen, in der Ablehnung der Manipulation durch Möchtegern-Bürokraten, die auch noch behaupten, „links“ zu sein. Die Tendenz zur Vereinigung der Arbeiterklasse wird ersichtlich, wenn Lehrer und Studienräte, Eltern, Rentner, ArbeiterInnen aus anderen Bereichen oder Arbeitslose an den Vollversammlungen in den besetzten Uni-Gebäuden teilnehmen oder sich den Studentendemos anschließen, wenn Studenten zu den Streikposten der streikenden U-Bahn-Beschäftigten gehen. Das Bewusstsein über die Ziele der Bewegung wird sowohl in der Formulierung klarer Forderungen für heute als auch in der wachsenden Erkenntnis deutlich, dass diese Gesellschaft uns keine menschliche Zukunft anbieten kann.
Doch wir müssen auch diskutieren, wie man diese Anstrengungen weiterbringen kann, befinden sie sich doch gerade erst am Anfang. Unserer Ansicht nach – die sich, wie wir meinen, auf der Erfahrung sowohl aus der Vergangenheit als auch aus den gegenwärtigen Kämpfen der Arbeiterklasse stützt – gibt es einige konkrete Schritte, die man jetzt machen könnte, selbst wenn ihre exakte Form von Ort zu Ort variieren kann:
David Cameron will uns weismachen: Wir sitzen alle in einem Boot. Nun, er sitzt sicherlich zusammen mit seiner Klasse und deren Staat und Parteien, die die Labour-Partei genauso wie die Liberaldemokraten und die Tories beinhalten, in diesem Boot. Alle von ihnen sitzen da drin, um das kapitalistische System auf unsere Kosten zu retten. Wir dagegen sitzen mit all jenen in einem Boot, die von diesem System ausgebeutet und unterdrückt werden, in jedem Land auf dieser Welt. Heute wehren wir uns dagegen, noch mehr ausgebeutet zu werden. Morgen werden wir gemeinsam der Ausbeutung selbst ein Ende bereiten.
IKS, 2.12.2010
„Frankreich ist nicht gefährdet“, meint die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde. „Frankreich gehört nicht der gleichen Kategorie an wie Irland oder Portugal“, behauptet man im französischen Präsidentenpalast.
Uff, nun können wir endlich aufatmen... Einen Augenblick lang hatten wir den schmerzhaften Eindruck, dass der Kapitalismus völlig in einer schrecklichen weltweiten Wirtschaftskrise versank, dass sich in allen Ländern überall Verelendung ausbreitete wie seinerzeit die Pest, dass niemand von uns ArbeiterInnen verschont bleiben würde…, aber wenn die Autoritäten uns versichern, dass diese Geißel vor unseren Landesgrenzen Halt machen wird, dann können wir beruhigt sein…
Nach Griechenland im Mai war als nächstes Irland dran. Ende November verlor der keltische Tiger seine Krallen, seine Zähne und seinen Schwanz. Krach, Zusammenbruch, Bankrott!
Dabei wurde Irland während der letzten 20 Jahre immer wieder als Musterbeispiel zitiert. Sein Wachstum galt als „atemberaubend“, ähnlich wie das der asiatischen Tiger während der 1980-90er Jahre. Daher sein Name „keltischer Tiger“. Ein wahres kleines Musterbeispiel für alle Regierungen auf der Welt. Aber genauso wie bei all seinen Vettern im Osten war auch das Wachstum des keltischen Tigers durch Verschuldung finanziert.
Und genauso wie bei seinen asiatischen Vettern, die 1997 eine Bauchlandung gemacht haben, hat sich das Wunder als ein Schein erwiesen. Der Staat, die Banken, die Unternehmen, die Haushalte werden alle von einem Schuldenberg erdrückt. Arbeiterhaushalte tragen im Durchschnitt eine Verschuldung von 190%. 2010 waren die irischen Banken insgesamt mit 1342 Milliarden verschuldet (d.h. achtmal mehr als das BIP), 2009 betrug der Schuldenberg noch 164 Milliarden Euro. Aber die Außenstände der Banken haben infolge der Wirtschaftskrise und dem Platzen der Immobilienblase einen Großteil ihres Wertes verloren. Deshalb stehen die irischen Banken heute am Rande des Abgrunds. Eine Vielzahl von Krediten, die sie ausbezahlt haben, werden nicht zurückbezahlt werden. Die größte irische Bank, die Anglo Irish Bank, hat 2009 zum Beispiel 12,9 Milliarden Euro verloren und fast genauso viel allein schon im ersten Halbjahr 2010.
Gegenüber der Gefahr einer Welle von Bankrotten hat der irische Staat schon 46 Milliarden Euro in die Banken gepumpt, aber das hat das Defizit des Staatshaushalts auf 32% des PIB anschwellen lassen (dabei sehen die Maastrichter Kriterien eine Höchstgrenze von 3% vor). Und nun ist der irische Staat selbst ins Wanken geraten.
Diese katastrophale wirtschaftliche Entwicklung hat die EU-Staaten dazu gezwungen, dem Kranken zur Hilfe zu eilen. 85 Milliarden Euro Hilfe wurden locker gemacht. Das heilt sicher nicht, aber es hilft Zeit zu gewinnen, die Agonie zu verlängern.
Bei dieser ganzen Sache können sich die Herrschenden in Irland sicher nur damit trösten, dass sie nicht die einzigen sind, die ins Straucheln geraten sind. Portugal liegt ganz, ganz dicht dahinter. „Portugal müsste der nächste auf der Liste sein. Ich weiß nicht, ob dies vor Weihnachten der Fall sein wird, aber nächstes Jahr wird das unvermeidbar geschehen“, meine Filipe Garcia, portugiesischer Finanzberater im Ministerium Informação de Mercados Financeiros. Auch hier drohen die Schulden die Wirtschaft zu erwürgen. Und die Erklärungen der herrschenden Klasse in Portugal werden daran nichts ändern. Die öffentliche Verschuldung wächst weiter stark an und müsste Ende 2010 ca. 82% des BIP erreichen.
Aber José Socrates, dem portugiesischen Premierminister zufolge, brauchen sich die ArbeiterInnen keine Sorgen zu machen. „Zwischen Portugal und Irland gibt es keinen Vergleich“. Aber wenn jemand Zweifel haben sollte an der Ehrlichkeit der großen Führer unseres Planeten, können wir die Reise in andere krisengeschüttelte Länder fortsetzen.
Wenn der Angstschweiß über die Schläfen der Führer Europas läuft, dann ist das nicht wegen Irland und Portugal, sondern wegen Spanien. „Spanien ist zu groß um zusammenzubrechen, und zu groß um wieder hochgepumpt zu werden“, resümierte der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini, der einer der am höchsten angesehenen Ökonomen geworden ist, nachdem er der erste Ökonom war, der 2007 die anstehende Beschleunigung der Wirtschaftskrise voraussagte.
Dem IWF zufolge “leidet” ein Großteil der spanischen Banken (mehr als 50 Institute) an der Explosion der Immobilienblase. „Ein Zusammenbruch des Bankensystems kann nicht ausgeschlossen werden“. Wenn diese große internationale bürgerliche Institution, zu deren Rolle es gehört, die möglichst optimistischsten Perspektiven aufzuzeigen, anfängt, solche Euphemismen zu verwenden, „man kann nicht ausschließen, dass…“ bedeutet dies, dass das Schlimmste nicht mehr zu vermeiden ist.
Der Haken ist, dass die iberische Halbinsel ca. 10% des europäischen BSP ausmacht. Die Rettung Spaniens im Falle einer Zahlungsunfähigkeit würde ca. 800 Milliarden Euro kosten, d.h. 10 mal mehr als die Griechenlandhilfe. Es liegt auf der Hand, dass solch ein Debakel ein riesiges Beben des Euro verursachen würde.
Aber auch hier sollte man keine Angst haben, denn die Autoritäten behaupten frech, sie hätten alles unter Kontrolle. Zum Beweis, der Chef der sozialistischen Regierung Spaniens José Luis Rodriguez Zapatero hat die Möglichkeit eines finanziellen Rettungsplanes wie in Irland oder Griechenland „völlig“ ausgeschlossen. Ist das überzeugend? Nein, diese Betonung, dass man doch „alles im Griff“ habe, ist ziemlich besorgniserregend.
Und die Liste der strauchelnden Länder ist lang.
Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien, dieser Fünferclub ist keine Überraschung, denn seit zwei Jahren warnen die Ökonomen davor, dass diese Staaten abstürzen können. Die Bezeichnung dieser Staaten PIIGS ist ein Label für „bankrotte Staaten“ geworden. Aber heute sind auch andere Staaten des Euro-Bereichs offen von Zahlungsunfähigkeit bedroht.
Während Zweifel an der Solidität der Niederlande langsam wachsen, rückt Belgien immer mehr ins Visier. Dem britischen The Guardian zufolge ist das Land eines der nächsten Kandidaten für die größten Erschütterungen.
Und wo steht Frankreich, diese “nicht gefährdete” Nation, wirklich? Wie so oft erfolgt der schlimmste Streich oft ungewollt von denjenigen, die alles am heftigsten abstreiten und beruhigen wollen. Der Präsident der Ratingagentur Standard & Poor’s, Deven Sharma, meinte, „Gegenwärtig verdient Frankreich seine Einstufung als AAA“ [1]. Man schaue genau hin: „gegenwärtig“. Und dann kommt der Gnadenstoß: „Andere Länder werden vor Frankreich herabgestuft werden“. Und Nouriel Roubini schrieb: „In gewisser Hinsicht steht Frankreich nicht viel besser da als viele Länder der Peripherie“; [2], solche Aussagen sind nicht weniger deutlich.
Diese tiefgreifenden ökonomischen Schwierigkeiten des französischen Staates werden schon daran ersichtlich, dass er Schwierigkeiten hat, die Gehälter für seine Beamten und unter Zeitvertrag arbeitenden Beschäftigten zu zahlen. Acht Ministerien (darunter das Erziehungsministerium) waren gezwungen, Anleihen aufzunehmen, um die Dezembergehälter auszuzahlen. Und Tausende prekär Beschäftigte (CCD), deren Vertrag ausläuft, haben schon seit dem Frühjahr 2010 noch nicht ihre Sonderleistungen (10% ihres Lohns) erhalten.
Bleibt DER Stützpfeiler der Eurozone, Deutschland. Mit ca. 3% Wachstum und einer relativ begrenzten Staatsverschuldung scheint Deutschland das einzige Land zu sein, das der Krise einigermaßen standhalten kann. Das zumindest behaupten die Experten…. Aber wenn man näher hinschaut, erkennt man, dass die Grundlagen ebenso morsch sind. Nach Irland ist Deutschland das Land, das nach 2008 das meiste Geld in seine in Schwierigkeiten geratene Banken gesteckt hat: 180,94 Milliarden Euro. Die Financial Times schätzte im September, dass nicht das portugiesische oder spanische Bankensystem das am meisten gefährdete ist, sondern das deutsche. „Insgesamt gesehen ist es fast zahlungsunfähig, und die Regierung muss sich entscheiden, mehrere Institute zu opfern, sonst werden die Probleme noch größer werden“, liest man in der berühmten britischen Tagesszeitung. Der Einsturz des irischen Bankengebäudes hat alles nur noch verschlimmert, da deutsche Banken Anleihen im Wert von 205 Milliarden Euro an irische Banken vergeben haben, ein Rekord innerhalb der Euro-Zone. Zudem hängt der Industrieapparat völlig vom Export ab, der aber in Anbetracht der weltwirtschaftlichen Entwicklung in den nächsten Monaten und Jahren schrumpfen wird.
Kurzum, die gesamte Europäische Union steckt in der Klemme. Selbst Bundeskanzlerin Merkel musste eingestehen, dass die Eurozone in einer „sehr gefährlichen Lage steckt“. Zusammen mit Frankreich hat man angefangen, Hilfsmittel anzukündigen, die die offizielle Zahlungsunfähigkeit europäischer Staaten ermöglichen sollen, mit dem Ziel „die Verschuldung umzustrukturieren“. Angel Merkel hat sofort hinzugefügt, „Heute steckt kein Staat in solch einer Lage“. „Heute“ noch nicht, aber was wird morgen sein?
Und außerhalb der Euro-Zone sieht es auch nicht besser aus.
In Großbritannien beträgt die öffentliche Verschuldung ca. 100%, mehr als der Durchschnitt der europäischen Nachbarn. Und die verschiedenen Sparprogramme, die angeblich den Schuldenberg reduzieren sollen, werden daran auch nichts ändern.
Japan steckt seit mehr als einem Jahrzehnt in einer Rezession, die jüngsten Zahlen zeugen von einer Verschlimmerung der Lage. Die öffentliche Verschuldung bewegt sich auf die 200% zu.
Die erste Großmacht, die USA, ist sicherlich am stärksten betroffen. Eine Zahl ist besonders aussagekräftig: die Arbeitslosigkeit beträgt 22% (in den Zeiten der Großen Depression der 1930er Jahre betrug sie ca. 25%). Das bedeutet, dass 33 Millionen US-Bürger heute ohne Arbeit dastehen.
Glücklicherweise haben die Ökonomen dann doch noch einen Hoffnungsschimmer – er heißt China. China, das ist wie das Japan der 1970er, 1980er Jahre, wie die asiatischen Tiger der 1980er, 1990er Jahre, wie Island und Irland der 2000er Jahre – eine unglaubliche Dynamik, ein atemberaubendes Wachstum, ein Paradies für die Golden Boys, ein Eldorado für junge Investoren… mit einem Wort, eine Blase, die genauso platzen wird wie die anderen! Aber der „chinesische Boom“ erscheint dann in einem anderen Licht.
Die ersten Anzeichen dieser unvermeidbaren Entwicklung sind schon erkennbar. Das Reich der Mitte sitzt auf einer gewaltigen Immobilienblase, die sich immer mehr aufgebläht hat. Die Inflation ist dabei, zu einer galoppierenden zu werden; offiziell beträgt sie 4.4%, in wirklich ist sie mindestens doppelt so hoch. Die Spannungen zwischen der chinesischen Währung und dem Dollar werden immer stärker. Das Wachstum hat auch schon nachgelassen.
Die asiatischen Tiger mit China zu vergleichen sei irreführend, antworten die Skeptiker. Das stimmt, der Absturz wird viel folgenreicher sein.
“Von einem Land zum anderen unterscheiden sich die Heilmittel, um nicht zu sagen, sie stehen gar im Gegensatz zueinander, jedoch sie sind alle wirkungslos. Die Regierungen haben alle möglichen Kombinationen versucht – Eingreifen der Zentralbanken und Konjunkturankurbelungsprogramme, drastische Sparmaßnahmen. […] Ein Zeitraum geht seinem Ende entgegen, als es leicht war, Kredite aufzutreiben, sowohl für die Privathaushalte als auch für die Staaten. All das trieb ein Wachstum an, über das man sich keine Gedanken machte, auf welchen Grundlagen es fußte, dermaßen leicht kam dieses Wachstum zustande“ (François Leclerc, französischer Ökonom).
Der Kapitalismus hat auf Pump gelebt. Und dieser Zeitraum geht jetzt seinem Ende entgegen.
Seit den 1960er Jahren hat dieses System in der Tat durch die Vergabe von immer größeren Kreditmengen überlebt. Da die Löhne der ArbeiterInnen nicht ausreichen, um all die produzierten Waren zu kaufen, ist der Weltmarkt übersättigt. Um nicht durch die Überproduktion gelähmt zu werden, um die produzierten Waren abzusetzen, hat der Kapitalismus bei jeder Krise jedesmal größere Kreditmengen in die Wirtschaft pumpen müssen: 1967, 1973, 1986, 1993, 1997, 2001, 2007…
Nach Jahrzehnten der Flucht nach vorne war die Folge unausweichlich: die Haushalte, die Unternehmen, die Banken, die Staaten – sie alle versinken bis zum Hals in den Schulden und drohen daran zu ersticken.
Heute gibt es keine gute Lösung mehr für den Kapitalismus. Die Notenpresse der USA, Japans oder Großbritanniens, die europäischen Sparprogramme, die chinesischen Täuschungsversuche mit ihrer Währung… all diese Staaten schlagen unterschiedliche Wege ein, aber sie alle bewegen sich auf den gleichen Abgrund zu.
Heute sieht man zwei Symbole dieses totalen Mangels an Perspektive für die kapitalistische Wirtschaft: den wachsenden Protektionismus und den Währungskrieg.
Seit dem Crash von 1929 und der Großen Depression der 1930er Jahre hatten alle Staaten eine Hauptlehre gezogen: der Protektionismus ruft ein unbeschreibliches weltweites Chaos hervor. Und seitdem hatte man jahrelang diese Lehre respektiert. Heute prallen alle Großmächte wirtschaftlich aufeinander, und sie sind zu allem bereit. Und trotzdem hat Merkel auf dem jüngsten G20 Gipfel in Seoul von allen eine Verpflichtung gefordert: „Wir müssen alles unternehmen, um den Protektionismus zu vermeiden“. Wenn sie dieses „eherne Gesetz“ in Erinnerung gerufen hat, tat sie dies, weil der internationale Druck zur Begrenzung der deutschen und chinesischen Ausführungen zunimmt, vor allem seitens der USA.
“Exportieren oder sterben” wird erneut zum wirtschaftlichen Schlachtruf aller konkurrierenden nationalen Bourgeoisien.
Seit Monaten steht der Währungskrieg im Mittelpunkt der Medien. Worum geht es? Auf dem Währungsmarkt prallen eigentlich nicht nur die Devisen aufeinander, wie man es uns glauben machen will, sondern die Staaten selbst. Ein Beispiel: Durch die Ankurbelung der Notenpresse und durch das Hineinpumpen von unglaublichen Mengen Dollars in die Wirtschaft, um diese künstlich hochzuhalten, untergraben die USA selbst den Wert ihrer Währung. Auch hilft es ihren Exportanstrengungen. Aber die Länder, die über gewaltige Dollar-Devisenreserven verfügen, wie China, müssen mit ansehen, wie ihre Reserven dahin schmelzen wie Schnee unter der Sonne. Das englische Pfund, der chinesische Yuan, der japanische Yen sowie der Euro – all diese Devisen werden ebenso als Waffen von den Staaten eingesetzt, um die Binnennachfrage anzukurbeln und zu versuchen, die Exporte zu steigern. Aber ein solcher Währungskrieg beinhaltet auch gewaltige Risiken einer unkontrollierbaren internationalen Destabilisierung: massive Abwertungen, galoppierende Inflation, Auseinanderbrechen des Euros…. Bankrotte von Banken, Sparkassen, Multis, ganzer Regionen oder gar Staaten, Platzen der chinesischen Blase, zunehmender Protektionismus, Ende des Euros, massive Abwertung des Dollars oder des britischen Pfunds... niemand weiß, wann und wo sich welcher Riss zuerst auftun wird. Eins aber ist sicher: in der Zukunft werden wir gewaltige ökonomische Beben mit großen Schäden erleben. Der Kapitalismus ist ein todgeweihtes System. Schritt für Schritt treibt er die Menschheit unaufhörlich in den Abgrund der Misere und des Krieges.
Heute wie damals rufen die Regierungen aller Länder, egal in welcher politischen Konstellation sie regieren, ob Rechts oder Links, die ArbeiterInnen dazu auf, „den Gürtel enger zu schnallen“, „Opfer hinzunehmen“ für die „Wiederankurbelung der Wirtschaft und das Wachstum“. Das sind alles Lügen! Die Opfer von heute bereiten nur noch mehr Opfer von morgen vor.
Nur der Klassenkampf kann diese Angriffe verlangsamen. Und nur die internationale proletarische Revolution kann diese Qual überwinden, unter der ein immer größerer Teil der Menschheit durch dieses Ausbeutungssystem leidet. Pawel, 9.12.2010
(Aus Révolution Internationale, Zeitung der Internationalen Kommunistischen Strömung in Frankreich)
1.) Die Einstufung AAA ist die höchst mögliche; sie bedeutet, dass die Agentur davon ausgeht, dass die Volkswirtschaft solide ist.
2.) D.h. die PIIGS.
Am ersten Samstag nach der Ankündigung am 23. Oktober der Überprüfung der Haushaltsausgaben des Staates haben überall in Großbritannien Proteste gegen die Kürzungen stattgefunden, zu denen von den Gewerkschaften aufgerufen wurde. Die Zahl der Teilnehmer reichte von 300 in Cardiff, 15.000 in Belfast bis 25.000 in Edinburgh. Diese Proteste zeigen, dass die Arbeiter in Großbritannien wie in Frankreich sehr wütend sind über diese Maßnahmen.
Aber die gewerkschaftlich organisierten Demonstrationen stellen keinen wirkungsvollen Rahmen für den Abwehrkampf gegen die Kürzungen und Stellenstreichungen dar, im Gegenteil. Deshalb haben wir den Aufruf „an alle Anarchisten und militante Arbeiter, sich uns zur Bildung eines „radikalen Arbeiterblocks“ (1 [204]) bei den Demonstrationen anzuschließen, unterstützt. Dabei geht es nicht darum, die Gewerkschaftsbürokraten zu bitten, Maßnahmen zu ergreifen, sondern aufzuzeigen, dass wir gegen die Kürzungen kämpfen und uns dabei auf die Prinzipien der Solidarität, der direkten Aktion und der Kontrolle unserer eigenen Kämpfe stützen.“ Dies geht aus der Erklärung der SF-IWA2 [205] in Süd-London hervor (siehe dazu die Webseite www.libcom.org [206]).
Das Problem bei der Herangehensweise der Gewerkschaften und ihrer Anhänger besteht darin, dass sie die ganze Frage konzentrieren auf die „Kürzungen durch die Konservativen“, die die Defizite zugunsten der Einkommen der Banker und der Finanzspekulation kürzen wollen, obwohl all dies nur Symptome der Krise des Kapitalismus sind. Die Haushaltskürzungen entsprächen demnach nur einer gewissen politischen Option, die von einer „Regierung der Millionäre“ (Flugblatt der SP) getroffen werde, obwohl die „Regierung die Reichen hätte besteuern sollen“ (Karen Reissman, Gewerkschaftsaktivistin im Gesundheitswesen und Mitglied der SWP 3 [207] in einem Redebeitrag auf den Manchester Protesten). Diese professionellen Lügner wissen nur zu genau, dass in Wirklichkeit bis vor sechs Monaten die von der Labour-Partei geführte Regierung, an der auch Abgeordneten aus den Reihen der Gewerkschaften beteiligt waren, die gleichen Kürzungen und Opfer verlangten. Die auf der Londoner Demonstration verteilten Flugblätter erinnerten sogar daran, aber nur mit dem Ziel, uns für die gleichen alten gewerkschaftlichen Orientierungen oder einen alternativen Wahlblock einzuspannen (z.B. die TUSC4 [208]).
Nach all den radikalen Reden über gemeinsame Aktionen im Gewerkschaftsdachverband TUC5 [209] in diesem Jahr hat sich die Kampagne gegen die Haushaltskürzungen auf eine für Ende März 2011 vorgesehene Demonstration fokussiert. So lautet Botschaft: „Wir müssen den TUC und die Gewerkschaftsführer mit Aufrufen, jetzt zu handeln, bombardieren“ (so die NSSN6 [210]), („Drängen wir die Gewerkschaftsführer dazu, zu lokalen und landesweiten Streiks aufzurufen“ (Socialist Worker 7 [211] online). Wenn wir all diese „Bombardierungen“, diese Forderungen und den Druck auf die Gewerkschaften und die Gewerkschaftsführer ausüben sollen, steht doch die Frage im Raum, warum wir diese Leute eigentlich noch brauchen. Denn schließlich haben sich viele Arbeiter ohne irgendeine Unterstützung durch Gewerkschaften in China und Bangladesch in Bewegung gesetzt. Auch die Beschäftigten von Vestas auf der Isle of Wight haben den Betrieb besetzt, ohne irgendeiner Gewerkschaft anzugehören.
In Wirklichkeit sind die Gewerkschaften nicht nur unnütz für die Organisierung der Kämpfe. Es geht nicht einfach um eine Frage deren „Lethargie“, wie im Flugblatt der SF-IWA aus Süd-London steht. Nein, sie spalten uns absichtlich und bewusst. So haben sie zum Beispiel bei British Airways die Flugbegleiter/Innen und die Beschäftigten der British Airports Authority auseinanderdividiert, obwohl sie zum gleichen Zeitpunkt im Kampf standen. Die Demo in London war ein weiteres Beispiel für das Vorgehen der Gewerkschaften. Nachdem die Gewerkschaften RMT, FBU und UCU nach endlosen Streitereien untereinander dazu aufgerufen hatten, kamen zu der Londoner Demo nur ca. 2000 Teilnehmer, weniger als ein Zehntel der Teilnehmerzahl in Edinburgh. Es liegt auf der Hand, dass die Gewerkschaften ihre Leute nicht mobilisiert haben, aus Angst, dass die Betroffenen auf der Straße zusammenkommen und sich zusammen schließen könnten. Dies steckt hinter dem Aufruf von Bob Crow8 [212] an die Gewerkschaften des TUC, damit diese schnell handeln, um Massenaktionen gegen die Haushaltskürzungen zu organisieren. Damit sollte in Wirklichkeit verhindert werden, dass die Arbeiter ihren Kampf in die eigenen Hände nehmen.
Der Radikale Arbeiterblock hat ungefähr 50-100 Leute angezogen, so die Schätzungen auf der Webseite www.libcom.org [206]. Dies zeigt, dass eine Minderheit der Arbeiterklasse die Gewerkschaften infrage stellt, obwohl die Gewerkschaften noch über einen großen Einfluss verfügen. Die Leute vom Radikalen Arbeiterblock haben sich bemüht, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, indem sie Megaphone, Flugblätter und die Presse einsetzten, auch wenn dies schwierig war, weil es eine Vielzahl von konkurrierenden gewerkschaftlichen, trotzkistischen und „gegen-die-Kürzungen-Gruppen“ gab. Am Ende der Kundgebung hat eines unserer Mitglieder mit jemandem von der Anarchistischen Föderation (AF9 [213]) gesprochen, um in Erfahrung zu bringen, ob die Bereitschaft besteht, dass der Block versuchen sollte, seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Man beschloss, dies das nächste Mal zu versuchen. Das nächste Mal sollten wir uns auch auf das Beispiel aus Frankreich stützen, wo internationalistische Anarchisten und Linkskommunisten gemeinsam zu Versammlungen nach den Demonstrationen aufgerufen haben, wo man nicht passiv den Reden der Gewerkschafter zuhört, sondern wo dann über die Ziele und Methoden des Kampfes diskutiert werden sollte. Wie die SF-IWA schrieb: „Wir können unser Vertrauen nur auf unsere Solidarität und unsere Fähigkeit stützen, uns selbst zu organisieren“. World Revolution, Organ der IKS in Großbritannien, Nr. 339, November 2010.
1 [214] Radical Workers’ Block,
2 [215] Solidarity Federation - International Workers Association (SF-IWA ou SolFed) ist die Sektion der anarcho-syndikalistischen AIT in GB.
3 [216] Socialist Party (SP) und Socialist Workers Party (SWP) sind trotzkistische Organisationen.
4 [217] Die Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC) ist ein Wahlbündnis, in dem sich hauptsächlich trotzkistische Organisationen zusammengeschlossen haben (darunter die SP und die SWP) und Gewerkschafter.
5 [218] Der Trades Union Congress (TUC) ist ein Gewerkschaftsverband, dem die misten britischen Gewerkschaften angehören.
6 [219] National Shop Stewards Network (NSSN) ist ein nationals Netzwerk, dem radikale Delegierte aus verschiedenen Gewerkschaft angehören.
7 [220] Socialist Worker ist die Wochenzeitung der SWP.
8 [221] Bob Crow ist der Generalsekretär der Gewerkschaft RMT und ist Mitglied des Generalrates des TUC
9 [222] Die Anarchist Federation (AF) ist eine anarchistische Organisation in GB, Mitglied der Internationalen Anarchistischen Föderation.
Links
[1] https://de.internationalism.org/files/de/images/2010TekelTurkey.jpg
[2] https://www.cnnturk.com/2009/turkiye/12/05/erdogana.tekel.iscilerinden.protesto/554272.0/
[3] https://www.evrensel.net/haber.php?haber_id=63999
[4] https://www.kizilbayrak.net/sinif-hareketi/haber/arsiv/2009/12/30/select/roeportaj/artikel/136/direnisteki-tek.html
[5] https://tr.internationalism.org/ekaonline-2000s/ekaonline-2009/tekel-iscisinden-seker-iscisine-mektup
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/6/555/klassenkampf-t-rkei
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/6/556/streiks-t-rkei
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/tekel-streik
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/2/29/proletarischer-kampf
[10] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/selbstmord
[11] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/depression
[12] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/konflikt-usa-iran
[13] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krieg-somalia
[14] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/jemen
[15] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/repression-serbien
[16] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/internationalismus-serbien
[17] https://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/gefaehrdete-duesenflugzeuge-aufklaerung-von-air-france-absturz-offenbart-gefaehrliche-sicherheitsluecke-a-679180.html
[18] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/eisenbahnunfall-belgien
[19] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/u-bahn-skandal-koln
[20] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/flugzeugabsturz
[21] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sicherheitsstandards-im-kapitalismus
[22] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftskrise
[23] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/griechenland
[24] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/spanien
[25] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krise-portugal
[26] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/staatsbankrott
[27] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/reunions_publiques_a_marseille_lyon_et_grenoble_harcelement_pressions_au_travail_comment_y_resister.html#sdfootnote1anc
[28] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeitsstress
[29] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/mobbing
[30] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeitsdruck
[31] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1905-revolution-russland
[32] https://de.internationalism.org/en/tag/theoretische-fragen/arbeiterklasse
[33] https://de.internationalism.org/en/tag/2/30/die-gewerkschaftsfrage
[34] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/proletarische-militarische-disziplin
[35] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/rolle-von-genies
[36] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/partei-kollektives-leben
[37] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/bewusstseinsentwicklung
[38] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/bordiga
[39] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/vercesi
[40] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/bordigismus
[41] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/grundung-der-ikp
[42] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/partito-comunista-internazionalista
[43] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke
[44] https://de.internationalism.org/en/tag/3/48/partei-und-fraktion
[45] https://fr.internationalism.org/rint140/l_automne_chaud_1969_en_italie_un_moment_de_la_reprise_historique_de_la_lutte_de_classe.html
[46] https://fr.internationalism.org/rint133/mai_68_et_la_perspective_revolutionnaire_le_mouvement_etudiant_dans_le_monde_dans_les_annees_1960.html
[47] https://fr.internationalism.org/node/3483
[48] https://fr.internationalism.org/rinte28/est.htm
[49] https://fr.internationalism.org/french/rint/109_argentina.html
[50] https://fr.internationalism.org/french/rint/114_pol_imp_US.html
[51] https://fr.internationalism.org/ri384/che_guevara_mythe_et_realite.html
[52] https://fr.internationalism.org/ri388/quelques_commentaires_sur_une_apologie_d_ernesto_che_guevara_a_propos_d_un_livre_de_besancenot.html
[53] https://fr.internationalism.org/rinte110/conflits.htm
[54] https://fr.internationalism.org/rinte115/mo.htm
[55] https://fr.internationalism.org/french/rint/117_conflits.htm
[56] https://fr.internationalism.org/french/rint/118_notes_MO.htm
[57] https://fr.internationalism.org/ri381/affrontements_hamas_fatah_la_bourgeoisie_palestinienne_est_aussi_sanguinaire_que_les_autres.html
[58] https://fr.internationalism.org/ri371/maoisme.htm
[59] https://fr.internationalism.org/rinte81/chine.htm
[60] https://fr.internationalism.org/rinte84/chine.htm
[61] https://indicius.it/
[62] https://deriveapprodi.com/
[63] http://www.libertaegiustizia.it/primopiano/pp_leggi_articolo.php?id=2803&id_titoli_primo_piano=1
[64] https://attac-italia.org/
[65] https://www.massimo.delmese.net/2189/9-aprile-1969-9-aprile-2009-a-40-anni-dai-moti-di-battipaglia/
[66] https://www.twotbsp.com/
[67] https://static.repubblica.it/milano/autunnocaldo/
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[69] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/negri
[70] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/operaismus
[71] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/mai-1968-frankreich
[72] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/heisser-herbst-italien
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[74] https://de.internationalism.org/en/tag/6/554/tekel-arbeitskampf
[75] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/turk
[76] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/turkische-gewerkschaften
[77] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/1-mai-turkei
[78] https://www.fau.org/artikel/art_100616-001822
[79] https://karakok.wordpress.com/
[80] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/tekel-streik-turkei
[81] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/fussballweltmeisterschaft-nationalismus
[82] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/gewalt-fussball
[83] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wm-sudafrika-nationalismus
[84] https://fr.internationalism.org/ri413/en_coree_les_grandes_puissances_jouent_avec_le_feu_autour_d_un_baril_de_poudre.html#sdfootnote1sym
[85] https://fr.internationalism.org/ri413/en_coree_les_grandes_puissances_jouent_avec_le_feu_autour_d_un_baril_de_poudre.html#sdfootnote1anc
[86] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/konflikt-nord-sudkorea
[87] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/cheonun
[88] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/nordkorea-atomwaffen
[89] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/koreakrieg
[90] https://libcom.org/article/china-unrest-spreads-honda-workers-keep-striking
[91] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/streiks-arbeiterkampfe-china
[92] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/honda-streik-china
[93] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/kumlu
[94] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/turkel
[95] https://www.afrika.info/
[96] http://www.counterpunch.org/watts08122009.html
[97] https://www.3sat.de/page/?source=/boerse/magazin/94491/index.html
[98] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/olpest-golf-von-mexiko
[99] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/olpest-nigeria
[100] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/shell-afrika
[101] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/nigerdelta
[102] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/biafra-krieg
[103] mailto:[email protected]
[104] https://esparevol.foroactivo.com/
[105] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/klassenkampf-spanien
[106] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/solidaritat-klassenkampf
[107] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/diskussionen-kontakte-arbeiter
[108] https://de.internationalism.org/files/de/Griechenland_Flugblatt.pdf
[109] https://world.internationalism.org
[110] mailto:[email protected]
[111] mailto:[email protected]
[112] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sparprogramme-und-kampfe-dagegen
[113] https://de.internationalism.org/en/tag/3/49/politische-konomie
[114] https://www.welt.de/politik/deutschland/article8347558/Bundeswehr-soll-9-3-Milliarden-Euro-einsparen.html
[115] https://www.dailymail.co.uk/home/search.html?s=y&authornamef=Daily+Mail+Reporter
[116] https://www.dailymail.co.uk/news/article-1216015/More-British-soldiers-prison-serving-Afghanistan-shock-study-finds.html#ixzz0t4GPn9Fp
[117] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/abrustung
[118] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/umrustung
[119] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/posttraumatische-belastungsstorungen
[120] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/soldaten-traumata
[121] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sipri
[122] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/tote-love-parade
[123] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/love-parade-duisburg
[124] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/staat-love-parade
[125] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sicherheit-love-parade
[126] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/proletarische-stromungen
[127] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/internationalistischer-anarchismus
[128] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/internationalisten-und-ihre-zusammenarbeit-im-kampf-gegen-den
[129] https://de.internationalism.org/en/tag/3/44/internationalismus
[130] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kommunistische-linke-und-internationalismus
[131] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/ausserhalb-der-kommunistischen-linken
[132] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/kriterien-zur-kommunistischen-linken
[133] https://de.internationalism.org/en/tag/2/36/angebliche-arbeiterparteien
[134] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/vollversammlungen
[135] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/rentenreform-frankreich
[136] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kampfe-frankreich
[137] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/generationenfrage
[138] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/polizeiliche-repression
[139] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/randalierer-frankreich
[140] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote2sym
[141] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote3sym
[142] mailto:[email protected]
[143] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote4sym
[144] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote1anc
[145] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote2anc
[146] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote3anc
[147] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html#sdfootnote4anc
[148] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/cnt-ait
[149] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/streiks-frankreich
[150] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote2sym
[151] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote3sym
[152] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote4sym
[153] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote5sym
[154] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote6sym
[155] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote7sym
[156] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote8sym
[157] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote9sym
[158] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote10sym
[159] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote11sym
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[162] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote2anc
[163] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote3anc
[164] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote4anc
[165] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote5anc
[166] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote6anc
[167] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote7anc
[168] https://fr.internationalism.org/rinte102/anar.htm
[169] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote8anc
[170] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote9anc
[171] https://fr.internationalism.org/ri321/anarchisme.htm
[172] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote10anc
[173] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote11anc
[174] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote12anc
[175] https://fr.internationalism.org/ri416/quel_etat_d_esprit_doit_animer_le_debat_gauche_communiste_anarchisme_internationaliste_3.html#sdfootnote13anc
[176] https://fr.internationalism.org/node/4368#sdfootnote1sym
[177] https://fr.internationalism.org/node/4368#sdfootnote1anc
[178] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/umweltzerstorung
[179] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftskrise-2010
[180] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wahrungskrieg
[181] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/lotta-comunista
[182] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/internationalismus-2-weltkrieg
[183] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/verbrechen-wehrmacht
[184] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/rosa-luxemburg
[185] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/tolstoi
[186] https://de.internationalism.org/files/de/europaweiter_aufruf.pdf
[187] mailto:[email protected]
[188] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/aufruf-vollversammlung-pariser-ostbahnhof
[189] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/aufruf-die-arbeiter-europas
[190] https://www.dailymail.co.uk/news/article-1331892/Tuition-fee-militants-picket-school-gates.html#ixzz16OoPiMUH
[191] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/studentproteste-england
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[193] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/breve_chronologie_des_evenements_de_la_lutte_contre_la_reforme_des_retraites.html
[194] https://fr.internationalism.org/content/4379/temoignage-repression-lors-manifestation-du-19-octobre-2010-a-lyon
[195] http://www.syndicalistesunitaires.org/Appel-a-une-rencontre
[196] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/pariser-ostbahnhof-versammlung
[197] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/grossbritannien-aufruhr-universitaten-2
[198] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/hochschulen-und-schulen-1
[199] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/portugal
[200] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/staatsbankrotte
[201] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/bankenpleiten
[202] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/irland
[203] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/protektionismus
[204] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote1sym
[205] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote2sym
[206] https://libcom.org/
[207] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote3sym
[208] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote4sym
[209] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote5sym
[210] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote6sym
[211] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote7sym
[212] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote8sym
[213] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote9sym
[214] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote1anc
[215] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote2anc
[216] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote3anc
[217] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote4anc
[218] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote5anc
[219] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote6anc
[220] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote7anc
[221] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote8anc
[222] https://fr.internationalism.org/icconline/2010/sur_les_manifestations_contre_les_coupes_budgetaires_en_grande_bretagne.html#sdfootnote9anc
[223] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/studentenproteste-grossbritannien
[224] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/arbeiterstreiks-gb
[225] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/haushaltskurzungen
[226] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/unigebuhren-gb