Für Generationen von Arbeitern war die Pariser Kommune der Bezugspunkt in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Die Russischen Revolutionen von 1905 und 1917 stützten sich auf die Pariser Kommune und ihre Lehren, bis die Revolution von 1917 als Hauptbezugspunkt an deren Stelle trat.
Heute versuchen die Propagandakampagnen der herrschenden Klasse die revolutionäre Erfahrung des Oktober 1917 zu begraben und zu verfälschen, um die Arbeiter von ihrer eigenen Geschichte abzustoßen. Die Herrschenden wollen, dass wir Kommunismus mit Stalinismus identifizieren. Da die Pariser Kommune sich nicht für die gleichen Lügen eignet, hat die herrschende Klasse immer versucht, ihre wahre Bedeutung zu verdrehen und sie als eine patriotische Bewegung oder als einen Kampf für die Verteidigung der bürgerlichen Werte darzustellen.
Die Pariser Kommune entstand 7 Monate nach Napoleons Niederlage in Sedan, als dieser im französisch-preußischen Krieg von 1870 besiegt worden war. Am 4. Sept. 1870 erhoben sich die Pariser Arbeiter gegen die furchtbaren Lebensbedingungen, unter denen sie nach Napoleons militärischem Abenteuer litten. Die Republik wurde ausgerufen, während Bismarcks Truppen in der Nähe von Paris in Zeltstädten lagerten. Von dem Zeitpunkt an kümmerte sich die Nationalgarde, die sich aus Truppen aus den unteren mittleren Schichten zusammensetzte, um die Verteidigung der Hauptstadt gegen den preußischen Feind. Die Arbeiter, die mittlerweile Hunger litten, traten schnell der Nationalgarde bei und stellten bald die Mehrheit ihrer Truppen. Die herrschende Klasse möchte diese Episode in patriotischen Farben malen, um aufzuzeigen, dass es sich um eine "Volkserhebung" gegen den preußischen Aggressor gehandelt habe. Aber sehr schnell brachten die Kämpfe zur Verteidigung von Paris die unlösbaren Klassengegensätze ans Tageslicht, die die beiden grundlegenden Klassen der Gesellschaft aufeinanderprallen ließen: Bourgeoisie und Proletariat. Nach 135 Tagen der Belagerung kapitulierte die französische Regierung und unterschrieb den Waffenstillstand mit der preußischen Armee. Thiers, der neue Führer der republikanischen Regierung verstand, dass es mit dem Ende der Feindseligkeiten zwischen preußischen und französischen Truppen nötig wäre, das Pariser Proletariat zu entwaffnen, da dieses eine Bedrohung für die herrschende Klasse darstellte. Am 18. März 1871 versuchte er es zunächst mit Tricks. Er behauptete, die Waffen wären Staatsbesitz. Deshalb schickte er Truppen, die der Nationalgarde die Artillerie von mehr als 200 Kanonen abnehmen sollten, die die Arbeiter in Montmartre und Belleville versteckt hielten. Der Versuch scheiterte, weil die Arbeiter erbitterten Widerstand leisteten und es zur Verbrüderung zwischen der Pariser Bevölkerung und den Truppen kam. Das Scheitern dieses Versuchs, Paris zu entwaffnen, brachte ein Pulverfass zur Explosion, und löste den Bürgerkrieg zwischen den Arbeitern von Paris und der bürgerlichen Regierung aus, die nach Versailles geflüchtet war. Am 18. März erklärte das Zentralkomitee der Nationalgarde, das die Macht vorübergehend übernommen hatte: "Die Proletarier von Paris, inmitten der Niederlagen und des Verrats der herrschenden Klassen, haben begriffen, dass die Stunde geschlagen hat, wo sie die Lage retten müssen... Sie haben begriffen, dass es ihre höchste Pflicht und ihr absolutes Recht ist, sich zu Herren ihrer eigenen Geschichte zu machen und die Regierungsgewalt zu ergreifen" (In Karl Marx : "Der Bürgerkrieg in Frankreich", MEW, Bd. 17, S. 335). Am gleichen Tag kündigte das Komitee sofortige Wahlen der Delegierten aus den Arrondissements (Pariser Stadtbezirken) an, die nach allgemeinem Wahlrecht gewählt werden sollten. Diese wurden am 26. März abgehalten; zwei Tage später wurde die Kommune ausgerufen. Es gab mehrere Tendenzen: eine von den Blanquisten beherrschte Mehrheit, und eine Minderheit, die zumindest aus Proudhon nahestehenden Sozialisten bestand und der 1. Internationale angehörte.
Die Versailler Regierung ging sofort zum Gegenangriff über, um Paris aus den Händen der Arbeiterklasse zu reißen. Die französische Bourgeoisie, die die Bombardierung von Paris durch die preußischen Truppen aufs Schärfste verurteilt hatte, bombardierte jetzt selbst zwei Monate lang die Stadt.
Es ging dem Proletariat nicht darum, das Vaterland gegen einen ausländischen Feind zu verteidigen, sondern sich gegen den Feind zu Hause zu wehren, gegen die "eigene" Bourgeoisie, die sich in der Versailler Regierung zusammengeschlossen hatte. Deshalb weigerte sich das Pariser Proletariat, seine Waffen zu strecken und sich den Ausbeutern zu ergeben. Stattdessen errichtete es die Kommune.
Die Bourgeoisie stützt ihre schlimmsten Lügen immer auf einen Schein von Wirklichkeit. Sie versucht die Tatsache zu ihren Gunsten zu verwenden, dass die Kommune sich tatsächlich auf die Prinzipien von 1789 berief, um die erste revolutionäre Erfahrung des Proletariats auf eine bloße Verteidigung der republikanischen Freiheiten zu reduzieren, sie als einen Kampf der bürgerlichen Demokratie gegen die monarchistischen Truppen darzustellen, um die sich die französische Bourgeoisie geschart hatte. Aber der wahre Geist der Kommune kann nicht verstanden werden anhand des Gewandes, den sich das junge Proletariat 1871 angelegt hatte. Diese Bewegung ist ein erster lebenswichtiger Schritt im weltweiten Befreiungskampf des Proletariats gewesen. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass die offizielle Macht der Bourgeoisie in einer ihrer Hauptstädte umgeworfen wurde. Und dieser Titanenkampf ist das Werk der Arbeiterklasse und keiner anderen Klasse gewesen. Sicher war die Arbeiterklasse damals wenig entwickelt, sie war kaum ihrer alten Handwerkervergangenheit entronnen und schleppte noch das ganze Gewicht des Kleinbürgertums mit sich herum und die Illusionen, die 1789 enstanden waren. Dennoch war diese Arbeiterklasse die treibende Kraft in der Kommune gewesen. Obgleich die Revolution historisch gesehen noch nicht möglich war (weil das Proletariat insgesamt noch zu unreif war und vor allem, weil der Kapitalismus noch nicht die Produktivkräfte soweit entwickelt hatte, dass sie in einen unüberwindbaren Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen gerieten), zeigte die Kommune die Richtung auf, in die sich die zukünftigen Arbeiterkämpfe entwickeln würden.
Und obgleich die Kommune sich auf einige Prinzipien der bürgerlichen Revolution berief, füllte sie sie nicht mit dem gleichen Inhalt aus. Für die Bourgeoisie bedeutete "Freiheit" freier Handel und die "Freiheit" Arbeitskraft auszubeuten; "Gleichheit" hieß nichts anderes als Gleichheit unter den Bourgeois in ihrem Kampf gegen feudale Privilegien; "Brüderlichkeit" hieß Harmonie zwischen Kapital und Arbeit, mit anderen Worten Unterwerfung der Ausgebeuteten unter die Ausbeuter. Für die Arbeiter der Kommune hieß "Freiheit, Gleicheit, Brüderlichkeit" die Abschaffung der Lohnarbeit, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und einer Gesellschaft, die in Klassen aufgespalten ist. Diese Auffassung einer anderen Welt, die von der Kommune selber zum Ausdruck gebracht wurde, spiegelte sich in der Organisierung des gesellschaftlichen Lebens durch die Arbeiterklasse während der zweimonatigen Existenz der Kommune wider. Das wahre Klassenwesen der Kommune ist in ihren ökonomischen und politischen Maßnahmen zu suchen, und nicht so sehr in den Slogans, die aus der Vergangenheit übernommen wurden.
Zwei Tage nach ihrer Ausrufung bestätigte die Kommune ihre Macht, indem sie direkt den Staatsapparat durch eine Reihe von politischen Maßnahmen angriff: Abschaffung der Polizeikräfte, die die gesellschaftliche Repression ausüben, der stehenden Armee und der Wehrpflicht (die einzig anerkannten militärischen Kräfte waren die Truppen der Nationalgarde), Zerstörung der staatlichen Verwaltung, Beschlagnahme des Kircheneigentums, Abschaffung der Guillotine, kostenlose Schulen, all die anderen symbolischen Maßnahmen wie die Zerstörung des Monuments der Vendome, des Symbols des Chauvinismus der herrschenden Klasse, das von Napoleon I. errichtet worden war. Am gleichen Tag bestätigte die Kommune ihr proletarisches Wesen durch die Tatsache, dass die "Fahne der Kommune die der Universellen Republik, der Weltrepublik" sein sollte. Das Prinzip des proletarischen Internationalismus wurde durch die Wahl von Ausländern zur Kommune verdeutlicht (so wurden der Pole Dombrowski als Beauftragter für die Verteidigung und der Ungar Frankel für den Bereich Arbeit ernannt).
Unter all diesen politischen Maßnahmen gab es eine, die besonders deutlich aufzeigte, wie falsch die Auffassung war, der zufolge das Pariser Proletariat die demokratische Republik angeblich verteidigt hätte: es handelt sich um die jeder Zeit mögliche Abwählbarkeit der Delegierten der Kommune, die ständig gegenüber den Organen, die sie gewählt hatten, verantwortlich waren. Dies geschah lange vor der Entstehung der Arbeiterräte in der Russischen Revolution von 1905 - die wie Lenin später sagen sollte "die endlich gefundene Form der Diktatur des Proletariats" waren. Dieses Prinzip der Abwählbarkeit, das das Proletariat bei seiner Machtergreifung praktiziert hatte, bestätigt erneut das proletarische Wesen der Kommune. Die Diktatur der Bourgeoisie, von der der "demokratische" Staat nur die heimtückischste Variante ist, bündelt all die Staatsmacht der ausbeutenden Klasse in den Händen einer Minderheit zusammen, die die große Mehrheit der Produzenten unterdrückt und ausbeutet. Das Prinzip der proletarischen Revolution besteht auf der anderen Seite darin, dass keine Macht entstehen soll, die sich über die Gesellschaft stellen könnte. Nur eine Klasse, die auf die Abschaffung jeglicher Klassenherrschaft einer Minderheit von Unterdrückern abzielt, sollte die Macht ausüben.
Weil die politischen Maßnahmen der Kommune eindeutig deren proletarisches Wesen verdeutlichten, konnten ihre auch noch so begrenzten ökonomischen Maßnahmen auch nur die Interessen der Arbeiter verteidigen: Abschaffung der Mieten, Abschaffung der Nachtarbeit in gewissen Branchen wie bei den Bäckern, Abschaffung der Strafen, die von den Löhnen abgezogen wurden, Wiedereröffnung von geschlossenen Werkstätten, die von den Arbeitern übernommen werden sollten. Die Bezahlung der Delegierten der Kommune sollte einen Arbeiterlohn nicht übersteigen usw.
Sicher hatte diese Art der Organisierung der Gesellschaft nichts zu tun mit der "Demokratisierung" des bürgerlichen Staates, sondern sie richtete sich im Gegenteil auf dessen Zerstörung. Und dies ist in der Tat eine Hauptlehre, die die Kommune der ganzen späteren Arbeiterbewegung hinterließ. Dies war eine Lehre, die die Arbeiterklasse nicht zuletzt aufgrund des Drängens Lenins und der Bolschewiki viel deutlicher im Oktober 1917 in die Tat umsetzte. Wie Marx schon 1852 im "18. Brumaire des Louis Bonaparte" gesagt hatte, hatten alle politischen Revolution bislang nur die Staatsmaschinerie perfektioniert anstatt sie zu zerschlagen.
Obgleich die Bedingungen für die Zerstörung des Kapitalismus noch nicht reif waren, kündigte die Pariser Kommune als letzte Revolution des 19. Jahrhunderts schon die revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts an. Sie zeigte in der Praxis: "die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen" ("Der Bürgerkrieg in Frankreich", ebenda, S. 336).
Die herrschende Klasse konnte nicht akzeptieren, dass die Arbeiterklasse es wagen sollte, gegen ihre Ordnung anzutreten. Als die Bourgeoisie Paris wieder mit Waffengewalt erobert hatte, zielte diese nicht nur darauf ab, ihre Macht in der Hauptstadt wieder herzustellen, sondern sie wollte auch vor allem in der Arbeiterklasse ein Blutbad anrichten, das den Arbeitern als Lehre dienen sollte. Ihre Wut und Verachtung bei der Niederschlagung der Kommune entsprach der Angst, die ihr das Proletariat eingejagt hatte. Von Anfang April an fingen die Truppen Thiers und Bismarcks, deren Truppen die militärischen Festungen im Norden und Osten Paris besetzt hielten, an ihre "heilige Allianz" zur Niederschlagung der Kommune zu organisieren. Damals schon zeigte die Bourgeoisie die Fähigkeit, ihre nationalen Interessensgegensätze in den Hintergrund zu rücken, um dem gemeinsamen Klassenfeind entgegenzutreten. Diese enge Zusammenarbeit zwischen den französischen und preußischen Armeen führte zur Einkreisung der Hauptstadt. Am 7. April eroberten die Versailler Truppen die Forts im Westen der Stadt. Konfrontiert mit dem erbitterten Widerstand der Nationalgarde, überzeugte Thiers Bismarck, 60.000 in Sedan gefangene französische Soldaten freizulassen, wodurch die Versailler Regierung von Mai an ein zahlenmäßiges šbergewicht erlang. In der ersten Maihälfte brach die südliche Front zusammen. Am 21. Mai marschierten Versailler Truppen unter dem General Gallifet im Norden und Osten Paris ein, weil die preußische Armee für sie eine Flanke eröffnet hatte. Acht Tage lang wüteten die Kämpfe in den Arbeitervierteln der Stadt. Die letzten Kämpfer der Kommune kamen massenweise auf den Hügeln der Stadt um Belleville und M‚nilmontant um. Aber die blutige Niederschlagung der Kommune machte da nicht halt. Die herrschende Klasse wollte ihren Triumpf noch auskosten, indem sie ihre Rache an dem geschlagenen und niedergekämpften, entwaffneten Proletariat ausübte, diesem "niedrigen, dreckigen Volk", das gewagt hatte, ihre Klassenherrschaft in Frage zu stellen. Während Bismarcks Truppen Befehl hatten, jeden Flüchtenden festzunehmen, übten die Horden Gallifets ein gewaltiges Massaker an den wehrlosen Männern, Frauen und Kindern aus. Sie mordeten kaltblütig mit Erschießungskommandos und Maschinengewehren.
Die "blutige Woche" endete mit einem unglaublichen Massaker: mehr als 20.000 Tote. Dann folgten Massenverhaftungen, die Hinrichtung von Gefangenen, um "ein Beispiel zu setzen", Verschleppung in Zwangarbeitslager, Hunderte von Kindern wurden in sog. "Erziehungsanstalten" gesteckt.
So stellte die herrschende Klasses ihre Ordnung wieder her. So reagierte sie, als ihre Klassenherrschaft bedroht wurde. Aber die Kommune wurde nicht mal nur durch die reaktionärsten Teile der herrschenden Klasse niedergemetzelt. Obgleich sie die schmutzigste Arbeit den monarchistischen Truppen überließen, waren es die "demokratischen" republikanischen Fraktionen, die mit der Nationalversammlung und den liberalen Parlamentariern an der Spitze die volle Verantwortung für das Massaker und den Terror trugen. Die Arbeiterklasse darf diese "heldenhaften" Taten der bürgerlichen Demokratie nie vergessen!
Indem sie die Kommune niederschlugen, was wiederum zur Auflösung der 1. Internationale führte, fügte die herrschende Klasse den Arbeitern der ganzen Welt eine Niederlage zu. Und diese Niederlage war besonders schmerzhaft für die Arbeiterklasse in Frankreich, die seit den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts an der Spitze der Arbeiterkämpfe gestanden hatte. Die französische Arbeiterklasse sollte danach bis zum Mai 1968, als ihre massiven Streiks nach 40 Jahren Konterrevolution eine neue Kampfperspektive eröffneten, nicht mehr an vorderster Stelle des Klassenkampfes treten. Und dies ist kein Zufall: indem es - wenn auch nur vorübergehend - wieder seinen Platz als "Leuchtfeuer" des Klassenkampfes einnahm, den es ein Jahrhundert zuvor hatte aufgeben müssen, kündigte das französische Proletariat die große Lebendigkeit, die Vitalität, die Stärke und Tiefe der neuen Stufe in diesem historischen Kampf der Arbeiterklasse zum Umsturz des Kapitalismus an.
Avril (aus Révolution Internationale, Zeitung der IKS in Frankreich) (Erstveröffentlichung 1991)
– die Revolten in den nordafrikanischen Ländern und im Nahen & Mittleren Osten, welche mittlerweile nahezu alle Länder in der Region erfasst haben und quasi alle Regimes erzittern lassen (Saudi-Arabien, Syrien, Jemen, Bahrain usw.);
– die tragische Entwicklung in Libyen, wo die sozialen Proteste zu Beginn der Bewegung umschlugen und durch Machtbestrebungen der lokalen, bürgerlichen Cliquen verdrängt wurden. Dadurch wurden die imperialistischen Hyänen der Nato- und anderer Staaten angelockt (siehe dazu den Artikel in dieser Zeitung);
– die dramatischen Ereignisse in Japan rund um das Erdbeben, den Tsunami und die Nuklearkatastrophe (siehe dazu den Artikel in dieser Ausgabe);
– all das vor dem Hintergrund einer weiteren Zuspitzung der Wirtschaftskrise, wo der Euro-Rettungsschirm immer weiter ausgedehnt werden muss und die Schuldenkrise trotzdem immer verheerendere Ausmaße annimmt. In den USA und Europa wird ein Sparprogramm nach dem anderen verabschiedet; massivste Kürzungen stehen in vielen US-Bundesstaaten an.
Die Details der Ereignisse wurden von den Medien in zahllosen Sondersendungen ausführlich dargestellt. Wir wollen deshalb darauf verzichten, im Einzelnen näher auf sie einzugehen.
Stattdessen müssen wir versuchen, die Entwicklung in ihrem Gesamtzusammenhang zu begreifen und nach den Konsequenzen fragen.
Zunächst werfen diese Ereignisse ein Licht auf das ungeheure Potenzial sozialen Widerstands, das jetzt zum ersten Mal in diesem Maße in den arabisch-sprachigen Ländern deutlich geworden ist. Überall tauchte eine neue Generation auf, die sich nicht den Zwangsgesetzen des Kapitalismus unterwerfen will und gegen die ökonomischen und politischen Verhältnisse protestiert. Diese – mit Ausnahme von Libyen - bislang nicht niedergeworfene Protestbewegung hat sich auf der arabischen Halbinsel fortgepflanzt; niemand kann zurzeit ihren weiteren Verlauf vorhersagen.
Gleichzeitig werfen die jüngsten Ereignisse ein grelles Licht auf die ungeheuren Gefahren und Bedrohungen, vor denen die Menschheit steht. Zum einen die Gefahr, die vor allem durch die Nuklearkatastrophe in Japan vor Augen geführt hat, dass die waghalsige, völlig unverantwortliche Politik des Kapitals in punkto Atomkraft die Menschheit direkt in die Vernichtung führen kann. Hinzu kommt: allein im Jahr 2010 registrierte man eine Reihe von verheerenden Umweltkatastrophen – die Ölverschmutzung im Golf von Mexiko nach der Explosion von Deepwater Horizon, Hitzewelle und Brände in Russland, Überschwemmungen in Pakistan und Australien, usw., die erahnen ließen, wie verheerend die durch das System verursachte Umweltzerstörung und die Folgen der Klimakatastrophe sein können. Und nun hat die jüngste Nuklearkatastrophe in Japan nach Three Mile Island und Tschernobyl erneut die Gefahr aufgezeigt, dass nicht nur das unmittelbare Umfeld eines AKWs durch solche Unfälle bedroht wird, sondern ganze Landstriche und große Teile des Planeten bedroht sind, ja gar unbewohnbar werden können. Wenn nun zum ersten Mal eine der größten Bevölkerungskonzentrationen in der Welt, der Großraum Tokio mit 38 Millionen Menschen, radioaktiv verseuchtes Wasser trinken muss, kann man sich vorstellen, was passiert, wenn die kapitalistischen Mechanismen der Umweltzerstörung ungehindert weiter wirken: Das Überleben der Menschen auf diesem Planeten insgesamt wird gefährdet.
Aber neben der Umweltzerstörung wird die Menschheit auch durch die Gefahr bedroht, in endlose Kriege zu versinken. Die jüngste Entwicklung in Libyen verdeutlicht dieses Drama. Den anfänglichen Sozialprotesten gelang es nicht, sich ausreichend aufs ganze Land auszudehnen, stattdessen gewannen rivalisierende bürgerliche Cliquen aller Art die Oberhand und waren bereit, die Bevölkerung in einer grausamen Konfrontation mit Gaddafis Killerkommandos aufzureiben. Zudem forderten sie die militärische Unterstützung der Staaten an, die vorher jahrelang Gaddafi unterstützt und hochgerüstet hatten. Mittlerweile ist der Konflikt in einen regelrechten Krieg ausgeartet (siehe dazu den Artikel in unserer Zeitung). Der Klassenkampf ist im Augenblick in diesem Land zu Grabe getragen! Und in vielen anderen Ländern der Erde eskalieren Gewalt und Kriminalität immer mehr. Allein im Nachbarland der USA, in Mexiko, wurden letztes Jahr über 15.000 Menschen im Drogenkrieg ermordet. Ein mörderischer Alltag, in dem man jeden Tag um sein Leben fürchten muss.
Wie eng beieinander diese beiden Tendenzen miteinander ringen, kann man anhand der Lage in der Region um Israel sehen. Auf der einen Seite beschießen sich die israelische Armee und die Nationalisten von Hamas und Hisbollah, auf der anderen Seite rebellieren in den Nachbarländern wie Syrien oder Jordanien die Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen die diktatorischen Regimes. So traten die beiden Richtungen, in die sich diese Gesellschaft bewegen kann – die Intensivierung der sozialen Proteste, die Verschärfung des Klassenkampfes, mit der langfristigen Perspektive der Überwindung des Kapitalismus auf der einen Seite und das Versinken im Krieg und die Vernichtung der Menschheit, der Natur insgesamt infolge der kapitalistischen Produktionsweise -, innerhalb weniger Wochen deutlich erkennbar zu Tage.
Angesichts solch einer rasanten Beschleunigung der Geschichte kann man leicht den Kopf verlieren; vor allem, wenn man an den Ereignissen unmittelbar haften bleibt und ihnen hinterherläuft, statt sie mit Abstand, mit Überblick, in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Deshalb ist es wichtig, die jüngste Entwicklung historisch einzuordnen, sie vertieft, mit Weitblick, zu analysieren. Leicht gesagt! Denn diese Analyse fällt nicht vom Himmel, sie muss das Werk kollektiver Anstrengungen sein und sich auf eine Methode der Vertiefung stützen. Wir haben deshalb einige Eckpunkte in dieser Zeitung zur Lage im Nahen Osten veröffentlicht, die wir als Beitrag zur Diskussion stellen wollen.
Gerade in Anbetracht der Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher Dynamiken, die der zunehmenden Bedrohung der Lebensgrundlagen durch den Zerstörungsdrang der kapitalistischen Produktionsweise (die durch Japan und Libyen verkörpert wird) und die der Intensivierung des Klassenkampfes auf mehreren Kontinenten, ist es wichtig, nicht nur bei einer „Seite“ der Wirklichkeit stehenzubleiben, sondern beide Dynamiken zu erfassen und den Zusammenhang zwischen ihnen zu erkennen. Wir müssen die verschiedenen Teile des Mosaiks zusammenbringen und die Verkettung untereinander herausarbeiten. Lediglich einen Aspekt zu beachten kann nur in die Irre führen. Deshalb darf man sich nicht ausschließlich gegen einen Aspekt der kapitalistischen Wirklichkeit richten, z.B. die Atomkraft oder die Flüchtlingsfrage, sondern man muss deren Verwurzelung im kapitalistischen System sehen. Während es in den 1980er und 1990er Jahren viele „Ein-Punkt-Bewegungen“ gab (Atomkraft, Wohnungsnot, Nachrüstungen usw.), die den Blick jeweils auf eine Frage beschränkten, geht es heute mehr denn je darum, den globalen Bankrott, die Sackgasse des Systems weltweit aufzuzeigen. Zugegeben, die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ebenen sind nur schwer zu durchleuchten, aber wenn man diesen Zusammenhang nicht berücksichtigt, landet man in einer Sackgasse, glaubt, dass man innerhalb des Systems etwas „reformieren“, „ausmerzen“ könnte. Letztendlich wird man dann durch das System unschädlich gemacht.
Diese Zusammenhänge muss man kollektiv erarbeiten. Dies wird zudem noch dadurch erschwert, dass die Kraft, welches dieses System überwinden kann, die Arbeiterklasse, noch nicht überzeugend in Erscheinung getreten ist.
Die jüngsten Kämpfe in Nordafrika zeigen sowohl eine Kontinuität mit den Arbeiterkämpfen und Protesten der letzten Zeit in Griechenland, China, Bangladesch, Frankreich, Italien, Großbritannien usw. Gleichzeitig haben sie eine neue Dimension zum Vorschein gebracht. Auch wenn es mit dem Kampf gegen den CPE in Frankreich 2006, den Studentenprotesten in Italien, Spanien, Deutschland usw. schon erste Anzeichen des Erwachens einer neuen Generation gab, brachte das Auftreten einer neuen Generation von Protestierenden in Nordafrika und im Nahen & Mittleren Osten einen neuen Schub mit sich.
Die jüngsten Kämpfe in Nordafrika haben gezeigt, dass sich in die Arbeiterstreiks gegen die Preissteigerungen, die Wohnungsnot und die zunehmende Verarmung soziale mit politische Forderungen gemischt haben. Am deutlichsten wurde dies in Ägypten (siehe dazu den Artikel in dieser Ausgabe), wo die pulsierenden Aktivitäten auf dem Tahrir-Platz am deutlichsten die Tendenz zum Zusammenkommen und den Willen, die Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, zum Ausdruck brachten. Die Bewegung beschränkte sich nicht auf einen Protest gegen bestehende Machtstrukturen, sondern man spürt ein Rütteln an etwas tiefer Liegendem, ein Aufbegehren nicht nur gegen Ungerechtigkeit sondern gegen die Ausweglosigkeit und die Mechanismen dieses Systems.
An vorderster Front standen dabei Jugendliche, überwiegend aus ärmeren Schichten, aber auch aus dem Mittelstand, mit einer tiefen Sehnsucht nach einer anderen Welt, auch wenn sie sich noch nicht in der Formulierung der Suche nach einer ausbeutungs- und unterdrückungsfreien Welt äußerte und insgesamt mit vielen Illusionen über die bürgerliche Demokratie belastet ist, was von der herrschenden Klasse ausgenutzt wird, wie die jüngsten Wahlen in Ägypten belegen.
– Dennoch gibt es so etwas wie einen Aufbruch, der nicht zuletzt verkörpert wird durch die massive Beteiligung und das Verhalten der Frauen, die – in der arabischen Welt von besonderer Bedeutung – sehr engagiert waren und insbesondere bei der Frage der Gewalt in Ägypten eine ausgesprochen kluge Vorgehensweise gegenüber den Rekruten einschlugen, diese nämlich zu „umgarnen“ und so zu destabilisieren. Im Gegensatz zu den Hoffnungen der Fundamentalisten liefen die Frauen diesen nicht scharenweise in die Arme, sondern zeigten sich radikal, kämpferisch und nicht bereit, sich „neue Schleier“ überzustreifen.
– Überhaupt scheint sich diese neue Generation nicht so leicht für den Nationalismus oder den islamischen Fundamentalismus einspannen zu lassen; stattdessen spürt man eher weltoffene Tendenzen und eine Abneigung, sich hinter Religionen zu verschanzen.
– Eine Stärke der Bewegung liegt auch darin, dass in ihr mehrere Generationen zusammenkommen, Alt und Jung haben gemeinsame Forderungen; im Gegensatz zu 1968 gibt es keinen Graben zwischen den Generationen.
Bislang wurde durch den Elan der Bewegung nur die alte, führende diktatorische Clique in einigen Ländern verjagt; damit ist noch kein System gestürzt. Auch wenn dadurch einerseits ein Gefühl der Stärke und der eigenen Macht aufkeimte, besteht andererseits die Gefahr, dass man sich durch Illusionen über die Demokratie, durch die Unerfahrenheit mit den Bollwerken der kapitalistischen Macht hinters Licht führen lässt. Zudem gibt es die Besonderheit, dass die Bewegung sich über die eigenen Perspektiven, die eigene soziale Identität, die eigene Rolle nicht so bewusst ist.
Ihre weitere Entwicklung hängt zweifellos ab von der Rolle, die die Arbeiterklasse dort vor Ort, aber vor allem in den westlichen Industriestaaten einnehmen wird. Eine wesentliche Verschärfung des Klassenkampfes in den Industriezentren hätte eine enorme Ausstrahlung auf den Rest der Welt. Wenn z.B. die Arbeiter in den westlichen Industriezentren an den Pfeilern der Demokratie rüttelten und sich selbständig, außerhalb der gewerkschaftlichen Kontrollorgane in Bewegung setzen, würde das den sozialen Protestbewegungen weltweit einen gewaltigen Schub geben. Welche Rolle dabei kämpferische und entschlossene Minderheiten spielen können, möchten wir anhand eines Artikels zu einem Treffen in Alicante zeigen (siehe dazu den Artikel in dieser Zeitung).
Ein Wettlauf gegen die Zeit hat eingesetzt. Entweder vernichtet der Kapitalismus den ganzen Planeten, treibt die Menschheit in immer mehr Kriege – oder den Ausgebeuteten und Unterdrückten, mit der Arbeiterklasse an ihrer Spitze, gelingt es, das System zu überwinden. Einen anderen Weg gibt es nicht. 26.03.11
Erneut schwingen die Führer dieser Welt große Reden mit toll ausgeschmückten humanitären Phrasen über „Demokratie“, „Frieden“, „Sicherheit der Bevölkerung“, um ihre eigenen imperialistischen Abenteuer zu vertuschen. So hat seit dem 20. März eine „internationale Koalition“ (1) eine umfangreiche militärische Operation in Gang gesetzt, die poetisch von den USA „Operation Odyssey Dawn“ genannt wird. Jeden Tag heben Dutzende Bomber von den beiden großen französischen und amerikanischen Flugzeugträgern ab, um ihre Bomben auf all die Teile abzuwerfen, in denen sich dem Gaddafi-Regime treue Truppen aufhalten (2). Wenn man kein Blatt vor den Mund nimmt, heißt dies sie führen Krieg!
Natürlich ist Gaddafi ein blutiger und verrückter Diktator. Nach wochenlangem Zurückweichen gegenüber der Rebellion, gelang es dem selbsternannten „lybischen Führer“ seine Elitetruppen für einen Gegenangriff zu organisieren. Jeden Tag konnte er Boden zurückgewinnen; dabei wurde alles plattgemacht, was ihm Wege stand; „Rebellen“ wie Zivilbevölkerung. Und er schickte sich sicherlich an, die Bevölkerung von Bengasi im Blut zu ertränken, als die Operation „Operation Odyssey Dawn “ ausgelöst wurde. Die Luftschläge der Koalition haben den lybischen Repressionskräften arg zugesetzt und in der Tat das angekündigte Massaker verhindert. Aber kann man wirklich auch nur einen Augenblick glauben, dass dieser Aufmarsch der ‚Koalitionsarmeen‘ dazu dient, dem Wohl der libyschen Bevölkerung zu dienen? Wo war diese Koalition, als Kaddafi 1996 im Gefängnis Abu Salim in Tripolis 1000 Gefangene ermorden ließ? In Wirklichkeit betreibt dieses Regime seit 40 Jahren nichts anderes als Leute ungestraft zu foltern, zu terrorisieren, sie verschwinden zu lassen oder zu ermorden. Wo war diese Koalition vor kurzem, als Ben Ali in Tunesien, Mubarak in Ägypten oder Bouteflika in Algerien bei den Aufständen im Januar und Februar auf die Leute schießen ließen? Und was macht heute diese Koalition gegenüber den Massakern in Jemen, Syrien oder Bahrain? Oh Entschuldigung, wir können gar nicht sagen, dass sie hier ganz abwesend ist, denn eines ihrer Mitglieder, Saudi Arabien, greift in der Tat ein, um das Regime in Bahrain zu unterstützen und die Demonstranten niederzuschlagen! Ihre Komplizen verschließen die Augen.
Sarkozy, Cameron, Obama und Konsorten mögen sich gerne stolz als die Retter, die Verteidiger der Witwen und Waisenkinder darstellen, aber die leidenden Zivilisten Bengasis waren für sie nur ein Alibi, um vor Ort militärisch einzugreifen und ihrer eigenen schmutzigen imperialistischen Interessen zu verteidigen. All diese Gangster kennen nur einen Grund – und der ist keineswegs altruistisch, sich an diesem imperialistischen Kreuzzug zu beteiligen:
Im Gegensatz zu den früheren Kriegen stehen die USA dieses Mal nicht an der Spitze. Warum? In Libyen muss die US-Bourgeoisie eine ‚ausgleichende‘ Rolle spielen. Einerseits können sie es sich nicht erlauben, Bodentruppen zum Einsatz zu bringen. In der ganzen arabischen Welt würde dies als eine Aggression und neuer US-Einmarsch aufgefasst. Die Kriege im Irak und Afghanistan haben ja die allgemeine Aversion gegenüber dem „US-Imperialismus, dem Verbündeten Israels“ noch verstärkt. Und der Regimewechsel in Ägypten, das traditionell Verbündeter von Uncle Sam war, hat die Position der USA in der Region noch weiter geschwächt (3). Aber andererseits können sie nicht zulassen, völlig außen vor zu bleiben, denn dann würden sie Gefahr laufen, ihre Glaubwürdigkeit und ihren Status als „Kämpfer für die Demokratie auf der Welt“ völlig zu verlieren. Und es geht natürlich auch nicht, dass sie dem französisch-britischen Tandem das Jagdrevier überlassen.
Die Beteiligung Großbritanniens verfolgt zwei Ziele. Es versucht ebenfalls bei den arabischen Ländern seinen Ruf zu erneuern, der durch seine Beteiligung an den Kriegen im Irak und Afghanistan gelitten hat. Aber es versucht auch seine eigene Bevölkerung an ausländische Militärinterventionen zu gewöhnen, die in der Zukunft noch häufiger notwendig werden. „Die Bevölkerung vor Gaddafi zu retten“ ist dazu eine willkommene Gelegenheit (4).
Im Falle Frankreichs liegen die Dinge etwas anders. Es ist das einzige größere Land des Westens, das über eine gewisse Popularität im arabischen Raum verfügt, die es unter De Gaulle erworben hatte, und durch seine Weigerung sich am Irakkrieg 2003 zu beteiligen, noch ausbaute. Durch seine Intervention zugunsten des „libyschen Volkes“ wusste der französische Präsident Sarkozy genau, dass dies in der Bevölkerung gut aufgenommen werden würde, und dass die arabischen Nachbarstaaten dieser Intervention gegen Gaddafi wohlwollend gegenüberstünden, weil dieser zu wenig kontrolliert werden kann und für deren Geschmack zu unberechenbar ist. „Es lebe Sarkozy“, „Es lebe Frankreich“ (5). Zumindest dieses Mal ist es dem französischen Staat gelungen, punktuell aus der US-Schwäche Vorteile zu erzielen. Der französische Präsident hat auch die Gelegenheit ausgenutzt, um wieder Boden zu gewinnen in Anbetracht all der Fehltritte seiner Regierung gegenüber Tunesien und Ägypten (Frankreich hatte die später durch die sozialen Revolten abgesetzten Diktatoren unterstützt, notorische Kumpanei während dieser Kämpfe zwischen seinen Ministern und den Regimes in diesen Ländern; der Vorschlag, Polizeikräfte zur Verstärkung der Repression nach Tunesien zu schicken…).
Wir können hier nicht genauer auf die einzelnen Interessen eines jeden Staates dieser Koalition eingehen, die heute gegen Libyen vorgeht, aber eins ist sicher: ihnen geht es nicht um humanitäre oder philanthropische Interessen. Und das trifft auch auf die Staaten zu, die sich bei der Abstimmung der UN-Resolution enthalten haben : China, Russland und Brasilien stehen dieser Intervention sehr feindselig gegenüber, weil sie beim Sturz Gaddafis nichts gewinnen können. Italien kann dagegen alles verlieren. Das gegenwärtige Regime hat bislang einen leichten Zugang zu den Ölquellen und eine drakonische Kontrolle der Grenzen gewährleistet. Die Destabilisierung des Landes kann all das infragestellen. Angela Merkels Deutschland ist bislang noch ein militärischer Zwerg. All seine Kräfte sind in Afghanistan gebunden. Sich an solch einer Operation zu beteiligen, hätte erneut diese Schwäche noch deutlicher werden lassen. Wie die spanische Zeitung El Pais schrieb: „Es gibt eine gewisse Neuauflage der ständigen Wiederherstellung des Gleichgewichtes zwischen der deutschen ökonomischen Größe, die während der Eurokrise sichtbar war, und der politischen Fähigkeit Frankreichs, die sich auch auf militärischer Ebene zeigt“ (6). So gleicht Libyen wie der gesamte Nahe und Mittleren Osten einem riesigen Schachbrett, wo die Großmächte ihre jeweiligen Figuren zum Zug bringen.
Seit Wochen befanden sich die Truppen Gaddafis auf dem Vormarsch Richtung Bengasi, der Rebellenhochburg; sie wälzten dabei alles nieder, was ihnen im Weg stand. Warum haben die Länder, obwohl sie so große Interessen an diesem Land haben, so lange gezögert? In den ersten Tagen wehte der Wind der Revolte, der auch in Libyen zu spüren war, aus Tunesien und Ägypten. Die gleiche Wut über die Unterdrückung und die Armut erfasste alle Gesellschaftschichten. Es stand also außer Frage, dass die „großen Demokratien der Welt“ diese soziale Bewegung unterstützten, obwohl sie große Reden schwangen gegen die Repression. Ihre Diplomatie stellte sich völlig heuchlerisch gegen jede Einmischung und hob das „Recht der Völker auf Selbstbestimmung“ hervor. Die Erfahrung zeigt, dass es bei jedem sozialen Kampf so verläuft: die Herrschenden aller Länder verschließen die Augen vor der furchtbarsten Repression, wenn sie diese nicht direkt selbst unterstützen!
Aber in Libyen ist das, was anfangs als eine wahre Revolte „von Unten“ mit unbewaffneten Zivilisten anfing, die mutig zum Sturm auf die Kasernen ansetzten und die Büros der sogenannten „Volkskomitees“ anzündeten, in einen blutigen „Bürgerkrieg“ umgeschlagen, der jetzt zwischen verschiedenen Flügeln der Herrschenden ausgetragen wird. Mit anderen Worten, die Bewegung ist den nicht-ausbeutenden Schichten aus der Hand geraten. So ist zum Beispiel einer der Anführer der Rebellion und des Übergangsrates Al Jeleil, ehemaliger Justizminister unter Gaddafi gewesen. Diesem Führer klebt natürlich so viel Blut an den Fingern wie seinem früheren „Führer“, der zu dessen Rivalen geworden ist. Ein anderer Beleg: die provisorische Regierung hat die Fahne des alten, königlichen Libyens wieder hervorgeholt. Der französische Präsident Sarkozy hat den Übergangsrat als die „legitimen Repräsentanten des libyschen Volkes“ anerkannt. Die Revolte in Libyen hat also eine völlig andere, entgegengesetzte Wendung genommen als die Bewegung in Tunesien und Ägypten. Dies ist hauptsächlich auf die Schwäche der Arbeiterklasse dieser Länder zurückzuführen. Die Ölindustrie, die Haupteinnahmequelle des Landes, beschäftigt fast ausschließlich ausländische Arbeitskräfte aus Europa, anderen Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas. Dies haben sich von Anfang an nicht an dieser Bewegung beteiligt. So konnte die lokale Kleinbourgeoisie dem Kampf ihren Stempel aufdrücken und zum Beispiel die Bewegung unter der alten königlichen Fahne sammeln. Schlimmer noch! Die ‚ausländischen‘ Arbeiter konnten sich nicht mit diesem Kampf identifizieren; sie sind geflüchtet. Wenn sie nicht gar verfolgt wurden, wie es mit vielen schwarzafrikanischen Arbeitern geschah, die in die Hände der ‚Rebellen‘ fielen, denn es gab zahlreiche Gerüchte, denen zufolge gewisse Söldner aus Schwarzafrika von Gaddafis Regime rekrutiert worden waren, um die Aufstände niederzuschlagen, wodurch alle Migranten aus Afrika in Verruf gerieten.
Die Kehrtwendung der Lage in Libyen hat Konsequenzen, die weit über die Grenzen des Landes hinausreichen. Die Repression durch die Truppen Gaddafis und die Intervention der internationalen Koalition üben eine bremsende Wirkung aus für all die sozialen Bewegungen in der Region. Dies ermöglicht den anderen diktatorischen Regimen, die mit Sozialprotesten zu kämpfen haben, eine ungebändigte blutige Repression auszuüben: dies wird ersichtlich anhand der Lage in Bahrain, wo die saudi-arabische Armee das Regime vor Ort unterstützt, um die Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen(7); in Jemen, wo die Regierungstruppen am 18. März nicht zögerten, auf die Menge zu schießen. 51 Menschen wurden erschossen. Eine ähnliche Entwicklung gibt es seit kurzem in Syrien. Aber es ist keineswegs sicher, dass es sich um eine unumkehrbare Entwicklung handelt. Die Lage in Libyen lastet wie eine große Bürde auf dem Weltproletariat, aber die Wut ist so groß über die Zuspitzung der Armut, dass die Arbeiterklasse nicht völlig gelähmt ist. Zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Artikels wurden Demonstrationen in Riad angekündigt, obwohl das saudi-arabische Regime dekretiert hat, dass alle Demonstrationen der Scharia widersprechen. In Ägypten und Tunesien, wo die ‚Revolution‘ angeblich triumphiert hat, kommt es ständig zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und dem ‚demokratischen‘ Staat, obwohl dieser von Kräften regiert wird, die mehr oder weniger die gleichen sind, die vor dem Abflug der ‚Diktatoren‘ die Zügel in der Hand hatten. In Marokko gehen die Proteste weiter, trotz der Verbesserungen, die Mohammed VI angekündigt hat.
Wie auch immer, die Lage der Bevölkerung, die unter der schrecklichen Repression unter den Bombardierungen der Demokratien der verschiedenen Staaten der internationalen Koalition leidet, wird sich erst dann verbessern, wenn das Proletariat der zentralen Länder, insbesondere Westeuropas, seinen Kampf massiv und entschlossen verstärken wird. Dann kann die Arbeiterklasse, die über eine größere Erfahrung verfügt und mit den Fallen der Gewerkschaften und der bürgerlichen Demokratie gebrochen hat, zeigen, dass man sich selbst organisieren und eine wirklich revolutionäre Perspektive aufbauen kann, welche als einzige einen Ausweg für die Menschheit bietet. Mit all den Menschen solidarisch zu sein, die heute durch Kugeln sterben, heißt nicht, das Regime Gaddafis zu unterstützen, auch nicht die ‚Rebellen‘ und erst recht nicht die UNO-Koalition. Man muss im Gegenteil all diese Kräfte als imperialistische Geier entblößen. Solidarisch sein heißt die internationalistische proletarische Seite zu wählen, gegen die eigenen Ausbeuter und Massakrierer in allen Ländern anzukämpfen, sich an der Stärkung der Arbeiterkämpfe und des Bewusstseins überall in der Welt zu beteiligen! Pawel, 25.3.2011.
<!--[if !supportLists]-->(1) <!--[endif]-->Großbritannien, Frankreich, USA insbesondere, aber auch Italien, Spanien, Belgien, Dänemark, Griechenland, Norwegen, Niederlande, Vereinigte Arabische Emirate, Qatar,
<!--[if !supportLists]-->(2) <!--[endif]-->Wenn man den westlichen Medien glauben würde, dann sterben nur die Anhänger Gaddafis durch die Bomben. Aber erinnern wir uns, dass dieselben Medien auch während des Golfkrieges die Lüge von einem „sauberen Krieg“ verbreiteten. Tatsächlich kamen 1991 im Namen des Schutzes des „kleinen Kuwaits“, das von der Armee des ‚Schlächters‘ Saddam Hussein besetzt wurde, mehrere Hunderttausend Menschen um.
<!--[if !supportLists]-->(3) <!--[endif]-->Auch wenn der US-Bourgeoisie eine Schadensbegrenzung gelang, als sie die Armee unterstützte, um das von der Bevölkerung verabscheute Regime zu ersetzen.
<!--[if !supportLists]-->(4) <!--[endif]-->Man sollte nicht vergessen, dass 2007 der ehemalige britische Premierminister Tony Blair in Tripolis den Führer Gaddafi herzlich umarmte und ihm mit der Unterschrift eines Vertrages mit BP dankte. Die gegenwärtigen Verurteilungen des „verrückten Diktators“ sind reiner Zynismus und Heuchelei!
<!--[if !supportLists]-->(5) <!--[endif]-->Erinnern wir uns daran, dass die französische Bourgeoisie auch hier umgeschwenkt ist, nachdem sie 2007 Gaddafi ebenso pompös empfing. Damals gingen die Bilder der Zelte Gaddafis, die mitten in Paris errichtet worden waren, um die Welt; all das machte Sarkozy und seine Clique lächerlich.
<!--[if !supportLists]-->(6) <!--[endif]-->https://elpais.com/articulo/internacional/guerra/europea/elpepuint/20110321elpepiint_6/Tes [6]
<!--[if !supportLists]-->(7) <!--[endif]-->Die Schwäche der Arbeiterklasse begünstigt die Repression. Die Bewegung wird nämlich von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit dominiert, welche vom Iran unterstützt wird.Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/geschichte-der-arbeiterbewegung/1871-pariser-kommune
[2] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/pariser-kommune-1871
[3] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/umweltzerstorung-zukunft-der-menschheit
[4] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/krieg-kapitalismus
[5] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/aufstande-naher-osten
[6] https://elpais.com/articulo/internacional/guerra/europea/elpepuint/20110321elpepiint_6/Tes
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/libyen-krieg
[8] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/internationale-koalition
[9] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/un-resolution-1973
[10] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/gaddafi-unterstutzer
[11] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/rebellion-aufstand-libyen
[12] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/gaddafi