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Wir haben eine Einladung zur Teilnahme an einer „Werkstatt für empörte Beschäftigte“ erhalten, die von der Asamblearios-TIA () veranstaltet wird. Wir unterstützen und beteiligen uns aktiv an dieser Initiative.
Wir sind der Ansicht, dass solche Werkstätten einem wirklichen Interesse an der Klärung von wesentlichen Fragen des politischen Verständnisses des Kapitalismus und der Suche nach Alternativen zu demselben dienen. Von den konkreten und unmittelbaren Kämpfen ausgehend haben die GenossInnen die Schlussfolgerung gezogen, dass es notwendig ist, die Wirklichkeit tiefgreifend zu verstehen, um die revolutionäre Theorie zu verstärken. Wir unterstützen diese Initiative enthusiastisch, weil damit eine Gelegenheit zu Diskussionen geschaffen wird, in denen wir alle die Wirklichkeit genauer erfassen und über Mittel diskutieren können, diese umzuwälzen.
Natürlich verfügen wir über kein Rezept und keine magische Formel, um die aufgeworfenen Fragen zu lösen. Aber wir sind davon überzeugt, dass es notwendig ist, in den Kämpfen zu intervenieren. Dabei müssen wir uns auf ein tieferes Verständnis stützen, auch um nicht in die Fallen des Gegners zu laufen und um Demoralisierung und Frustration zu vermeiden.
Was ein wundervolles Spinnennetz von der Arbeit eines Architekten unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Mensch, bevor er solch ein Projekt erstellt, einen Plan in seinem Gehirn und die Mittel zur Umsetzung dieses Plans entwickelt.
Diese Fähigkeit, gemeinsam ein Ziel zu verfolgen oder ein Vorhaben anzupacken, das sich auf unser Verständnis der Realität stützt, ist das, was man „Theorie“ nennt. Die Theorie hat wesentlich zur Entwicklung der Menschheit mit beigetragen. Ohne die Fähigkeit zur Analyse, Schlussfolgerungen zu ziehen und in Übereinstimmung mit unseren Notwendigkeiten und den angestrebten Zielen zu handeln, würden wir sicherlich weiterhin in primitiven Jäger- und Sammlergesellschaften leben.
Die Theorie ist keinesfalls – und aus der Sicht der Arbeiterklasse noch weniger – das Ergebnis eines abstrakten Denkprozesses, der von der Praxis oder den unmittelbaren Bedürfnissen losgelöst ist. Die Theorie ist im Gegenteil Bestandteil derselben Praxis der Revolutionäre. Ohne Theorie kann es keine revolutionäre Praxis geben.
Der Kapitalismus ist die Gesellschaft, in der sich die Warenwirtschaft ausgebreitet hat, in welcher der Tauschwert in Geld verwandelt wurde, das die menschlichen Beziehungen bestimmt, auch im Bereich der Gefühle und Emotionen. Infolgedessen entspricht die gesellschaftliche Produktion den Notwendigkeiten der Warengesellschaft, anstatt die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, so dass diese materielle Wirklichkeit der Produktion eine herrschende Ideologie bestimmt, die als „gesunder Menschenverstand“ betrachtet wird. Jegliche Infragestellung der kapitalistischen Gesellschaft erfordert die Untersuchung und Kritik des herrschenden „gesunden Menschenverstandes“, der in Wirklichkeit nichts anderes als der Versuch der herrschenden Klasse ist, eine Denkweise aufzuzwingen, die den Anschein erweckt, eine „natürliche“ und die einzig mögliche und gültige zu sein. Ohne einen gründlichen Denkprozess ist diese Infragestellung des Kapitals nicht möglich.
Aber die „Theorie“ ist auch nicht das Werk von begnadeten Genies oder eines dogmatischen Katechismus. Im Gegenteil, die revolutionäre Theorie kann nur das kollektive und historische Werk einer ausgebeuteten Klasse sein, die in ihrem Wesen schon Trägerin einer zukünftigen, ausbeutungsfreien Gesellschaft ist. Diese theoretische Erarbeitung kann nur das Werk einer gemeinsamen Kultur des Nachdenkens und der Debatte sein, die dazu in der Lage ist, den „gesunden Menschenverstand“ der herrschenden Klasse in Frage zu stellen und eine Theorie zu erarbeiten, die uns ermöglicht, mit der Ausbeutung der Mehrheit durch eine Minderheit aufzuräumen.
Die Bewegung des 15M (15.Mai 2011) war eine spontane Bewegung, die die Unzufriedenheit und die Empörung der Ausgebeuteten zum Ausdruck brachte; zudem hob sie die Notwendigkeit, den Kampf massiv zu führen, auf eine neue Stufe. Nach dem 15M und ähnlichen Ausdrücken in anderen Ländern sind Gruppen entstanden, die sich der Notwendigkeit bewusst sind, dass man tiefergehend nachdenken muss Die Praxis hat es schon bewiesen: Wenn es an Theorie mangelt, kann man leicht in die Fallen laufen, die der Staatsapparat aufstellt, um uns dazu bewegen, uns für die Interessen des Feindes zu opfern. Diese kleinen Gruppen sind sich bewusst, dass der revolutionäre Kampf eine „theoretische Dimension“ erfordert; es entstehen Diskussionsforen, auf denen diskutiert wird, wie und wofür wir kämpfen. Solche Fragen zu stellen ist eine Notwendigkeit der revolutionären Praxis.
Wie die Asembalearios-TIA schreiben, ist die Selbstorganisierung der Beschäftigten der einzige Weg, um unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Die Systematisierung der Diskussionen, in denen wir alle die politischen Fragen des Kampfes zu klären versuchen, ist die Form der notwendigen Selbstorganisierung in diesen Zeiten der „latenten“ Kämpfe.
Die Krise des Kapitalismus zeigt zum einen auf, wie wir immer mehr in Armut, Barbarei und Zerstörung des Planeten abrutschen, zum anderen wird die Schwierigkeit ersichtlich, eine alternative Gesellschaft zu errichten, in der all die Widersprüche des kapitalistischen Systems überwunden sind. Die Herausforderung ist sehr groß. Deshalb ist es unverzichtbar, dem Kampf eine historische und internationale Perspektive zu verleihen, wodurch wir die Mittel und unser Ziel in der Tiefe begreifen können. Die Schaffung von wirklichen Diskussionsräumen und Orten des Nachdenkens ist die Aufgabe der Stunde für die zukünftigen KämpferInnen. Wir ermutigen die Minderheiten, die überall auf der Welt entstehen, dass sie diese Diskussionsräume und Orte des Nachdenkens schaffen und sich die revolutionäre Theorie aneignen, die unerlässlich ist für die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer neuen Gesellschaft.
Nachfolgend stellen wir den Aufruf der GenossInnen vor, wir für einen Liste von Literaturvorschlägen hinzu. Wir wünschen eine fruchtbare Debatte! IKS 27.12.2012
Werkstätten für empörte Beschäftigte
Alles, was ihr schon immer über den Arbeiterkampf diskutieren wolltet,
aber nie gewagt habt zu tun.
Alicante 2013
Wer sind wir?
Wir sind Beschäftigte, Arbeitslose, StudentInnen... wie du. Menschen, die unter diesem Ausbeutungssystem leiden. Wir haben uns in einer Gruppe organisiert, die sowohl handeln als auch diskutieren möchte. Unsere Gruppe nennt sich „Asamblearias-TIA“ (Empörte und selbstorganisierte Beschäftigte).
Was steckt hinter den Werkstätten?
Mit den Werkstätten, die wir organisieren werden, wollen wir einen Ort des Nachdenkens und des Zusammenkommens schaffen, in denen wir unsere Erfahrung, unser Wissen austauschen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, wo wir aufgrund der tagtäglichen Angriffe des Kapitals in die Enge getrieben werden, halten wir die Schaffung von Orten des Nachdenkens für nötig, die dazu dienen, besser voranzukommen bei der Umsetzung unserer Ziele.
Welche Ziele verfolgen wir?
Es war immer unser Anliegen, die Analyse zu vertiefen und unsere Wirklichkeit mit der geschichtlichen Erfahrung der Bewegung der Ausgebeuteten zu verbinden. Wir glauben an die Notwendigkeit theoretischer, historischer Anstrengungen als eine Waffe, um die Welt zu ändern; eine Waffe, die uns aus den Händen gerissen und in die Hände unseres „Feindes“ gelegt wurde. Diese Werkstätten sollen einen Beitrag in diesem Sinne leisten. Ihr Inhalt und ihre Form drehen sich um die Bewegung der Leute von „Unten“; sie gehen von dieser Bewegung aus und beteiligen sich an ihr. Es geht nicht um irgendwelche Vorlesungen, die irgendein schlauer Professor hält, sondern es geht darum, die Geschichte und eine Theorie zu ergründen, um die Welt zu verändern. Nicht mehr und nicht weniger.
Hinsichtlich des Inhaltes und der Methode wollen wir uns bemühen, die Sachen tiefer zu verstehen; wir wollen zu Aktionen anregen, die sich auf einen Denkprozess stützen, und wir wollen unsere Geschichte und unsere Sprache wiederentdecken. Wir sind ambitiös, weil wir wissen, dass wir obwohl zahlenmäßig wenig, nicht alleine dastehen. Wir wissen, dass wir viele sind in den Reihen dieser „gewaltigen Mehrheit, die eine gewaltige Mehrheit repräsentiert.“
Wie werden wir vorgehen?
Wir wollen uns um Jahre 2013 monatlich zu den Werkstätten treffen, mit Ausnahme der Monate Juli und August. Die vorgeschlagene Methode setzt die Beteiligung der Teilnehmer voraus, womit wir sicherstellen wollen, dass alle Standpunkte mit eingebracht werden können. Wir werden an die Teilnehmer zum entsprechenden Thema Vorbereitungstexte schicken; wir wollen jeweils Einleitungen zum Thema machen, die auf die Vorbereitungstexte eingehen. Dann wollen wir in die Debatte einsteigen.
In der Debatte werden wir auf Begriffe und Wörter stoßen, von denen wir ein Glossar erstellen wollen. Das Glossar wird all diese Begriffe definieren, die uns für die Debatte wichtig erscheinen; dabei wollen wir auf alle möglichen Bedeutungen eingehen.
Worüber wollen wir reden und wann?
- 11.Januar: „Vorstellung der Werkstätten“
- 25. Januar: „Was ist eine Krise und wie dagegen kämpfen?
- 15. Februar: „Der Klassenkampf“
- 15. März: „Selbstorganisierung und Arbeiterautonomie“
- 12. April: „Internationalismus“
- 17. Mai: „Soziale Revolution“
- 14. Juni: „Was meinen wir mit Nationalismus?“
- 20. September: „Demokratie und Befreiung“
- 18. Oktober: „Selbstverwaltung“
-15. November „Syndikalismus“
-13. Dezember: „Parlamentarismus“
Wie kannst du dich beteiligen und wo finden die Werkstätten statt?
Um teilzunehmen, melde dich an unter: [email protected] [2]
Schicke uns deinen Namen, die Werkstätten, an denen du dich beteiligen willst (eine, mehrere, alle) und eine Kontakt-Mailadresse. Wir werden mit allen TeilnehmerInnen eine Einführungsveranstaltung machen, um uns zu organisieren und kennenzulernen. Sie findet am 11. Januar in den Räumen des ASIA statt.
Muss man etwas zahlen?
Um den Raum (und die dort stattfindenden Aktivitäten) zu finanzieren, müssen wir fünf Euro Teilnehmerkosten erheben. Um es deutlich zu sagen, alle eingesammelten Gelder werden für die Selbstverwaltung des ASIA verwendet (Selbstverwaltete ganzheitliche medizinische Hilfe). Wir warten auf Euch. Für weitere Kontaktaufnahmen: [email protected] [2]
Eine Übersicht über die Werkstätten
11. Januar: „Vorstellung der Werkstätten“
Wir verschaffen uns einen Überblick und teilen uns die Themen auf, besprechen Methode und Inhalt, gehen auf Vorschläge und mögliche Änderungsvorschläge ein. Wir wollen auch über die Themenauswahl und die Namensbezeichnung reden.
25. Januar: „Was ist eine Krise und wie kämpft man dagegen?“
Was ist eine Krise? Ist sie Wesensbestandteil des Kapitalismus? Welche Theorien über die Krise gibt es? „Krise“ ist der am häufigsten verwendete Begriff, die Krise rechtfertigt alles. Der Kapitalismus scheint in der Krise zu stecken. Handelt es sich um eine Niedergangskrise? Wenn dies der Fall ist, erfordert dies, auf eine revolutionäre Umwälzung als einziger Ausweg für die Menschheit hinzuarbeiten?
15. Februar: „Der Klassenkampf“
Was ist Klassenkampf? Gibt es ihn heute noch? Ist der Kampf „zentral“, der Dreh- und Angelpunkt? Was versteht man unter Arbeiterklasse? Warum sprechen wir von Klasse? Sind nur Beschäftigte im „Blaumann“ ArbeiterInnen? Gegenüber dem angeblich „modernen“ Staatsbürger als gesellschaftliche Kraft wollen wir auf das historische Subjekt par excellence zurückkommen: die Arbeiterklasse, das Proletariat, die Ausgebeuteten.
15. März: „Selbstorganisierung und Arbeiterautonomie“
Was ist Selbstorganisierung? Warum ist sie so notwendig? Wie können wir sie erreichen? An wen müssen wir uns wenden? Wir bestehen auf der Selbstorganisierung der Versammlungen, auf der Autonomie der Arbeiterklasse. Die Geschichte zeigt uns, dass Selbstorganisierung und Autonomie wesentliche Bestandteile für die Entwicklung der Arbeiterbewegung waren. „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“ (Marx und Engels, MEW 19, S. 165, 1879).
12. April: „Internationalismus“
Was ist Internationalismus? Kann es einen Internationalismus geben, der kein proletarischer ist? Warum ist er für die Arbeiterbewegung so grundlegend? Wie hat er sich in der Geschichte entwickelt? Der Internationalismus ist für die Entwicklung einer wirklichen Bewegung der Ausgebeuteten von grundsätzlicher Bedeutung. Die Befreiung der ArbeiterInnen kann nur weltweit erfolgen.
17. Mai: „Soziale Revolution“
Was ist eine Revolution? Was ist eine Revolution der Arbeiterklasse? Ist die Revolution möglich? Ist sie unvermeidbar? Welche Gesellschaft wollen wir errichten? Wir alle meinen, dass dieses System unhaltbar ist, und viele denken darüber nach, was wir ändern müssen, um in einer Gesellschaft zu leben, die die Bedürfnisse der Menschheit befriedigt.
14. Juni: „Was meinen wir mit Nationalismus?“
Was ist der Nationalismus? Wessen Klasseninteresse spiegelt die nationalistische Ideologie wider? Gibt es eine Verbindung zwischen Nationalismus und Internationalismus? Die nationalistischen Konflikte nehmen immer mehr an Schärfe zu (vor allem in Zeiten der „Krise“). Wir müssen einen Klassenstandpunkt gegenüber dieser Frage einnehmen, die die imperialistischen Konflikte immer mehr aufstachelt.
20. September: „Demokratie und Befreiung“
Was ist Demokratie? War oder ist der Demokratismus eine Befreiungsbewegung der Menschheit? Warum verwendet man diesen Begriff Demokratie so häufig? Wirkliche Demokratie, partizipative Demokratie, direkte Demokratie... In Anbetracht der vielen Verwendungen und Missbräuche des Begriffs der „Demokratie“ müssen wir klären: Was ist die Demokratie und wem dient sie? Was meinen wir in Wirklichkeit, wenn wir von Demokratie reden und warum benutzen wir diesen Begriff nicht?
18. Oktober: „Selbstverwaltung“
Was ist Selbstverwaltung? Warum gibt es solch unterschiedliche Definitionen? Ist Selbstverwaltung das gleiche wie Selbstorganisierung? Ist die Selbstverwaltung eine revolutionäre Waffe für die Arbeiter?
15. November: „Syndikalismus“
Was ist der Syndikalismus? Wie entwickelte er sich in der Arbeiterklasse? Ist er für die Arbeiterklasse weiterhin eine Waffe? Wenn nicht, warum ist das so? Worin unterscheiden sich Selbstorganisierung/Arbeiterautonomie und Syndikalismus? Intuitiv wird dieser Aktivitä von Arbeitern häufig kritisiert, aber die Gewerkschaften haben immer noch einen großen Einfluss in der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften sind nicht mehr nützlich, sie führen uns in die Niederlage. Warum ist das so?
13. Dezember: Parlamentarismus“
Wie entstand der Parlamentarismus? Ist er heute zu etwas nützlich? Welche Entscheidungen werden im Parlament getroffen? Kann der Parlamentarismus reformiert werden? Ebenso wie der Syndikalismus werden heute die Politiker und Wahlen ernsthaft von der Bevölkerung infrage gestellt. Diese zunehmende Infragestellung hat eine tiefere Bedeutung, die wir ergründen müssen.
Warum heute über den primitiven Kommunismus schreiben? Der abrupte Sturz in eine katastrophale Wirtschaftskrise und die Ausbreitung von Kämpfen auf der Welt stellen neue Probleme für die Arbeiterklasse auf; dunkle Wolken ballen sich über die Zukunft des Kapitalismus zusammen, alldieweil die Hoffnung auf eine bessere Welt sich offensichtlich nicht durchsetzen kann. Ist es wirklich an der Zeit, die Gesellschaftsgeschichte unserer Spezies in der Periode ihrer Entstehung etwa 200.000 Jahre vor Beginn der Neolithischen Revolution (vor etwa 10.000 Jahren) zu untersuchen? (1) Was uns selbst betrifft, so sind wir davon überzeugt, dass die Frage für die heutigen Kommunisten mindestens genauso wichtig ist wie für Marx und Engels im 19. Jahrhundert, sowohl aus wissenschaftlichem Interesse als auch als ein Element in unserem Verständnis der Menschheit und ihrer Geschichte und für unser Verständnis der Perspektiven und Möglichkeiten einer künftigen kommunistischen Gesellschaft, die in der Lage ist, den todgeweihten Kapitalismus zu ersetzen.
Aus diesem Grund können wir die Veröffentlichung eines Buches mit dem Titel Le Communisme primitif n’est plus ce qu’il était („Der primitive Kommunismus ist nicht das, was er war“) von Christophe Darmangeat im Jahr 2009 nur begrüßen; und in der Tat ist es noch ermutigender, dass das Buch bereits seine zweite Auflage erlebt, was deutlich ein öffentliches Interesse an diesem Thema signalisiert. (2) Dieser Artikel wird in einer kritischen Rückschau versuchen, zu den Problemen zurückzukehren, die sich angesichts der ersten menschlichen Gesellschaften stellten; wir werden dabei von der Gelegenheit profitieren, die Ideen zu erkunden, die vor rund zwanzig Jahren von Chris Knight (3) in seinem Buch Blood Relations vorgestellt worden waren. (4)
Ehe wir ans Eingemachte gehen, sollte eins klar sein: Die Frage des primitiven Kommunismus und der „menschlichen Art“ sind wissenschaftliche Fragen, nicht politische. In diesem Sinn ist es für eine politische Organisation indiskutabel, sich zum Beispiel eine „Position“ über die menschliche Natur anzumaßen. Wir sind davon überzeugt, dass eine kommunistische Organisation solche Debatten und den Durst ihrer Mitglieder nach wissenschaftlichen Erkenntnissen und, allgemeiner, in der Arbeiterklasse anregen sollte, doch das Ziel hier ist es, die Entwicklung einer materialistischen und wissenschaftlichen Sichtweise der Welt auf der Grundlage der modernen wissenschaftlichen Theorie zu ermutigen, zumindest soweit dies möglich ist für Nicht-Wissenschaftler, die die meisten von uns sind. Die vorgestellten Ideen können daher nicht als „Positionen“ der IKS betrachtet werden: Sie liegen allein in der Verantwortung des Autors resp. der Autorin. (5)
Warum ist die Frage nach unseren Ursprüngen so wichtig?
Warum ist schließlich die Frage nach dem Ursprung unserer Spezies und nach den ersten menschlichen Gesellschaften eine wichtige für Kommunisten? Die Begrifflichkeit des Problems hat sich seit dem 19. Jahrhundert geändert, als Marx und Engels mit Begeisterung das Werk des amerikanischen Anthropologen Lewis Morgan entdeckt hatten. 1884, als Engels Die Ursprünge der Familie, des Privateigentums und des Staates veröffentlichte, war die Wissenschaft gerade erst den Fängen einer Epoche entkommen, in der die Schätzungen des Alters des Planeten oder der menschlichen Gesellschaft auf den biblischen Berechnungen des Bischofs Ussher beruhten. (6) Wie Engels in seinem Vorwort von 1891 schrieb: „Bis zum Anfang der sechziger Jahre kann von einer Geschichte der Familie nicht die Rede sein. Die historische Wissenschaft stand auf diesem Gebiet noch ganz unter dem Einflusse der fünf Bücher Mosis. Die darin ausführlicher als anderswo geschilderte patriarchalische Familienform wurde nicht nur ohne weiteres als die älteste angenommen, sondern auch – nach Abzug der Vielweiberei – mit der heutigen bürgerlichen Familie identifiziert, so daß eigentlich die Familie überhaupt keine geschichtliche Entwicklung durchgemacht hatte…“ (7) Dasselbe traf auf den Eigentumsbegriff zu; die Bourgeoisie konnte gegenüber dem kommunistischen Programm der Arbeiterklasse immer noch einwenden, dass das „Privateigentum“ der menschlichen Gesellschaft immanent ist. Die Idee einer Existenz von gesellschaftlichen Bedingungen für den primitiven Kommunismus waren 1847 derart unbekannt, dass das Kommunistische Manifest mit den Worten begann: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“ (eine Erklärung, die Engels mit einer Bemerkung 1884 zu korrigieren meinte).
Morgans Buch Ancient Society war eine großartige Hilfe bei der Demontage der ahistorischen Sichtweise einer menschlichen Gesellschaft, die auf Privateigentum beruht, auch wenn sein Beitrag von der offiziellen Anthropologie oft versteckt oder mit Schweigen übergangen wurde, besonders in Großbritannien. Wie Engels ebenfalls in seinem Vorwort anmerkte: „… machte Morgan das Maß übervoll, indem er nicht nur die Zivilisation, die Gesellschaft der Warenproduktion, die Grundform unserer heutigen Gesellschaft, in einer Weise kritisierte, die an Fourier erinnert, sondern von einer künftigen Umgestaltung dieser Gesellschaft in Worten spricht, die Karl Marx gesagt haben könnte“.
Heute, im Jahr 2012, ist die Situation eine ganz andere. Eine Reihe von Entdeckungen haben den Ursprung des Menschen immer weiter in die Vergangenheit gerückt, so dass wir heute nicht nur wissen, dass das Privateigentum keinesfalls von Anbeginn zum gesellschaftlichen Fundament des Menschen gehörte, sondern im Gegenteil auch, dass es eine verhältnismäßig junge Erfindung ist, da die Landwirtschaft und somit das Privateigentum sowie die Spaltung der Gesellschaft in Klassen erst etwa 10.000 Jahre alt sind. Sicherlich hat die Bildung von Reichtum und Klassen, wie Alain Testart in seinem Werk Les chasseurs-cueilleurs des inégalités gezeigt hatte, nicht über Nacht stattgefunden; es muss eine lange Zeit bis zur Entstehung einer vollentwickelten Landwirtschaft verstrichen sein, in der die Entwicklung von Lagerungstechniken zur Entstehung einer ungleichen Verteilung des angehäuften Reichtums ermuntert hatte. Nichtsdestotrotz ist heute klar, dass der bei weitem längste Abschnitt der menschlichen Geschichte nicht vom Klassenkampf beherrscht war, sondern einer Gesellschaft ohne Klassen vorbehalten war: einer Gesellschaft, die wir zu recht primitiven Kommunismus nennen können.
Heute wird gegenüber der Idee des Kommunismus nicht mehr eingewendet, dass er das ewige Prinzip des Privateigentums vergewaltige, sondern dass er angeblich der „menschlichen Natur“ zuwiderlaufe. „Man kann die menschliche Natur nicht ändern“, wird uns erzählt, und damit ist die angeblich gewalttätige, wetteifernde und egozentrische Natur des Menschen gemeint. Die kapitalistische Ordnung ist also nicht mehr ewig, sondern lediglich das logische und unvermeidliche Resultat einer unveränderlichen Natur. Dieses Argument ist beileibe nicht auf rechte Ideologien beschränkt. Humanistische Wissenschaftler, die, wie sie glauben, derselben Logik einer genetisch vorbestimmten menschlichen Natur folgen, kommen zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Die New York Review of Books (ein tendenziell linkes Intellektuellenblatt) gibt uns in ihrer Ausgabe vom Oktober 2011 ein Beispiel für dieses Räsonieren: „Menschen wetteifern um Ressourcen, Lebensräume, Partner, gesellschaftlichen Status und um fast alles andere. Jeder lebende Mensch ist der Gipfel eines Geschlechts erfolgreicher Wettbewerber, das bis zu den Ursprüngen des Lebens zurückreicht. Wir sind nichts anderes als fein abgestimmte Konkurrenten. Der Zwang zu konkurrieren hat fast in allem, was wir tun, Einzug gehalten, ob wir dies anerkennen oder nicht. Und die besten Wettbewerber unter uns sind oftmals jene, die am meisten belohnt werden. Man muss nicht weiter schauen als bis zur Wall Street, um ein besonders krasses Beispiel dafür zu nennen (…) Das menschliche Dilemma der Überbevölkerung und der Überausbeutung der Ressourcen wird im Wesentlichen durch die ursprünglichen Impulse angetrieben, die einst unsere Urahnen dazu getrieben haben, einen überdurchschnittlichen Reproduktionserfolg zu erzielen.“ (8)
Dieses Argument scheint auf dem ersten Blick unwiderlegbar zu sein: Man muss in der Tat nicht weit schauen, um endlose Beispiele der Habgier, der Gewalt, der Grausamkeit und des Egoismus in der heutigen Gesellschaft und in der Geschichte zu finden. Aber folgt daraus, dass diese Defekte genetisch vorbestimmt sind – wie wir heute sagen würden? Nichts könnte zweifelhafter sein. Um eine Analogie zu bemühen: Ein Baum, der an einer windumtosten Stelle steht, wächst verbogen und verkrüppelt. Dennoch steht dies nicht in seinen Genen geschrieben; unter besseren Bedingungen würde der Baum gerade und hoch wachsen.
Können wir dasselbe über die menschlichen Wesen sagen?
Es ist eine in unseren Artikeln häufig anzutreffende Binsenweisheit, dass der Widerstand des Weltproletariats gegen die Krise des Kapitalismus nicht der Gewaltsamkeit der Angriffe entspricht, denen es ausgesetzt ist. Die kommunistische Revolution war vielleicht niemals notwendiger und trotzdem gleichzeitig so schwierig wie heute. Einer der Gründe hierfür ist sicherlich – aus unserer Sicht -, dass die ArbeiterInnen nicht nur in ihrer eigenen Kraft, sondern auch in der Möglichkeit des Kommunismus ein mangelndes Vertrauen haben. „Es ist eine schöne Idee“, sagen die Menschen uns, „aber weißt du, die menschliche Natur…“
Um sein Selbstvertrauen wiederzuerlangen, muss sich das Proletariat nicht nur den unmittelbaren Problemen des Kampfes stellen; es muss sich auch den größeren historischen Problemen widmen, die sich durch seine potenziell revolutionäre Konfrontation mit der herrschenden Klassen stellen. Unter diesen Problemen gibt es genau jenes der „menschlichen Natur“, und dieses Problem kann nur im wissenschaftlichen Geist erforscht werden. Wir haben kein Interesse an der „Beweisführung“, dass der Mensch „gut“ ist. Wir hoffen zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was der Mensch ist, um diese Erkenntnis in das politische Projekt des Kommunismus zu integrieren. Das kommunistische Ziel hängt nicht vom „Guten“ im Menschen ab: Die Notwendigkeit des Kommunismus als einzige Lösung der gesellschaftlichen Blockade ist in den Gegebenheiten der kapitalistischen Gesellschaft angelegt, die uns zweifellos in eine katastrophale Zukunft führen wird, wenn der Kapitalismus nicht einer kommunistischen Revolution Platz macht.
Wissenschaftliche Methode
Bevor wir fortfahren, möchten wir uns kurz der Frage der wissenschaftlichen Methode widmen, besonders ihrer Anwendung auf die Untersuchung der menschlichen Geschichte und des menschlichen Verhaltens. Eine Passage zu Beginn des Buches von Knight scheint uns die Frage, welchen Platz die Anthropologie in den Wissenschaften einnimmt, sehr gut zu schildern: „Mehr als jedes Gebiet der Erkenntnis überbrückt die Anthropologie, als Ganzes genommen, die Kluft, die traditionellerweise die Naturwissenschaften von den Geisteswissenschaften trennt. Daher nimmt sie potenziell, wenn auch nicht immer in der Praxis, eine zentrale Stellung unter den Wissenschaften insgesamt ein. Der ausschlaggebende Faden, der die Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften verknüpfen könnte, müsste mehr als durch jedes andere Gebiet durch die Anthropologie verlaufen. Hier kommen die Enden zusammen – hier, wo das Studium der Natur endet und das der Kultur beginnt. An welchem Punkt auf der Skala der Evolution hörten biologische Prinzipien auf, die Vorherrschaft auszuüben, und begannen andere, komplexere Prinzipien ihren Platz einzunehmen? Wo genau verläuft die Trennungslinie zwischen dem tierischen und dem menschlichen Gesellschaftsleben? Ist die Unterscheidung eine grundsätzliche oder eher eine graduelle? Und ist es in Anbetracht dieser Frage wirklich möglich, menschliche Phänomene wissenschaftlich zu untersuchen – mit derselben unvoreingenommenen Objektivität, wie ein Astronom auf Galaxien verweisen kann oder ein Physiker auf subatomare Partikel?
Wenn die Frage des Verhältnisses zwischen den Wissenschaften für viele verworren erscheint, liegt dies nur zum Teil an den wirklichen Schwierigkeiten, die darin enthalten sind. Wissenschaft mag mit dem einen Ende in der objektiven Realität verwurzelt sein, doch mit dem anderen Ende ist sie in der Gesellschaft und in uns selbst verwurzelt. Letztendlich aus gesellschaftlichen und ideologischen Gründen ist die moderne Wissenschaft, fragmentiert und verzerrt unter dem immensen, größtenteils noch uneingestandenen politischen Druck, zufällig auf ihr größtes Problem und auf ihre größte Herausforderung gestoßen – die Geistes- und Naturwissenschaften auf der Basis des Verständnisses der Evolution und des Platzes der Menschheit im Rest des Universums in einer einzigen vereinten Wissenschaft zusammenzuschließen.“ (9)
Die Frage der „Trennungslinie“ zwischen der tierischen Welt, deren Verhalten vor allem von der genetischen Erblast vorbestimmt wird, und der menschlichen Welt, wo das Verhalten neben den Genen in einem weitaus größeren Umfang von unserer kulturellen Entwicklung abhängt, scheint uns in der Tat kreuzwichtig zu sein, um die „menschliche Natur“ zu verstehen. Andere Primaten sind durchaus in der Lage, zu lernen und bis zu einem gewissen Punkt zu erfinden und neue Verhaltensweisen zu übermitteln, doch dies bedeutet nicht, dass sie eine „Kultur“ im menschlichen Sinn besitzen. Diese erlernten Verhaltensweisen bleiben „marginal bei der Aufrechterhaltung der sozio-strukturellen Kontinuität“. (10) Was es der Kultur ermöglicht, in einer „kreativen Explosion“ (11) die Oberhand zu gewinnen, ist die Entwicklung der Kommunikation unter den menschlichen Gruppen, die Entwicklung einer symbolischen Kultur, die auf Sprache und Rituale basiert. Knight zieht in der Tat einen Vergleich zwischen der symbolischen Kultur und der Sprache, die den menschlichen Wesen gestattet, miteinander zu kommunizieren und somit Ideen und daher überall Kultur und Wissenschaften zu übermitteln, die ebenfalls auf einen gemeinsamen Symbolismus gründen, welcher sich auf eine planetare Übereinstimmung zwischen allen Wissenschaftlern und zumindest potenziell zwischen allen menschlichen Wesen stützt. Die wissenschaftliche Praxis ist untrennbar verbunden mit der Debatte und der Fähigkeit eines Jeden, die Schlussfolgerungen zu verifizieren, zu der die Wissenschaft gelangt ist: Sie ist daher der Erzfeind jeder Form der Esoterik, die vom Geheimwissen lebt, das dem Nicht-Eingeweihten verschlossen bleibt.
Weil sie eine universelle Form des Wissens ist und weil sie seit der industriellen Revolution eine eigenständige Produktivkraft gewesen war, die von der assoziierten Arbeit sowohl zeitlich als auch räumlich abhängig ist (12), ist die Wissenschaft von Haus aus internationalistisch, und in diesem Sinn sind Proletariat und Wissenschaft natürliche Verbündete. (13) Dies bedeutet überhaupt nicht, dass es so etwas wie eine „proletarische Wissenschaft“ geben kann. In seinem Artikel über „Marxismus und Wissenschaft“ zitiert Knight diese Worte von Engels: „… je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter.“ (14). Knight fährt fort: „Die Wissenschaft als einzige universelle, internationale und die Spezies vereinigende Form des Wissens hat Vorrang. Wenn sie in den Interessen der Arbeiterklasse verwurzelt werden musste, dann nur in dem Sinne, dass alle Wissenschaft in den Interessen der menschlichen Spezies insgesamt verwurzelt sein muss, wobei die internationale Arbeiterklasse diese Interessen in der modernen Epoche verkörpert, so wie die Erfordernisse der Produktion in früheren Perioden immer diese Interessen verkörpert haben.“
Es gibt zwei weitere Aspekte im wissenschaftlichen Denken, die in Carlo Rovellis Buch über den griechischen Philosophen Anaximander von Miletos (15) beleuchtet werden, die wir hier aufgreifen wollen, weil sie uns fundamental erscheinen: Respekt für die Vorgänger und Zweifel.
Rovelli zeigt, dass Anaximanders Haltung gegenüber seinem Meister Thales mit dem Verhalten brach, dass seine Epoche charakterisierte: entweder totale Ablehnung, um sich selbst als neuer Meister zu etablieren, oder sklavische Ergebenheit gegenüber den Worten des „Meisters“, dessen Gedanken in einem Zustand der Mumifizierung gehalten werden. Die wissenschaftliche Haltung besteht im Gegenteil darin, uns auf das Werk der „Meister“ zu stützen, die von uns gegangen sind, und gleichzeitig ihre Fehler zu kritisieren und zu versuchen, das Wissen zu erweitern. Dies ist die Haltung, die wir in Knights Buch bezüglich Lévi-Strauss und bei Darmangeat hinsichtlich Morgan finden.
Der Zweifel ist fundamental für die Wissenschaft, die das ganze Gegenteil der Religion ist, welche stets Gewissheit und Trost in der Unveränderlichkeit einer ewigen Wahrheit anstrebt. Wie Rovelli sagt: „Die Wissenschaft bietet die besten Antworten an, eben weil sie ihre Antworten nicht als absolute Wahrheiten betrachtet; daher ist sie immer in der Lage, zu lernen und neue Ideen aufzunehmen.“ (16) Dies trifft besonders auf die Anthropologie und Paläo-Anthropologie zu, deren Daten oftmals diffus und ungewiss sind und deren beste Theorien über Nacht durch neue Entdeckungen umgekippt werden können.
Ist es überhaupt möglich, eine wissenschaftliche Sicht auf die Geschichte zu haben? Karl Popper (17), der eine Referenz für die meisten Wissenschaftler verkörpert, sagte nein. Er betrachtete Geschichte als ein „einmaliges Ereignis“, das daher nicht reproduzierbar sei. Da die Verifizierung einer wissenschaftlichen Hypothese von einem reproduzierbaren Experiment abhängt, könne die Geschichte nicht als wissenschaftlich erachtet werden. Aus den gleichen Gründen lehnte Popper die Evolutionstheorie als nicht-wissenschaftlich ab. Und doch ist es heute offensichtlich, dass die wissenschaftliche Methode sich als imstande erwiesen hat, die wesentlichen Mechanismen des evolutionären Prozesses soweit offenzulegen, dass die Menschheit nun die Evolution durch die Gentechnologie manipulieren kann. Ohne so weit zu gehen wie Popper, ist es dennoch klar, dass die Anwendung der wissenschaftlichen Methode auf die Untersuchung der Geschichte bis zu dem Punkt, dass wir Vorhersagen über ihre weitere Entwicklung machen können, eine äußerst heikle Übung ist. Auf der einen Seite verkörpert die menschliche Geschichte – wie die Meteorologie zum Beispiel – eine unkalkulierbare Anzahl von unabhängigen Variablen, auf der anderen Seite – und vor allem weil, wie Marx sagte, die Menschen ihre eigene Geschichte machten – ist die Geschichte daher durch Gesetze determiniert, aber auch durch die Fähigkeit (oder Unfähigkeit) der menschlichen Wesen, ihre Handlungen auf bewusstes Denken und auf die Kenntnis dieser Gesetze zu gründen. Die historische Evolution ist stets Beschränkungen unterworfen: In einem bestimmten Moment sind gewisse Entwicklungen möglich, andere nicht. Doch die Art, in der sich eine bestimmte Situation entwickelt, wird ebenfalls von der Fähigkeit des Menschen bestimmt, sich dieser Einschränkungen gewahr zu werden und auf der Grundlage dieses Bewusstseins zu handeln.
Es ist daher besonders wagemutig von Knight, wenn er die volle Strenge der wissenschaftlichen Methode akzeptiert und seine Theorie experimentellen Tests unterwirft. Natürlich ist es unmöglich, die Geschichte experimentell zu „reproduzieren“. Knight macht daher Vorhersagen auf der Basis seiner Hypothese (1991, dem Jahr, als Blood Relations publiziert wurde) bezüglich künftiger archäologischer Entdeckungen: insbesondere dass die frühesten Spuren der symbolischen Kultur des Menschen einen extensiven Gebrauch von rotem Ocker enthüllen würden. 2006, fünfzehn Jahre später, scheinen sich diese Vorhersagen durch die Entdeckungen der ersten bekannten Spuren menschlicher Kultur in der Blombos-Höhle (Südafrika) bestätigt zu haben. (18) Diese beinhalteten in Stein eingravierten roten Ocker, durchbohrte Meeresmuscheln, anscheinend als Körperschmuck benutzt, und sogar den ersten Farbtopf der Welt, was alles in das Evolutionsmodell passt, das Knight vorschlägt (zu dem wir später zurückkehren werden). Es liegt auf der Hand, dass dies kein „Beweis“ seiner Theorie ist, doch erscheint es uns unbestreitbar, dass es seine Hypothese stärkt.
Die wissenschaftliche Methode unterscheidet sich deutlich von dem Ansatz, der von Darmangeat verfolgt wurde, welcher sich, wie uns scheint, auf die induktive Methode einengt, eine Methode, die Tatsachen zusammenbringt, um anschließend aus ihnen einige gemeinsame Faktoren zu extrahieren. Diese Methode ist nicht ohne Wert im wissenschaftlichen Geschichtsstudium: Im Grunde genommen muss jegliche Theorie mit der Realität übereinstimmen. Doch Darmangeat scheint sehr zurückhaltend gegenüber dem Versuch zu sein, weiter zu gehen, und dies scheint uns eher ein empirischer denn ein wissenschaftlicher Ansatz zu sein: Wissenschaft schreitet nicht durch die Induktion aus beobachteten Tatsachen voran, sondern durch die Hypothese, die sich sicherlich in Übereinstimmung mit der Beobachtung befinden muss, aber auch einen Ansatz (experimentell, wenn möglich) anregen sollte, der es ermöglichen würde, weiter zu gehen in Richtung neuer Entdeckungen und neuer Beobachtungen. Die String-Theorie in der Quantenmechanik ist ein eindrucksvolles Beispiel für diese Methode: Obwohl sie soweit wie möglich mit beobachteten Fakten übereinstimmt, kann sie heute experimentell nicht verifiziert werden, da die Partikel (oder „Strings“), deren Existenz sie postuliert, zu klein sind, um mit den existenten Technologien gemessen werden zu können. Die String-Theorie bleibt somit eine spekulative Hypothese – doch ohne diese Art von gewagter Spekulation wäre die Wissenschaft nicht in der Lage, voran zu schreiten.
Ein anderes Problem mit der induktiven Methode besteht darin, dass sie notgedrungen eine Auswahl ihrer Beobachtungen aus der Unermesslichkeit der bekannten Realität treffen muss. So verfährt Darmangeat, wenn er sich allein auf ethnographische Beobachtungen stützt und jegliche Berücksichtigung der Rolle von Evolution und Genetik außer Acht lässt – was uns für ein Werk, das bezweckt, „den Ursprung der Unterdrückung der Frauen“ (so der Untertitel von Darmangeats Buch) offenzulegen, als ein Unding erscheint.
Morgan, Engels und die wissenschaftliche Methode
Wenden wir uns nun, nach diesen sehr bescheidenen Anmerkungen über die Frage der Methodik, wieder Darmangeats Buch zu, das der Ausgangspunkt dieses Artikels ist.
Das Buch ist in zwei Hälften geteilt: Der erste Teil untersucht das Werk des amerikanischen Anthropologen Lewis Morgan, auf dem Engels sein Buch Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates basierte, während der zweite Teil Engels‘ Frage bezüglich der Ursprünge der Unterdrückung der Frau aufgreift. In diesem zweiten Teil konzentriert sich Darmangeat darauf, den Gedanken zu attackieren, dass einst ein primitiver, auf dem Matriarchat basierender Kommunismus existierte.
Der erste Teil erscheint uns besonders interessant (19), und wir können Darmangeat rückhaltlos zustimmen, wenn er jene angeblich „marxistische“ Position attackiert, die das Werk von Morgan (und erst recht von Engels) in den Rang eines unantastbaren religiösen Textes hebt. Nichts könnte dem wissenschaftlichen Geist des Marxismus fernerliegen. Auch wenn wir von Marxisten erwarten sollten, das Erscheinen und die Entwicklung der materialistischen Gesellschaftstheorie von einem historischen Standpunkt aus zu betrachten und somit auch früheren Theorien Rechnung zu tragen, ist es völlig klar, dass wir Texte aus dem 19. Jahrhundert nicht als letztes Wort nehmen und die immense Anhäufung von ethnographischen Erkenntnissen seither ignorieren können. Sicherlich ist es notwendig, eine kritische Sichtweise in diesem Zusammenhang aufrechtzuhalten: Darmangeat besteht wie Knight auf die Tatsache, dass der Kampf gegen Morgans Theorien in keiner Weise auf der Grundlage einer „reinen“, „neutralen“ Wissenschaft geführt wurde. Wenn Morgans zeitgenössische und spätere Gegner seine Fehler aufzeigten oder wenn sie die Aufmerksamkeit auf Entdeckungen lenkten, die nicht in seine Theorie passen, war ihr Ziel im Allgemeinen nicht unvoreingenommen. Indem sie Morgan angriffen, attackierten sie die evolutionäre Sichtweise der menschlichen Gesellschaft und versuchten, die patriarchalische Familie und das Privateigentum der bürgerlichen Gesellschaft als „ewige“ Kategorien aller menschlichen Gesellschaften in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiederherzustellen. Dies war ganz eindeutig der Fall bei Malinowski, einem der größten Ethnographen des frühen 20. Jahrhunderts, der 1931 in einem Rundfunkinterview äußerte: „Ich glaube, dass das zerstörerischste Element in den modernen revolutionären Tendenzen die Idee ist, dass die Elternschaft kollektiv ausgeübt werden kann. Falls wir je an dem Punkt gelangten, die Einzelfamilie als das Schlüsselelement unserer Gesellschaft abzuschaffen, werden wir uns einer gesellschaftlichen Katastrophe gegenübersehen, gegen die der politische Umbruch der Französischen Revolution und die ökonomischen Veränderungen des Bolschewismus unbedeutend sind. Daher ist die Frage, ob die Gruppenmutterschaft eine Institution ist, die niemals existiert hat, oder ob sie ein Arrangement ist, das mit der menschlichen Natur und der sozialen Ordnung kompatibel ist, von einem beträchtlichen praktischen Interesse.“ (18) Hier sind wir weit entfernt von wissenschaftlicher Objektivität…
Kommen wir nun zu Darmangeats Kritik an Morgan. Diese ist in unseren Augen von größtem Interesse, und sei es nur, weil sie mit einer ziemlich detaillierten Zusammenfassung von Morgans Theorie beginnt und diese somit auch für die Nichteingeweihten unter den Lesern zugänglich macht. Besonders begrüßen wir dabei die Tabelle, die die verschiedenen Stufen der Gesellschaftsentwicklung auflistet, die von Morgan und der Anthropologie seiner Zeit benutzt wurden („Wildheit“, „Barbarei“, etc.) und die heute benutzt werden (Altsteinzeit, Jungsteinzeit, etc.), was es erleichtert, sich in die historische Zeit zu versetzen, und die erläuternden Diagramme verschiedener Verwandtschaftssysteme. Der ganze Abschnitt ist voll von klaren, didaktischen Erläuterungen.
Das Fundament der Theorie Morgans besteht darin, die Familienform, das Verwandtschaftssystem und die technische Entwicklung in einer Reihe von evolutionären Schritten zusammenzubringen, die aus dem „Zustand der Wildheit“ (der ersten Stufe der menschlichen Gesellschaftsentwicklung, die der Altsteinzeit entsprach) in die „Barbarei“ (die Jungsteinzeit, Eisen- und Bronzezeit) und schließlich in die Zivilisation führten. Diese Evolution wird demzufolge von der technischen Entwicklung bestimmt, und der scheinbare Widerspruch zwischen den Familien- und Verwandtschaftssystemen, den Morgan in vielen Völkern (insbesondere den Irokesen) beobachtet hat, stellt für ihn die dazwischen liegenden Stufen zwischen einer primitiven und einer fortgeschrittenen Wirtschaft und Technologie dar. Traurig nur für die Theorie, dass, wenn wir genauer hinschauen, dies nicht der Fall ist. Um nur eins der vielen Beispiele Darmangeats zu geben: laut Morgan soll das „punaluanische“ Verwandtschaftssystem angeblich eine der primitivsten technischen und gesellschaftlichen Stufen darstellen, und doch kann es auf Hawaii in einer Gesellschaft angetroffen werden, die Wohlstand, soziale Ungleichheit und eine aristokratische Gesellschaftsschicht beherbergt und die im Begriff ist, sich in einen voll entfalteten Staat und in eine Klassengesellschaft zu verwandeln. Familien- und Verwandtschaftssysteme werden also von gesellschaftlichen Bedürfnissen bestimmt, jedoch nicht in direkter Linie von den primitivsten zu den modernsten.
Bedeutet dies, dass die marxistische Sichtweise der gesellschaftlichen Evolution in die Mülltonne geworfen werden sollte? Ganz oder gar nicht, sagt Darmangeat. Jedoch müssen wir trennen, was Morgan und nach ihm Marx und Engels zusammenzubringen versuchten: die Evolution der Technologie (und somit der Produktivität) und die Familiensysteme. „Obgleich sich die Produktionsweisen alle qualitativ voneinander unterscheiden, besitzen sie alle eine gemeinsame Quantität, die es ermöglicht, sie in eine aufsteigende Reihe einzuordnen, die darüber hinaus grob ihrer chronologischen Ordnung entspricht (…) (Für die Familie) gibt es keine gemeinsame Quantität, die dazu benutzt werden könnte, eine aufsteigende Reihe von verschiedenen Formen herzustellen“. (20) Es liegt auf der Hand, dass die Ökonomie „in letzter Instanz“ (um Engels Worte zu benutzen) der ausschlaggebende Faktor ist: Wenn es keine Ökonomie (d.h. keine Reproduktion von allem Lebensnotwendigen für das menschliche Leben) gäbe, dann würde es auch kein gesellschaftliches Leben geben. Aber diese „letzte Instanz“ hinterlässt einen großen Raum für andere Einflüsse, seien sie geographischer, historischer, kultureller oder anderer Art. Ideen, Kulturen – in ihrem breitesten Sinn – sind ebenfalls ausschlaggebende Faktoren in der Gesellschaft. Am Ende seines Lebens bedauerte es Engels, dass die dringende Not, den historischen Materialismus auf eine sichere Basis zu stellen, Marx und ihm selbst zu wenig Zeit übrig ließ, andere historisch bestimmende Faktoren zu analysieren. (21)
Die Kritik der Anthropologie
Im zweiten Teil seines Buches stellt Darmangeat seine eigenen Gedanken vor. Wir finden hier zwei grundlegende Themen: auf der einen Seite eine historische Kritik der anthropologischen Theorie über die Stellung der Frauen in primitiven Gesellschaften, auf der anderen Seite haben wir die Erläuterungen seiner eigenen Schlussfolgerung zu diesem Subjekt. Die historische Kritik konzentriert sich auf die Evolution dessen, was für Darmangeat die marxistische – oder zumindest marxistisch beeinflusste – Sichtweise des primitiven Kommunismus vom Standpunkt der Frau in der primitiven Gesellschaft ist, und ist eine heftige Anprangerung der „feministischen“ Versuche, die Idee eines urzeitlichen Matriarchats in den ersten menschlichen Gesellschaften zu vertreten.
Diese Auswahl ist nicht unbegründet, auch wenn sie unserer Auffassung nach nicht immer glücklich ist und den Autor dazu verleitet, einige marxistischen Theoretiker zu ignorieren, die in eine solche Untersuchung hineingehören, und andere mit einzuschließen, die dort überhaupt nichts zu suchen haben. Nehmen wir nur einige Beispiele: Darmangeat kritisiert mehrere Seiten lang Alexandra Kollontai (22), sagt aber nichts über Rosa Luxemburg. Nun, welche Rolle Kollontai auch immer in der Russischen Revolution und im Widerstand gegen ihre Degeneration (sie spielte eine führende Rolle in der „Arbeiteropposition“) gespielt hatte, Kollontai hatte nie einen großen Anteil an der Entwicklung der marxistischen Theorie und noch weniger an der Theorie der Anthropologie.
Auf der anderen Seite war Luxemburg nicht nur eine führende marxistische Theoretikerin, sie war auch die Autorin von Einführung in die Nationalökonomie, die sich auf der Grundlage der zu damaliger Zeit aktuellsten Forschungsergebnissen zu einem bedeutenden Teil der Frage des primitiven Kommunismus widmet. Die einzige Rechtfertigung für dieses Ungleichgewicht ist, dass Kollontai zunächst in der sozialistischen Bewegung, schließlich im frühen Sowjet-Russland eine wichtige Rolle im Kampf für die Frauenrechte spielte, während Luxemburg nie großes Interesse am Feminismus zeigte. Zwei weitere marxistische Autoren, die über das Thema des primitiven Kommunismus schrieben, sind nicht einmal erwähnt worden: Karl Kautsky (Ethik und die materialistische Geschichtsauffassung) und Anton Pannekoek (Anthropogenesis).
Unter den unglücklichen Berücksichtigungen finden wir zum Beispiel Evelyn Reed: Dieses Mitglied der amerikanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (einer trotzkistischen Organisation, die die Teilnahme am II. Weltkrieg „kritisch“ unterstützte) wird mit berücksichtigt, weil sie 1975 Feminism and Anthropology schrieb, ein Werk, das damals einen gewissen Erfolg in linken Zirkeln erzielte. Doch wie Darmangeat sagt, wurde das Buch von Anthropologen fast vollständig ignoriert, hauptsächlich wegen der Dürftigkeit seiner Argumente, auf die selbst freundlich gesinnte Kritiker hinwiesen.
Wir finden dieselben blinden Flecken unter den Anthropologen: Claude Lévi-Strauss, eine der wichtigsten Gestalten in der Anthropologie des 20. Jahrhunderts, dessen Theorie über den Übergang von der Natur zur Kultur auf der Idee des Austausches von Frauen zwischen den Männern gründet, erhält nur eine Statistenrolle, während Bronislaw Malinowski erst gar nicht vorkommt.
Doch der blinde Fleck, der am meisten überrascht, ist Chris Knight. Darmangeats Buch konzentriert sich besonders auf die Lage der Frauen in primitiven kommunistischen Gesellschaften und auf die Kritik der Theorien, die einer bestimmten marxistischen oder marxistisch beeinflussten Tradition angehören. 1991 veröffentlichte der britische Anthropologe Chris Knight, der sein Werk ausdrücklich innerhalb der marxistischen Tradition ansiedelt, ein Buch, Blood Relations (Blutsverwandtschaften), das sich exakt mit dem Thema, das Darmangeat umtreibt, beschäftigt. Man könnte erwarten, dass Darmangeat ihm seine größte Aufmerksamkeit widmen würde, dies umso mehr, weil er selbst die „große Belesenheit“ anerkennt, die in diesem Buch zum Ausdruck kommt. Doch nichts davon kommt in Darmangeats Buch vor, ganz das Gegenteil. Er widmet nicht einmal eine Seite (S. 321) Knights These, wo er uns mitteilt, dass Knight „ständig die schwerwiegenden methodischen Fehler von Reed und Briffault wiederholt (Knight sagt nichts über den Erstgenannten, aber zitiert ausgiebig den Letztgenannten)“, was bei einem französisch sprachigen Leser ohne Zugang zu einem Buch, das nur auf Englisch erhältlich ist, den Eindruck hinterlässt, dass Knight nichts andere täte, als Leuten hinterherzulaufen, die von Darmangeat bereits als nicht ernst zu nehmen bezeichnet wurden. (23) Doch ein flüchtiger Blick auf Knights Bibliographie reicht aus, um zu zeigen, dass er, obwohl er in der Tat Briffault zitiert, Marx, Engels, Lévi-Strauss, Marshall Sahlins und vielen mehr einen viel größeren Platz einräumt. Und wenn man sich die Mühe macht, seine Bezugnahmen auf Briffault zu untersuchen, findet man schnell heraus, dass Knight das Werk des Letzteren (1927 veröffentlicht) ungeachtet seiner Verdienste als „überholt in seinen Quellen und seiner Methodik“ (24) betrachtet.
Kurz, unser Gefühl ist, dass Darmangeat uns „zwischen zwei Stühlen sitzen“ lässt: Wir landen bei einer kritischen Schilderung, die weder eine wahre Kritik der von Marxisten vertretenen Positionen noch eine wirkliche Kritik der anthropologischen Theorie ist, und dies vermittelt uns zuweilen den Eindruck, als schauten wir Don Quixote bei seinem Kampf gegen die Windmühlenflügel zu. Die Wahl dieser Struktur scheint uns obskurer als alles andere, ein Argument, das in anderen Zusammenhängen von einem beträchtlichen Interesse ist.
Jens (Fortsetzung folgt)
1) Eine Gesellschaftsgeschichte, die für einige menschliche Populationen bis zum heutigen Tag fortdauert.
2) Editions Smolny, Toulouse, 2009. Wir sind uns der Veröffentlichung der zweiten Ausgabe von Darmangeats Buch (Smolny, Toulouse, 2012) just zu dem Zeitpunkt gewahr geworden, als dieser Artikel kurz vor seiner Veröffentlichung stand, und wir fragten uns natürlich, ob wir diese Rezension neu schreiben müssen. Nachdem wir uns durch die zweite Ausgabe durchgelesen hatten, hatten wir den Eindruck, dass wir diesen Artikel im Wesentlichen in seinem ursprünglichen Zustand belassen konnten. Der Autor wies selbst in einem neuen Vorwort darauf hin, dass er nicht „die Kernideen des Textes verändert (habe), auch nicht die Argumente, auf die er basierte“, und ein Studium der zweiten Ausgabe bestätigt dies. Wir haben uns daher darauf beschränkt, einige Argumente auf der Basis der zweiten Ausgabe näher auszuführen.
3) Chris Knight ist ein englischer Anthropologe und Mitglied der „Radical Anthropology Group“. Er hat an den Debatten über die Wissenschaft auf dem 19. Kongress der IKS teilgenommen, und wir haben seinen Artikel über „Marxismus und Wissenschaft“ auf unserer Website veröffentlicht.
4) Yale University Press, New Haven and London, 1991.
5) Abgesehen davon, verdankt der Autor bzw. die Autorin sehr viel den Diskussionen in der Organisation, ohne die es mit Sicherheit unmöglich gewesen wäre, diese Ideen zu entwickeln.
6) Bischof Ussher war ein umtriebiger Gelehrter des 17. Jahrhunderts, der das Alter der Erde auf der Basis biblischer Ahnenforschungen berechnete: Er datierte die Schaffung der Erde auf das Jahr 4004 v.Chr.
7) MEW, Band 22, S. 212.
8) https://www.nybooks.com [6] articles/archives/2011/oct/13/can-our-species-escape-destruction.
9) Knight, ob.zit., S. 56f.
10) Ebenda, S. 11. Wir sehen hier eine Analogie zur Warenproduktion und zur kapitalistischen Gesellschaft. Warenproduktion und Handel existierten seit Beginn der Zivilisation oder vielleicht noch länger, doch wurden sie erst im Kapitalismus zu bestimmenden Faktoren.
11) Ebenda, S. 12.
12) Siehe unseren Artikel „Reading notes on science and Marxism“.
13) Dies trifft auf die Wissenschaft wie auch auf andere Produktivkräfte im Kapitalismus zu: „Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangnen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie auf Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegraphen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden gestampfte Bevölkerungen – welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schoße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten (…) Die Produktivkräfte, die ihr zur Verfügung stehn, dienen nicht mehr zur Beförderung der bürgerlichen Eigentumsverhältnisse; im Gegenteil, sie sind zu gewaltig, für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt; und sobald sie dies Hemmnis überwinden, bringen sie die ganze bürgerliche Gesellschaft in Unordnung, gefährden sie die Existenz des bürgerlichen Eigentums.“ (Marx/Engels, Das kommunistische Manifest, Teil 1, „Bourgeois und Proletarier“.
14) Engels, „Ludwig Feuerbach und das Ende der klassischen deutschen Philosophie. MEW, Band ??.
15) The first scientist: Anaximander and his legacy, Westholme Publishing, 2011.
16) Unsere Übersetzung aus dem Französischen, zitiert in einem auf unserer französischen Website veröffentlichten Artikel.
17) Karl Popper (1902-1994) wurde in Wien, Österreich geboren. Er war einer der einflussreichsten Wissenschaftsphilosophen des 20. Jahrhunderts und ein unumgänglicher Referenzpunkt für alle WissenschaftlerInnen, die an Fragen der Methodik interessiert sind. Er besteht insbesondere auf die Idee der „Widerlegbarkeit“, die feststellt, dass jegliche Hypothese, möchte sie als wissenschaftlich anerkannt werden, in der Lage sein muss, Experimente vorzuschlagen, die es gestatten würden, sie zu widerlegen: Sollten solche Experimente unmöglich sein, kann eine Hypothese nicht in Anspruch nehmen, wissenschaftlich zu sein. Auf dieser Grundlage meinte Popper, dass der Marxismus, die Psychoanalyse und – zumindest anfänglich – der Darwinismus nicht behaupten könnten, eine wissenschaftliche Disziplin zu sein.
18) Siehe das Werk der Stellenbosch-Konferenz, das in The cradle of language, OUP, 2009, und den Artikel, der in der Ausgabe von La Recherche (www.larecherche.fr/content/recherche/article?id=30891 [7]) im November 2011 veröffentlicht wurde.
19) Ironischerweise hat Darmangeat in der zweiten Ausgabe den ersten Teil des Buches als Appendix angehängt, anscheinend aus Furcht davor, die fachfremden Leser mit der „Trockenheit“ dieses Teils abzuschrecken, um die Worte des Autors selbst zu benutzen.
20) S. 136 in der ersten Ausgabe. Die Übersetzung aus dem Französischen ist von uns.
21) „Daß von den Jüngeren zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt, haben Marx und ich teilweise selbst verschulden müssen. Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen an der Wechselwirklung beteiligten Momente zu ihrem Rcht kommen zu lassen. Aber sowie es zur Darstellung eines historischen Abschnitts, also zur praktischen Anwendung kam, änderte sich die Sache, und da war kein Irrtum möglich. Es ist aber leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat, und das auch nicht immer richtig. und diesen Vorwurf kann ich manchem der neueren ‚Marxisten‘ nicht ersparen, und es ist da auch wunderbares Zeug geleistet worden.“ (Engels, Brief an J. Bloch, 21. September 1890)
22) In der zweiten Ausgabe hat Kollontai sogar einen eigenen Unter-Abschnitt.
23) Die Kritik an Knights Werk ist in der zweiten Ausgabe nicht mehr so ausführlich, mit Ausnahme einer Bezugnahme auf eine kritische Rezension von Joan M. Gero, eine feministische Anthropologin und Autorin von Engendering archaeology. Diese Rezension scheint uns ein wenig oberflächlich und politisch parteiisch. Hier ein typisches Beispiel: „Was Knight als eine ‚erzeugte‘ Perspektive über die Ursprünge der Kultur vorstellt, ist eine paranoide und verzerrende Sichtweise der ‚weiblichen Solidarität‘, die (alle) Frauen als sexuelle Ausbeuter und Manipulatoren (aller) Männer darstellt. Zwischengeschlechtliche Beziehungen werden immerdar und überall als Verhältnisse zwischen Opfern und Manipulatoren charakterisiert; ausbeuterischen Frauen wird stets unterstellt, Männer durch das eine oder andere Mittel in eine Falle locken zu wollen, und tatsächlich würde ihre Verschwörung als die eigentliche Grundlage der Entwicklung unserer Spezies dienen. Die LeserInnen könnten sich durch die Behauptung gekränkt fühlen, dass Männer stets promiskuitiv gewesen seien und dass lediglich guter Sex, gemessen von sich zierenden, aber berechnenden Frauen, sie zu Hause halten und an ihren Nachwuchs interessiert machen könne. Nicht nur, dass das Szenario unwahrscheinlich und nicht erwiesen ist und gleichermaßen abscheulich für Feministen und Nicht-Feministen ist, hinzu kommt, dass die soziologische Begründung all die nuancierten Versionen der Gesellschaftskonstruktion von geschlechtlichen Verhältnissen, Ideologien und Handlungen aufgibt, die so zentral und faszinierend in den Gender-Studien heute sind“. Kurz, wir werden eingeladen, eine wissenschaftliche These abzulehnen, nicht weil sie falsch ist – Gero hat nichts darüber zu sagen und macht sich nicht die Mühe, dies zu beweisen -, sondern weil sie für bestimmte Feministen „abscheulich“ ist.
24) Darmangeat, ob.zit. S. 328.
Erneut übernimmt die französische Bourgeoisie in einem bewaffneten Konflikt in Afrika eine Führungsrolle. Und erneut rechtfertigt sie dies im Namen des Friedens. In Mali geht es angeblich um den Kampf gegen den Terrorismus und um die Sicherheit der Völker. Natürlich steht die Grausamkeit der bewaffneten Banden, die im Norden Malis die Bevölkerung terrorisieren, außer Frage. Diese Warlords hinterlassen viele Tote und verbreiten nur Schrecken. Doch das Motiv der französischen Intervention ist nicht die Verhinderung des Leids der einheimischen Bevölkerung. Der französische Staat will nur seine eigenen, schmutzigen imperialistischen Interessen schützen. In einigen Stadtvierteln der malischen Hauptstadt Bamako haben die Einwohner Freudentänze aufgeführt und François Hollande als Retter gefeiert. Dies sind die einzigen Bilder des Krieges, die die Medien verbreiten: eine feiernde Bevölkerung, die darüber erleichtert ist, dass der Vormarsch der mafia-ähnlichen Banden auf die Hauptstadt gestoppt worden ist. Aber diese Freude wird nicht lange anhalten. Wenn eine „große Demokratie“ mit ihren Panzern durchs Land rasselt, bleibt das Gras nicht mehr grün! Im Gegenteil: sie hinterlässt Verwüstung, Chaos, Elend. Ein Blick auf die Landkarte zeigt die Schauplätze der Hauptkonflikte und Hungersnöte auf, die in Afrika seit den 1990er Jahren gewütet haben. Die Ergebnisse sind erschreckend: Alle Kriege, die - wie in Somalia 1992 oder in Ruanda 1994 - oft unter dem Banner der „humanitären Hilfe“ geführt wurden, haben katastrophale Nahrungsmittelengpässe verursacht. Das Gleiche steht Mali bevor. Dieser neue Krieg wird die ganze Region destabilisieren und das Chaos vergrößern.
Ein imperialistischer Krieg„Wenn ich Präsident bin, wird das System des ‚französisch beherrschten Afrikas‘ aufhören“. Diese Riesenlüge von François Hollande riefe nur ein müdes Lächeln hervor, wenn sie nicht mit noch mehr Blutvergießen einherginge. Die linken Parteien beschwören stets ihre „humanitären“ Anliegen und verstecken so seit einem Jahrhundert ihr wahres Wesen. Sie sind eine bürgerliche Fraktion, die genau wie alle anderen bereit ist, jedes nur denkbare Verbrechen zu begehen, um das Interesse der Nation zu verteidigen. Denn genau darum geht es auch in Mali: die strategischen Interessen Frankreichs zu schützen. Wie François Mitterrand, der seinerzeit ein militärisches Eingreifen im Tschad, Irak, im damaligen Jugoslawien, in Somalia und Ruanda veranlasst hatte, beweist auch François Hollande, dass die „Sozialisten“ niemals zögern, ihre „Werte“ (d.h. die bürgerlichen Interessen der französischen Nation) auch bewaffnet zu verteidigen.
Seit Beginn der Besetzung des Nordens des Landes durch die Islamisten trieben insbesondere Frankreich und die USA hinter den Kulissen die Länder dieser Zone zu einem militärischen Eingreifen an; sie boten dazu finanzielle Unterstützung und logistische Hilfe an. Aber die USA schienen sich bei diesen Manipulationen und Ränkespielen um Bündnisse als die Überlegenen zu erweisen; ihr Einfluss nahm in der Region zu. Für Frankreich war es jedoch überhaupt nicht hinnehmbar, dass man ihm in seinem Hinterhof den Rang ablief; es musste reagieren und mit der Faust auf den Tisch schlagen: „Als Entscheidungen anstanden, hat Frankreich reagiert und sich auf sein Vorrecht als ehemalige Kolonialmacht berufen. Mali näherte sich sicherlich zu sehr den USA. Das ging sogar so weit, dass der halbamtliche Sitz von Africom, der vereinigten militärischen Kommandozentrale für Afrika, den George Bush 2007 einberufen hatte und seitdem von Barack Obama konsolidiert wurde, in Mali eingerichtet wurde“ (Courrier international, 17.1. 2013).
In Wirklichkeit sind in diesem Teil der Erde die imperialistischen Bündnisse äußerst komplex und sehr instabil. Die Verbündeten von heute können morgen schon Feinde sein, wenn sie es nicht gar gleichzeitig sind. So pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Saudi-Arabien und Katar, die von Frankreich und den USA als „enge Verbündete“ bezeichnet werden, auch die Hauptgeldgeber der in der Sahel-Zone agierenden islamistischen Gruppen sind. Deshalb überraschte es nicht, am 18. Januar in Le Monde zu lesen, dass der Premierminister Katars sich gegen die Intervention Frankreichs in Mali aussprach und die Operation „Serval“ ablehnte. Und was soll man von den Supermächten USA und China halten, die offiziell Frankreich unterstützen, um gleichzeitig hinter den Kulissen das Gegenteil zu tun und ihre eigenen Figuren in Stellung zu bringen?
Frankreich verstrickt sich im Sahel für eine lange ZeitWie für die USA in Afghanistan besteht das große Risiko, dass Frankreich im Morast des neuen Kriegsschauplatzes stecken bleibt. Frankreich wird schnell im „malischen Sumpf“ und der angrenzenden Sahel-Zone versinken; und es sieht danach aus, dass dies lange andauern wird (Hollande sagt: die „notwendige Zeit“). „Auch wenn die militärische Operation in Anbetracht der Gefahren gerechtfertigt ist, den die terroristischen, gut bewaffneten und immer fanatischer werdenden Gruppen darstellen, gibt es dennoch das Risiko, dass die Stabilität in der ganzen west-afrikanischen Region dauerhaft gefährdet wird und Frankreich in einen Sumpf gerät. Man muss die Lage mit Somalia vergleichen. Die Gewalt, die sich nach den tragischen Ereignissen von Mogadischu Anfang der 1990er Jahre ausbreitete, ist auf das ganze Horn von Afrika übergesprungen, so dass nun 20 Jahre danach noch immer keine Stabilität erreicht werden konnte“ (A. Bourgi, Le Monde, 15. 1.2013). Hier haben wir das Ergebnis der angeblich „humanitären“ und „antiterroristischen“ Kriege. Wenn die „großen Demokratien“ „zum Wohl des Volkes“, der „Moral“ und des „Friedens“ die Kriegstrommel rühren, bleiben tatsächlich immer Ruinen und Leichengeruch zurück.
Von Libyen bis Mali, von der Elfenbeinküste bis Algerien - das Chaos breitet sich immer weiter aus„Man kommt nicht umhin festzustellen, dass der jüngste Staatsstreich in Mali ein Kollateralschaden der Aufstände im Norden ist, die wiederum die Folgen der Destabilisierung Libyens durch eine westliche Koalition sind, die seltsamerweise keine Gewissensbisse und Schuldgefühle verspürt. Ebenso muss man feststellen, dass dieser afrikanische Wind Harmattan nun über Mali weht, nachdem er vorher durch die Nachbarstaaten Elfenbeinküste, Guinea, Niger und Mauretanien gezogen ist" (Courrier International, 11.4.2012). Tatsächlich kämpften viele bewaffnete Gruppen an der Seite Gaddafis; sie üben heute ihr Handwerk in Mali aus, nachdem sie zuvor noch die geheimen Waffenlager in Libyen geplündert hatten.
Doch die „westliche Koalition“ griff auch in Libyen angeblich nur ein, um Ordnung und Recht herzustellen und den Interessen des libyschen Volkes zu dienen. Heute leiden die Unterdrückten dieser Region unter der gleichen Barbarei und das Chaos sich weiter aus. Der Krieg in Mali wird auch Algerien destabilisieren. Am Donnerstag, den 17. Januar 2013, nahm eine Einheit von AQMI (al-Qaida in Mali) Hunderte von Beschäftigten in einer Gasförderanlage in Tagantourine als Geisel. Die algerische Armee ging massiv gegen die Geiselnehmer vor, auf beiden Seiten gab es viele Tote. Zu diesem Massaker hat Hollande wie jeder andere Kriegsherr, wie jeder Angehöriger der herrschenden Klasse, der ihre Interessen zu verteidigen sucht, erklärt: „Ein Land wie Algerien hat, wie mir scheint, die beste Antwort geliefert, denn man darf mit diesen Leuten nicht verhandeln.“ Der Eintritt Algeriens in den Sahel-Krieg, der von dem französischen Staatschef im Sinne der Logik des imperialistischen Krieges begrüßt wurde, zeigt den Teufelskreis auf, in dem der Kapitalismus steckt. „Die auf seinem Territorium bislang nicht dagewesene Eskalation treibt Algier ein Stückchen weiter in einen Krieg, den das Land um jeden Preis vermeiden wollte, weil es die Konsequenzen im Landesinnern befürchten muss.“ (Le Monde, 18. 1. 2013)
Seit Beginn der Krise in Mali betrieben die Machthaber in Algier ein doppeltes Spiel: Einerseits „verhandelte“ Algier mit islamistischen Gruppen, von denen sich einige gar auf algerischem Territorium mit Benzin versorgen konnten, um die Eroberung der Stadt Konna zu ermöglichen und ihren Vormarsch auf Bamako fortzusetzen. Andererseits hat Algerien französischen Militärflugzeugen den algerischen Luftraum zur Verfügung gestellt, damit sie dschihadistische Gruppen im Norden Malis bombardieren. Diese widersprüchliche Position und die Tatsache, dass die Kämpfer von AQMI so leicht auf die Gasförderanlage in diesem „sichersten Land“ vordringen konnten, offenbart, wie weit der Staatsapparat sowie die Gesellschaft Algeriens insgesamt verrottet sind. Wie schon die Entwicklung im Süden des Sahel wird der Eintritt Algeriens in den Krieg den Zerfallsprozess in der Region beschleunigen.
All diese Kriege zeigen, dass der Kapitalismus einer äußerst gefährlichen Spirale anheimfällt, die das Überleben der Menschheit aufs Spiel setzt. Ganze Weltregionen werden in Chaos und Barbarei gestürzt. Immer mehr vermischen sich die Gräueltaten der Folterknechte vor Ort (Warlords, Clanführer, terroristische Banden...) mit der Grausamkeit zweitrangiger Imperialisten (kleine und mittlere Staaten) und der vernichtenden Gewalt der großen Nationen. Jeder Beteiligte ist zu allem bereit, zu allen möglichen Intrigen, Manipulationen, Verbrechen, Attentaten. Die Grausamkeiten kennen keine Grenzen, wenn es darum geht, die eigenen Interessen zu verteidigen. Die ständigen Bündniswechsel vermitteln den Eindruck eines makabren Tanzballs.
Dieses todgeweihte System wird weiter in Gewalt versinken; die kriegerischen Konflikte werden sich weiter ausdehnen und immer größere Gebiete verwüsten. Für eine Seite Stellung beziehen, um „das geringere Übel“ zu verteidigen, heißt, sich dieser Dynamik zu unterwerfen, die keinen „Ausweg“ haben wird als noch mehr Tod und die Zerstörung der Menschheit. Nur eine Alternative ist realistisch, nur eine Kraft kann uns aus diesem Teufelskreislauf hinausführen: der massive und internationale Kampf der Ausgebeuteten auf der ganzen Welt für eine Gesellschaft ohne Klasse und ohne Ausbeutung, ohne Elend und ohne Krieg. Amina, 19.Januar 2013Im politischen Milieu im deutschsprachigen Raum, das den Anspruch hat, eine Rolle bei einer zukünftigen revolutionären Umgestaltung der menschlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu spielen, ist seit einiger Zeit eine Diskussion über das Wesen der Gewerkschaften im Gang. Es geht dabei insbesondere um die Fragen, ob die Arbeiterklasse sich noch auf diese Organe stützen könne und ob sie für eine Revolution mit dem Ziel einer Gesellschaft der freien Assoziation der Produzierenden von Nutzen oder umgekehrt ein Hindernis seien. Ein Beitrag zu dieser Diskussion ist Ende 2011 in Kosmoprolet Nr. 3 unter dem Titel Schranken proletarische Emanzipation – zur Kritik der Gewerkschaften erschienen. In der Schweiz ist die Debatte namentlich auf dem Internetforum undergrounddogs.net weiter geführt worden, wobei auch Artikel und andere Stellungnahmen der IKS zur Gewerkschaftsfrage zitiert und kritisiert worden sind.1 Der folgende Beitrag möchte auf zwei aus unserer Sicht offen gebliebene Fragen zurück kommen und versuchen, die begonnenen Gedanken weiter zu spinnen. Dabei geht es einerseits um die Frage, ob die Gewerkschaften heute einen eindeutigen Klassencharakter haben oder umgekehrt „zwiespältig“, „ambivalent“ seien, andererseits um das Argument, die IKS-Position zu den Gewerkschaften sei letztlich eine Art Verschwörungstheorie.
Klassencharakter der Gewerkschaften oder Ambivalenz?
In der Tradition der italienischen und französischen kommunistischen Linken, in der sich die IKS sieht, sind die Gewerkschaften seit Beginn der Dekadenz des Kapitalismus – seit dem Ersten Weltkrieg – Teil des kapitalistischen Staates. Da ab diesem Zeitpunkt die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Überwindung des Kapitalismus reif und umgekehrt für die Arbeiterklasse keine substantiellen und dauerhaften Reformen mehr herauszuschlagen sind, verlieren die bisherigen Organe der Arbeiterklasse, die sie sich zur Erkämpfung solcher Reformen geschaffen hatte, ihre Funktion. Sie werden für die Arbeiterklasse wertlos. Da sie aber nicht abgeschafft, sondern von der Bourgeoisie und ihrem Staat für ihre Zwecke angeeignet wurden (zur Erhaltung des „Burgfriedens“ und zur Mobilisierung der proletarischen Massen für den Krieg), verloren sie ihren proletarischen Klassencharakter2. Sie wurden in den totalitären Staat der Bourgeoisie (sei er demokratisch, stalinistisch oder faschistisch) integriert.3 Ihr Klassencharakter ist kapitalistisch, bürgerlich geworden. Die Gewerkschaftsführer sind oft Parlamentarier oder andere Funktionsträger des bürgerlichen Staats, während die Gewerkschaftsmitglieder weiterhin Arbeiter_innen sind, die sich je nach politischer und wirtschaftlicher Situation mehr oder weniger mit der Politik der Gewerkschaft identifizieren und sich durch sie vertreten fühlen – oder unabhängig von ihnen Kämpfe führen und sich selber organisieren.
Die in den Diskussionen aufgetauchte Position der Ambivalenz, des zwiespältigen Charakters der Gewerkschaften, unterscheidet nicht zwischen verschiedenen geschichtlichen Phasen des Kapitalismus, sondern versucht, das Wesen der Gewerkschaften rein „ihrem Inhalt nach“ zu bestimmen: „(…) die Gewerkschaften waren und sind keine Kampfform der Gesamtklasse. Dreierlei fällt auf, wenn man sie sich diesbezüglich anschaut: Erstens vertreten sie grundsätzlich die Interessen ihrer spezifischen Klientel und vertiefen damit die Zersplitterung der Arbeiterinnen und Arbeiter in Betriebe und Sektoren, sowie in Gelernte und Ungelernte. Zweitens sind die Gewerkschaften in ihrer Rolle als ‚Sozialpartner‘ im nationalen Rahmen entstanden und an diesen gebunden. (…) Auch die Spaltung der Klasse in Nationen wird somit von den Gewerkschaften verdoppelt. Drittens schliesslich ist zu beobachten, dass die Gewerkschaften – da sie sich in ihren Forderungen stets auf den vom Kapitalismus vorgegebenen Rahmen beschränken müssen – ihr Handeln immer an den durch die Konjunktur gegebenen Möglichkeiten ausrichten.“4
In der Diskussion auf undergrounddogs.net formuliert Muoit das zwiespältige Wesen so: „Die Gewerkschaften vertreten ähnlich wie der Staat das Interesse des Gesamtkapitals - auch gegen den Widerstand einzelner Kapitale oder Kapitalfraktionen - an der Reproduktion der Gesamtklasse und sie haben ein Interesse daran, dass die Arbeiterklasse verwaltet werden kann und nicht komplett aus dem Ruder läuft. In diesem Sinne sind sie tatsächlich ein Teil des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis. Gleichzeitig aber sind sie Vertreter des variablen Kapitalteils, welches halt in der kapitalistischen Realität mit den immanenten Interessen der ArbeiterInnen zusammenfällt. Dieser Doppelcharakter zeigt die innere Widersprüchlichkeit der Gewerkschaften ziemlich gut auf: Auf der einen Seite vertreten sie ihre Klientel innerhalb des Kapitalismus - und sind dabei übrigens von der Mobilisierungsfähigkeit ihrer Basis abhängig! - andererseits haben sie dafür zu sorgen, dass die ArbeiterInnen eben gerade nicht unkontrollierbar werden und im Ernstfall dann mit ihrer Rolle als ArbeiterIn schluss machen wollen.“
Einigkeit besteht zwischen den beiden Positionen vermutlich in der Feststellung, dass die Gewerkschaften keine Organe der Revolution sind5. Die beiden Analysen scheiden sich auch nicht hinsichtlich der Frage, was passiert, wenn die Arbeiter_innen sich für ihre Kämpfe auf die Gewerkschaften verlassen: Diese haben die Aufgabe, die Kämpfe in Bahnen zu lenken, die das System nicht bedrohen, d.h. die nationalstaatliche Logik und ein in die verschiedenen Sektoren und Berufsgattungen gespaltenes Proletariat sind die Folgen. Grundsätzlich könnte man die gemeinsame Basis, auf der wir argumentieren, so zusammenfassen:
- Ablehnung jeder nationalstaatlichen Logik;
- das Proletariat muss für seine Ziele selbst kämpfen und
- sich dabei selbst, in eigenen von ihm kontrollierten Strukturen organisieren.
Worin besteht denn die wesentliche Differenz zwischen den beiden Positionen? – Vielleicht kann man sie so auf einen einfachen Nenner bringen: Während die IKS behauptet, dass die Gewerkschaften in der niedergehenden Phase des Kapitalismus für die Arbeiter_innen nicht nur unnütz sind, sondern ihrem Klassenfeind, der Bourgeoisie, dienen, entgegnet die „Position der Ambivalenz“: Dies ist zu einfach – wenn die Arbeiter_innen hinter den Gewerkschaften stehen, so fühlen sie sich in ihren Interessen, soweit diese im Kapitalismus realisierbar sind, vertreten und sind es auch; insofern sind die Gewerkschaften nicht nur Organe fürs Kapital, sondern auch fürs (nicht revolutionäre) Proletariat.
Aber die „Position der Ambivalenz“ macht es sich unseres Erachtens zu einfach, obwohl sie vorgibt, differenzierter zu sein.
Niemand wird bestreiten, dass die Gewerkschaften verschiedene Funktionen haben, je nach Sichtwinkel. Aus der Sicht eines Gewerkschaftsmitgliedes erfüllen diese Organisationen manchmal die Funktion, punktuelle, von ihm erwünschte Verbesserungen durchzusetzen. Aus der Sicht des bürgerlich-demokratischen Staates sind die Gewerkschaften „Sozialpartner“ und konstitutive Elemente der verfassungsmässigen Ordnung. Weiter ist auch klar, dass die Einstellung der Arbeiter und Arbeiterinnen zu den Gewerkschaften empirisch betrachtet ambivalent ist. In normalen Zeiten fühlen sie sich von ihnen vertreten; wenn es stürmisch wird, wenden sie sich enttäuscht von ihnen ab. Die Frage kann aber aus „kommunistischer“6 Sicht nicht sein, alle möglichen subjektiven Gesichtspunkte demokratisch gegeneinander abzuwägen und daraus eine „Objektivität“ zu kreieren – den Doppelcharakter –, sondern von einem Klassenstandpunkt aus zu bestimmen versuchen, welches ihre wesentliche Funktion ist.
Gehen wir von Muoits Feststellungen aus, dass die Gewerkschaften „Teil des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis“ sind und „ähnlich wie der Staat das Interesse des Gesamtkapitals (…) an der Reproduktion der Gesamtklasse“ vertreten. Für die aufsteigende Phase des Kapitalismus wären wir mit dieser Charakterisierung nicht einverstanden, weil die Gewerkschaften in der damaligen Zeit ein lebendiger Ausdruck des Kampfes der Arbeiterklasse waren, auch wenn ihr Ziel nicht unmittelbar die Revolution war. Darin zeigt sich eine interessante Dialektik zwischen Ziel und Erreichbarkeit desselben: In den Zeiten, als die Gewerkschaften entstanden, erreichten sie genau die Ziele, die sie sich vornahmen – es ging um die langfristige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter_innen. Sie waren noch kein Organ, das im Interesse des Gesamtkapitals fungierte. Obwohl nicht explizit revolutionär waren die Gewerkschaften damals auf lange Sicht durchaus im Einklag mit den Interessen der Revolution. – Aber hier interessiert uns die Aktualität, so dass wir die Beschreibung Muoits gelten lassen können. Was folgt daraus? Die Gewerkschaften sind gemäss „Position der Ambivalenz“ Organe fürs Kapital – und gleichzeitig Organe fürs Proletariat. Sofern man von einem antagonistischen Verhältnis zwischen den Interessen des Proletariats und denen des Kapitals ausgeht (und diesen Ausgangspunkt werden die Verteidiger der Ambivalenz nicht in Frage stellen wollen), wäre dies als stabiler Zustand unmöglich. Dass Organe sich bekämpfender Klassen einen Doppelcharakter haben, kommt nur als Ausnahme in revolutionären Zeiten vor, beispielsweise bei den Sowjets bzw. Arbeiterräten im Frühsommer 1917 in Russland und im November/Dezember 1918 in Deutschland. Letztlich bedeutet die Position einer stabilen Ambivalenz, auf das Kriterium des Klassencharakters zu verzichten.
Vermutlich steckt hinter dieser Position die nicht zu Ende gedachte Erfahrung, dass es zwischen der „Klasse an sich“ und der „Klasse an und für sich“ in normalen Zeiten eine grosse Kluft gibt. Die „Klasse an sich“ ist das Proletariat, das in der Regel der herrschenden Ideologie unterworfen ist, in der bürgerlichen Demokratie mitmacht, die Gewerkschaften okay findet, in Milliarden von Individuen aufgeteilt ist – kurz: das Proletariat, das sich gar nicht als eigenständige und weltumspannende Klasse, als kollektives Subjekt wahrnimmt. Die „Klasse an und für sich“ ist das selbstbewusste, die Geschichte in die eigenen Hände nehmende Proletariat – eine Ausnahmeerscheinung. Bedeutet aber die Erfahrung, dass die Klasse im normalen kapitalistischen Alltag (selbst in wirtschaftlichen Krisenzeiten) seine antagonistischen Interessen zum Kapital nicht ausdrücklich formuliert, dass wir die Begriffe Klasseninteressen oder gar das Erkennen des Klassenwesens aufgeben müssen?
Marx schrieb in Die heilige Familie: „Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat, als Ziel sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist, und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird.“ – Diese viel zitierte Stelle kann natürlich als Abkömmling des Hegelschen Weltgeistes oder schlicht deterministisch à la Bordiga7 interpretiert werden. Wenn man sich aber von diesen idealistischen Schalen befreit und nach dem materialistischen Kern fragt, so stösst man auf einen nützlichen Begriff: den des proletarischen Wesens, d.h. das, was das Proletariat geschichtlich ist (sein Sein). Daran misst sich das proletarische Interesse. Es zielt darauf ab, die kapitalistische Ausbeutung und damit sich selbst aufzuheben.
Gibt es einen Erkenntnisvorteil, wenn man von einem nicht eindeutigen, eben einem ambivalenten Charakter der Gewerkschaften ausgeht? Die „Position der Ambivalenz“ stellt sich als differenziert und „dialektisch“8 dar. Sie will insbesondere eine wesentliche Differenz zwischen dem Kapital und dem Staat machen: Die Gewerkschaften seien sehr wohl Teil des Kapitals als gesellschaftlichem Verhältnis, aber nicht Teil des Staats, obwohl sie wie dieser Interessen des Gesamtkapitals verträten. Selbst wenn wir diesem Gedanken folgen könnten und diese Differenzierung übernähmen, ist doch in Bezug auf die Frage des Klassencharakters der Gewerkschaften nichts Neues gewonnen. Wenn sie Teil der kapitalistischen gesamtgesellschaftlichen Reproduktion sind, üben sie eine Funktion fürs Kapital aus. Dass sie dabei gleichzeitig eine Funktion fürs Proletariat übernähmen, wird von der „Position der Ambivalenz“ nur insofern behauptet, als es um die „immanenten Interessen der Arbeiter_innen“ geht. Mit diesem Argument könnte auch ein kapitalistisches Unternehmen wie IKEA als ambivalent bezeichnet werden: Abgesehen davon, dass es dem Kapital Profit abwirft, kann sich auch der Arbeiter als Käufer an seinen neuen günstigen Möbeln freuen … Die subjektiven Befindlichkeiten von Gewerkschaftsmitgliedern oder Konsumenten zum Ausgangspunkt zu nehmen, wenn man die wesentliche Funktion einer gesellschaftlichen Organisation bestimmen will, ist nicht seriös. Die Dialektik dieses Zwiespalts ist die zwischen Wesen und – Schein.
Praktische Bedeutung der Divergenz?
Manche_r wird sich vielleicht in der Zwischenzeit gefragt haben, was die praktischen Folgen dieser scheinbar tiefschürfenden Meinungsverschiedenheiten sind. Wir wissen es auch nicht genau. Wir können es uns aber nicht verkneifen, da noch ein paar Gedanken anzustricken.
Betrachten wir die anscheinend praktischste aller Fragen – die der Intervention, des Eingreifens in den Klassenkampf. Verleitet die Position der Ambivalenz angesichts fehlender Kampfbereitschaft der „Klasse an sich“ nicht zur Schlussfolgerung, man könne das Terrain getrost der Gewerkschaften überlassen? Das Proletariat sei „selber schuld“, wenn es nur immanent kämpfe? – Fast jeder Kampf der Arbeiterklasse beginnt auf dem zunächst rein wirtschaftlichen Terrain der Verteidigung von vermeintlichen (oder tatsächlichen) Errungenschaften. Führt diese Position des zwiespältigen Charakters der Gewerkschaften nicht zur Aussage: Für solche Kämpfe sind die Gewerkschaften genau der richtige Helfer?
Wir haben diese Position in der laufenden Diskussion nicht gehört oder gelesen. Aber wenn es sie gäbe, wäre ihr zu entgegnen: Eine ambivalente Haltung gegenüber den Gewerkschaften in der heutigen Gesellschaft kann Ausdruck eines passiven Rollenverständnisses der Revolutionäre gegenüber der Kernfrage des Bewusstseins sein. Im Sinne von: Die Forderungen und Haltungen der Klasse „an sich“ seien in einem gewissen Sinne neutral – so sei sie halt, die Klasse, die „nur immanent“ kämpfe. Die Gewerkschaften helfen ihnen immanent, und für die grosse Sache ist nichts verloren – weit gefehlt! Wenn die Gewerkschaften (= „Vertreter des variablen Kapitalteils“) der richtige Ort für sich immanent wehrende Arbeiter sind, so sind sie logischerweise auch der richtige Ort für unser Eingreifen. So können, ja müssen wir Funktionen in diesem Räderwerk übernehmen, sei es im Gewerkschaftsapparat oder wenigstens an der Basis?
Die wohl gravierendste Schwäche und Konsequenz dieser Position der Ambivalenz ist die Reduzierung der Rolle der Gewerkschaften auf das ökonomische Terrain, da sie ja dort die Interessen des variablen Kapitals (sprich der Arbeiterklasse) repräsentieren würden. Die Gewerkschaften haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts mitnichten nur in der Auseinandersetzung über Löhne, Arbeitsbedingungen oder Betriebsschliessungen eine Rolle gespielt. Sie waren (neben dem Tagesgeschäft der Teilnahme am demokratischen Abstimmungs- und Wahlzirkus)die unabdingbaren ideologischen und praktischen Faktoren für das Kapital zur Mobilisierung der Arbeiterklasse in die Weltkriege. Bekanntestes Beispiel dafür ist vielleicht die Rolle der deutschen Gewerkschaften 1914. Der Klassencharakter einer Organisation wie der Gewerkschaften zeigt sich unverblümt in Momenten der offenen Klassenkonfrontationen oder des Krieges. Gerade hier ist nicht nachvollziehbar, was die Rede vom „ambivalenten Charakter“ differenzieren will. Das Wesen der Gewerkschaften anhand einer auf die Ökonomie und die relativ „friedlichen Zeiten“ eingegrenzten Sichtweise beurteilen zu wollen, führt wohl zwangsläufig zu einer Unterschätzung ihrer konterrevolutionären Macht.
Da wird munter am alten kapitalistischen Verblendungszusammenhang gesponnen, unabhängig davon, ob sich die Protagonisten des Dramas dessen bewusst sind oder nicht.
Im zweiten Teil des Artikels werden wir auf die Kritik eingehen, die Haltung der IKS zu den Gewerkschaften habe Gemeinsamkeiten mit Verschwörungstheorien.Maluco, 29.01.13 - Fortsetzung folgt
2 Der Begriff des Klassencharakters oder Klassenwesens wird von dieser Position vorausgesetzt. Sie erklärt ihn nicht. Als Hinweis darauf, dass es sich dabei um eine für die Erkenntnis wichtige Kategorie handeln könnte, mag derjenige auf Marxens Analyse des Klassencharakters der Commune in Der Bürgerkrieg in Frankreich aushelfen (MEW 17 S. 342).
3 Diese Position wird ausführlicher begründet in unserer Broschüre Die Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse.
4 Kosmoprolet Nr. 3, S. 57 und 59f.
5 Auch auf diesem Gebiet wird es aber noch einige Fragen zu debattieren geben – z.B. mit den Anarchosyndikalist_innen.
6 So definiert wie im Kommunistischen Manifest: „Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, dass sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, andrerseits dadurch, dass sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.“
7 "Die kommunistische Revolution ist so sicher, als wäre sie bereits geschehen."
8 Muoit auf undergrounddogs.net: „Dialektik zwischen der Funktion der Gewerkschaften als Verwalter und Vertreter des variablen Kapitals und ihrer Rolle als Ordnungsfaktor“
"Gewerkschaftsdebatte, 2. Teil: Sind die Gewerkschaften Verschwörer? [14]"Die Krise im Euro-Raum nimmt immer dramatischere Züge an. Griechenland, das einst zu den Ländern mit den niedrigsten Selbstmordraten weltweit zählte, erlebt zurzeit eine Welle von Selbstmorden. Allein 2011 ist – laut der Zeitung „Ta Nea“ - die Selbstmordrate um 45 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. In vielen Abschiedsbriefen wird ausdrücklich die Krise als Grund für den Freitod angegeben, etliche Selbstmorde werden „öffentlich inszeniert, um auf die schlechte Lage aufmerksam zu machen“ (SPIEGEL online, 1 5.4.1 2). Doch dieses Phänomen ist nicht nur eine Reaktion auf die Krise und auf die mit ihr einhergehende Verarmung und Verelendung weiter Teile der Bevölkerung. Vollständig erklären lässt es sich nur, wenn man noch einen weiteren Faktor dabei berücksichtigt. Die Selbstmordwelle in Griechenland und anderswo wirft ein Schlaglicht auf die akute Perspektivlosigkeit, die derzeit beileibe nicht nur in der griechischen Arbeiterklasse grassiert. Im Gegensatz zu den Arbeitergenerationen des 19. Jahrhunderts, deren Kämpfe noch vom Streben nach einer besseren Gesellschaft beseelt gewesen waren, hat unsere Klasse heute ihren Glauben am Kommunismus verloren bzw. noch nicht wiederentdeckt. Auf Dauer reicht es jedoch nicht aus zu wissen, wogegen man kämpft; erst wenn sich die Ausgebeuteten auch bewusst sind, wofür sie kämpfen, erst wenn sie überzeugt sind, dass der Kommunismus nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist, wird ihr Widerstand jene moralische Kraft erlangen, die unerlässlich ist, um die Mutlosigkeit und Depression zu vertreiben, die sich derzeit in wachsenden Teilen der Arbeiterklasse breitmachen.
Noch eine andere Zahl lässt aufhorchen: Seit Ausbruch der Krise haben sich in Italien allein rund sechzig mittelständische Unternehmer das Leben genommen. Sie verzweifelten an säumige Schuldner, die selbst pleite sind, und an Banken, die nicht mehr bereit sind, Kredite zu vergeben. Ihr Freitod ist der krasseste Ausdruck für den Bankrott der herrschenden Klasse, für die Ausweglosigkeit der Lage der kapitalistischen Klasse, die – anders als im oben geschilderten Fall der Arbeiterklasse – nicht nur eine gefühlte, sondern auch eine faktische Ausweglosigkeit ist. Die Bourgeoisie, vom kleinen Familienunternehmer bis hin zum arrivierten Großkapital, ist eine Klasse, deren Uhr abgelaufen ist, die nur dank der Schwäche der Ausgebeuteten dieser Welt noch nicht von der historischen Bühne abgetreten ist.
Zur gleichen Schlussfolgerung kam Marc Sprenger, Leiter des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC). Dieser warnte am 6. Dezember, der Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung und sogar der grundlegenden Hygiene in Griechenland könne in ganz Europa Pandemien in Gang setzen. Es fehlt an Geld für Handschuhe, Kitteln und Desinfektionstüchern, Wattebäuschen, Kathetern und Papierunterlagen zur Bedeckung von Untersuchungsbetten. Patienten mit hochinfektiösen Erkrankungen wie Tuberkulose erhalten nicht die notwendige Behandlung, das Risiko für die Ausbreitung resistenter Viren in Europa steigt.
Die Entwicklung in Griechenland führt uns den eklatanten Gegensatz vor Augen, der zwischen dem technisch Möglichen und der Wirklichkeit im Kapitalismus besteht.
Im 19. Jahrhundert starben oft bis zu einem Drittel der Patienten aufgrund mangelnder Hygiene in den Krankenhäusern, insbesondere Frauen bei der Entbindung. Was seinerzeit zu einem Großteil auf Unwissenheit zurückzuführen war, dass nämlich viele Ärzte und das Pflegepersonal sich vor Eingriffen nicht die Hände wuschen und oft mit blutverschmierten Kitteln von einem Patienten zum anderen eilten, wurde durch neue Erkenntnisse (zum Beispiel durch Semmelweis oder Lister) zurückgedrängt. Neue Hygienemaßnahmen und Entdeckungen hinsichtlich Keimübertragungen erlaubten eine deutliche Reduzierung der Infektionsgefahren im Krankenhaus; mittlerweile gehören Hygienehandschuhe und Einmalbesteck in den Operationssälen zum Mindeststandard moderner Medizin. Doch im Gegensatz zu den Zuständen im 19. Jahrhundert sind die jetzigen Gefahren, die in den Krankenhäusern in Griechenland erkennbar werden, kein Zeichen von Unwissenheit, sondern ein Ausdruck der Bedrohung der Menschheit durch ein vollkommen überholtes, bankrottes Produktionssystem.
Wenn heute in der einstigen Hochburg der Zivilisation, Griechenland, die Gesundheit von Menschen aufgrund von nicht bezahlbaren Hygienehandschuhen bedroht ist; wenn schwangere Frauen, die zur Geburt ins Krankenhaus kommen, abgewiesen werden, weil sie kein Geld oder keine Krankenversicherung haben; wenn herzkranke Menschen ihre lebenserhaltenden Medikamente nicht mehr bezahlen können, dann ist dies nicht anderes als ein vorsätzlicher und lebensgefährlicher Angriff gegen die Menschen. Die Tatsache, dass in einem Krankenhaus das für Hygiene unerlässliche Reinigungspersonal nicht mehr bezahlt wird und Ärzte sowie Pfleger, die selbst seit langem keinen Lohn mehr erhalten haben, die Putzaufgaben übernehmen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die „Gesundung“ der Wirtschaft, von der die herrschende Klasse redet. Die „Gesundung" der Wirtschaft: eine Bedrohung für das Leben der Menschen!
Aber nicht nur in Griechenland wird das Gesundheitssystem abgebaut, nicht nur dort geht es scheibchenweise zugrunde. Auch anderswo wird das Gesundheitswesen immer mehr demontiert, wie zum Beispiel in Spanien. In der alten Industriehochburg Barcelona wie auch in anderen Städten werden Notaufnahmestationen zum Teil nur stundenweise geöffnet, um Kosten zu sparen. In Spanien, Portugal und Griechenland erhalten viele Apotheken wegen der Zahlungsunfähigkeit der Patienten bzw. wegen ihrer eigenen Insolvenz keine lebenswichtigen Medikamente mehr. So liefert die deutsche Pharmafirma Merck nicht länger ihre Krebsarznei „Erbitux“ an griechische Krankenhäuser. Biotest, ein Unternehmen, das aus Blutplasma Mittel zur Behandlung von Hämophilie und Tetanus gewinnt, hatte seine Lieferungen wegen unbezahlter Rechnungen schon im Juni eingestellt.
Kannte man bislang solch eine desolate medizinische Versorgung hauptsächlich aus afrikanischen Ländern oder aus vom Krieg zerrütteten Regionen, sorgt die Krise nun auch in den Industriezentren des Westens immer mehr dafür, dass lebenswichtigen Bereiche wie die Gesundheitsversorgung auf dem Altar des Profits geopfert werden. Medizin also nicht nach dem medizinischen Möglichen, sondern nur nach Barzahlung! Griechenland ist lediglich der extreme Ausdruck dessen, was auch im hiesigen Gesundheitssystem gängige Praxis ist: die Umwandlung der Krankenhäuser in „profit center“, die Metamorphose des Patienten zum „Kunden“ und die Banalisierung des kostbaren Gutes der Gesundheit zu einer einfachen Ware.Attachment | Size |
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Zehn Jahre nach der Verkündung der Agenda 2010 hat sich Deutschland vom ‚kranken Mann Europas‘ zum wirtschaftlichen Zugpferd des gesamten Kontinents entwickelt.“ So kommentierte das Zentralorgan der deutschen Bourgeoisie, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in seiner Online-Ausgabe vom 13. März dieses Jahres den 10. Jahrestag der Ankündigung des in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis dahin schlimmsten Angriffs gegen die abhängig Beschäftigten dieses Landes. Dieser Angriff, der im Grunde aus einer Reihe von Einzelattacken bestand, die als „Hartz I bis IV“ (benannt nach Peter Hartz, einem ehemaligen VW-Manager, der seinerzeit von Schröder, damaliger Bundeskanzler einer rot-grünen Koalition, damit beauftragt wurde, die Einzelheiten dieser Angriffe auszuhecken) in die Annalen eingingen, veränderte die soziale Landschaft in Deutschland grundlegend. Er bedeutete das Ende der sog. „Sozialen Marktwirtschaft“, einst eines der Erfolgsgeheimnisse des „Wirtschaftswunders“ im Nachkriegsdeutschland, nun in den Augen der Herrschenden überflüssiger Ballast, den es schleunigst zu entsorgen galt.
Um sich ein Bild von dem Ausmaß dieser Angriffe zu machen, hilft vielleicht ein Blick zurück auf den status ante quo, auf die ersten 40 Jahre der Bundesrepublik Deutschlands, als der Kalte Krieg noch seinen Schatten warf und die SPD, als sie noch mit der FDP die sozialliberale Koalition bildete, es sich noch leisten konnte, mit dem „Modell Deutschland“ hausieren zu gehen. Ohne den Blick zurück zu verklären, gehörte der Lebensstandard der westdeutschen Arbeiterklasse bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zweifellos zu den höchsten in der gesamten Welt. Dies drückte sich zum einen in einer wachsenden Kaufkraft von „Otto Normalverbraucher“, die weit über die reinen Reproduktionskosten hinausging, und zum anderen in hohen Sozialstandards aus, die für ein relativ engmaschiges soziales Sicherungsnetz, aber auch für die Aufblähung der staatlichen und unternehmerischen Sozialausgaben (Renten-, Arbeitslosen-, Krankenversicherung, etc.) sorgten.
Das Phänomen des Wohlfahrtsstaates, das den gängigen marxistischen Vorstellungen von der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse doch so offensichtlich zu widersprechen schien, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen zwang der durch den blutigen Aderlass des Zweiten Weltkrieges bewirkte massive Mangel an Arbeitskräften die Unternehmen in den Zeiten des „Wirtschaftswunders“ zu erheblichen Lohnzugeständnissen. Trotz der Integration des Millionenheers der Vertriebenen in die bundesrepublikanische Wirtschaft war die Arbeitskraft insbesondere in den 1960er Jahren, den Jahren der Vollbeschäftigung, ein rares Gut, das es auch durch entsprechende Sozialleistungen wie die sog. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall oder die Arbeitslosenunterstützung (die bis in die 1970er Jahre fast 90 Prozent des Lohns betrug) zu hegen und zu pflegen galt. Zum anderen übte die Tatsache, dass Deutschland ein Frontstaat im Kalten Krieg war, einen nicht unerheblichen Druck auf die Herrschenden auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aus, ihre Bevölkerung durch sozialpolitische Wohltaten „bei der Stange zu halten“.
Ab Ende der 1960er Jahre, das Ende der Wiederaufbauperiode wurde eingeläutet, begannen allmählich die Grundlagen des vielbesungenen Wohlfahrtstaates wegzubrechen. Die Krise, wenngleich anfangs in noch recht moderaten Ausmaßen, führte mit ihren Folgeerscheinungen wie der Massenarbeitslosigkeit zu einer Überbelastung der Sozialkassen; und die Hochlohnpolitik des Wohlfahrtstaates mündete letztendlich in Inflation. Doch während in Großbritannien und den USA diesen „Jahren der Illusion“, wie wir die 1970er Jahre charakterisierten, mit dem Machtantritt der erst kürzlich verstorbenen Margareth Thatcher in Großbritannien und von Ronald Reagan in den USA in den 80ern die „Jahre der Wahrheit“ folgten, blieb in der Bundesrepublik im Wesentlichen alles beim Alten. Sicherlich war die politische Klasse auch in Deutschland nicht untätig; da und dort wurde an den Stellschrauben des Sozialstaates zum Schaden der Arbeiterklasse gedreht. Doch schon in den achtziger Jahren häuften sich die Stimmen, die sich eine weitergehende „Reformierung“ des Sozialstaates oder gar gleich sein Ende wünschten. Gerne verwiesen diese Meinungsmacher dabei auf ausländische Stimmen, die den „unflexiblen“, „starren“ deutschen Arbeitsmarkt kritisierten, weil er nach dieser Lesart ausländischen Investoren den Eintritt in den deutschen Markt erschwerte, wenn nicht gar verunmöglichte. Doch die christlich-liberale Koalition unter Bundeskanzler Helmut Kohl, die 1982 mit dem Versprechen einer „geistig-moralischen Wende“ angetreten war, erwies sich als außerstande, zum großen Schlag gegen die Arbeiterklasse auszuholen. Die starken „Sozialausschüsse der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft“ in der CDU, aber vor allem die Furcht der Konservativen vor gesellschaftlichen Widerständen ließ die Koalition vor allzu starken Einschnitten in den Wohlfahrtsstaat zurückschrecken.
Es gilt als sicher, dass die christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl nach zwei Legislaturperioden abgewählt worden wäre, wenn es im November 1989 nicht zum Fall der Berliner Mauer gekommen wäre. Denn während Kohls Rolle bei der „Wiedervereinigung“ in politischer Hinsicht ein Glücksfall für den deutschen Imperialismus war, erwies sie sich in ökonomischen Belangen als ein Desaster für die deutsche Bourgeoisie. Zwei Legislativperioden lang, von 1990 bis 1998, verharrte die Wirtschafts-und Sozialpolitik praktisch im Stillstand, mit verheerenden Folgen. Dank der immensen Wiedervereinigungskosten, die auch dadurch zustande kamen, dass das westdeutsche Sozialsystem quasi eins zu eins auf das wieder angeschlossene Ostdeutschland übertragen wurde, rutschte Deutschland vom Geberland in den Rang eines Schuldnerstaates, der sich auf den internationalen Finanzmärkten Kapital leihen musste. Neben den Kommunen und Arbeitsämtern ächzten auch die Unternehmen unter den hohen Lohnnebenkosten (Arbeitslosen-, Kranken-, Sozialversicherungsbeiträge sowie – neu hinzukommend – der sog. Solidaritätszuschlag), mit der Folge, dass nach der anfänglichen Wiedervereinigungseuphorie das Wachstum der deutschen Wirtschaft in den Keller ging. Mitte der 1990er Jahre nahm der Zustand der deutschen Wirtschaft solch besorgniserregende Züge an, dass die ganze Welt von Deutschland als den „kranken Mann Europas“ sprach.
Die Bundestagswahlen Ende 1998 waren eine Gelegenheit für die deutsche Bourgeoisie und ihre politische Klasse, die Notbremse zu ziehen und die Kohl-Regierung nach 16 Jahren endlich in die Wüste zu schicken. Dabei konnte sie auf eine Partei zurückgreifen, die in der Geschichte bereits mehrfach bewiesen hat, dass sie bis hin zur Selbstverleugnung bereit ist, das gesamtkapitalistische Interesse gegen partikularistische Einzelinteressen wie auch gegen umstürzlerische Bestrebungen zu verteidigen – die SPD. Und so wie der SPD-Politiker Gustav Noske mit den Worten: „Einer muss ja den Bluthund machen“ zur blutigen Niederschlagung des Aufstands der Berliner ArbeiterInnen im Januar 1919 angetreten war, so selbstverständlich schritt auch Gerhard Schröder zur Tat, nachdem seine rot-grüne Koalition im November 1998 ihre Regierungsgeschäfte antrat. Seine Koalition machte sich gleich in zweierlei Hinsicht um die Interessen der deutschen Bourgeoisie verdient: In ihrer ersten Amtszeit gelang es ihr ohne größere Blessuren, mit dem ersten Kriegseinsatz deutscher Soldaten nach dem II.Weltkrieg (im Rahmen des NATO-Einsatzes gegen Serbien 1999) den teils selbst auferlegten, teils von außen aufgezwungenen antibellizistischen Bann zu brechen. Das Gesellenstück allerdings gelang dieser Koalition nach ihrer Wiederwahl 2003 unter Federführung der SPD – die „Agenda 2010“. Es war aus Sicht der Herrschenden eine Meisterleistung, wie sie nur die alte „Tante“ SPD zustandebringen konnte, wenngleich um den Preis eines unerhörten Verlustes ihrer Reputation unter den Stammwählern, von dem sie sich bis heute noch nicht erholt hat.
Der massivste Angriff gegen die Arbeiterklasse in Deutschland nach dem Krieg, unter dessen Namen „Agenda 2010“ die eingangs erwähnten Hartz-Gesetze und –regelungen zusammengefasst wurden, erfolgte auf mehreren Ebenen. Hier in aller Kürze die Kernpunkte. Es wurde:
- die bis dahin geltende Zumutbarkeitsregelung pulverisiert, die es Arbeitslosen gestattete, Arbeitsangebote des Arbeitsamtes abzulehnen, die unterhalb ihrer Qualifikation waren;
- die sog. Flexibilisierung der Arbeit massiv ausgeweitet, und zwar in Gestalt prekärer, unterbezahlter Arbeitsplätze (Zeitarbeit, Ich-AG, 400 Euro-Jobs, etc.);
- die sog. Parität zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten bei der Finanzierung der Sozialbeiträge zuungunsten Letzterer aufgehoben;
- die staatliche Hilfe für Arbeitslose massiv eingeschränkt, indem Arbeitslose nur noch ein Jahr lang Arbeitslosenunterstützung beziehen und die Sozialhilfe mit der sog. Arbeitslosenhilfe (Hartz IV oder ALG2) zusammengelegt wurde.
Die Auswirkungen der Agenda 2010 waren dramatisch und bestimmen bis heute das gesellschaftliche Geschehen. Dabei profitieren Unternehmen, Banken, Versicherungsträger und nicht zuletzt der Staat in vielfältiger Weise von der Agenda 2010, nachdem deren anfängliche handwerkliche Fehler behoben worden waren. Vor allem die Kombination aus Flexiblisierung und Verbilligung eines Teils der Arbeitskräfte hat sich dabei schon jetzt als überaus vorteilhaft für Wirtschaft und Staat in Deutschland herausgestellt. Als 2008 Lehman Brothers kollabierte und die Weltwirtschaft in eine tiefe Rezession stürzte, konnte die deutsche Bourgeoisie auf zwei Instrumente zurükgreifen, um die Folgen dieser weltweiten Rezession im Vergleich zu ihren Kontrahenten auf dem Weltmarkt relativ gut abzufedern. Neben der Kurzarbeit handelte es sich dabei um ein Mittel, das Marx einst die „industrielle Reservearmee“ nannte: das Heer der Arbeitslosen, aus dem das Kapital schöpft, um Produktionsspitzen zu kompensieren. Denn mit der Abschaffung der Umzumutbarkeitsklausel und der massiven Kürzung der Arbeitslosenunterstützung waren die Grundlagen für den enormen Ausbau der Zeitarbeitsbranche gelegt worden, die mit Löhnen knapp oberhalb von Hartz IV eine wachsende Schar von ArbeiterInnen köderten. Insbesondere die Automobilindustrie bediente sich dieses Mittels, um in den Nullerjahren die Nachfragespitzen abzudecken und – nach der Lehman-Pleite – die entstandenen Überkapazitäten ohne größere Unkosten und Widerstände abzubauen, indem zigtausende von ZeitarbeiterInnen von einem Tag auf den anderen entlassen wurden.
Die Entwertung der Arbeitskraft hat aber besonders im sog. Dienstleistungsbereich in Deutschland Einzug gehalten. Einzelhandel, Gastronomie, Callcenter, der Pflege- und Sozialbereich, das Reinigungsgewerbe – alle Bereiche, in denen das konstante Kapital, sprich: die menschliche Arbeitskraft, anders als im produzierenden Gewerbe, noch die Hauptrolle spielt, erlebte in den vergangenen zehn Jahren einen dramatischen Einbruch in den Löhnen. Deutschland gehört mittlerweile zu den Ländern mit der stärksten Zunahme der Niedriglohnarbeit auf der Welt. Diese Politik hat ein Ausmaß angenommen, dass sie die Rivalen Deutschlands auf den Plan rief. Bereits im März 2010 kritisierte die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde ungewöhnlich scharf die Politik des „Lohndumpings“ in Deutschland, die das Gleichgewicht in der Europäischen Union zu gefährden drohe. In der Tat haben beispielsweise Einzelhandelsketten wie Aldi, Plus, Metro, etc. ihre Expansion in alle Welt, aber besonders in Europa aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Überausbeutung ihrer einheimischen Beschäftigten finanziert. Minijobs, 400 Euro-Jobs, sog. Werkverträge, etc. haben die Kernbelegschaften der Supermärkte marginalisiert und einen erheblichen Druck auf ihre Löhne ausgeübt.
Neben dem Privatkapital waren die öffentlichen Kassen die Hauptnutznießer der Agenda 2010. Nach dem finanziellen Aderlass der „Wiedervereinigung“, der die deutsche Bourgeoisie dazu genötigt hatte, die von ihr selbst durchgesetzten Stabilitätskriterien von Maastricht aufzuweichen, sorgten die drastischen Streichungen in den staatlichen Sozialausgaben (immer noch der größte Einzeletat der Bundesregierung) und steigende Beschäftigungszahlen in den vergangenen zehn Jahren für eine deutliche Entlastung der öffentlichen Etats. Die Neuverschuldung geht stetig zurück; bereits in den nächsten zwei Jahren soll die Netto-Neuverschuldung des deutschen Staates auf Null reduziert werden.
„Dass Deutschland heute wirtschaftlich so viel besser dasteht als die Mehrzahl der EU-Partner, ist ein Ergebnis der Agenda 2010. Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass (…) Deutschland heute weitaus wettbewerbsfähiger als vor 2003.“ (Heinrich August Winkler, Historiker, in einem Interview mit dem Berliner TAGESSPIEGEL) Natürlich ist die neuerliche Verschärfung der Weltwirtschaftskrise in Gestalt der Immobilien- und Schuldenkrise nicht spurlos an der deutschen Wirtschaft vorübergegangen. Auch deutschen Banken drohte die Insolvenz, auch hierzulande fielen die Wachstumszahlen nach dem Ausbruch der Lehman-Pleite auf ein historisches Tief. Deutschland ist mitnichten eine Insel der Seligen im kapitalistischen Krisengewitter, aber in gewisser Weise ist der deutsche Kapitalismus auch ein Krisengewinner, der von dem Umstand profitiert, dass sich seine Konkurrenten, insbesondere seine europäischen Rivalen, als noch anfälliger gegenüber den Folgen der Krise erwiesen haben. Deutschland ist stark, weil die anderen schwach sind. Seine derzeitige Stärke bezieht der deutsche Imperialismus aus dem Versäumnis seiner Rivalen, ihre Volkswirtschaften ähnlich wetterfest zu gestalten, wie dies in Deutschland vor zehn Jahren mit der Agenda 2010 geschah.
Damit kein falscher Zungenschlag entsteht: Deutschland ist keinesfalls auf dem Sprung zu einem imperialistischen Blockführer. Genausowenig wie China ist der deutsche Imperialismus in der Lage, die US-amerikanische Supermacht ernsthaft herauszufordern. Doch die deutsche Bourgeoisie denkt langfristig oder vielmehr: sie praktiziert notgedrungen eine Politik der kleinen Schritte. So strebt sie derzeit die Einführung einer gemeinsamen europäischen Fiskalpolitik nach deutschen Maßstäben an, die – geht es nach den Vorstellungen der deutschen Europa-Politiker - ein erster wichtiger Baustein beim Aufbau der sog. Politischen Union sein soll. Und die Ironie der Geschichte will es, dass ausgerechnet die Agenda 2010, die seinerzeit auch von den Rivalen Deutschlands aus Sorge um den miserablen Zustand der deutschen Volkswirtschaft begrüßt worden war, nun der deutschen Bourgeoisie bei diesem Unterfangen den notwendigen Rückenwind verschafft hat.
Hauptleidtragender der Agenda 2010 ist die Arbeiterklasse in Deutschland. Es wäre falsch verstandener Alarmismus, würde man behaupten, dass die Lage der heutigen Arbeiterklasse in Deutschland jener von 1929 gleicht, als die erste Weltwirtschaftskrise unsere Großeltern von einem Tag auf den anderen in tiefstes Elend stürzte. Und dennoch erleben wir nun schon seit Jahren eine schleichend um sich greifende Verelendung eines großen Teils der hiesigen Arbeiterklasse, sind wir Zeuge einer Zweiteilung des Arbeitsmarktes, wenn nicht gar einer Spaltung der Arbeiterklase in Deutschland.
Auf der einen Seite haben wir das so genannte „Prekariat“, das rasch anwächst. Über ein Viertel aller sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze in Deutschland ist heute bereits prekärer Natur. Das Phänomen der workingpoor, d.h. jener Teile unserer Klasse, deren Einkommen nicht reicht, um ihre Regenerationskosten zu begleichen, hat dramatisch zugenommen; immer mehr ArbeiterInnen müssen ihren buchstäblichen Hungerlohn mit zusätzlichen Unterstützungszahlungen im Rahmen des sog. Arbeitslosengeldes II aufstocken. So lebt in Berlin mehr als die Hälfte der Bevölkerung völlig oder teilweise von Hartz IV. Nicht zuletzt sind es die Kinder, die an den Folgen der Armut leiden: Mehr als 2,5 Millionen Kinder in Deutschland gelten als arm; sie gehen mit knurrendem Magen in die Schule und sind von allen kostenträchtigen Unternehmungen (Klassenfahrten, Bildungsunterstützung, Vereine, etc.) ausgeschlossen. Darüber hinaus rollt in ein paar Jahren noch ein weiteres Problem auf die Gesellschaft zu, denn die prekär Beschäftigten von heute sind die Armutsrentner von morgen; ihnen droht eine Mindestrente von ein paar Hundert Euro – zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben.
Auf der anderen Seite gibt es die sog. Kernbelegschaften, deren Zahl immer mehr schrumpft: die festangestellten, hoch qualifizierten und spezialisierten, nach Tarif bezahlten Arbeitskräfte in Industrie und Handwerk. Neben dem „Privileg“ der Festanstellung kommt dieser Teil unserer Klasse auch in den Genuss tariflicher und außertariflicher Sonderzahlungen, wie die vierstelligen Sondervergütungen in der deutschen Automobilindustrie in den vergangenen Jahren. Doch der Schein trügt. Auch über diesem Teil der Beschäftigten schwebt das Damoklesschwert von Hartz IV, nicht nur als Drohung im Falle der Unbotmäßigkeit gegenüber dem Brötchengeber, sondern auch ganz konkret als permanenter Druck auf Löhne und Gehälter. Denn die paar Extrazahlungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass seit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die tariflichen Reallöhne der Kernbelegschaften kontinuierlich gesunken sind.
Angesichts der Brutalität der Angriffe und verglichen damit, wie sich noch vor rund 30 Jahren die Beschäftigten schon gegen weitaus harmlosere Attacken seitens des Kapitals zur Wehr gesetzt hatten, nahmen sich die Proteste der Klasse gegen die Agenda 2010 wie ein laues Lüftchen aus. Nachdem es anfangs, nach der Verabschiedung der Hartz IV-Gesetze, wenigstens noch zu der einen oder anderen Großdemonstration (vor allem in Berlin) mit mehr als 100.000 Teilnehmern gekommen war, versandeten die Proteste anschließend schnell bzw. gerieten (wie die sog. Montagsdemonstrationen) in die Fänge von linksextremistischen Sektierern wie der MLPD. So stellt sich die Frage: Haben die Lohn- und Gehaltsabhängigen dieses Landes den Kampf bereits verloren, noch ehe er richtig begonnen hat? Wir denken, dass dem nicht so ist. Was wir allerdings auch konstatieren müssen, ist, dass es den Herrschenden in Deutschland bislang vortrefflich gelungen ist, die Arbeiterklasse in Deutschland mittels des uralten Herrschaftsprinzips des „Teile und herrsche“ in einem Zustand der vorläufigen Lähmung zu versetzen. Indem sie über die „Asozialität“ der so genannten Unterschichten deliriert und gleichzeitig die Besserverdienenden auf nicht nachvollziehbare Weise dem wie auch immer gearteten „neuen Mittelstand“ zurechnet, hat sie für eine gewisse Entfremdung zwischen beiden Bereichen der Arbeiterklasse gesorgt. So kam es bisher zu keinerlei nennenswerter Solidarisierung seitens der Kernbelegschaften mit den prekär beschäftigten KollegInnen; und unter Letzteren gab es, sofern sie sich nicht willig ihrem Schicksal beugten, gelegentlich die Neigung, im festangestellten Kollegen den Sündenbock für ihre katastrophale Lage zu sehen. Darüber hinaus herrscht in weiten Teilen unserer Klasse angesichts der Elendsbilder aus Griechenland und anderswo das Gefühl vor, man sei hierzulande noch einmal davongekommen. Daher gelte es, die Füße stillzuhalten, damit uns nicht das gleiche Los erwischt wie unserer griechischen, zypriotischen, portugiesischen und spanischen Klassenbrüdern und –schwestern. Diese Illusion wird auch noch durch den Umstand verstärkt, dass immer mehr junge Spanier und Griechen ihre Zukunft auf dem deutschen Arbeitsmarkt suchen, und von der ernüchternden Erkenntnis unterfüttert, dass die Abwehrkämpfe der griechischen Beschäftigten allem Anschein nach bisher ins Leere gelaufen sind, dass ihr Widerstand offenkundig nichts an ihrer elenden Lage verändert hat, jedenfalls nicht zum Guten.
Jedoch kann dieser Zustand, wie schon gesagt, nur vorläufiger Natur sein. Krise und Konkurrenzdruck zwingen das Kapital in Deutschland dazu, die Kernbelegschaften immer weiter zu schröpfen und ihre Lebens-und Arbeitsbedingungen jener der prekär Beschäftigten anzupassen – und beide zusammen Zug um Zug denselben Bedingungen auszusetzen, wie sie derzeit bereits in Südeuropa herrschen. Die Nivellierung des Lebensstandards nach unten wird so letztendlich dafür sorgen, dass zusammengeführt wird, was zusammengehört: „Unterschichten“ wie Kernbelegschaften oder der „neue Mittelstand“ sind alles Bestandteile ein-und derselben Gesellschaftsklasse, die nur vereint diesem kapitalistischen Jammertal ein Ende bereiten kann, vorausgesetzt, sie beschränken ihren Kampf nicht mehr allein auf die letztendlich vergebliche Verteidigung ihrer Positionen innerhalb des Systems, sondern machen sich auch eine Perspektive zu eigen, die über die kaputte und kaputt machende kapitalistische Gesellschaft hinausreicht.
Was ist laut Christophe Darmangeat schließlich die Rolle und die Situation der Frauen in der primitiven Gesellschaft? Wir können hier nicht die gesamte Argumentation wiedergeben, die in seinem Buch enthalten ist und die sich durch solide Kenntnisse der Ethnographie und bemerkenswerte Beispiele auszeichnet. Wir werden uns stattdessen auf eine Zusammenfassung seiner Schlussfolgerungen beschränken.
Eine erste Feststellung, die einleuchtend erscheint, es in der Realität aber nicht ist, lautet, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung eine universelle Konstante in der menschlichen Gesellschaft bis zum Erscheinen des Kapitalismus ist. Der Kapitalismus bleibe eine fundamental patriarchalische Gesellschaft, die auf der Ausbeutung basiert (welche die sexuelle Ausbeutung, die Sexindustrie als eine der profitabelsten Industrie in der neueren Zeit mit beinhaltet). Nichtsdestotrotz habe der Kapitalismus durch die offene Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft und durch die Entwicklung einer Maschinerie (so dass die Körperkraft nicht mehr eine wichtige Rolle im Arbeitsprozess spielt) die Arbeitsteilung zwischen der „maskulinen“ und der „femininen“ Rolle in der gesellschaftlichen Arbeit zerstört. Auf diese Weise habe er das Fundament für eine wirkliche Befreiung der Frauen in der kommunustischen Gesellschaft gelegt.[2]
Die Lage der Frauen unterscheidet sich in den unterschiedlichen primitiven Gesellschaften, die Anthropologen zu untersuchen in der Lage waren, enorm: In einigen Fällen leiden Frauen unter einer Unterdrückung, die mehr als einen flüchtigen Vergleich mit der Klassenunterdrückung standhält, während sie in anderen nicht nur eine gesellschaftliche Wertschätzung genießen, sondern auch ganz real gesellschaftliche Macht ausüben. Wo solche Macht existiert, basiert sie auf den Eigentumsrechten über die Produktion, die durch das religiöse und rituelle Leben der Gesellschaft verstärkt werden: Um nur ein Beispiel zu nennen, berichtet uns Bronislaw Malinowski (in Argonauten des westlichen Pazifik), dass die Frauen der Trobriand-Inseln nicht nur das Monopol auf die Arbeit des Gartenbaus (von größter Bedeutung für die Inselwirtschaft) hatten, sondern auch auf verschiedene Formen der Magie, einschließlich jener, die als die gefährlichsten anerkannt sind)[3].
Während jedoch die geschlechtliche Arbeitsteilung von einem Volk und einer Existenzweise zum/zur nächsten sehr unterschiedliche Situationen umfassen kann, gibt es eine Regel, die fast ohne Ausnahme angewandt wird: Überall sind es die Männer, die das Recht haben, Waffen zu tragen, und die daher ein Monopol auf die Kriegführung haben. Infolgedessen haben sie ein Monopol auf die „äußeren Beziehungen“. Als sich die gesellschaftliche Ungleichheit zu entwickeln begann, zunächst mit der Lagerhaltung von Lebensmitteln, dann, in der Jungsteinzeit, mit der voll entfalteten Landwirtschaft und dem Aufkommen des Privateigentums und der gesellschaftlichen Klassen, erlaubte es ihre spezifische Situation den Männern, Stück für Stück die Totalität des Gesellschaftslebens zu dominieren. In diesem Sinn lag Engels zweifellos richtig, wenn er in Ursprung der Familie… sagte: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“.[4] Dennoch sollte man tunlichst vermeiden, die Dinge schmeatisch zu betrachten, da selbst die ersten Zivilisationen in dieser Hinsicht alles andere als homogen waren. Eine Vergleichsstudie etlicher früher Zivilisationen[5] weist auf ein breites Spektrum hin: Während die Lage der Frauen in mittelamerikanischen und Inkagesellschaften wenig beneidenswert war, besaßen beispielsweise unter den Yoruba in Afrika die Frauen nicht nur Eigentum und übten ein Monopol auf bestimmte Produkte aus, sie betrieben auch einen ausgedehnten Handel auf eigene Rechnung und konnten selbst diplomatische und militärische Expeditionen anführen.
Bisher beschränkten wir uns mit Darmangeat auf den Bereich von Untersuchungen „historisch bekannter“ primitiver Gesellschaften (in dem Sinn, dass sie von den schriftkundigen Gesellschaften, von der antiken Welt bis zur modernen Anthropologie, beschrieben worden waren). Dies kann uns allenfalls etwas über die Lebensumstände seit der Erfindung der Schrift vor ungefähr 6000 Jahren verraten. Doch was können wir über die 200.000 Jahre des anatomisch modernen Menschen sagen, die dem vorausgingen? Wie sollen wir den entscheidenden Augenblick verstehen, als die Natur der Kultur als determinierender Hauptfaktor im menschlichen Verhalten Platz machte, und wie sind genetische und kulturelle Elemente in der menschlichen Gesellschaft miteinander verwoben? Um diese Fragen zu beantworten, ist eine rein empirische Betrachtung bekannter Gesellschaften völlig unzureichend.
Einer der auffälligsten Aspekte in der Untersuchung früher Zivilisationen (s.o.) ist, dass, wie unterschiedlich auch immer das Bild ist, das sie von den Lebensbedingungen der Frauen zeichnen, sie alle Legenden enthalten, die sich auf Frauen als Häuptlinge beziehen, welche gelegentlich mit Göttinnen identifiziert werden. Alle von ihnen haben im Laufe der Zeit einen Niedergang in der Lage der Frauen erlebt. Man ist versucht, ein allgemeines Gesetz hierin zu erblicken: Je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto größer war die gesellschaftliche Autorität, die die Frauen besaßen.
Dieser Eindruck wird bestätigt, wenn wir noch primitivere Gesellschaft untersuchen. Auf jedem Kontinent finden wir ähnliche oder gar identische Mythen: Einst besaßen die Frauen Macht, doch seither haben die Männer ihnen diese Macht entrissen, und nun sind sie es, die herrschen. Überall wird die Macht der Frauen mit dem mächtigsten Zauber von allen in Verbindung gebracht: dem Zauber, der auf dem Monatszyklus der Frauen und ihrem Menstruationsblut basiert, was bis zu Ritualen reicht, in denen Männer die Menstruation imitieren.[6]
Was können wir aus dieser allgegenwärtigen Realität schließen? Können wir daraus den Schluss ziehen, dass sie eine historische Realität repräsentiert und dass einst eine Gesellschaft existierte, in der Frauen eine führende, wenn nicht gar notwendigerweise eine herrschende Rolle innehielten?
Für Darmangeat ist die Antwort unmissverständlich und negativ: „… der Gedanke, dass Mythen, die von der Vergangenheit berichten, von einer wirklichen Vergangenheit, wenn auch deformiert, erzählen, ist eine äußerst kühne, um nicht zu sagen: haltlose Hypothese“ (S. 167). Mythen „erzählen Geschichten, die nur in Bezug auf die gegenwärtige Realität eine Bedeutung haben und die die Funktion haben, Letztere zu rechtfertigen. Die Vergangenheit, von der sie sprechen, wird allein dafür erfunden, um dieses Ziel zu erfüllen“ (S. 173).
Dieses Argument ist in zweierlei Hinsicht problematisch.
Das erste Problem ist, dass Darmangeat ein Marxist zu sein behauptet, der bei der Aktualisierung seiner Schlussfolgerungen der Methode von Engels treu geblieben sei. Doch auch wenn Engels‘Ursprünge der Familie… sich ausgiebig auf Lewis Morgan stützt, pflichtet er auch dem Werk des Schweizer Juristen Bachofen große Bedeutung bei, der der erste war, der die Mythologie als eine Grundlage zum Verständnis der Geschlechterbeziehungen in der fernen Vergangenheit benutzte. Laut Darmangeat ist Engels „überaus vorsichtig bei seiner Rezeption von Bachofens Matriarchats-Theorie (…) obgleich er sich zurückhält bei der Kritik an der Theorie des Schweizer Juristen, unterstützt er sie nur sehr eingeschränkt. Es gibt nichts Überraschendes hier: In Anbetracht seiner eigenen Analyse der Gründe für die Vorherrschaft des einen Geschlechts über das andere konnte Engels kaum akzeptieren, dass vor der Entwicklung von Privateigentum der Vorherrschaft der Männer über die Frauen die Vorherrschaft der Frauen über die Männer vorausging; er stellte sich die prähistorischen Geschlechterbeziehungen vielmehr als eine bestimmte Form der Gleichheit vor“ (S. 150f.).
Engels mag durchaus vorsichtig gewesen sein, was Bachofens Schlussfolgerungen anbelangte, aber er hatte keine Bedenken, was Bachofens Methode anging, die die mythologische Analyse nutzte, um die historische Wirklichkeit zu enthüllen: In seinem Vorwort zur 4. Ausgabe vonUrsprung der Familie… (mit anderen Worten: nachdem er eine Menge Zeit hatte, sein Werk neu zu strukturieren, einschließlich einiger notwendiger Korrekturen) griff Engels Bachofens Analyse des Orest-Mythos (insbesondere die Version des griechischen Tragikers Aescyklus) auf und schloss mit dem Kommentar: „Diese neue, aber entschieden richtige Deutung der ‚Oresteia‘ ist eine der schönsten und besten Stellen im ganzen Buch (…) er, zuerst, hat die Phrase von einem unbekannten Urzustand mit regellosem Geschlechtsverkehr ersetzt durch den Nachweis, daß die altklassische Literatur uns Spuren in Menge aufzeigt, wonach vor der Einzelehe in der Tat bei Griechen und Asiaten ein Zustand existiert hat, worin nicht nur ein Mann mit mehreren Frauen, sondern eine Frau mit mehreren Männern geschlechtlich verkehrte, ohne gegen die Sitte zu verstoßen (…) Diese Sätze hat Bachofen zwar nicht in dieser Klarheit ausgesprochen – das verhinderte seine mystische Anschauung. Aber er hat sie bewiesen, und das bedeutete 1861 eine vollständige Revolution.“
Dies bringt uns zur zweiten Frage: Wie sollten Mythen erklärt werden? Mythen sind Bestandteil der materiellen Realität wie andere Phänomene auch; sie sind daher von dieser Realität auch bestimmt. Darmangeat schlägt zwei mögliche Determinanten vor: Entweder handelt es sich bei ihnen schlicht und einfach um „Geschichten“, die von Männern erfunden wurden, um ihre Herrschaft über die Frauen zu rechtfertigen, oder sie sind irrational. „In der Vorgeschichte und auch lange Zeit danach waren natürliche oder gesellschaftliche Phänomene universell und unvermeidlich durch ein magisch-religiöses Prisma interpretiert. Dies bedeutet nicht, dass das rationale Denken nicht existierte; es bedeutet, dass es selbst, als es präsent war, in einem bestimmten Umfang stets mit einem irrationalen Diskurs kombiniert war: Die beiden wurden nicht als unterschiedlich, noch weniger als miteinander unvereinbar wahrgenommen“ (S. 319). Was kann dem noch hinzugefügt werden? All diese Mythen, die sich rund um die geheimnisvollen Mächte ranken, welche vom Menstruationsblut und dem Mond übertragen werden, gar nicht zu reden von der ursprünglichen Macht der Frauen, sind bloß „irrational“ und somit außerhalb des Bereichs der wissenschaftlichen Erklärung. Darmangeat ist bestenfalls bereit zu akzeptieren, dass Mythen das Bedürfnis des menschlichen Geistes nach Kohärenz befriedigen müssen[7]; doch wenn dies der Fall ist, dann müssen wir - es sei denn, wir akzeptieren eine rein idealistische Erklärung im ursprünglichen Sinn des Wortes – eine andere Frage beantworten: Woher kommt dieses Bedürfnis? Für Lévi-Strauss konnte die Quelle des bemerkenswerten Gleichklangs der Mythen der primitiven Gesellschaften in beiden Amerikas nur in der angeborenen Struktur des menschlichen Geistes gefunden werden, weswegen seinem Werk und seiner Theorie der Name „Strukturalismus“ angehängt wurde.[8] Darmangeats „Bedürfnis nach Kohärenz“ sieht wie ein schwacher Abglanz des Strukturalismus von Lévi-Strauss aus.
Dies lässt uns in zwei bedeutenden Punkten ohne jegliche Erklärung dastehen: Warum nehmen Mythen die Form an, die sie haben, und wie können wir ihre Universalität erklären?
Wenn sie nichts anderes als „Geschichten“ sind, die erfunden wurden, um die männliche Vorherrschaft zu rechtfertigen, warum sind solch unwahrscheinlichen Geschichten erfunden worden? Wenn wir die Bibel nehmen, so gibt uns das Buch Mose‘ eine vollkommen logische Erklärung für die männliche Vorherrschaft: Gott schuf den Mann zuerst! Logisch, solange wir bereit sind, die unwahrscheinliche Vorstellung, die Jahr für Jahr widerlegt wird, zu akzeptieren, dass die Frau aus dem Leib des Mannes kam. Warum wird dann ein Mythos erfunden, der nicht nur behauptet, dass Frauen einst Macht ausgeübt hatten, sondern auch von der Forderung begleitet wird, dass die Männer mit diesen Riten fortfahren, die mit dieser Macht assoziiert sind, bis zu dem Punkt einer eingebildeten männlichen Menstruation? Diese Praxis, die in Jäger-Sammler-Gesellschaften in der ganzen Welt, wo die männliche Vorherrschaft mächtig ist, bezeugt ist, besteht darin, dass Männer in bestimmten wichtigen Ritualen ihren eigenen Blutfluss erzeugen, indem sie in einer bewussten Imitation der Monatsblutung ihre Mitglieder malträtieren und insbesondere den Penis beschneiden.
Wäre diese Art von Ritual auf ein Volk oder auf eine Gruppe von Völkern beschränkt, könnte man akzeptieren, dass dies nichts als eine zufällige und „irrationale“ Erfindung ist. Doch wenn wir es überall auf der Welt verbreitet finden, auf jedem Kontinent, dann müssen wir, wenn wir dem historischen Materialismus treu bleiben wollen, seine gesellschaftlichen Determinanten suchen.
Auf jeden Fall erscheint es uns vom materialistischen Standpunkt aus notwendig zu sein, die Mythen und Rituale, die die Gesellschaft strukturieren, als Wissensquellen ernstzunehmen, eine Sache, an der Darmangeat scheiterte.
Wir können Darmangeats Ansichten wie folgt zusammenfassen: Im Ursprung der Unterdrückung der Frauen stand die geschlechtliche Arbeitsteilung, die den Männern systematisch die Großwildjagd und den Gebrauch von Waffen überließ. Wie interessant sein Werk auch sein mag, es lässt unserer Ansicht nach zwei Fragen unbeantwortet.
Es scheint eindeutig genug, dass mit der Entstehung der Klassengesellschaft, die notwendig auf Ausbeutung und damit auf Unterdrückung beruhte, das Waffenmonopol nahezu eine selbstgenügsame Erklärung für die männliche Vorherrschaft in ihr ist (zumindest langfristig; der Gesamtprozess ist zweifellos komplexer). Gleichermaßen erscheint es a priori plausibel, davon auszugehen, dass - zeitgleich mit dem Aufkommen der sozialen Ungleichheiten, aber noch vor dem Auftritt der Klassengesellschaft, die den Namen verdient - das Waffenmonopol eine Rolle bei der Herausbildung der männlichen Vorherrschaft spielte.
Fortsetzung folgt...
Wir veröffentlichen hier die Übersetzung einer Erklärung einer Gruppe von ArbeiterInnen in Alicante im Südosten Spaniens, die „empörten Pro-Versammlungs-ArbeiterInnen“ („Pro-Versammlung“ daher, weil sie die Notwendigkeit von Generalversammlungen vertreten, um die Kontrolle über die Kämpfe auszuüben). Sie wurde als Antwort auf die Appelle zu 24-stündigen „Generalstreiks“ herausgegeben (für den 31. Oktober von der CGT, einer Abspaltung von der CNT, die sich selbst anarcho-syndikalistisch nennt, aber faktisch als kleine „radikale“ Gewerkschaft wirkt, und für den 14. November von fünf anderen Gewerkschaften ausgerufen, angeführt von den stalinistischen Arbeiterkommissionen und der sozialistischen UGT, den beiden größten Gewerkschaften). Die Genossen dieser Gruppe, die in den letzten zwei, drei Jahren aktiv gewesen waren, prangern diese Gewerkschaftsparaden an, die allein dazu dienen, die ArbeiterInnen zu demoralisieren, und eine Ergänzung zu den wiederholten Schlägen der Rajoy-Regierung sind. Doch sie belassen es nicht dabei. Sie stellen eine Perspektive vor: den Kampf für den Massenstreik, die umfassenste Tendenz in der Klassenbewegung des vergangenen Jahrhunderts, wie dies jeder bedeutende proletarische Kampf seit 1905 in Russland deutlich veranschaulicht hat.
Es ist völlig falsch zu argumentieren, dass es keine Alternative zu den demobilisierenden Mobilisationen gibt, die von den Gewerkschaften organisiert werden. Wir denken, dass andere Gruppen und Kollektive dem Beispiel der Genossen von Alicante folgen und eine Diskussion über die wahre Alternative zur gewerkschaftlichen Sackgasse beginnen sollten. In Großbritannien spucken die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes (NUT, Gewerkschaft der öffentlichen Angestellten, etc.) angesichts der brutalen Attacken der Regierungskoalition große Töne und versprechen uns Aktionstage und gar einen eintägigen Generalstreik. Doch die Erfahrung hat gezeigt, dass diese Art von „Aktionen“ schlimmer als nur nutzlos sind; sie sind ein Sicherheitsventil für die wachsende Wut, wo doch das wirkliche Bedürfnis der ArbeiterInnen darin besteht, ihre Unzufriedenheit in einer selbst-organisierten, vereinheitlichenden Bewegung zu fokussieren, die die gesamte Gesellschaftsordnung herausfordern kann. IKS
Gegen 24- stündige „Aktionstage:
Den Massenstreik!
Wie kann eine 24-stündige Arbeitseinstellung Streik genannt werden? Und eine noch wichtigere Frage ist: Wie kann ein 24-stündiger „Aktionstag“ den Kampf der Arbeiterklasse voranbringen?
Unsere politische Position basiert auf dem Internationalismus und auf dem Bedürfnis nach proletarischer Autonomie: Für uns muss jede Aktion von bewussten Minderheiten dazu dienen, das Bewusstsein, die Einheit und die Selbstorganisation der Arbeiterklasse weiterzuentwickeln.
Es gab in letzter Zeit einen Haufen Mobilisierungen und viele Anstrengungen des Proletariats, sich selbst zu organisieren. Im Mai 2011 begann symbolisch eine neue Periode der Mobilisierungen. Dies war der Beginn einer Antwort auf die immer brutaleren Angriffe gegen den Lebensstandard der gesamten Bevölkerung. Doch es gibt keinen gradlinigen Fortschritt. Es war eine Periode gewesen, die von diversen Momenten geprägt war. Es gab einen großen Drang zur Selbstorganisation in Generalversammlungen, selbst in Bewegungen, die sehr embryonal und oft diffus waren. Doch dann kehrten die Gewerkschaften und die linken Organisationen auf die Bühne zurück, wobei sie von einer Ermattung und einem Rückgang in der Massenmobilisierung profitierten, und führten die Mobilisierungen auf ausgetretene Pfade: Mobilisierungen, die gut kontrolliert, alles andere als einig, partikularistisch und demotivierend sind, nichts gewinnen und die Teilnehmer ermüdet und isoliert zurücklassen. Angesichts all dessen denken wir, dass die Nicht-Beteiligung der Mehrheit der ArbeiterInnen an Mobilisierungen, die sie als fremd gegenüber ihren Interessen betrachten, vollkommen logisch ist. Und es ist ganz normal, dass wir uns nun in einem Denkprozess befinden.
Wir müssen reflektieren, begreifen, was geschehen ist, und nach einem Weg suchen, der zu unserer Selbstorganisation führt, ein Weg, der nicht von irgendeiner „aufgeklärten“ Elite oder durch irgendeine Art von konditioniertem Reflex entdeckt wird.
Der einzige Streik, den wir als effektiv erachten, den wir für notwendig halten, muss von den ArbeiterInnen selbst ausgerufen und auf die gesamte Gesellschaft ausgedehnt werden, muss die Kontrolle über den gesamten öffentlichen Raum ausüben, alles besetzen, neue Arten der gesellschaftlichen Verhältnisse und neue Formen der Kommunikation schaffen. Diese Art von Streik stoppt nicht das Leben, er beginnt es von neuem; dies ist der Massenstreik, der sich durch das vergangene Jahrhundert hinweg in einer Reihe von Gelegenheiten manifestiert hatte, auch wenn all unsere Gegner (all die Bourgeoisien, ob privater oder staatlicher Art) alles Mögliche angestellt hatten, ihn der Vergessenheit zu auszuliefern, ganz einfach deshalb, weil ein Streik, der die wahre Stärke des Proletariats zeigt, sie mit Furcht erfüllt.
Ein wirklicher Streik ist eine massive, tiefgehende Bewegung, die sich selbst nicht auf eintägige Arbeitseinstellungen beschränkt. Er ist die grundlegende Waffe der Arbeiterklasse, das Mittel für die Klasse, Kontrolle über ihr eigenes Leben auf allen Ebenen der Gesellschaft zu erlangen, mit der wir es zu schaffen haben, alle Aspekte einer menschlichen Gesellschaft auszudrücken, die sie anstrebt. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht etwas ist, das von irgendjemanden ausgerufen werden kann, so gut seine Absichten auch sein mögen; es ist Teil des Prozesses, durch den die ArbeiterInnen sich ihrer selbst bewusst werden. Die Frage ist nicht, ob der Streik 24 Stunden, 48 Stunden oder unbegrenzt andauert. Sein radikaler Charakter ist nicht eine Zeitfrage. Es geht vielmehr darum, Bestandteil der wirklichen Bewegung der Arbeiterklasse zu sein, der ArbeiterInnen, die ihren eigenen Kampf organisieren und lenken.
Der Massenstreik ist das Resultat einer Periode im Kapitalismus, der Periode, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Rosa Luxemburg war die erste Revolutionärin, die dies am klarsten begriff, indem sie ihr Verständnis auf die Grundlage der revolutionären Bewegung der ArbeiterInnen in Russland 1905 stellte. Der Massenstreik ist „eine historische Erscheinung (…), die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt“ („Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“).
Der Massenstreik ist nichts Zufälliges; er ist nicht das Ergebnis einer Propaganda oder von Vorausplanungen, er kann nicht willkürlich zustandegebracht werden. Er ist vielmehr das Produkt einer bestimmten Periode in der Evolution der Widersprüche des Kapitalismus.
Die ökonomischen Bedingungen hinter dem Massenstreik sind nicht auf ein Land beschränkt, sondern besitzen eine internationale Dimension. Es sind die historischen Umstände, die solch eine Form des Kampfes hervorrufen, der eine Grundvoraussetzung für die proletarische Revolution ist. Kurz, der Massenstreik ist nichts Geringeres als „eine allgemeine Form des proletarischen Klassenkampfes, die sich aus dem gegenwärtigen Stadium der kapitalistischen Entwicklung und der Klassenverhältnisse ergibt“ (ebenda).
Dieses „gegenwärtige Stadium“ besteht in der Tatsache, dass der Kapitalismus die letzten Jahre seiner Prosperität erlebte. Die Entwicklung interimperialistischer Konflikte und die Drohung des Weltkrieges, das Ende jeglicher nachhaltigen Verbesserung in den Lebensbedingungen der Arbeiterklasse – mit einem Wort, die wachsende Bedrohung, die die Arbeiterklasse für den Kapitalismus darstellte, waren die neuen historischen Umstände, die den Ausbruch des Massenstreiks begleiteten.
Der Massenstreik war das Produkt veränderter Lebensbedingungen auf einer historischen Ebene – was wir nun als das Ende des Aufstiegs des Kapitalismus und den Beginn seiner Niedergangsepoche erleben.
Zu jener Zeit gab es bereits mächtige Zusammenballungen der Arbeiterklasse in den fortentwickelten kapitalistischen Ländern, erfahren im kollektiven Kampf und mit Lebens- und Arbeitsbedingungen, die sich überall anglichen. Infolge der ökonomischen Entwicklung wurde auch die Bourgeoisie immer verdichteter; sie identifizierte sich immer mehr mit dem Staatsapparat. Wie das Proletariat hatten auch die Kapitalisten gelernt, wie sie sich zusammentun können, um sich mit ihrem Klassenfeind auseinanderzusetzen. Die ökonomischen Umstände erschwerten es den ArbeiterInnen immer mehr, Reformen auf der ökonomischen Ebene zu erlangen, während gleichzeitig der Ruin der bürgerlichen Demokratie es dem Proletariat immer schwerer machte, seine Errungenschaften durch parlamentarische Aktivitäten zu konsolidieren. So war der politische wie auch der ökonomische Kontext des Massenstreiks nicht der des russischen Absolutismus, sondern die nahende Dekadenz der bürgerlichen Herrschaft in allen Ländern.
Der Kapitalismus hat auf der ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Ebene die Fundamente für gewaltige globale Klassenkonfrontationen gelegt.
Das Ziel der Gewerkschaften (die Erzielung von Verbesserungen innerhalb des Systems) ist im dekadenten Kapitalismus immer schwieriger zu verwirklichen. In dieser Epoche tritt das Proletariat nicht mit der sicheren Perspektive in den Kampf, reale Verbesserungen zu erringen. Die Streiks und die wichtigsten Bewegungen von heute können auf dem Wege der Verbesserungen nur wenig gewinnen.
Infolgedessen ist die Rolle der Gewerkschaften, ökonomische Verbesserungen innerhalb des System zu erlangen, verschwunden. Es gibt weitere revolutionäre Auswirkungen aus der Infragestellung der Gewerkschaften durch den Massenstreik:
1) Der Massenstreik kann nicht im Voraus geplant werden: Er ergibt sich ohne einen vorgefassten Plan, ohne einen Satz von Methoden für die proletarischen Massen. Die Gewerkschaften, ihrer permanenten Organisation ergeben, um ihre Bankkonten und Mitgliederlisten besorgt, können nicht einmal damit beginnen, die Aufgabe der Organisierung des Massenstreiks wahrzunehmen, der sich in und für den Kampf herausbildet.
2) Die Gewerkschaften haben die ArbeiterInnen und ihre Interessen in all die unterschiedlichen Industriebranchen aufgespalten, während der Massenstreik „zusammen(fließt) aus einzelnen Punkten, (…) aus anderen Anlässen, in anderen Formen“ und somit dazu tendiert, alle Spaltungen im Proletariat zu überwinden.
3) Die Gewerkschaften organisieren lediglich eine Minderheit der Arbeiterklasse, während der Massenstreik all die unterschiedlichen Schichten der Klasse, gewerkschaftliche und nicht-gewerkschaftliche Arbeiter in seinen Bannkreis zieht.
Der Kampf ist mit der Realität verbunden, in der er sich entfaltet: Man kann ihn nicht von ihr trennen. Seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts hat die Auszehrung der vor-kapitalistischen Märkte das unersättliche Streben des Kapitals nach Vermehrung gebremst und damit eine permanente Krise, ein permanentes gesellschaftliches Desaster (Kriege und ein nie dagewesenes Elend) provoziert.
Die Periode seit Ende der 1960er Jahre war der Höhepunkt der permanenten Krise des Kapitalismus gewesen: die Unmöglichkeit für das System zu expandieren, die Beschleunigung der interimperialistischen Antagonismen, deren Konsequenzen die gesamte menschliche Zivilisation in Gefahr bringen.
Überall hat der Staat mit seinem beeindruckenden Repressionsapparat die Interessenn der Bourgeoisie in Obhut genommen. Sie sieht sich einer Arbeiterklasse gegenüber, die, obwohl im Verhältnis zur restlichen Gesellschaft seit den 1900er Jahren zahlenmäßig schwächer, immer noch hoch konzentriert ist und deren Lebensbedingungen sich in allen Ländern auf einem beispiellosen Niveau angeglichen haben. Auf politischer Ebene ist der Ruin der bürgerlichen Demokratie so unübersehbar, dass sie kaum ihre wahre Rolle als Nebelwand für den Terror des kapitalistischen Staates verbergen kann.
Die Bedingungen des Massenstreiks entsprechen der objektiven Lage des Klassenkampfes von heute, da die Merkmale der gegenwärtigen Periode am schärfsten die Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung über das vergangene Jahrhundert hinweg ausdrücken.
Die Massenstreiks der ersten Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren eine Antwort auf das Ende der Periode des kapitalistischen Aufstiegs und den Beginn der Bedingungen, die die Dekadenz des Kapitalismus kennzeichen. Diese Bedingungen sind heute völlig klar und chronisch geworden. Der objektive Drang zum Massenstreik ist heute tausendmal stärker.
Die „allgemeinen Resultate der internationalen kapitalistischen Entwicklung“, die das historische Aufkommen des Massenstreiks bedingt haben, haben seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aufgehört zu reifen.
Wie können wir die Entwicklung des Massenstreiks, die internationale Selbstorganisation und Vereinigung des Proletariats fördern? Unser Beitrag kann lediglich der Beitrag einer bewussten Sektion der Arbeiterklasse sein – nicht mehr oder nicht weniger.
Eine der Formen dieses Beitrags besteht darin, fehlerhafte Formen der Aktivitäten zu kritisieren, die eine Barriere gegen die Selbstorganisation und der Vertiefung des Bewusstseins sind. Trotz der besten Absichten ihrer Mitstreiter sind Aktivismus, Basisgewerkschaftstum und Linksextremismus… Bestandteil dieser Barrieren, die die ArbeiterInnen niederreißen müssen, um ihre Klassenautonomie zu erlangen.
Ein weiterer Beitrag besteht darin, zum Nachdenken zu ermuntern, zur Klärung dessen, was wir durchlebt haben. Doch es bedeutet auch, für die Ausweitung realer Kämpfe, ihre Koordination, die Verbreitung von Information über sie sowie für das Zusammenkommen und die Organisation der Revolutionäre zu arbeiten. Es bedeutet vor allem die Wiederbelebung der Erinnerung an unsere Kämpfe und ihre wichtigsten Waffen wie den Massenstreik.
Empörte, selbstorganisierte Pro-Versammlungs-ArbeiterInnen
für eine Arbeiterklasse und eine anti-kapitalistische 15-M (1)
(1) 15-M bezieht sich auf die Bewegung, die im Mai 2011 begann.
Die Zahl der Toten nach dem Zusammensturz des Fabrikgebäudes an der Rana Plaza in Dhaka ist mittlerweile auf über 1000 gestiegen. Weitere acht Menschen sind in einem Feuer im Bezirk Mirpurn in derselben Stadt umgekommen – die Anzahl der Toten wäre sicherlich noch höher ausgefallen, wenn das Feuer tagsüber ausgebrochen wäre, so wie es im vergangenen November in Tazreen-Bekleidungsfabrik geschah, wo 112 ArbeiterInnen starben. (1)
Diese „Unfälle“ sind nichts Anderes als industrieller Mord. Es wird nicht einmal verheimlicht, dass es eine totale Missachtung der Sicherheit der ArbeiterInnen in der Bekleidungsindustrie von Bangladesh gibt, die für Elendslöhne und unter entsetzlichen Bedingungen schuften. Doch dies ist keineswegs ein Exzess einiger weniger skrupelloser Arbeitgeber. Es ist in die eigentliche Struktur der Weltwirtschaft eingemeißelt. Von der Verbilligung der Arbeitskosten profitieren nicht nur die örtlichen Gangster, denen die Fabriken gehören, sondern auch die großen internationalen Bekleidungskonzerne wie Primark, die ihre Profite auf dem Rücken der BilliglohnarbeiterInnen angehäuft haben, die sie in der „Dritten Welt“ finden.
Darüber hinaus stellt das Kapital trotz aller angeblicher Reformen und Fortschritte in der Industrieproduktion im „Westen“ den Profit über das menschliche Leben. Fast zeitgleich mit dem Terroranschlag auf die Besuchermassen des Bostoner Marathons wurde eine Düngemittelfabrik in West in der Nähe von Waco/Texas in einer gewaltigen Explosion zerstört; sie riss 14 Menschen in den Tod, 200 Menschen wurden verletzt, und fünf Häuserblöcke dem Erdboden gleichgemacht. Zunächst wurde dies als ein Unfall dargestellt. Kurz darauf wurde ein Rettungssanitäter, der am Unglücksort war, wegen des Verdacht festgenommen, die Explosion verursacht zu haben. Doch was auch immer wahr ist, die Explosion in West enthüllt die abgrundtiefe Unverantwortlichkeit der kapitalistischen Produktion, lag diese Fabrik, die ein derart hoch explosives Material beherbergte, doch in der Nähe eines Altersheimes, einer Schule und einer Reihe von Wohngebäuden. Es erinnert an die Explosion einer Düngemittelfabrik in Toulouse Anfang der Nullerjahre, wo 28 ArbeiterInnen und ein Kind getötet worden waren. 10.500 weitere Menschen wurden verletzt, ein Viertel von ihnen schwer. Total, dem der Betrieb gehörte, wurde in den folgenden Verfahren von aller Verantwortung freigesprochen. Wir können auch auf die Standortwahl des Kernkraftwerks von Fukushima hinweisen, das in einem Gebiet, welches höchst anfällig für Erdbeben und Tsunamis ist, und viel zu nahe an Wohngebieten liegt…
Angewidert von den jüngsten Berichten aus Bangladesh, sendete uns ein Sympathisant diese Bemerkungen über unser Diskussionsforum. Wir können nur sagen, dass sein Zorn völlig gerechtfertigt ist:
„… die Situation in Bangladesh nimmt groteske Züge an, mit entsetzlichen Katastrophen – industriellem Mord -, die sich mit erschreckender Regelmäßigkeit ereignen. Warum plagt sich überhaupt jemand in Bangladesh damit ab, zur Arbeit zu gehen? Werden sie doch weiß gott kaum bezahlt! Also warum? Die Antwort ist natürlich, dass wir im Kapitalismus alle selbst den lächerlichsten und winzigsten Geldbetrag benötigen, den die Bourgeoisie erübrigen kann – Löhne: ‚ein gerechter Lohn für ein gerechtes Tagwerk‘ oder so ein Mist – nur um Tag für Tag arbeiten zu gehen. Wir leben von Almosen, die wir unter teils lebensgefährlichen Begleitumständen aus den Kapitalisten gepresst haben. Und die Bedrohungen müssen nicht alle physischer Art sein (Feuer und Gebäudeeinstürze oder vergiftete, verschmutzte Umwelt), sie können auch psychologischer Art sein und entsetzliches Elend und Unglück bewirken. Oh, wie dankbar wir der Bourgeoisie, ihrer Generosität und Menschenliebe, ihrer endlosen Sorge um den Planeten und der Friedensherrschaft weltweit sein sollten! Wo wären wir ohne sie? Wie kann es uns ohne sie gelingen, ihre halsabschneiderische Produktionsweise unserer Existenz aufzuzwingen, nur damit sie ihren Profit machen können? Und ihre barbarischen Kriege kämpfen! Wenn man nicht von einem zusammenbrechenden, schlecht gebauten Gebäude erschlagen wird oder darin verbrennt, gibt es immer noch die Möglichkeit des langsamen Todes durch radioaktive Tsunamis, der plötzlichen Auslöschung durch ferngelenkte Bomben, Raketen oder Drohnen, der entsetzlichen und quälenden Eliminierung via Chemiewaffen oder der abrupten Auslöschung durch die Hand eines Scharfschützen der einen oder anderen sich permanent bekriegenden Banden, offizielle oder andere.
Die Bourgeoisie hat nicht nur den ‚industriellen Mord‘ erfunden, sie hat darüber hinaus den Massenmord in eine Industrie verwandelt. Es ist die einzige Sache, worin sie gut ist.“
Amos 11.5.13
Im ersten Teil dieses Artikels [28] sind wir auf die in verschiedenen mündlichen und schriftlichen Beiträgen debattierte Frage des Klassencharakters der Gewerkschaften eingegangen. Wir sind dabei zum Schluss gekommen, dass die Position, die von einem nicht eindeutig bürgerlichen, sondern ambivalenten Charakter der Gewerkschaften in der heutigen Zeit spricht, letztlich mindestens in Teilen den Schein aufrecht erhält, den diese so genannten Arbeiterorganisationen über ihr eigenes Wesen erwecken wollen. Wir kommen nun zum zweiten Punkt, welcher der Klärung bedarf: Läuft die Position der IKS, die den Gewerkschaften in der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg einen bürgerlichen, staatskapitalistischen Klassencharakter zuweist und von Gewerkschaftsmanövern gegen die Arbeiterklasse spricht, auf eine Verschwörungstheorie hinaus?
Schauen wir uns diese Kritik an. Entzündet hat sich der Widerspruch an einem Wort – dem „Manöver“ der Gewerkschaften. Die IKS verwendet den Begriff des Manövers seit langem in der Intervention. So schrieben wir beispielsweise Ende 2004 nach dem damaligen Opel-Streik in Bochum: „Dass die Arbeit nach sechs Tagen in Bochum wieder aufgenommen wurde, obwohl die Hauptforderung der Streikenden nicht erfüllt wurde, haben diverse 'kritische Gewerkschaftler' mit dem Manöver der IG Metall- und Betriebsratsleitung während der Abstimmung vom 20. Oktober erklärt. Natürlich war die Formulierung der Alternative, worüber die Streikenden abzustimmen hatten - entweder Streikbruch und Verhandlungen oder Fortsetzung des Streiks ohne Verhandlungen - ein typisches Beispiel eines gewerkschaftlichen Manövers gegen die Arbeiter. Eine endlose Fortsetzung eines bereits isolierten Streiks wurde nämlich als einzige Alternative zum Streikabbruch hingestellt. Dabei wurden die entscheidenden Fragen ausgeblendet, nämlich: Erstens, wie kann man am wirksamsten den Forderungen der Arbeiter Nachdruck verleihen? Zweitens, wer soll verhandeln, die Gewerkschaften und der Betriebsrat oder die Vollversammlung, die gewählten Delegierten der Arbeiter selbst?“[1]
Die neuere Gewerkschaftsdebatte auf dem undergrounddogs-Forum hat sich an der von uns vertretenen Meinung entfacht, dass die Ferieninitiative der Gewerkschaftsverbandes Travailsuisse im Frühjahr 2012 in der Schweiz „ein regelrechtes Manöver der Gewerkschaften ist, damit die Angestellten und Arbeiter nicht andere, wirkungsvollere Massnahmen gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen sich überlegen. Pressluft rauslassen, die sich angestaut hat, das ist die Funktion solcher Initiativen“[2].
Darauf gab es mehrere Antworten, die dieser Position eine Verschwörungstheorie unterstellten. Beispielsweise O.B.M.F.: „Was den Punkt 'Manöver der Gewerkschaften' betrifft (…) ich will nicht behaupten, dass es solche Manöver in der Geschichte nie gegeben hat oder dass es sie heute nicht geben würde. Aber einfach zu sagen, es sei eines gewesen, weil es doch zu diesen oder zu jenen Punkten passt, überzeugt doch niemanden. Das ist doch genau das, was diese Verschwörungsparanoiker auch die ganze Zeit machen. Es geht doch darum sich klarzumachen, was die Gewerkschaften sind und warum sie so handeln, wie sie es tun und warum die Arbeiter ihnen in den entscheidenden Momenten folgen. Das hat viel weniger mit Irreführungen durch Gewerkschaften zu tun, als damit dass es ein Kapitalismusimmanentes Interesse der Klasse tatsächlich gibt, welches die Gewerkschaft ihnen nicht erst unterjubeln muss. Sie muss es nur organisieren. Das ist das Problem und es ist viel tiefer, als ein blosser Beschiss.“
Oder Muoit: „Du hingegen gehst an die Sache mit einem bereits feststehenden und der Realität meines Erachtens äusserlichen Schablone heran: Die Gewerkschaften vertreten nie die Interessen der in ihnen organisierten – oder in diesem Falle sogar fast allen – Arbeiter, sondern sie sind bürgerliche Organe, entsprechend muss das ein Manöver gegen die Klasse sein. Um so was überhaupt denkmöglich zu machen, müsste man sich aber auch mal erklären, wie es zu so was in deiner Theorie kommen soll: Da bleibt dann nicht viel mehr übrig, als die Ansicht, die Gewerkschaftsführer hätten das als Manöver geplant und das – bei allem Respekt – ist zumindest nahe an der Verschwörungstheorie gebaut.“
Dabei wurde in der Debatte nicht genauer umschrieben, was mit Verschwörungstheorie gemeint sei. Aber man kann sich den Kern der Kritik wohl so vorstellen: Es geht um die Idee, dass die so genannten Manöver in einem mehr oder weniger begrenzten Kreis von Verschwörern im Geheimen bewusst geplant und umgesetzt würden. Offenbar spielt in dieser Auseinandersetzung das Argument des Bewusstseins eine wichtige Rolle. Konkret: Mit welchem Bewusstsein handeln die Gewerkschaften (vertreten und handelnd durch ihre Organe, die Gewerkschaftsfunktionäre), wenn sie etwas tun oder unterlassen, was den allgemeinen und langfristigen Zielen der Arbeiter_innenklasse widerspricht?
Eines sei vorab klargestellt: Wenn wir von „Manövern der Gewerkschaften“ sprechen, meinen wir nicht, dass ihre Repräsentanten sich über ihr Handeln in einem grösseren Zusammenhang Rechenschaft ablegen, geschweige denn, dass sie stets bewusst (und versteckt vor der Öffentlichkeit) einen Plan aushecken würden, wie sie die Interessen der Arbeiter_innen am effektivsten hintertreiben können. Und trotzdem behaupten wir, dass die Gewerkschaften in der Regel so handeln, dass tatsächlich die langfristigen Klasseninteressen des Proletariats wirksam hintergangen werden, so dass sich zur Beschreibung des äusseren Ablaufs der Dinge der Begriff des Manövers förmlich aufdrängt.
Wie kommt aber dieses "Manöver" zustande? Aus unserer Sicht sind es nicht ideelle, sondern ganz materielle Gründe, nicht weil sich die Gewerkschaftsspitzen und ihre Funktionäre einen von A bis Z ausgedachten Plan zurechtlegten und bewusst ein Manöver inszenierten, sondern weil sie ihrer Funktion gemäss handeln. In Anlehnung an Marx könnte man über diese „Handlanger des Kapitals“ sagen, dass auch sie das tun, was sie ihrem Sein gemäss geschichtlich zu tun gezwungen sind: Sie sollen den Arbeitern und Arbeiterinnen Lösungsvorschläge zur „Verbesserung“ des Kapitalismus unterbreiten. Ist das denn etwas Anderes als Sabotage der Revolution! Mit welchem Bewusstsein die Gewerkschafter agieren, spielt für das Gelingen des Manövers zunächst keine Rolle. Es wird Gewerkschafter geben, die als alte Linke ziemlich bewusst ans Werk gehen. Andere haben keine Ahnung, was sie tun; schon der Vater war Gewerkschafter und der Grossvater auch – das macht man einfach so. Dabei sollte auf rein empirischer Ebene festgehalten werden, dass in offenen Kampfsituationen ein Manöver der Gewerkschaftsspitzen oft, wie im Kampf von 2004 bei Opel in Bochum, selbst von Gewerkschaftsmitgliedern als solches bezeichnet wird.
In dieser Diskussion darf nicht vergessen gehen, welches Abbild die kapitalistischen Verhältnisse im Bewusstsein der Menschen typischerweise produzieren. Im Kapitalismus stehen die Menschen in verdinglichten (über den Warenaustausch vermittelten) Beziehungen mit allen anderen, ohne dass sie die Gesamtheit dieser Verhältnisse bestimmen (oder auch nur durchschauen) würden. Die Menschen sind in ihren Handlungen durch diese materiellen Verhältnisse geprägt, nicht durch die ideellen Vorstellungen, die sie sich davon machen, auch wenn es ihnen genau umgekehrt erscheint – ein „Irrtum“, der „vom ideologischen Standpunkt aus um so leichter zu begehen“ war, „als jene Herrschaft der Verhältnisse (…) in dem Bewusstsein der Individuen selbst als Herrschen von Ideen erscheint“ (Marx, Grundrisse).
Auf der Grundlage, dass unbeherrschbare gesellschaftliche Verhältnisse falsche, d.h. ideologische Vorstellungen bei den Betroffenen hervorrufen, dürfte das Bewusstsein über die eigene Rolle bei einem Gewerkschaftsfunktionär oder selbst beim ganzen Gewerkschaftsapparat nur ausnahmsweise klar und dem Gegenstand angemessen sein. Der herrschenden Ideologie unterworfen, sitzen auch die Gewerkschaftskader dem Schein der falschen Verhältnisse auf: Sie meinen zu einem guten Teil tatsächlich, dass sie die Arbeiterinteressen verträten und wirksam gegen die kapitalistische Ausbeutung kämpften. Worum es hier also geht, ist die Frage, welchen Bewusstseinsgrad die Akteure, die die Intervention der Gewerkschaften bestimmen und tragen, bei ihren Handlungen haben. Von einer Verschwörung oder einem Komplott spricht man dann, wenn sich die massgebenden Leute miteinander bewusst über ihre Ziele und Mittel verständigen und auf eine Strategie einigen. Dass dies geschehen kann, gibt auch O.B.M.F. zu; dass es aber bei dem, was wir Manöver der Gewerkschaften nennen, in jedem Fall eine Verständigung über die langfristigen Ziele gebe, behaupten auch wir nicht. Was ist aber die Fortsetzung des Gedankens von O.B.M.F.? Manchmal gibt es bewusste Manöver und manchmal nicht? Sollten wir nicht vielmehr die Frage nach den Bewegungsgesetzen und Triebkräften hinter den allfälligen Manövern beantworten?
Meines Erachtens gibt es dabei mindestens zwei Aspekte, die genauer zu betrachten sind: Der erste Gesichtspunkt betrifft den subjektiven Standpunkt der Akteure, konkret der Gewerkschaftsfunktionäre. Sie vertreten, was auch Eiszeit in ihrem Beitrag in Kosmoprolet Nr. 3 konstatiert und kritisiert, u.a. Werte bzw. Inhalte wie: Spaltung der Klasse in Nationen, Souveränität des Nationalstaats, Herrschaft der bürgerlichen Demokratie, Verteidigung des Gewaltmonopols des kapitalistischen Staates usw. Wer so ausgerüstet in das Geschäft des „gewerkschaftlichen Kampfes“ steigt, kann doch nicht anders als, im Grossen und Ganzen gesehen, den proletarischen Interessen diametral entgegenstehen. Wenn es in einem Kampf der Arbeiter_innen um Selbstorganisation gehen könnte, ruft jener Demokrat: „Gewerkschaftliche Repräsentation!“ Wenn die bürgerliche Staatsordnung gefährdet ist, eilt er seinem Programm gemäss genau dieser Ordnung zu Hilfe. Dass die Spitzen der deutschen Politik offen über die gelungene Arbeitsteilung bei der Durchsetzung der Agenda 2010 reden können und Stoiber dem Linken Schröder zu den erfolgreichen Massnahmen/Angriffen gratuliert, die er als Rechter aufgrund drohender Volksproteste nicht hätte umsetzen können, ist ein Gradmesser für das Bewusstsein der herrschenden Klasse über ihre Strategien.[4]
Und hier ist der zweite Aspekt angesprochen, die Funktionsweise der herrschenden Klasse im Kapitalismus. Uns scheint, dass die Position, die in dieser Diskussion gegen uns den Bann ausspricht, die Gefährlichkeit des Gegners unterschätzt. Im Artikel „Marxismus und Verschwörungstheorien“ haben wir versucht, aufzuzeigen, dass das Phänomen der Verschwörungstheorien im Kapitalismus kein zufälliges ist. Vielmehr sind auch sie ein ideologischer Ausdruck der tatsächlichen Verhältnisse. Die Bourgeoisie ist eine herrschende Klasse, die selber in Nationen gespalten und von ständigen Rivalitäten geprägt ist. Die Verschwörung gehörte von Anfang an zum Arsenal ihres ihrer Funktionsweise. Niccolò Machiavelli (1469-1527) ist der Pate dieses Kindes - des Machiavellismus. Obwohl auch die Bourgeoisie nicht über den gesellschaftlichen Verhältnissen steht und insofern die von Widersprüchen zerrissene kapitalistische Produktionsweise nicht wirklich beherrschen kann, gehört die Verschwörung zu den von ihr verwendeten Mitteln und ist die verschwörerische Sicht auf die Welt Teil ihrer Ideologie – ein falsches Bewusstsein, das aber ihrer gesellschaftlichen Stellung und Funktion entspricht.
Die durchaus bestehende Fähigkeit und Bereitschaft zur Verschwörung zeigt sich bei der Bourgeoisie insbesondere in angespannten Zeiten, wenn das Proletariat zur Gefahr für die herrschende Ordnung wird. Beispiele:
- In der Novemberrevolution 1918 in Deutschland vereinbarten Friedrich Ebert als SPD-Vorsitzender und Mitglied des Rates der Volksbeauftragten und General Wilhelm Groener als Chef der Obersten Heeresleitung ein gemeinsames Vorgehen gegen linksradikale Gruppierungen (Ebert-Groener-Pakt, auch "Pakt mit den alten Mächten"). Die SPD war zuständig für die Legitimation der Regierung gegenüber der Arbeiterklasse, während gleichzeitig die Militärs die Bildung der Freikorps zur brutalen Niederschlagung der revolutionären Arbeiter_innen vorbereiteten. Die Fortsetzung der Geschichte ist bekannt.
- Als im Mai 1968 in Frankreich der bis damals grösste Streik in der Geschichte ausbrach, setzten sich (einmal mehr) Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung zusammen. „Es war offensichtlich, dass die Bourgeoisie Angst hatte. Der Premierminister Pompidou leitete die Verhandlungen. Am Sonntagmorgen traf er den Chef der CGT, Séguy, eine Stunde lang unter vier Augen. Die beiden Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in Frankreich brauchten Zeit, um ohne Zeugen die Bedingungen für die Wiederherstellung der Ordnung zu besprechen (…)“[5] Es kam dabei auch zu einem Geheimtreffen auf einem Dachboden zwischen dem damaligen Minister für soziale Angelegenheiten, Jacques Chirac, und der Nummer 2 bei der CGT, Krasucki. Wenn das kein Komplott ist!
O.B.M.F. hat sicher recht, wenn er sagt, dass das Problem tiefer ist „als ein blosser Beschiss“. Für das Gelingen eines Manövers spielt es – wie oben beschrieben – zunächst gar keine Rolle, ob ihre Protagonisten arglistig oder naiv ehrlich handeln. Einig sind wir uns auch in der Feststellung, dass die Bourgeoisie zu eigentlichen verschwörerischen Manövern fähig und bereit ist. Dabei spielen heute die Gewerkschaften eine kaum ersetzbare Rolle, was v.a. dort deutlich wird, wo die Gewerkschaften gerade nicht mehr den Schein der Unabhängigkeit gegenüber dem Staat (z.B. in den stalinistischen Ordnungen) haben. Doch über die Fähigkeit und Bereitschaft der herrschenden Klasse zum geplanten Manöver hinaus darf ihre Neigung, ihre spontane Tendenz dazu, nicht übersehen werden. Im Gegensatz zum Proletariat hat die im Kapitalismus das Kommando ausübende Klasse (mit all ihren bewussten oder unbewussten Agenten) kein Interesse an Ehrlichkeit, Offenheit, Debatte – sie hat kein Interesse an der Wahrheit.
Wir können uns gut vorstellen, dass die eingangs erwähnten Kritiker unserer Position zur Ferieninitiative über weite Strecken mit unseren Argumenten einverstanden sind – und trotzdem finden, dass diese Initiative von Travailsuisse kein Manöver gewesen sei, weil die fehlende Kampfbereitschaft der Arbeiterklasse ein solches schlicht unnötig mache. Dabei muss man wohl zwischen tatsächlicher Kampfbereitschaft und wachsender Wut unter den Arbeiter_innen unterscheiden. Jene ist ein kollektiver Prozess, diese eine Vorstufe dazu, die zunächst individuell und noch nicht als gemeinsame Stimmung wahrgenommen wird. Schon in diesem Stadium gibt es für die Schützer der herrschenden Ordnung (z.B. die Gewerkschaften) eine Tendenz zum Manöver, um „Dampf abzulassen“. Denn die Wut ist eine Voraussetzung der Entwicklung der Kampfbereitschaft – und je früher ein solcher Prozess verhindert oder gebremst werden kann, desto besser fürs System. Wenn schon eine Ferieninitiative reicht, um etwas Dampf abzulassen (bzw. die demokratischen Illusionen zu stärken), umso stabiler die Ausbeutungsordnung. Wenn dieses Mittel nicht reicht, dann hilft vielleicht ein gewerkschaftlich kontrollierter Streik. Insofern ist die Analyse der verschiedenen Manöver des Bourgeoisie (von den fies geplanten bis zu den sich spontan ergebenden) ein Spiegel der Auseinandersetzung zwischen den Klassen und kann helfen, das Kräfteverhältnis möglichst differenziert einzuschätzen.
Maluco, 29.03.13
(leicht gekürzte Fassung des auf unserer Homepage veröffentlichten Originalartikels)
Neuer Rhythmus der IKS-Presse
"Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter. Sie wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. (…) Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande."
So drückte sich Marx 1848 im Kommunistischen Manifest aus. Der Kapitalismus hat schließlich länger überlebt, als Marx dies voraussah, aber der Klassenkampf ist mehr denn je auf der ganzen Welt ebenso eine Tatsache. Da, wo die Arbeiter_innen von 1848 auf Eisenbahnen zählten, die natürlich nicht dazu geschaffen worden waren, um ihnen das Leben zu erleichtern, setzen die Arbeiter_innen und Revolutionäre von 2013 je länger je mehr auf das Internet, um ihre Ideen zu verbreiten und – so hoffen wir – nach und nach diese „immer weiter um sich greifende Vereinigung“ zu schmieden, von der Marx sprach. Das Internet hat unsere Arbeitsweise und vor allem unsere Kommunikationsweise von Grund auf verändert.
Als die IKS 1975 gegründet wurde, gab es das Internet natürlich noch nicht. Die Ideen wurden mit dem Mittel der gedruckten Presse weiter verbreitet, in Hunderten von kleinen radikalen Buchläden aufgelegt, die damals in der Dynamik nach dem Mai 68 und den folgenden Kämpfen auf der ganzen Welt aus dem Boden sprossen. Und die Korrespondenz wurde gepflegt auf dem Weg des (oft von Hand) geschriebenen Briefes, den die Post beförderte.
Heute sind die Verhältnisse ganz anders: Das Papier ist durch die elektronischen Medien ersetzt worden, und während die Buchläden ein günstiger Ort des Vertriebs unserer gedruckten Presse in der Welt waren, so verkaufen wir sie heute im Wesentlichen an Demonstrationen und bei Kämpfen am Arbeitsplatz.
Darüber hinaus haben wir uns mit der Presse seit der Gründung der IKS darum bemüht, zur Entwicklung einer internationalistischen Perspektive in der Arbeiterklasse beizutragen, indem wir uns auf Artikel stützten, die in verschiedenen Ländern Gültigkeit hatten. Heutzutage verfolgen wir immer noch dasselbe Ziel, aber die elektronischen Medien mit ihrer hohen Geschwindigkeit der Datenübertragung erlaubt es den Sektionen der IKS, enger zusammen zu arbeiten (vor allem dort, wo die Sprache die gleiche ist), und wir nutzen die neuen Möglichkeiten, um unsere weltweite Einheit in der Presse noch zu verstärken.
Diese Faktoren haben es uns nahe gelegt, über unsere Presse und über den Stellenwert der digitalen Publikationen beziehungsweise der gedruckten Presse im Rahmen unserer internationalen Intervention nachzudenken. Wir sind davon überzeugt, dass die gedruckte Presse ein wesentlicher Teil unserer Interventionsmittel bleibt. Mit ihr können wir direkt in laufende Kämpfe eingreifen. Aber die gedruckte Presse spielt nicht mehr die genau gleiche Rolle wie in der Vergangenheit und muss deshalb flexibler werden, sich an eine veränderte Lage anpassen können.
Da wir nur begrenzte Kräfte haben, sind wir zum Schluss gelangt, dass eine Verstärkung und Anpassung unserer Webseite eine Verringerung der Arbeit im Zusammenhang mit der gedruckten Presse voraussetzt: Eine der ersten Folgen dieser Neuorientierung der Pressearbeit wird deshalb sein, dass die gedruckten Publikationen weniger häufig erscheinen, insbesondere einige unserer Zeitungen. So werden unsere Zeitungen in Großbritannien (World Revolution) und in Frankreich (Révolution internationale) in Zukunft nur noch alle zwei Monate heraus kommen.
Abgesehen davon werden unsere Leser_innen sicher bemerkt haben, dass 2012 die Sommerausgabe der International Review (in englischer, französischer und spanischer Sprache) nicht erschienen ist. Wir möchten uns dafür entschuldigen. Wie ist dies zu erklären, wenn doch – wie wir sonst sagen – die geschichtlichen Notwendigkeiten des Kampfes der Arbeiterklasse von den Revolutionären eine erhöhte Anstrengung der Intervention auf theoretischer und historischer Ebene verlangen? Es hat sich in der Tat herausgestellt, dass unsere begrenzten Kräfte es uns nicht erlauben, gleichzeitig alle Aufgaben im Zusammenhang mit den Publikationen zu erfüllen, die nebst der Internationalen Revue auch noch die Broschüren und Bücher umfassen, deren Herausgabe uns eine bedeutende Arbeit abverlangt. Wir stehen erst am Anfang unserer Diskussion über die Pressearbeit, und wir wissen noch nicht genau, wie wir uns hinsichtlich des Rhythmus der Herausgabe der Internationalen Revue schließlich entscheiden werden.
Wir gehen davon aus, dass im laufenden Jahr neue Änderungen sich ergeben werden, insbesondere was die Struktur der Webseite betrifft. Wir möchten unsere Leser_innen in diese Aufgabe einbeziehen, weshalb wir bald einen Fragebogen auf die Webseite stellen werden, damit ihr eure Meinung dazu abgeben könnt. In der Zwischenzeit sind wir offen für eure Vorschläge, die ihr schon auf den Diskussionsforen einbringen könnt.
Das hier Gesagte bezieht sich natürlich nur auf die geographischen Gebiete, wo der Zugang zum Internet selbstverständlich geworden ist. Es gibt aber Regionen, wo der fehlende oder erschwerte Zugang bedeutet, dass die gedruckte Presse weiterhin die gleiche Rolle spielen muss wie bisher. Dies ist insbesondere in Indien und in Lateinamerika der Fall, wo wir mit unseren Sektionen in Indien, Mexiko, Venezuela, Peru und Ecuador schauen werden, wie wir am besten unsere Presse an die jeweiligen Bedingungen anpassen können.
IKS, 18. Januar 2013
Der Krieg und die Massaker an der Bevölkerung in Syrien (mehr als 100.000 Tote, ca. 165 Tote täglich) führen den ganzen Horror und die Barbarei eines dahinsiechenden Systems vor Augen. Sie zeigen das ganze Drama, vor dem Millionen von ArbeiterInnen stehen, die in den sich zuspitzenden Konfrontationen zwischen verschiedenen bürgerlichen Cliquen aufgerieben werden. Diese Zusammenstöße werden wiederum von ausländischen imperialistischen Mächten mit angefacht.
Da die Menschen als Geiseln genommen werden, können sie keinen ausreichenden Widerpart und erst recht keine eigene Perspektive entwickeln. Leider bedeutet dies, dass in einem wachsenden Teil des Nahen Ostens und Afrikas die ausgebeutete Jugend oft von dem einen oder anderen Feindeslager vereinnahmt wird. Die Folge: sie wird als Kanonenfutter verheizt.
Im Gegensatz dazu versuchen derzeit Hunderttausende Proletarier in der Türkei wie in Brasilien, sich zu organisieren und eigenständig zu kämpfen. In beiden Fällen haben sie eine gewaltige Solidaritäts- und Protestwelle ausgelöst. Was besonders auffällt, ist die Tatsache, dass sich die junge Generation sowohl in der Türkei als auch in Brasilien auf die Bewegung der Indignados in Spanien beruft und stark von ihr inspiriert wird. Gleichzeitig werden beide Bewegungen mit der gleichen brutalen Repression konfrontiert: Sowohl die rückständige, islamistisch geprägte Regierung in der Türkei als auch die von der Linken geführte Regierung in Brasilien geht brutal gewaltsam gegen die Protestierenden vor. Dabei behauptet die « radikale » und « fortschrittliche » Linke in Brasilien, die als eine Variante des in Südamerika weit verbreiteten berühmten « Sozialismus des 21. Jahrhunderts » auftritt, aus Brasilien ein Schwellenland zu machen und die Mehrheit der Bevölkerung aus ihrer Armut zu führen. Auch wenn die Erhöhung der Fahrpreise im Nahverkehr als Sprengstoff der Bewegung wirkte und deren gemeinsamer Nenner darstellte, beschränkt sich die Bewegung in Brasilien keinesfalls auf ausschließlich ökonomische Forderungen. Trotz des spektakulären Kniefalls der Regierung, die aufgrund des Drucks diesen Angriff rückgängig machen musste (wie es 2006 in Anbetracht der massiven Mobilisierung der jungen Proletarier die französische Regierung auch tun musste, als sie den CPE (Ersteinstellungsvertrag) durchboxen wollte), reicht der Rückzug der Regierung nicht aus, um die einmal in Bewegung geratenen Massen aufzuhalten. Diese Bewegung bringt in Wirklichkeit eine viel tieferliegende Unzufriedenheit zum Ausdruck. Die Geschehnisse in der Türkei sind noch aufschlussreicher. Die dortige Bewegung stellt einerseits eine Kontinuität mit den Arbeiterkämpfen von Tekel 2008 dar, die seinerzeit ansatzweise ein Potenzial an Kampfbereitschaft und Solidarität zum Ausdruck brachten, das über die von den Herrschenden betriebene Spaltung zwischen den Bevölkerungsgruppen hinwegging. Andererseits kommt in der Bewegung, vor allem unter den jungen Arbeitergenerationen an ihrer Spitze, die Ablehnung der unerträglichen kulturellen und ideologischen Unterdrückung und anderer Zwangsmaßnahmen zum Ausdruck. Die obskuren moralischen und autoritären Werte, die durch die pro-islamische Erdogan-Regierung verkörpert werden, die provozierende Haltung Erdogans, die zu einer Radikalisierung und Ausdehnung der Bewegung infolge der Repression geführt hat, verstärkt das Bestrebungen nach Würde noch mehr.
Trotz des Gewichtes der Gewalt und des gesellschaftlichen Zerfalls und mehr noch als beim Arabischen Frühling, der relativ leicht durch die Religiösen wieder eingedämmt werden konnte, sind die Proteste der jungen Proletarier in Europa, die von eine Reihe von Arbeiterkämpfen in den großen Industriezentren des Landes mit angetrieben und durch die laizistische Erfahrung seit Mustafa Kemal beeinflusst wurden, Teil einer tiefgreifenden Dynamik, die sich in Kontinuität mit den Kämpfen der Indignados, der Occupy-Bewegung und letztendlich mit dem Mai 1968 befindet. Hier liegen die tieferen Wurzeln einer Bewegung, die sich gegen eine Welt der Armut, der ideologischen Unterdrückung und Ausbeutung richtet. Auch die Bewegung in Brasilien hat sich gegen diese Art von Staatsreligion und nationale Einheit in Gestalt des « Fußballgotts » gerichtet. Denn es wurde laut und heftig gegen die gewaltigen Staatsausgaben zur Vorbereitung der WM in Brasilien protestiert.
Die Bewegung wird von einer jungen, kämpferischen Generation getragen, von Arbeiterkindern, die weniger als die Generation ihrer Eltern von der Bürde der Niederlagen, des Stalinismus und der Konterrevolution im Allgemeinen gefesselt ist. Diese Jugend reagiert und ruft zu Massenversammlungen oder zu Mobilisierung mit Hilfe von Mobiltelefonen und sozialen Netzwerken wie Twitter auf. Von den Favelas im Norden Rios und den gigantischen Kundgebungen in allen Großstädten Brasiliiens über den Taksim-Platz und den Versammlungen in den Parks von Istanbul und anderswo in der Türkei bis zu den Kundgebungen der StudentInnen in Chile - sie alle streben nach einer anderen Art von gesellschaftlichen Verhältnissen, Verhältnisse, in denen die Menschen nicht mehr verachtet und wie Vieh behandelt werden.
Diese Bewegungen kündigen eine neue Zeit an. Sie spiegeln tiefgreifende Regungen wider, um aus der Resignation auszubrechen und die Logik der Konkurrenz zu überwinden, die das herausragende Merkmal des Kapitalismus ist. Sie entwickeln sich auf dem gleichen Boden wie die Bewegungen in den Ländern im historischen Herzen des Kapitalismus, wo sich die Lebensbedingungen zwar auch verschlechtert haben, es der Arbeiterklasse noch nicht gelungen ist, den Weg zu massiven Kämpfen zurückzufinden. Zum Großteil ist dies darauf zurückzuführen, dass sie einer sehr erfahrenen und gut organisierten herrschenden Klasse gegenübersteht. Aber schon jetzt richten sich die Blicke der Protestierenden in der Türkei und in Brasilien auf die Arbeiterklasse in den zentralen Ländern, insbesondere Europas, denn in Europa ist die Arbeiterklasse immer noch zahlenmäßig am stärksten gebündelt, verfügt über die meiste Erfahrung über die Fallen und tückischen Verschleierungen (wie die Demokratie oder die « freien » Gewerkschaften), die vom Klassenfeind ständig gegen sie eingesetzt werden.
Die Kampfmethoden, die sie potenziell entfalten könnte, wie selbständige und massenhafte Vollversammlungen, sind wirksame Waffen der gesamten Arbeiterklasse weltweit. Die Zukunft der ganzen Menschheit hängt davon ab, ob es gelingt, diese Waffen überall zum Einsatz zu bringen. Wim, 26.6.2013.
Eine Welle von Protesten gegen die Fahrpreiserhöhungen des Nahverkehrs erschüttert gegenwärtig die großen Städte Brasiliens. Insbesondere São Paulo, Rio de Janeiro, Porto Alegre, Goiânia, Aracaju und Natal. Bei den Protesten kamen bislang Jugendliche, Studenten, Schüler und viele Beschäftigte und “Freiberufler”, zusammen, die gegen die Preiserhöhungen ankämpfen. Bislang waren die Fahrpreise bei schlechter Qualität des Nahverkehrs schon sehr hoch, die jüngste Preiserhöhung bedeutet einen weiteren Einschnitt in die Lebensbedingungen großer Teile der Bevölkerung.
Die brasilianische Bourgeoisie, mit der PT (Partei der Arbeit) und ihren Verbündeten an der Spitze, behauptete, alles läge im Bereich der Norm. Dabei sieht die Wirklichkeit ganz anders aus, denn die Mehrheit der Bevölkerung leidet unter der Inflation. Die bisherigen Geldspritzen zur Ankurbelung des Konsums, damit das Abrutschen der Wirtschaft in die Rezession vermieden wird, ändern daran nichts. In ihrem Spielraum eingeengt, ist die einzige Alternative beim Kampf gegen die Inflation aus der Sicht der Herrschenden die Erhöhung der Zinsen und die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben im Bereich Gesundheitswesen, Erziehung, Sozialhilfe, wodurch die Lebensbedingungen für die Menschen, die von diesen Zahlungen abhängig sind, noch schlechter werden.
In den letzten Jahren haben viele Streiks gegen die Lohnsenkungen und die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen sowie gegen die Kürzungen im Bildungs- und Gesundheitswesen stattgefunden. Aber in den meisten Fällen waren diese Streiks isoliert worden durch den Sperrring, den die mit der Regierung (welche von der PT dominiert wird) verbundenen Gewerkschaften gelegt hatten. Die Unzufriedenheit konnte eingedämmt werden, damit der “soziale Frieden” nicht auf Kosten der Volkswirtschaft angekratzt wurde. Vor diesem Hintergrund begannen die Proteste gegen die Fahrpreiserhöhungen in São Paulo und den anderen Landesteilen: überall verlangt die Regierung mehr Opfer von den Beschäftigten zur Unterstützung der Volkswirtschaft, d.h. des nationalen Kapitals.
Zweifelsohne zeugen die Beispiele der Bewegungen, die in den letzten Jahren in verschiedenen Ländern ausgebrochen sind und an denen sich viele Jugendliche beteiligt hatten, davon dass der Kapitalismus der Menschheit keine andere Alternative anzubieten hat als ein unmenschliches Dasein. Deshalb hat die jüngste Protestwelle in der Türkei auch bei den Protesten in Brasilien gegen die Fahrpreiserhöhungen ein solch großes Echo gehabt. Die brasilianische Jugend hat gezeigt, dass sie die Gesetze des Opferbringens, welche die herrschende Klasse durchboxen will, nicht hinnehmen möchte und stattdessen bereit ist, sich den Kämpfen anzuschließen, die in den letzten Jahren die Welt erschüttert haben – wie die Kämpfe der Jugend gegen den CPE in Frankreich 2006, der Jugend und der Arbeiterklasse insgesamt in Griechenland, Ägypten, Nordafrika, der Indignados in Spanien, der “Occupy”-Bewegung in den USA und in Großbritannien.
Ermutigt durch die Erfolge der Proteste in Porto Alegre und Goiânia, wo die Herrschenden mit brutaler Repression reagiert hatten, aber nicht dazu in der Lage waren, die Fahrpreiserhöhungen durchzusetzen, begannen die Proteste am 6. Juni in São Paulo. Dazu aufgerufen hatte die Bewegung für “kostenlosen Nahverkehr” (MPL, Movimento Passe Livre), eine Gruppe, die im Wesentlichen von jungen Student/innen getragen wird, welche von den Positionen der Linken und Anarchisten beeinflusst werden. Sehr schnell schlossen sich viele Leute dieser Gruppe an, so dass sie gegenwärtig ca. 2-5000 Mitglieder zählt. Weitere Proteste folgten am 7. und 11. und 13. Juni. Von Anfang an gingen die Herrschenden mit brutaler Repression vor, viele Teilnehmer wurden verhaftet und viele Jugendliche verletzt. Wir begrüßen den Mut und die Kampfbereitschaft der Protestierenden, sowie die große Sympathie, mit welcher die Bevölkerung ihnen gegenüber von Anfang an reagierte, so dass selbst die Organisatoren überrascht waren.
Die herrschende Klasse reagierte auf diese Kundgebungen mit einer Welle von Gewalt in einem Ausmaß, wie es die Geschichte dieser Bewegungen bislang noch nicht erlebt hatte. Die Medien haben dem Rückendeckung gegeben, indem sie über Vandalen und rücksichtslose, unverantwortliche Protestierende schimpften. Dabei ragte ein hochrangiger Staatsanwalt heraus, Rogério Zagallo, welcher der Polizei öffentlich empfahl, mit Schlagstöcken vorzugehen und dass diese auch vor dem Gebrauch von Schusswaffen nicht zurückschrecken sollte: „Seit zwei Stunden versuche ich nach Hause zu kommen, aber eine Bande von revoltierenden Affen blockiert die Haltestellen Faria Lima und Marginal Pinheiros. Könnte jemand die Sondereingreiftruppen informieren (Schocktruppen, Eliteeinheit der Militärpolizei), dass dieses Gebiet in meinen Zuständigkeitsbereich fällt, und wenn sie diese Hundesöhne töten, werde ich die polizeilichen Untersuchungen leiten. (…). Wie schön waren die Zeiten, als wir solche Angelegenheiten mit Gummiknüppeln regeln konnten, indem wir diesen Schuften eins auf die Rübe gegeben haben.“
Darüber hinaus hat eine Reihe von Politikern, die unterschiedlichen Parteien angehören, wie der Staatsgouverneur Geraldo Alckmin der PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens) und der PT-Bürgermeister von São Paulo die polizeiliche Repression heftig verteidigt und die Bewegung verurteilt. Solche gemeinsamen Stimmen sind nicht häufig zu vernehmen, da das übliche Spiel der Herrschenden darin besteht, sich jeweils gegenseitig die Verantwortung für die Probleme in die Schuhe zu schieben, vor denen die jeweils an der Regierung befindliche Fraktion der Herrschenden steht.
Als Reaktion auf die wachsende Repression und die irreführende Berichterstattung durch die meisten Medien haben sich noch mehr Leute an den Protesten beteiligt: ca. 20.000 am 13. Juni. Die Repression gegen die Demo war noch heftiger, 232 Leute wurden verhaftet, viele verletzt.
Es fällt auf, dass eine neue Generation von Journalisten in Erscheinung getreten ist. Obwohl sie in der Minderheit sind, haben sie eindeutig ihre Solidarität bekundet und über die Polizeigewalt berichtet, gleichzeitig wurden viele von ihnen selbst Zielscheibe polizeilicher Repression. Weil sie sich dessen bewusst sind, dass die Schlagzeilen und Leitartikel der großen Medien meistens manipulierend berichten, ist es diesen Journalisten gewissermaßen gelungen, das gewaltsame Vorgehen der Jugendlichen als Selbstverteidigung darzustellen. Und manchmal waren die Verwüstungen hauptsächlich von Regierungs- und Justizbüros ein Ausdruck der ungebremsten Empörung über den Staat. Aber daneben waren auch Provokateure am Werk, welche die Polizei üblicherweise in solchen Demos einsetzt.
Nachdem die Manipulationen immer deutlicher zutage traten und damit die offiziellen Berichterstattungen durch staatliche Quellen, die Medien und die Polizei sich als Lügen herausgestellt haben, welche eine legitime Bewegung demoralisieren und kriminalisieren sollten, bewirkte diese eine noch größere Mobilisierung der Demonstranten und einen noch größere Unterstützung in der Bevölkerung. Deshalb muss man den großen Beitrag der Leute hervorheben, die in den sozialen Netzwerken aktiv für die Bewegung mobilisiert haben oder mit ihr sympathisieren. Aus Angst, dass die Bewegung unkontrollierbar werde, haben einige Teile der Herrschenden angefangen, einen anderen Ton anzuschlagen. Nach einer Woche des Schweigens und Vertuschens haben die großen Medienunternehmen in ihren Zeitungen und Fernsehsendungen langsam angefangen, von „Polizeiexzessen“ zu reden. Und einige Politiker haben diese „Exzesse“ ebenso kritisiert und Untersuchungen angekündigt.
Die Gewalt der Herrschenden, die mittels des Staates ausgeübt wird, egal ob dieser eine „demokratische“ oder „radikale“ Maske auflegt, stützt sich auf den totalitären Terror der Herrschenden gegen die ausgebeuteten und unterdrückten Klassen. Wenn mit dem „demokratischen“ Staat diese Gewalt nicht so offen in Erscheinung tritt wie in den Diktaturen und mehr verdeckt ausgeübt wird, so dass die Ausgebeuteten ihre Lage als Ausgebeutete hinnehmen und sich mit den Verhältnissen zufrieden geben, bedeutet dies nicht, dass der Staat auf die verschiedensten und modernsten physischen Unterdrückungsmethoden verzichtet, wenn die Lage es erfordert. Es überrascht also nicht, wenn die Polizei so gewaltsam gegen die Bewegung vorgeht. Aber wie die Geschichte gezeigt hat; wer das Feuer gelegt hat, kann es nachher nicht mehr löschen. Die verschärfte Repression hat eine noch größere Solidarisierung in ganz Brasilien zur Folge gehabt, ja sogar international, auch wenn dies zahlenmäßig noch sehr beschränkt ist. Solidaritätskundgebungen außerhalb Brasiliens sind schon geplant. Hauptsächlich werden diese von „Auslandsbrasilianern“ organisiert. Man muss betonen, dass die Polizeigewalt dem Wesen des Staates entspricht und kein Einzelfall oder nur ein ‚Exzess‘ irgendeines Imponiergehabes der Polizei ist, wie es die bürgerlichen Medien und die dem System verbundenen Behörden gerne darstellen. Deshalb haben wir es hier nicht mit einem Versagen der „Führer“ zu tun und es nützt überhaupt nichts, „Gerechtigkeit zu verlangen“ oder ein „umsichtigeres Vorgehen der Polizei. Um die Repression aufzuhalten und den Staat zurückdrängen zu können, gibt es kein anderes Mittel als die Ausdehnung der Bewegung auf immer größere Teile der Arbeiterklasse. Zu diesem Zweck können wir uns nicht an den Staat wenden und ihn anbetteln. Die gesamte Arbeiterklasse muss die Repression anprangern und sich gegen die Preissteigerungen wenden. Ebenfalls muss man dazu aufrufen, dass sich immer mehr an dem Kampf gegen Präkarisierung und Repression beteiligen.
Die Kundgebungen, die noch lange nicht abflauen, haben sich auf ganz Brasilien ausgedehnt. Bei der Eröffnungsfeier des Confed Cup wurde die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff und der FIFA-Präsident Joseph Blatter beim Eröffnungsspiel Brasilien-Japan ausgepfiffen. Die beiden konnten nicht verheimlichen, wie sauer sie über diese Buhrufe waren und verkürzten deshalb ihre Reden. Vor dem Stadion beteiligten sich auch ca. 1200 Personen bei Protesten aus Solidarität mit der Bewegung gegen die Fahrpreiserhöhungen. Auch hier ging die Polizei wieder gewalttätig vor und verletzte 27 Personen und verhaftete 16 Teilnehmer. Um die Repression noch weiter zu verstärken, verbot der Staat jegliche Proteste in der Nähe der Stadien während des Confed Cups, unter dem Vorwand, den Ruf dieser Sportveranstaltung nicht zu schädigen und den Verkehr nicht zu behindern.
Diese Bewegung konnte sich so stark landesweit ausdehnen, weil sie von jungen Studenten und Schülern getragen wird, die gegen die Fahrpreiserhöhungen protestiert haben. Aber man muss berücksichtigen, dass sie mittel- und langfristig das Ziel verfolgt, die Einführung des kostenlosen Nahverkehrs für die ganze Bevölkerung zu verhandeln, der vom Staat zur Verfügung gestellt wird. Aber genau hier liegt die Grenze der Hauptforderung, da es in der kapitalistisch regierten Gesellschaft keinen allgemein kostenlosen Nahverkehr geben kann. Um dies durchzusetzen, müssten die herrschende Klasse und ihr Staat die Ausbeutung der Arbeiterklasse noch mehr verschärfen – z.B. durch Steuererhöhungen usw. Deshalb muss man darauf achten, dass der Kampf nicht mit der Perspektive von unmöglichen Reformen geführt wird, sondern immer mit dem Ziel, dass der Staat seine Entscheidungen rückgängig macht. Gegenwärtig scheinen die Perspektiven der Bewegung über die einfachen Forderungen der Rücknahme der Fahrpreiserhöhungen hinauszugehen. Jetzt schon sind Demos und Kundgebungen in Dutzenden von brasilianischen Städten in der nächsten Woche vorgesehen.
Die Bewegung muss sich vor den linken Kräften des Kapitals hüten, die auf die Vereinnahmung der Demonstrationen spezialisiert sind, um sie dann in Sackgassen zu führen wie z.B. die Forderung, dass die Gerichte ihre Probleme lösen....
Damit die Bewegung sich entfaltet, muss man Räume schaffen, wo die Teilnehmer zusammen kommen können, um sich gegenseitig zuzuhören, ihre Standpunkte auszutauschen und zu debattieren. All das geht nur durch die Organisierung von Vollversammlungen, die allen offenstehen müssen, wo jeder Teilnehmer das Wort ergreifen darf. Darüber hinaus müssen die Beschäftigten dazu aufgerufen werden, sich an diesen Versammlungen und Protesten zu beteiligen, denn auch sie sind natürlich von den Preiserhöhungen betroffen.
Die sich in Brasilien entfaltende Protestbewegung ist eine schallende Ohrfeige für die Kampagne der Herrschenden in Brasilien, die mit Unterstützung der Herrschenden auf der ganzen Welt behaupten, Brasilien sei ein „Schwellenland“, das dabei sei, die Armut zu überwinden und eine eigenständige Entwicklung durchlaufe. Diese Kampagne wurde vor allem von dem früheren Präsidenten Lula mit getragen, der weltweit den Ruf genießt, dass er angeblich Millionen Brasilianer aus der Armut geführt habe, während in Wirklichkeit sein großes Verdienst für das Kapital darin besteht, dass er unter der Bevölkerung, insbesondere unter den Ärmsten Krümel verteilt hat, um damit die Illusionen aufrechtzuerhalten und die Prekarisierung der Arbeiterklasse in Brasilien zu verschärfen.
Gegenüber der Weltwirtschaftskrise und den daraus entstehenden Angriffen gegen die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats gibt es keinen anderen Weg als den Kampf gegen den Kapitalismus.
Revolução Internacional (Internationale Kommunistische Strömung). 16.6.2013.
(P.S. Nachdem dieser Artikel verfasst wurde, kam es den darauf folgenden Tagen in ganz Brasilien wieder zu massenhaften Protesten mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern – wir werden weiter auf die Entwicklung eingehen).
Anfang Oktober kenterte ein überfülltes Boot vor der Insel Lampedusa. Mehr als 350 Flüchtlinge starben bei diesem tragischen Ereignis. Einige Tage später sank ein anders Schiff vor der Küste Maltas und ein Dutzend Menschen ertranken dabei. Jedes Jahr verlieren etwa 20.000 Menschen ihr Leben, bevor sie die Festung Europa erreichen! Anfang Oktober kenterte ein überfülltes Boot vor der Insel Lampedusa. Mehr als 350 Flüchtlinge starben bei diesem tragischen Ereignis. Einige Tage später sank ein anders Schiff vor der Küste Maltas und ein Dutzend Menschen ertranken dabei. Jedes Jahr verlieren etwa 20.000 Menschen ihr Leben, bevor sie die Festung Europa erreichen! Seit den 1990er Jahren werden an den Küsten Südeuropas Leichen angeschwemmt, gleich wie an anderen Orten auf der Erde wo ein Strom hungriger und armer Menschen Zuflucht in anderen Staaten sucht.
Wenn die Bourgeoisie heute betroffene Mine macht und Krokodilstränen vergießt, während schon seit langem Tausende von Menschen an ihren Küsten verenden, dann nur deshalb, weil das Ausmaß, die Verzweiflung und vor allem die Zahl der Opfer an einem einzigen Tag so unübersehbar war. Die herrschende Klasse hat Angst, dass sich die Bevölkerung empört und drüber nachzudenken beginnt.
Die verlogene Polemik um die „unterlassene Hilfe“ der italienischen Fischer soll die Aufmerksamkeit umlenken und Sündenböcke produzieren, während gleichzeitig das bürgerliche Gesetz Leute kriminalisiert, die den Flüchtlingen helfen![1] Das Hauptziel der gehirnwäscheartigen Medienkampagne ist ein Nebel zur Verhüllung der unter den Staaten abgesprochenen repressiven Maßnahmen. Die klassische ideologische Kampagne, die geführt wird, enthält einerseits offen fremdenfeindliche Töne, andererseits den „humanitären“ bürgerlichen Diskurs zur „Verteidigung der Menschenrechte“, und sie versucht, die Immigrant_innen vom Rest der Arbeiterklasse zu trennen und zu isolieren.
Eines ist klar, der krisengeschüttelte Kapitalismus und seine Politiker sind voll und ganz für diese erneute Tragödie verantwortlich. Sie, die Hunderttausende hungriger Menschen dazu zwingen, sich in das selbstmörderische Abenteuer der Flucht zu stürzen, gegen die Hindernisse, die ihnen von der herrschenden Klasse gestellt werden! Es überrascht nicht, wenn die gleichen Politiker, die nach Lampedusa kamen, um sich als betroffen zu präsentieren, von den angewiderten und schockierten Einheimischen am Flughafen ausgebuht wurden.[2]
Wenn wir über diese Immigrant_innen schreiben, gilt es festzuhalten, dass alle Arbeiter- und Arbeiterinnen in Wirklichkeit „Entwurzelte“ sind. Seit den Anfangszeiten des Kapitalismus wurden sie von Land und Handwerk vertrieben. Während im Mittelalter die Ausgebeuteten noch an die Erde gebunden waren, schuf sich der Kapitalismus mit einem gewaltsamen Exodus vom Lande die notwendigen Arbeitskräfte. „Die durch Auflösung der feudalen Gefolgschaften und durch stoßweise, gewaltsame Expropriation von Grund und Boden Verjagten, dies vogelfreie Proletariat konnte unmöglich ebenso rasch von der aufkommenden Manufaktur absorbiert werden, als es auf die Welt gesetzt ward. (…) Die Gesetzgebung behandelte sie als "freiwillige" Verbrecher und unterstellte, dass es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existierenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten.“[3] Die Entwicklung des Kapitalismus ist geschichtlich von der freien Verfügbarkeit der Arbeitskraft abhängig. Er produzierte unzählige Bevölkerungsverlagerungen und Migrationsströme, die alles Vorangegangene überstiegen, nur um Mehrwert herauszupressen. Genau aus diesen neuen einheitlichen Bedingungen der Ausgebeuteten hat die Arbeiterbewegung immer wieder hervorgehoben, dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“!
Ohne den Sklavenhandel im 17. und 18. Jahrhundert wäre die Entwicklung des Kapitalismus außerhalb der industriellen Zentren und Sklavenhandelsplätzen wie Liverpool, London, Bristol, Zeeland (in Holland), Nantes oder Bordeaux nie so schnell vorangeschritten. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts und in Folge der „gütigen Befreiung“ der Schwarzen in die Lohnarbeit, und begleitet von der kapitalistischen Akkumulation, haben andere ökonomische Faktoren einen Exodus vom Lande und riesige Migrationsströme verursacht, vor allem in den neuen Kontinent Amerika. In der Periode des 19. Jahrhunderts bis 1914 sind 50-60 Millionen Menschen aus Europa in die USA eingewandert, um dort Arbeit zu suchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten sich jährlich fast eine Million Menschen auf den Weg in die USA. Nur schon aus Italien sind zwischen 1901 und 1913 etwa 8 Millionen Menschen emigriert. Die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die während der aufsteigenden Phase des Kapitalismus spielten, erlaubten es dem kapitalistischen System immer mehr Arbeitskräfte aufzusaugen, die es für seine ungehemmte Expansion benötigte.
Durch den historischen Niedergang des kapitalistischen Systems haben sich die Bevölkerungsverlagerungen und Migrationsströme nicht verringert. Ganz im Gegenteil! Die imperialistischen Kriege, vor allem die zwei Weltkriege, die Wirtschaftskrise, die Verarmung und die Katastrophen aufgrund der Klimaerwärmung, stoßen immer mehr Menschen in die Migration. Im Jahr 2010 wurde die Zahl der Migrant_innen weltweit auf 214 Millionen geschätzt (3.1% der Weltbevölkerung[4]). Es gibt Schätzungen, dass alleine wegen der Klimaerwärmung im Jahre 2050 zwischen 25 Millionen und einer Milliarde mehr Migrant_innen hinzukommen werden![5]
Aufgrund der permanenten Krise des Kapitalismus und der Warenüberproduktion spüren die Einwanderer_innen immer direkter die Grenzen des Marktes und die brutalen Reglementierungen der Staaten. Das Kapital kann die Arbeitskraft nicht mehr aufnehmen und muss sie zum großen Teil zurück schicken! Nachdem schon nach der Zeit der Öffnung der USA vor dem Ersten Weltkrieg ein „Quotensystem“ eingeführt worden war, um die Einwanderung drastisch zu filtern, endete dies mit der Errichtung einer Mauer an der mexikanischen Grenze. Hier bezahlen nach der Tragödie der boat people aus Asien nun die „Chicanos“ mit ihrem Leben. Die offene Wirtschaftskrise während der 1960er und 70er Jahre hat alle Staaten, vor allem in Europa, dazu gebracht ihre Muskeln auf dem Mittelmeer spielen zu lassen, um mit einer Armada von Schiffen und Patrouillenbooten die Immigranten abzufangen und zurück zu schicken. Das unausgesprochene Ziel der herrschenden Klasse ist klar: „Die Immigranten sollen bei sich zu Hause verrecken“! Dazu haben die eifrigen Demokraten Europas, vor allem in Frankreich, nicht davor zurückgeschreckt, auf die Zusammenarbeit mit Gaddafi in Libyen und die Behörden in Marokko zu bauen, um die Menschen, die der Hölle entfliehen wollen, in der Wüste sterben zu lassen.
Diese Politik der „Kontrolle“ der Grenzen, welche immer härter wird, ist ein Produkt der Dekadenz und des Staatskapitalismus. Sie ist nichts Neues. In Frankreich zum Beispiel war „1917 die Schaffung einer Identitätskarte eine wahre Umwälzung der administrativen und polizeilichen Gewohnheiten. Die Mentalität der heutigen Zeit hat sich mit dieser individuellen Stempelung abgefunden, deren polizeilichen Ursprünge nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Es ist aber nichts Neutrales, wenn die Institution der Identitätskarte geschaffen wurde, um Ausländer zu überwachen, und zwar mitten im Krieg“[6]
Heute erreicht die Paranoia der Staaten gegenüber den Ausländer_innen, die immer als suspekt betrachtet werden und die „nationale Ordnung gefährden“, einen Höhepunkt. Die gigantischen Mauern aus Beton und Stahl an den Grenzen[7], verziert mit Stacheldraht und Elektrodrähten, erinnern genau an die Zäune der Konzentrations- und Todeslager im Zweiten Weltkrieg. Wenn die europäischen Staaten in Berlin den Fall der „Mauer der Schande“, welche ein Symbol der Barbarei des Eisernen Vorhangs war, im Namen der „Freiheit“ feiern, so demaskieren sie sich selber als die neuen heuchlerischen Erbauer von Mauern!
Die Dekadenz des Kapitalismus ist zur Epoche der großen Vertreibungen geworden, die es zu „bewältigen“ gilt, das Zeitalter der Deportierten, der Konzentrationslager und auch der Flüchtlinge (die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge ist von 700‘000 im Jahr 1950 auf 4,8 Millionen im Jahr 2005 gestiegen!). Der Völkermord an den Armenier_innen 1915 führte zu einer der ersten großen Massenfluchtbewegungen im 20. Jahrhundert. Zwischen 1944 und 1950 wurden fast 20 Millionen Menschen in Europa vertrieben oder evakuiert. Die Aufteilung der Staaten und die Grenzziehungen verursachten Massenvertreibungen. Während der „Eiserne Vorhang“ den Exodus von Menschen aus den Ostblockländern bremste, suchten die europäischen Länder die billigen Arbeitskräfte südlich des Mittelmeers. Die so genannten „nationalen Befreiungskämpfe“, die eine Folge der Krise und des Imperialismus währen des Kalten Kriegs waren, trugen weiter zum Elend und zur Vertreibung der verarmten Bauern und Bäuerinnen bei, die in die Millionenstädte insbesondere der peripheren Länder strömten, die Slums ausbauten und allen möglichen Tätigkeiten von mafiösen Banden ausgeliefert waren, vom Drogen- und Waffenhandel bis zur Prostitution. Die Plagen des 20. und 21. Jahrhunderts haben überall, namentlich im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika dazu geführt, dass ständige Flüchtlingslager wie Pilze aus dem Boden schossen; immer größere Menschenmassen (Palästinenser_innen, Afrikaner_innen …) wurden unter extremen (Über-)Lebensbedingungen zwischengelagert, Krankheiten und dem Hunger und den Mafias ausgeliefert.
Seit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks gab es abgesehen von den wachsenden Konflikten zwei wichtige Erscheinungen, die auf den Weltarbeitsmarkt und die Wanderungsbewegungen einen Einfluss hatten:
- die Vertiefung der Wirtschaftskrise, insbesondere in den zentralen Ländern;
- das Aufstreben Chinas.
Zunächst kamen Arbeiter_innen aus den ehemaligen Ostblockländern in den Westen, namentlich nach Deutschland, begleitet von den ersten Produktionsauslagerungen und einem starken Druck auf die Löhne. Dann eröffneten Regime, die bisher eher am Rand des Weltmarktes gestanden hatten, wie Indien und China, die Möglichkeit, auf dem Land Millionen von Arbeier_innen ihrer Wurzeln zu berauben, so dass eine riesige Reservearmee aus frei verfügbaren Arbeitslosen geschaffen wurde.
Ihre extrem niedrigen Löhne auf einem gesättigten Markt erlaubten dem Kapital, den Druck auf die Kosten der Arbeitskraft erneut zu erhöhen, was zu neuen Produktionsauslagerungen führte. Dies erklärt, warum in den zentralen Ländern seit 1990 die Zahl der illegal und versteckt Beschäftigten in gewissen Wirtschaftszweigen gewaltig zugenommen hat, obwohl gleichzeitig die Kontrollen verstärkt worden sind, da diese Dynamik es erlaubte, die Kosten der Produktion und der Arbeitskraft zu senken. Im Jahr 2000 gab es in Europa ungefähr 5 Millionen Schwarzarbeiter_innen, in den USA 12 Millionen und in Indien 20 Millionen! Die meisten der zentralen Länder, welche die Kopfarbeit ausbeuten, stützen sich gleichzeitig auf billige Handarbeit von Papierlosen und Menschen ohne Berufsbildung, die ihre Arbeitskraft zu jedem noch so tiefen Preis verkaufen müssen, um zu überleben. In verschiedenen Wirtschaftszweigen organisierte sich in Komplizenschaft mit dem Staat ein paralleler und geheimer Arbeitsmarkt, was zu einem Zustrom von Migrant_innen und Flüchtlingen führte, die der Erpressung ausgeliefert sind, ihrer Papiere beraubt und in jämmerlichen Unterkünften vom Rest der Gesellschaft abschottet werden. Die Folge davon ist, dass heute ein wesentlicher Teil der landwirtschaftlichen Ernten durch ausländische Arbeitskräfte eingebracht wird, die oft Schwarzarbeit leisten. In Italien arbeiten 65% der landwirtschaftlichen Angestellten schwarz! Seit dem Fall der Berliner Mauer sind 2 Millionen Rumän_innen in die südlichen Regionen Europas ausgewandert, um Arbeiten in der Landwirtschaft anzunehmen. In Spanien beruhte ein wesentlicher Teil des „Booms“ vor dem Krach in der Immobilienbranche auf der Arbeit und dem Schweiß der unterbezahlten Schwarzarbeiter_innen, die oft auf Lateinamerika stammten (Ecuador, Peru, Bolivien usw.). Dazu kommen die „Grauzonen“ des Arbeitsmarktes wie die Prostitution. Im Jahr 2003 waren in Moldawien 30% der Frauen zwischen 18 und 25 Jahren verschwunden! Im gleichen Jahr arbeiteten 500‘000 Prostituierte aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks in Westeuropa. In Asien und in den Golf-Monarchien sind die gleichen Erscheinungen bei Hausangestellten oder auf dem Bau zu beobachten. In Katar machen die Eingewanderten 86% der Bevölkerung aus! Ein Teil der Jugend in China oder auf den Philippinen lässt sich mit dem Ziel ausbilden, später in Hongkong oder in Saudi-Arabien unter sklavenähnlichen Bedingungen zu arbeiten. Mit der Ausbreitung von kriegerischen Spannungen ist zu erwarten, dass in Zukunft noch mehr Menschen und solche Arbeiter_innen die Flucht ergreifen, insbesondere aus Afrika, Asien und aus dem Nahen Osten.
Der sich entfesselnden Barbarei, der Polizeirepression gegen Einwanderer_innen und den fremdenfeindlichen Kampagnen, die ein Teil der Bourgeoisie mit ihren populistischen Botschaften zu führen versucht, kann das Proletariat nur seine eigene Empörung und seine internationale Klassensolidarität entgegenstellen. Dazu gehört natürlich, dass wir den herrschenden Diskurs entlarven, der versucht, Angstreflexe zu schüren, die Immigrant_innen und den „Ausländer“ verantwortlich zu machen für die Krise und die Arbeitslosigkeit. Nachdem früher die Aufmerksamkeit auf die „gelbe Gefahr“, die drohende „Invasion“ gelenkt worden ist, spielen heute die Medien und Politiker jeder Couleur mit den Ängsten, indem sie die „Kriminalität“ und die „Störung von Ruhe und Ordnung“ an die Wand malen. Unaufhörlich stopfen sie uns voll mit ihren Botschaften über „die Ausländer“, die „Illegalen“, die eine „unfaire Konkurrenz“ ausüben und die „sozialen Errungenschaft untergraben“ würden ... Und dies, obwohl die Migrant_innen die ersten und schwächsten Opfer des Systems sind! Eine solche plumpe und ekelerregende Taktik ist stets mit dem Ziel angewandt worden, die Proletarier_innen voneinander zu trennen. Aber die hinterhältigste Falle, der wir ausweichen müssen, ist diejenige des „guten Willens“ und der Pseudogroßzügigkeit der linken und „humanitären“ Organisationen, die aus den Einwanderer_innen eine „gesellschaftliche Sache“, einen Gegenstand einer „besonderen Politik“, eines „Teilbereichskampfes“ machen wollen, eine Rechtsfrage, die als solche im Rahmen des bürgerlichen Rechts zu behandeln sei.
Heute, wo die Fabriken eine nach der anderen schließen, wo die Auftragsbücher trotz der Ankündigung des „Wiederaufschwungs“ leer sind, wird es offensichtlich, dass alle Proletarier_innen von der Krise und der zunehmenden Armut getroffen werden – egal ob eingewandert oder nicht. Worin soll der Sinn der Idee liegen, dass die papierlosen Arbeiter_innen eine Konkurrenz seien, wenn die Arbeit eh eingestellt wird?
Angesichts aller ideologischen Angriffe und der Repressionspolitik muss sich das Proletariat auf seine historische Perspektive besinnen. Es muss damit beginnen, seine Solidarität zum Ausdruck zu bringen, die revolutionäre Kraft erkennen, die es in dieser Gesellschaft darstellt. Nur es allein wird fähig sein, im Kampf zu zeigen, dass „die Arbeiter kein Vaterland haben“.
WH (21/10/2013)
[1] Es ist absurd: Fischer, die in Sangatte Bootsflüchtlingen Sicherheitsbegleitung geleistet hatten, wurden im Namen des Gesetzes Bossi-Fini verfolgt, weil sie sich angeblich der « Hilfe zur illegalen Einwanderung » schuldig gemacht hätten!
[2] Der italienische Premierminister Alfano wurde von Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Union, und dem Zuständigen für innere Angelegenheiten Malmström begleitet. Sie traten mit Beteuerungen auf, im Namen der „Menschlichkeit“ die Überwachung der Grenzen mit dem Frontex-Dispositiv zu verstärken.
[3] Marx, Das Kapital Bd. 1: https://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_3 [38]
[4] Quelle: INED
[5] 133 Naturkatastrophen wurden 1980 registriert. Die Zahl ist in den vergangenen Jahren auf mehr als 350 pro Jahr angewachsen. Siehe: https://www.unhcr.org [39]
[6] P-J Deschott, F. Huguenin, La république xénophobe, JC Lattès, 2001(von uns ins Deutsche übersetzt)
[7] In Südeuropa (Ceuta, Melilla), an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, zwischen Israel und Palästina, und in Südafrika gegenüber dem Rest des Kontinents, wo die Behörden von Gaborone daran sind, eine elektrifizierte Mauer von 2.4 Metern Höhe und 500 Kilometer Länge zu errichten.
Deutschlands leidvolle Geschichte des 20.Jahrhundert ist reich an dramatischen und schrecklichen Themen und eine ganze Anzahl von erfolgreichen Filmen in den letzten Jahren belegt dies eindrucksvoll: so etwa Der Pianist (über das Warschauer Ghetto), Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen (über die DDR und den Fall der Mauer) (1).
Die Regisseurin Margarete von Trotta hat sich bereits mehrmals mit heiklen Themen aus der jüngeren deutsche Geschichte auseinandergesetzt: Die bleierne Zeit (1981), eine dramatisierte Version vom Leben und Sterben der Terroristin Gudrun Ensslin von der Roten Armee Fraktion (die Umstände ihres Todes im Stammheimer Gefängnis konnten nie ganz geklärt werden); eine Filmbiographie über Rosa Luxemburg (1986); der Film Rosenstraße (2003), der sich mit dem Protest deutscher Frauen gegen die Gestapo im Jahre 1943 angesichts der Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner auseinandersetzt. In ihrem neuesten Film Hannah Arendt (2012/13) kehrt von Trotta thematisch zu den Themen Krieg, Shoah und Nazismus zurück, indem sie sich mit einer Episode aus dem Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt auseinandersetzt, die übrigens überzeugend von Barbara Sukowa dargestellt wird.
Hannah Arendt: Ein Lob auf das Denken
Filmkritik
Deutschlands leidvolle Geschichte des 20.Jahrhundert ist reich an dramatischen und schrecklichen Themen und eine ganze Anzahl von erfolgreichen Filmen in den letzten Jahren belegt dies eindrucksvoll: so etwa Der Pianist (über das Warschauer Ghetto), Goodbye Lenin oder Das Leben der Anderen (über die DDR und den Fall der Mauer) (1).
Die Regisseurin Margarete von Trotta hat sich bereits mehrmals mit heiklen Themen aus der jüngeren deutsche Geschichte auseinandergesetzt: Die bleierne Zeit (1981), eine dramatisierte Version vom Leben und Sterben der Terroristin Gudrun Ensslin von der Roten Armee Fraktion (die Umstände ihres Todes im Stammheimer Gefängnis konnten nie ganz geklärt werden); eine Filmbiographie über Rosa Luxemburg (1986); der Film Rosenstraße (2003), der sich mit dem Protest deutscher Frauen gegen die Gestapo im Jahre 1943 angesichts der Inhaftierung ihrer jüdischen Ehemänner auseinandersetzt. In ihrem neuesten Film Hannah Arendt (2012/13) kehrt von Trotta thematisch zu den Themen Krieg, Shoah und Nazismus zurück, indem sie sich mit einer Episode aus dem Leben der deutschen Philosophin Hannah Arendt auseinandersetzt, die übrigens überzeugend von Barbara Sukowa dargestellt wird.
Hannah Arendt wurde 1906 als Spross einer jüdischen Familie geboren. Als junge Studentin besuchte sie Seminare und Vorlesungen des Philosophen Martin Heidegger, mit dem sie eine kurze, aber intensive Liebesbeziehung hatte. Die Tatsache, dass sie weder ihre Beziehung zu ihm noch die Person Heidegger abgelehnt hat, obwohl er 1933 der NSDAP beigetreten war(2), wurde ihr später immer wieder massiv zum Vorwurf gemacht. Ihre Beziehungen zu Heidegger und seiner Philosophie sind zweifelsohne komplex und könnten für sich genommen ein ganzes Buch füllen; und die Rückblenden zu ihren Begegnungen mit Heidegger sind vermutlich die am wenigsten gelungenen im Film, da sich von Trotta bei diesen Szenen ihrer zentralen Filmthematik am wenigsten sicher scheint: der „Banalität des Bösen“.
Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 floh Arendt aus Deutschland und emigrierte nach Paris, wo sie, trotz ihrer kritischen Haltung, in der zionistischen Bewegung aktiv war. In Paris heiratete sie 1940 ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher. Im Zuge der deutschen Invasion Frankreichs wurde Arendt vom französischen Staat in einem Lager in Gurs interniert. Von dort gelang ihr die Flucht und nach so mancher Strapaze erreichte sie 1941 schließlich die USA.
Ohne einen Cent in ihren Taschen bei ihrer Ankunft gelang es ihr bald, für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, und schließlich erhielt sie als erste Frau überhaupt eine Professur an der renommierten Princeton-Universität. 1960, wo der Film einsetzt, war Arendt bereits eine bekannte und anerkannte Intellektuelle, die schon zwei ihrer bekanntesten Werke veröffentlicht hatte: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) und Vom tätigen Leben (1958).
Obgleich sie sicher keine Marxistin war, interessierte sie sich für die Arbeiten Marx‘ und somit auch für die von Rosa Luxemburg (3). Ihr Ehemann Heinrich war erst ein Spartakist gewesen, dann im Oppositionsflügel der KPD, der sich gegen die Stalinisierung der KPD in den 20ern wandte. Er folgte Brandler und Thalheimer in die KPD-Opposition (aka KPO), nachdem sie aus der Partei ausgeschlossen worden waren (4). Der Film erwähnt Heinrichs Parteimitgliedschaft: Wir erfahren von einem befreundeten amerikanischen Paar, dass „Heinrich bis zum Ende bei Rosa Luxemburg war“. Des Weiteren ist Arendts philosophisches Werk, besonders ihre Analyse der Mechanismen des Totalitarismus ist bis zum heutigen Tag relevant. Ihr rigoroses Denken und ihre Integrität erlaubten es Arendt, die Klischees und Allgemeinplätze der damaligen herrschenden Ideologie zu durchbrechen: Sie (ver-)störte durch ihre Ehrlichkeit.
Die Eingangsszene ruft die Entführung Adolf Eichmanns in Argentinien durch den Mossad in Erinnerung. Während der Nazi-Herrschaft hatte Eichmann zahlreiche wichtige Positionen inne, u.a. organisierte er erst die Deportation der Juden aus Österreich, dann die Durchführung der „Endlösung“, insbesondere den Transport der europäischen Juden in die Todeslager von Auschwitz, Treblinka und andere. Das Ziel David Ben-Gurions, dem damaligen ersten Premierminister von Israel und Verantwortlichen für die Mossad-Operation, war offensichtlich, einen Gerichtsprozess zu inszenieren, der die Fundamente des jungen israelischen Staates zementieren sollte. Außerdem sollten die Juden selbst über einen der Täter ihres Genozids urteilen.
Als Arendt von dem bevorstehenden Eichmann-Prozess erfuhr, meldete sie sich freiwillig für das literarische Magazin The New Yorker, um vom Prozess zu berichten. Ihre detaillierte und akribische Berichterstattung vom Prozess erschien zunächst in einer Serie von Artikeln, schließlich als Buch mit dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Die Veröffentlichung löste einen riesigen Skandal in Israel, aber mehr noch in den USA aus: Arendt sah sich einer unglaublich aggressiven und feindseligen Medienkampagne ausgesetzt: „die sich selbst-hassende Jüdin“ und „die Rosa Luxemburg des Nichts“ waren nur zwei der etwas weniger schlimmen Verleumdungen, die ihr entgegen geschleudert wurden. Ihr wurde nahegelegt, von ihrer Universitätsberufung zurückzutreten, aber sie lehnte dies ab. Es ist eben diese Phase, die die Entwicklung von Arendts Denken und ihre Reaktion gegen jene Medienkampagne markieren, welche das Material für diesen Film liefern.
Arendts Denken und ihre Reaktion auf diese Medienkampagne bilden die Basis für den Film. Wenn man es recht bedenkt, dann ist es wahrlich eine Herausforderung, einen Film über das widersprüchliche Denken und die manchmal schmerzhafte Entwicklung einer Philosophin filmisch zu thematisieren, ohne die Thematik zu trivialisieren. Eine Herausforderung, die von Trotta und Sukowa mit Bravour meistern.
Wie konnte Arendts Bericht überhaupt solch einen Skandal auslösen? (5) Bis zu einem bestimmten Punkt war solch eine Reaktion nachvollziehbar und sogar zwangsläufig: auch wenn Arendt ihre Kritik so präzise wie ein kunstfertiger Chirurg das Skalpell anlegt, waren für viele Menschen der Zweite Weltkrieg und die ungeheuerlichen Leiden der Shoah noch zu nah, die Traumata noch zu aktuell, um sich diesen Ereignissen mit Abstand zu nähern. Doch die lautesten Stimmen waren auch die mit dem größten Interesse; Interesse, dass der Vorhang des Schweigens über die unbequemen Wahrheiten gezogen wird, die Arendts Kritik offenlegte.
Arendt ging ans Eingemachte, als sie Ben-Gurions Versuch, den Eichmann-Prozess zu instrumentalisieren, um Israels Existenz mit dem Leid der Juden während der Shoah zu rechtfertigen, argumentativ auseinander nahm.
Für dieses Vorhaben musste Eichmann regelrecht ein Monster sein, ein „würdiger“ Vertreter der monströsen Verbrechen der Nazis. Auch Arendt selbst hatte erwartet, ein Monster auf der Anklagebank vorzufinden, doch je mehr sie ihn beobachtete, desto weniger war sie nicht von seiner Schuld, aber von seiner „Monstrosität“ überzeugt.
In den Prozessszenen platziert von Trotta Arendt nicht in den Gerichtssaal, sondern in den Presseraum, wo die Journalisten den Prozess über die Videoüberwachung beobachten. Dieser Kunstgriff erlaubt es von Trotta den echten Eichmann im Film zu zeigen (statt eines Schauspielers, der Eichmann darstellt). Wie Arendt sehen und erleben wir als Zuschauer so einen mehr als durchschnittlichen Mann (Arendt verwendet den Begriff „Banalität“ im Sinne von „Durchschnittlichkeit“), der weder etwas mit dem mörderischen Wahnsinn Hitlers noch mit der verrückten Kaltblütigkeit eines Goebbels (die beide im Film „Der Untergang“ von Bruno Ganz und Ulrich Matthes großartig dargestellt wurden) gemeinsam hat. Im Gegenteil, wir sehen uns konfrontiert mit einem kleinen Bürokraten, dessen intellektueller Horizont kaum über die Wände seines Büros hinausreicht, der sich hauptsächlich mit der Hoffnung auf den Aufstieg auf der Karriereleiter und bürokratischen Rivalitäten beschäftigte. Eichmann ist kein Monster, war Arendts Schlussfolgerung: „es wäre sehr beruhigend gewesen, wenn man hätte glauben können, dass Eichmann ein Monster sei (…) Das Problem mit Eichmann war aber eben, dass so viele so sind wie e, und dass diese vielen weder pervers noch sadistisch war und dass sie noch immer schrecklich und schrecklich normal sind (6).“ (eigene Übersetzung, S.274) Um es auf den Punkt zu bringen: Für Arendt bestand Eichmanns Verbrechen primär nicht darin, dass er im selben Maße wie Hitler für die Vernichtung der Juden verantwortlich war, sondern in erster Linie darin, dass er die Fähigkeit des eigenständigen Denkens abgelegt hat und sich legal und mit ruhigem Gewissen als Rädchen in der totalitären Maschinerie eines verbrecherischen Staates bewegt hat. Der nie in Zweifel gezogene „gesunde Menschenverstand“ der prominenten NS-Führer diente ihm als „moralische Instanz“. Die Wannsee-Konferenz (auf der die logistische Umsetzung der so genannten Endlösung beschlossen wurde) war dementsprechend „ein sehr wichtiger Moment für Eichmann, da er noch nie zuvor mit so vielen Nazigrößen persönlich in Kontakt gekommen war (…) Nun konnte er mit eigenen Augen sehen, dass nicht nur Hitler oder Heydrich oder die ‚Sphinx‘ Müller und nicht nur die SS oder die Partei, sondern die ganze Elite der Bürokratie miteinander in Konkurrenz standen und gegeneinander kämpften, um die Führung in diesen ‚blutigen‘ Angelegenheiten zu übernehmen“ (S.111f, eigene Übersetzung).
Arendt lehnt ausdrücklich die These ab, derzufolge „potenziell alle Deutschen schuldig“ seien oder eine „Kollektivschuld“ trügen. Für Arendt verdiente Eichmann die Hinrichtung für seine Taten (auch wenn dies die Millionen Opfer nicht wieder zum Leben bringen würde). Insgesamt kann man festhalten, dass ihre Analyse eine kühne Absage an die antifaschistische Ideologie ist, die bald offizielle Staatsideologie wurde, besonders in Israel. Aus unserer Sicht ist die Banalität, die Arendt beschreibt, die der kapitalistischen Welt, in der die Menschen verdinglicht und entfremdet werden. Sie werden reduziert auf den Status von Objekten, Waren oder Rädchen im kapitalistischen Getriebe. Dieses maschinelle Funktionieren ist nicht allein charakteristisch für den Nazistaat. Arendt erinnert uns daran, dass die Politik, das eigene Territorium „judenrein“ zu machen, bereits 1937 vom polnischen Staat in Betracht gezogen war, und auch die demokratische französische Regierung – besonders der französische Außenminister Georges Bonnet – hatte vor dem Zweiten Weltkrieg die Ausweisung von 200 000 „nicht-französischer“ Juden nach Madagaskar angedacht (hierzu hatte Bonnet sogar seinen deutschen Amtskollegen Ribbentrop um Rat gefragt). Ferner argumentierte Arendt, dass auch die Nürnberger Prozesse nichts weiter als Schauprozesse der Siegermächte waren, in denen die Richter Länder repräsentierten, die sich ebenfalls Kriegsverbrechen schuldig gemacht hatten: der russische Staat für die Toten im Gulag, der amerikanische Staat für den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki.
Auch mit dem israelischen Staat ging Arendt nicht zimperlich um. Im Unterschied zu anderen Berichterstattern betonte sie in ihrem Buch die Ironie des Eichmann-Prozesses, in dem rassistisch motivierte Verbrechen durch einen israelischen Staat angeklagt wurden, der selbst „rassische“ Merkmale in seinen Gesetzen einbaute: „Nach den Rabbinerregeln gilt das Gesetz, dass es jüdischen Bürgern nicht erlaubt ist, Nicht-Juden zu heiraten; Ehen, die im Ausland geschlossen wurden, werden zwar anerkannt, aber die Kinder von ‚Mischehen‘ gelten vor dem Gesetz als illegitim (…) und sollte jemand eine nicht-jüdische Mutter haben, kann er in Israel weder heiraten noch beerdigt werden.“ Es ist in der Tat eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet jene, die der Nazipolitik der „Rassenreinheit“ entkommen konnten, dann selbst versuchten, ihre eigene „Rassenreinheit“ im Gelobten Land zu kreieren. Arendt verabscheute Nationalismus im Allgemeinen und den israelischen Nationalismus im Besonderen. Bereits im Jahre 1930 stellte sie sich gegen die zionistische Politik und deren Verweigerung eines gemeinsamen, friedlichen Lebens mit den Palästinensern. Auch zögerte sie nicht, die heuchlerische Politik der Regierung Ben-Gurions öffentlich anzuprangern, die zwar einerseits die Verbindungen zwischen Nazis und einigen arabischen Staaten öffentlich machte, andererseits aber verschwieg, dass in Westdeutschland eine nicht unerhebliche Zahl von Nazigrößen auf verantwortungsvollen Posten schützten.
Ein weiteres Skandalthema war die Frage des Judenrates – die Judenräte waren von den Nazis mit dem Ziel geschaffen worden, die sogenannte Endlösung effizienter umsetzen zu können. Dies füllt nur einige Seiten in ihrem Buch, aber sie gehen ans Herz. Sie schreibt: „Wo immer Juden lebten, stets gab es anerkannte jüdische Anführer, und diese Führerschaft kollaborierte– beinahe ohne Ausnahme – auf die eine oder andere Weise, aus dem einen oder anderen Grund mit den Nazis. Die ganze Wahrheit war, dass, wenn die jüdische Bevölkerung total unorganisiert und führerlos gewesen wäre, es zwar auch Chaos und unglaublich viel Leid gegeben hätte, aber die gesamte Opferzahl hätte kaum zwischen 4½ und 6 Millionen Menschen erreicht (…) Ich habe mich mit diesem Kapitel der Geschichte beschäftigt, weil der Prozess in Jerusalem gescheitert ist, diese wahren Dimensionen vor der Weltöffentlichkeit zu offenbaren. Warum? Nun, es bietet das deutlichste Beispiel für die Erkenntnis, dass der moralische Kollaps in der respektablen europäischen Gesellschaft durch die Nazis ein totaler war“(eigene Übersetzung, S. 123). Sie enthüllte sogar ein Element der Klassenunterscheidung zwischen den jüdischen Anführern und der anonymen Masse: inmitten des allgemeinen Desasters verfügten jene, die entkommen konnten, entweder über hinreichenden Reichtum, mit dem sie ihre Flucht kaufen konnten, oder waren der „internationalen Gemeinschaft“ bekannt genug, um in Theresienstadt, einer Art privilegiertes Ghetto (inhaltlich??), am Leben erhalten zu bleiben. Die Beziehungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und dem Nazi-Regime, und mit anderen europäischen Bevölkerungen war viel komplizierter, als die offizielle manichäische Ideologie der Siegermächte bereit war zuzugeben.
Die Naziherrschaft und die Shoah nehmen einen zentralen Platz in der modernen europäischen Geschichte ein, heute sogar noch mehr als in den 1960ern. Trotz des Bemühens etwa der Autoren des Buches „Schwarzbuch des Kommunismus“, gilt der Nationalsozialismus bis heute als das „ultimative Böse“. In Frankreich bildet die Shoah neben der Résistance einen sehr wichtigen Bestandteil des Lehrplans Geschichte, unter Ausschluss fast aller anderen Aspekte des 2.Weltkrieges. Und doch, zumindest rein rechnerisch war der Stalinismus gemessen an der Anzahl seiner Opfer weit schlimmer: 20 Millionen Tote in Stalins Gulag und mindestens 20 Millionen Tote während Maos „Großem Sprung“. Natürlich hat dies zu einem Gutteil mit der opportunistischen Kalkulation zu tun, dass die Nachfolger Stalins und Maos noch immer an der Macht sind, dass sie Menschen sind, mit denen man „Geschäfte machen“ muss und kann. Arendt setzt sich nicht direkt mit dieser Frage auseinander, aber in einer Erörterung der Anklagepunkte gegen Eichmann besteht sie auf die Tatsache, dass die Naziverbrechen nicht ein Verbrechen gegen die Juden, sondern ein Verbrechen gegen die ganze Menschheit in Gestalt der jüdischen Menschen gewesen war, gerade weil den Juden die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies abgesprochen wurde; sie wurden als unmenschliches Übel dargestellt, das es auszulöschen galt. Dieser rassistische, fremdenfeindliche und obskure Aspekt des Naziregimes wurde freimütig verkündet, was es Teilen der herrschenden europäischen Klasse, aber auch der Bauernschaft und des Handwerks, die von der Wirtschaftskrise ruiniert worden waren, ermöglichte, sich in ihm bequem zu machen. Auf der anderen Seite hatte der Stalinismus stets behauptet, fortschrittlich zu sein: Man sang noch immer: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“, und das erklärt auch, warum bis zum Fall der Mauer und sogar danach gewöhnliche Menschen weiterhin die stalinistischen Regimes im Namen einer besseren Zukunft verteidigten (7).
Arendts zentrale These ist, dass sowohl die „unvorstellbare“ Barbarei der Shoah als auch die Durchschnittlichkeit der Nazibürokraten ein Produkt der Vernichtung der „Fähigkeit zum Denken“ entspringt. Eichmann „denkt nicht“, er führt die Befehle der Maschinerie aus, kommt seiner Tätigkeit gründlich und gewissenhaft nach, ohne jegliche Skrupel, ohne je die Verbindung zu dem Horror der Konzentrationslager zu sehen, obgleich sie ihm dennoch bewusst war. In diesem Sinne sollte von Trottas Film als eine Eloge des kritischen Denkens gesehen werden.
Hannah Arendt war keine Marxistin, auch keine Revolutionärin. Da sie aber Fragen stellte, die die offizielle antifaschistische Ideologie untergruben, wurde sie so zur Gegnerin des banalen Konformismus und der Abschaffung des kritischen Denkens. Das Verdienst ihrer Analyse besteht darin, dass sie ein Tor zur Reflexion des menschlichen Gewissens öffnet (ähnlich wie die Arbeit des US-Psychologen Stanley Milgram über die Mechanismen der „Gehorsamkeitsbereitschaft gegenüber Autorität“ von Folterknechten, was in Henri Verneuils Film „I wie Ikarus“ filmisch dargestellt wird).
Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Arendts Werk von der demokratischen Bourgeoisie und deren Intelligenz erhielt – für die sie eine Art Ikone wurde –, ist nicht ganz harmlos. Die Wiederaneignung ihrer Analyse des Totalitarismus ist deutlich vom dem Versuch geprägt, eine Kontinuität zwischen den Bolschewiki und der Russischen Revolution von 1917 einerseits und dem totalitärem Apparat des stalinistischen Staates andererseits herzustellen. Die Botschaft lautet: Stalin ist nur Lenins Vollstrecker gewesen, und die Moral der Geschichte: Die proletarische Revolution kann nur zu Totalitarismus und neuen Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen. So manche etablierten bürgerlichen Ideologen wie Raymond Aron haben nicht gezögert, Arendts Analyse des stalinistischen totalitären Staates für ihre Kampagnen während des Kalten Krieges und über den angeblichen Zusammenbruch des Kommunismus nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu benutzen.
Hannah Arendt war eine Philosophin und wie Marx sagte: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Der Marxismus ist nicht eine „totalitäre“ Doktrin, sondern vielmehr eine theoretische Waffe der ausgebeuteten Klasse für die revolutionäre Transformation der Welt. Und eben deshalb ist nur der Marxismus wirklich in der Lage, wichtige Beiträge der Kunst, der Wissenschaft sowie der Philosophie aufzugreifen, so etwa frühere Philosophen wie Epikur, Aristoteles, Spinoza, Hegel usw., aber auch jene unserer Zeit wie Hannah Arendt mit ihrem tiefen und kritischen Blick auf die moderne Welt und ihrer Eloge auf das Denken.
Jens
1 [40]Siehe unsere Filmkritik in der Nr.113 der englisch-sprachigen International Review (https://en.internationalism.org/ir/113_pianist.html [41])
2 [42]The Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (Nazipartei)
3 [43] 1966 besprach Arendt JP Nettls Rosa Luxemburg Biographie in der New Yoek Review of Books. In diesem Artikel geißelte sie sowohl die Weimarer als auch die Bonner Regierungen und erklärte, dass die Ermordungen Luxemburgs und Liebknechts ausgetragen wurden „unter den Augen und höchstwahrlich mit Zustimmung der sozialdemokratischen Regierung, die damals an der Macht war (…) Dass die Regierung damals faktisch in den Händen der Freikorps war, weil sie die volle Unterstützung des „Sozialisten“ Noskes genossen, der als Experte der nationalen Verteidigung und zuständig für militärische Angelegenheiten war, wurde erst kürzlich von dem letzten Überlebenden der Attentate, Kapitän Pabst bestätigt. Die Bonner Regierung – in diesem wie in anderen Aspekten folgt sie nur allzu gern den finsteren Spuren der Weimarer Republik – verkündete öffentlich in ihrem Magazin durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, dass die Ermordung Liebknechts und Luxemburgs absolut legal gewesen seien, „eine Exekution auf der Grundlage des Kriegsrechts.“ Dies war mehr als die Weimarer Republik je behauptet hatte…“.
4 [44]Die KPO war eine der Oppositionsgruppen gegen den Stalinismus, welche aber nie völlig mit dem Stalinismus brach. Wie Trotzki konnten sie nie den Gedanken akzeptieren, dass in Russland die Konterrevolution herrschte.
5 [45]Wer des Französischen mächtig ist, der sei auf eine interessante Dokumentation verwiesen (bestehend aus Radiointerviews) von France Culture: Hannah Arendt et le procès d'Eichmann [46] [1]
6 [47] Die Zitate sind der Penguin Ausgabe von 2006 entnommen, die von Amos Elon eingeleitet wurde. Eigene Übersetzung der Zitate ins Deutsche.
7 [48]Siehe z.B. diese fazinierende Dokuserie (deutsch und englisch) über das Leben in der ehemaligen DDR [2].
Adolf Eichmann [49]
Hannah Arendt [50]
Heinrich Blücher [51]
Faschismus [52]
Eichmann Prozess [53]
Israel [55]
Links:
[1] https://www.franceculture.fr/emission-la-fabrique-de-l-histoire-histoire... [56]
[2] https://www.youtube.com/watch?v=7fwQv5h7Lq8 [57]
Noch grundsätzlicher: woher kam die erste Arbeitsteilung, und warum sollte sie auf dem Geschlecht beruhen? Hier sehen wir, wie Darmangeat sich in seiner eigenen Vorstellungskraft verliert: „Wir können uns vorstellen, dass selbst eine keimhafte Spezialisierung der menschlichen Spezies gestattete, eine größere Effektivität zu erlangen, als wenn ihre Mitglieder weiterhin jede Handlung ohne Unterscheidung ausgeübt hätte (…) Wir können uns ebenfalls vorstellen, dass sich diese Spezialisierung durch die Stärkung der gesellschaftlichen Bande im Allgemeinen und der Bande innerhalb der Familiengruppen im Besonderen in der gleichen Richtung auswirkte.“[9] [65] Gut, natürlich können wir uns viel „vorstellen“, doch ist dies nicht vielmehr das, was eigentlich demonstriert werden sollte?
Was die Frage angeht: „Wie kam die Arbeitsteilung auf der Grundlage der Geschlechter zustande?“, scheint dies für Darmangeat „nicht sehr schwierig zu sein. Es erscheint offensichtlich, dass für die Mitglieder prähistorischer Gesellschaften dieser Unterschied der am unmittelbarsten ersichtliche ist.“[10] [65] Wir können hier einwenden, dass, auch wenn geschlechtliche Unterschiede sicherlich „unmittelbar ersichtlich“ für die ersten menschlichen Wesen gewesen waren, dies keine ausreichende Erklärung für die Entstehung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung ist. Primitive Gesellschaften sind reich an Einordnungen, besonders jene, die auf Totems beruhen. Warum sollte die Arbeitsteilung nicht auf dem Totemismus basieren? Dies ist offensichtlich ein bloßes Hirngespinst – genauso wie Darmangeats Hypothese. Was noch schwerer wiegt, ist, dass Darmangeat einen anderen äußerst eindeutigen Unterschied nicht erwähnt, einen Unterschied, der überall in archaischen Gesellschaften wichtig ist: den Unterschied des Alters.
Wenn es darum geht, trägt Darmangeats Buch – trotz seines eher prahlerischen Titels – nicht viel Erhellendes bei. Die Unterdrückung der Frauen beruhte auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung. So sei es. Doch wenn wir fragen, woher diese Teilung kommt, werden wir abgespeist „mit bloßen Hypothesen, demzufolge wir uns vorstellen können, dass gewisse biologische Einschränkungen, die wahrscheinlich mit der Schwangerschaft und dem Stillen zu tun haben, das physiologische Substrat für die geschlechtliche Arbeitsteilung und den Ausschluss der Frauen von der Jagd bilden“ (S. 322).[11] [65]
Von den Genen zur Kultur
Am Ende seiner Argumentation lässt uns Darmangeat mit folgender Schlussfolgerung zurück: Im Ursprung der Frauen-Unterdrückung liegt die geschlechtliche Arbeitsteilung, und trotzdem war diese Teilung ein erheblicher Schritt vorwärts in der Arbeitsproduktivität, selbst wenn ihre Ursprünge in einer weit entfernten und unzugänglichen Vergangenheit verborgen bleiben.
Darmangeat bemüht sich hier darum, dem marxistischen „Modell“ treu zu bleiben. Doch was ist, wenn das Problem verkehrt herum gestellt wurde? Wenn wir das Verhalten jener Primaten betrachten, die dem Menschen am nächsten sind, insbesondere die Schimpansen, dann sehen wir, dass nur die männlichen Tiere jagen gehen – die weiblichen sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Jungen zu füttern und auf sie aufzupassen (und sie vor den männlichen Artgenossen zu schützen: Wir sollten nicht vergessen, dass männliche Primaten oftmals Kindsmord am Nachwuchs anderer männlicher Artgenossen praktizieren, um sich für ihre eigenen reproduktiven Bedürfnisse Zugang zu den Muttertieren zu verschaffen). „Arbeitsteilung“ zwischen männlichen Tieren, die jagen, und weiblichen Tieren, die es nicht tun, ist also nichts menschlich Spezifisches. Das Problem – das nach einer Erklärung ruft – ist nicht, warum die Jagd dem männlichen Geschlecht des Homo sapiens vorbehalten war, sondern warum es der männliche Homo sapiens ist, und nur der männliche Homo sapiens, der das Produkt seiner Jagd verteilt. Was bemerkenswert ist, wenn wir den Homo sapiens mit seinen Cousins unter den Primaten vergleicht, ist der Wirkungsbereich der oft sehr strengen Regeln und Tabus, die genauso unter den Aborigines in den glühenden Wüsten Australiens wie unter den Eskimos im arktischen Eis angetroffen werden und die den kollektiven Verzehr der Jagdbeute voraussetzen. Der Jäger hat nicht das Recht, sein eigenes Produkt zu konsumieren; er muss es zurück ins Lager bringen, um es an die anderen zu verteilen. Die Regeln, die die Verteilung regulieren, variieren beträchtlich von einem Volk zum anderen, aber ihre Existenz ist universell.
Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass die Geschlechtsunterschiede des Homo sapiens ein gutes Stück geringer sind als beim Homo erectus, was in der Tierwelt allgemein ein Indikator für ausgewogenere Verhältnisse zwischen den Geschlechtern ist.
Überall sind das Teilen von Nahrung und das kollektive Einnehmen von Mahlzeiten das Fundament der ersten Gesellschaften. In der Tat hat das gemeinsame Mahl bis in die modernen Zeiten überlebt: Selbst heute ist es unmöglich, sich irgendeinen großen Moment im Leben (Geburt, Hochzeit oder Begräbnis) ohne das gemeinsame Mahl vorzustellen. Wenn Menschen in schlichter Freundschaft zusammenkommen, findet dies fast immer rund um ein gemeinsames Essen statt, ob am Barbecue in Australien oder um einen Restauranttisch in Frankreich.
Dieses Teilen von Nahrung, das anscheinend aus uralten Zeiten stammt, ist ein Aspekt des menschlichen kollektiven und gesellschaftlichen Lebens, der sich stark von dem unserer weit entfernten Verfahren unterscheidet. Wir werden hier mit dem konfrontiert, was der Darwinologe Patrick Tort als einen „unbezahlbaren Ausdruck des ‚Egoismus‘ unserer Gene“ beschrieben hat: Die Mechanismen, die von Darwin und Mendel beschrieben worden waren und von den modernen Genetikern bestätigt wurden, haben ein soziales Leben generiert, in dem die Solidarität eine zentrale Rolle spielt, wobei dieselben Mechanismen durch den Wettbewerb funktionieren.[12] [65]
Diese Frage des Teilens ist unserer Ansicht nach fundamental, aber nur Teil eines viel weiter gefassten wissenschaftlichen Problems: Wie können wir den Prozess erklären, der eine Spezies, deren Verhaltensänderungen vom langsamen Rhythmus der genetischen Evolution bestimmt wurden, in unsere eigene Spezies umwandelt, deren Verhalten – auch wenn es sich natürlich noch immer auf unserem genetischen Erbe gründet – sich dank einer viel schnelleren Evolution der Kultur verändert? Und wie können wir erklären, dass ein auf Konkurrenz basierender Mechanismus eine Spezies geschaffen hat, die nur durch Solidarität überleben kann: die wechselseitige Solidarität der Frauen bei der Kindsgeburt und -aufzucht, die Solidarität von Männern auf der Jagd, die Solidarität der Jäger gegenüber der Gesellschaft als Ganzes, wenn sie die Jagdbeute beisteuern, die Solidarität der Gesunden mit den Alten oder Verletzten, die nicht mehr in der Lage sind, zu jagen oder ihre eigene Nahrung zu finden, die Solidarität der Alten gegenüber den Jungen, denen sie nicht nur die lebenswichtigen Kenntnisse über die Natur und Welt beibringen, sondern auch die gesellschaftlichen, historischen, rituellen und mystischen Kenntnisse, die das Überleben einer strukturierten Gesellschaft ermöglichen? Dies scheint uns das fundamentale Problem zu sein, dass sich durch die Frage der „menschlichen Natur“ stellt.
Dieser Übergang von einer Welt zu einer anderen fand in einem Zeitraum von mehreren hunderttausend Jahren statt, eine wichtige Periode, die wir in der Tat als eine „revolutionäre“ beschreiben können.[13] [65] Sie ist eng verknüpft mit der Evolution des menschlichen Gehirns, seiner Größe (und mutmaßlich auch seiner Struktur, auch wenn dies natürlich weitaus schwieriger in den archäologischen Funden nachzuweisen ist). Das Wachstum der Hirngröße stellt unsere sich entfaltende Spezies vor einer ganzen Reihe von Problemen, von denen der schiere Energiebedarf des Hirns nicht das geringste ist: ungefähr 20 Prozent der gesamten Energieaufnahme eines Individuums – enorme Proportionen.
Obwohl die Spezies zweifellos vom Prozess der Enzephalisation (der evolutionären Entwicklung der Großhirnrinde) profitiert hat, stellte dies ein ganz reales Problem für die Frau dar. Die Größe des Kopfes bedeutet, dass die Geburt früher eintreten muss, andernfalls passt der Embryo nicht mehr durch das mütterliche Becken. Dies wiederum setzt einen weitaus längeren Zeitraum der Abhängigkeit des Kleinkindes voraus, das, verglichen mit anderen Primaten, „vorzeitig“ zur Welt kommt; das Wachstum des Gehirns erfordert mehr Pflege, sowohl strukturell als auch energetisch (Proteine, Lipide, Kohlehydrate). Wir scheinen es mit einem unlösbaren Rätsel oder vielmehr mit einem Rätsel zu tun zu haben, das die Natur erst nach dem langen Zeitraum löste, in dem Homo erectus lebte und sich über Afrika verbreitete, in dem sich jedoch allem Anschein nach weder im Verhalten noch in der Morphologie viel änderte. Dann aber folgte eine Periode der rasanten Weiterentwicklung, die ein Wachstum des Gehirnumfangs und das Auftreten all der spezifisch menschlichen Verhaltensformen erlebte: Sprache, symbolische Kultur, Kunst, der intensive Gebrauch von Werkzeugen und deren große Vielfalt, etc.
Es gibt ein weiteres Rätsel. Wir haben die radikalen Änderungen im männlichen Homo sapiens zur Kenntnis genommen, doch die physiologischen und Verhaltensänderungen im weiblichen Homo sapiens sind nicht weniger bemerkenswert, besonders vom Standpunkt der Reproduktion aus.
Es gibt in diesem Zusammenhang einen auffälligen Unterschied zwischen dem weiblichen Homo sapiens und anderen Primaten. Unter Letzteren (und besonders jenen, die uns am nächsten stehen) signalisiert das Weibchen im Allgemeinen den Männchen seine Eisprungphase (und damit die Phase seiner größten Fruchtbarkeit) auf die deutlichste Weise: mit unübersehbaren Genitalorganen, einem „geilen“ Verhalten besonders gegenüber dem dominanten Männchen, charakteristischen Ausdünstungen. Unter den Menschen verhält es sich genau umgekehrt: Die Sexualorgane sind verborgen und ändern sich nicht während des Eisprungs, und die weiblichen Menschen sind sich nicht einmal bewusst, wenn sie „brünstig“ sind.
Am anderen Ende des Eizyklus‘ ist der Unterschied zwischen dem Homo sapiens und anderen Primaten gleichermaßen frappierend: ergiebige und sichtbare Monatsblutungen, das Gegenteil zum Schimpansen zum Beispiel. Da Blutverlust Energieverlust bedeutet, müsste die natürliche Selektion eigentlich gegen überflüssigen Blutfluss arbeiten; also kann Letzterer nur mit einem ausgesuchten Vorteil erklärt werden – aber welchem?
Ein weiteres bemerkenswertes Kennzeichen der menschlichen Menstruation ist ihre Periodizität und Synchronität. Viele Untersuchungen haben bereits die Leichtigkeit aufgezeigt, mit der viele Gruppen von Frauen ihre Perioden synchronisieren, und Knight zeigt mit einer Tabelle der Monatszyklen unter Primaten auf, dass die menschliche Frau eine Periode hat, die vollkommen mit dem Mondzyklus übereinstimmt. Warum? Oder ist dies nur Zufall?
Man könnte versucht sein, dies alles als irrelevant für die Erklärung der Sprache und der menschlichen Besonderheiten im Allgemeinen abzutun. Solch eine Reaktion wäre darüber hinaus in völliger Eintracht mit der aktuellen Ideologie, die die Periode der Frauen wenn nicht als Tabu, so doch als etwas Negatives betrachtet: Man denke nur an all die Reklamefeldzüge für „weibliche Hygieneprodukte“, deren Fähigkeiten, die Periode unsichtbar zu machen, angepriesen werden. Die Entdeckung der immensen Bedeutung des Menstruationsblutes und all dessen in der primitiven menschlichen Gesellschaft, was mit ihm assoziiert wird, die sich beim Studium des Buchs von Knight erschließt, ist somit umso erschreckender für uns als Mitglieder der modernen Gesellschaft. Und der Glaube an die enorme Macht – jenseits von Gut und Böse – der Perioden der Frauen ist, so meinen wir, ein universelles Phänomen. Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass die Monatsblutungen alles „regulieren“, einschließlich der Harmonie im Universum.[14] [65] Selbst in Völkern, wo es eine starke männliche Vorherrschaft gibt und wo alles getan wird, um Frauen zu entwerten, regen ihre Perioden die Furcht in den Männern an. Menstruationsblut wird als etwas „Giftiges“ betrachtet, eine kaum noch zurechnungsfähige Ansicht, die für sich genommen ein Hinweis auf seine Macht ist. Man ist gar versucht, den Schluss zu ziehen, dass die Gewalt der Männer gegen Frauen in direkter Proportion zur Furcht steht, die die Frauen in Männern auslösen.[15] [65]
Die Universalität dieses Glaubens ist bedeutend und verlangt nach einer Erklärung. Wir können uns drei mögliche Deutungen vorstellen:
· Er könnte das Resultat von Strukturen sein, die im menschlichen Geist angelegt sind, wie Lévi-Strauss‘ Strukturalismus suggeriert. Heute würden wir eher sagen, dass sie im human-genetischen Erbe angelegt sind – doch dies scheint allem zu widersprechen, was über die Genetik bekannt ist.
· Es könnte auf das Prinzip „dieselbe Ursache - dieselben Auswirkungen“ zurückgeführt werden. Gesellschaften, die sich in Hinsicht ihrer Produktionsverhältnisse und ihrer Techniken gleichen, produzieren die gleichen Mythen.
· Die Ähnlichkeit der Mythen könnte schließlich auf einen gemeinsamen historischen Ursprung zurückgeführt werden. Wenn dies der Fall wäre, dann müsste angesichts der Tatsache, dass die verschiedenen Gesellschaften, in denen Menstruationsmythen vorkommen, geographisch weit auseinanderliegen, der gemeinsame Ursprung sehr weit zurückliegen.
Knight favorisiert die dritte Erklärung: Er betrachtet in der Tat die universelle Mythologie rund um die Menstruation als etwas sehr Altes, das auf die eigentlichen Ursprünge der Menschheit zurückgeht.
Die Entstehung der Kultur
Wie sind diese verschiedenen Fragen miteinander verknüpft? Wie könnte der Link zwischen der Menstruation der Frauen und der kollektiven Jagd aussehen? Und wie zwischen den beiden und anderen auftretenden Phänomenen wie Sprache, symbolische Kultur, eine Gesellschaft, die auf gemeinsamen Regeln beruht? Diese Fragen scheinen uns fundamental zu sein, weil all diese „Evolutionen“ keine isolierten Phänomene sind, sondern Elemente in einem einzigen Prozess, der vom Homo erectus zu uns führt. Die Hyper-Spezialisierung der modernen Wissenschaften erschwert, was größtenteils auch von den Wissenschaftlern so gesehen wird, das Verständnis dieses umfassenden Prozesses, der von einer einzelnen spezialisierten wissenschaftlichen Disziplin nicht erfasst werden kann.
Was wir an Knights Werk am bemerkenswertesten finden, ist eben dieses Bemühen, genetische, archäologische, paläontologische und anthropologische Daten in einer „allumfassenden Theorie“ der menschlichen Evolution zusammenzubringen, analog zu den Anstrengungen der theoretischen Physik, die uns die Super-String- oder die Schleifenquantengravitationstheorie beschert hat.[16] [65]
Versuchen wir also diese Theorie zusammenzufassen, die heute als „Sexstreiktheorie“ bekannt ist. Um es einfach und schematisch zu sagen, stellt Knight die Hypothese auf, dass es zunächst bei den weiblichen Homo, die mit den Schwierigkeiten der Kindsgeburt und der Säuglingspflege konfrontiert waren, zu einer Verhaltensänderung gekommen war: Die Frauen wandten sich vom dominanten Männchen ab, um in einer Art von gegenseitigem Unterstützungspakt ihre Aufmerksamkeit den zweitrangigen Männchen zu schenken. Die Männchen akzeptierten, die Weibchen zurückzulassen, wenn sie jagen gingen, und ihnen die Jagdbeute zurückzubringen; im Gegenzug erlangten sie Zugang zu den Weibchen und somit eine Chance zur Reproduktion, was ihnen bis dahin vom Alphamännchen verwehrt worden war.
Diese Verhaltensänderung bei den Männchen – die anfangs, wir erinnern uns, den Evolutionsgesetzen unterworfen war – ist nur unter bestimmten Bedingungen möglich, insbesondere unter zwei: Einerseits darf es für die Männchen nicht möglich sein, anderswo Zugang zu Weibchen zu finden; andererseits müssen die Männchen darauf vertrauen können, dass sie in ihrer Abwesenheit nicht verdrängt werden. Dies sind also kollektive Verhaltensweisen. Die Weibchen - die die treibende Kraft in diesem evolutionären Prozess sind – müssen gegenüber den Männchen eine kollektive Sexverweigerung aufrechterhalten. Diese kollektive Verweigerung wird den Männchen wie auch anderen Weibchen deutlich durch die Monatsblutung signalisiert, die mit einem „universellen“ und sichtbaren Ereignis synchronisiert ist: dem Mondzyklus und den Gezeiten, die sie in der semiaquatischen Umgebung des afrikanischen Grabenbruchs, wo die Menschheit zuerst auftauchte, begleiten.
Die Anfänge der Solidarität sind gemacht: zunächst unter den Weibchen, dann auch unter den Männchen. Kollektiv ausgeschlossen vom Zugang zu den Weibchen, können sie eine in wachsendem Maße organisierte kollektive Großwildjagd in die Tat umsetzen, die die Fähigkeit zur Planung und zur Solidarität im Angesicht von Gefahren erfordert.
Gegenseitiges Vertrauen entsteht in der kollektiven Solidarität innerhalb jedes Geschlechts, aber auch zwischen den Geschlechtern: das weibliche Vertrauen in der männlichen Beteiligung an der Kinderaufzucht, das männliche Vertrauen darin, dass ihnen nicht die Chance zur Reproduktion vorenthalten wird.
Dieses theoretische Modell gestattet uns, das Rätsel zu lösen, das Darmangeat unbeantwortet ließ: Warum sind Frauen so strikt von der Jagd ausgeschlossen? Gemäß des Modells Knights kann dieser Ausschluss nur ein absoluter gewesen sein, denn wenn sich einige Weibchen – und insbesondere jene, die noch unbelastet waren von eigenem Nachwuchs – der gemeinsamen Jagd mit den Männchen anschließen konnten, dann hätten Letztere Zugang zu empfängnisbereiten Weibchen gehabt und wären nicht mehr gezwungen gewesen, die Jagdbeute mit aufziehenden Weibchen und ihren Jungen zu teilen. Damit das Modell funktioniert, sind die Weibchen gezwungen, eine totale Solidarität unter Ihresgleichen aufrechtzuerhalten. Von diesem Standpunkt aus ist es möglich, das Tabu zu verstehen, das eine absolute Trennung zwischen Frauen und Jagd aufrechterhält und das das Fundament für allen anderen Tabus ist, die sich um die Menstruation und dem Blut der Jagd drehen und die den Frauen verbieten, mit irgendwelchen Schneidewerkzeugen umzugehen. Die Tatsache, dass dieses Tabu, einst eine Quelle der weiblichen Stärke und Solidarität, unter anderen Umständen zu einer Quelle der gesellschaftlichen Schwäche und Unterdrückung werden sollte, mag auf dem ersten Blick paradox erscheinen: In der Realität ist dies nur ein besonders auffälliges Beispiel für eine dialektische Umkehrung, eine weitere Veranschaulichung der tiefen dialektischen Logik allen evolutionären und historischen Wandels.[17] [65]
Die Weibchen, die am erfolgreichsten dieses neue Verhalten unter Ihresgleichen und unter den Männchen durchsetzten, hinterließen mehr Nachkommen. Der Prozess der Großhirnbildung konnte fortgesetzt werden. Das Tor zu einer Weiterentwicklung des Menschen war offen.
Gegenseitige Solidarität und gegenseitiges Vertrauen wurden also nicht durch eine Art glückseligen Mystizismus in die Welt gesetzt, sondern im Gegenteil durch die mitleidlosen Gesetze der Evolution.
Dieses gegenseitige Vertrauen ist eine Vorbedingung für die Entstehung einer echten Fähigkeit zur Sprache, die von der gegenseitigen Akzeptanz gemeinsamer Regeln (Regeln, die so elementar sind wie die Idee, dass ein einziges Wort dieselbe Bedeutung für mich wie für dich hat) und von einer Gesellschaft abhängt, die auf Kultur und Gesetz basiert, die nicht mehr dem langsamen Rhythmus der genetischen Evolution unterworfen, sondern in der Lage ist, sich weitaus schneller neuen Umgebungen anzupassen. Eines der ersten Elemente der neuen Kultur ist logischerweise der Transfer all dessen vom genetischen in den kulturellen Bereich (wenn wir es so sagen können), das die Entstehung dieser neuen Gesellschaftsform ermöglicht hat: Die ältesten Mythen und Rituale drehen sich rund um die Menstruation der Frauen (und den Mond, der ihre Synchronität garantiert) und ihre Rolle in der Regulierung nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der natürlichen Ordnung.
Einige Schwierigkeiten und eine mögliche Fortsetzung
Wie Knight selbst sagt, ist seine Theorie eine Art von „Ursprungsmythos“ und bleibt eine Hypothese. Dies an sich ist selbstverständlich kein Problem; ohne Hypothesen und Spekulationen gäbe es keinen wissenschaftlichen Fortschritt. Die Religion, nicht die Wissenschaft, versucht bestimmte Wahrheiten zu etablieren.
Was uns angeht, so würden wir gern zwei Einwände gegen das Narrativ erheben, das Knight vorschlägt.
Der erste betrifft die verstrichene Zeit. Als Blood Relations 1991 veröffentlicht wurde, datierten die ersten Anzeichen künstlerischen Ausdrucks und daher der Existenz einer symbolischen Kultur, die in der Lage ist, Mythen und Rituale, die sich im Zentrum seiner Hypothese befinden, zu transportieren, vor nur 60.000 Jahren. Doch die ersten Gebeine moderner Menschen sind etwa 200.000 Jahre alt: Was passierte also in den 140.000 „fehlenden“ Jahren? Und wie könnte der Vorläufer einer völlig ausgebildeten Kultur zum Beispiel unter unseren unmittelbaren Ahnen ausgesehen haben?
Dies stellt nicht so sehr die Theorie an sich in Frage, sondern ist ein Problem, das nach weiterer Untersuchung verlangt. Seit den 1990er Jahren haben Ausgrabungen in Südafrika (Blombos Caves, Klasies River, Kelders) allem Anschein nach den Zeitraum des erstmaligen Gebrauchs von Kunst und abstrakten Symbolismus auf 80.000 oder gar 140.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung zurückdatiert.[18] [65] Was den Homo erectus anbetrifft, scheinen die Überreste, die bei Dmanisi in Georgien Anfang der Nuller Jahre entdeckt und auf ein Alter von 1,8 Millionen Jahren datiert wurden, bereits auf einen gewissen Grad an Solidarität hinzuweisen: Ein Individuum lebte etliche Jahre ohne Zähne, was nahelegt, dass andere ihm beim Essen halfen.[19] [65] Gleichzeitig waren ihre Werkzeuge immer noch primitiv, und laut den Experten praktizierten sie noch keine Großwildjagd. Dies alles sollte uns nicht überraschen: Darwin hat seinerzeit bereits festgestellt, dass menschliche Merkmale wie Empathie, die Wertschätzung des Schönen und der Freundschaft bereits im Tierreich existierten, wenn auch auf einem, verglichen mit der Menschheit, rudimentären Niveau.
Unser zweiter Einwand ist gewichtiger und betrifft die „Antriebskraft“, die das Wachstum des menschlichen Gehirns bewirkte. Knight ist mehr darauf bedacht, festzulegen, wie dieses Wachstum ermöglicht wurde, und so steht diese Frage nicht im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit: Laut seinem Interview auf unserem Kongress hat er im Grunde die Theorie der „wachsenden sozialen Komplexität“ sich zu eigen gemacht, eine Theorie, wonach die menschlichen Wesen sich dem Leben in immer größeren Gruppen anpassen mussten (diese Theorie wird von Robert Dunbar verfochten[20] [65] und ist auch von J.-L. Dessalles in seinem Buch Warum wir sprechen aufgegriffen worden, dessen Argumente er selbst auf unserem letzten Kongress vorstellte). Wir können hier nicht in die Details gehen, doch scheint uns diese Theorie nicht ohne Probleme zu sein. Immerhin variiert die Größe der Primatengruppen von einem Dutzend im Falle der Gorillas bis zu etlichen Hundert für die Hamadryas-Paviane: Es wäre daher notwendig, sowohl aufzuzeigen, warum Hominini gesellschaftliche Bedürfnisse entwickelten, die über die der Paviane hinausgingen (dies steht noch aus), als auch zu demonstrieren, dass Hominini in immer größeren Gruppen lebten, bis hin zur „Dunbar-Zahl“ zum Beispiel.[21] [65]
Alles in allem ziehen wir es vor, den Prozess der Großhirnbildung und der Sprachentwicklung mit der wachsenden Bedeutung der „Kultur“ (im breitesten Sinn des Wortes) in der menschlichen Fähigkeit, sich der Umwelt anzupassen, in Verbindung zu bringen. Es gibt häufig die Neigung, sich die Kultur allein in materiellen Begriffen (Steinwerkzeuge, etc.) vorzustellen. Doch wenn wir das Leben von Jäger-Sammler-Völkern in unserer eigenen Epoche untersuchen, sind wir über nichts so beeindruckt wie über ihre profunde Kenntnis über ihre natürliche Umgebung: das Verhalten der Tiere, die Merkmale von Pflanzen, etc. Jedes jagende Tier „kennt“ das Verhalten seiner Beutetiere und kann sich dem bis zu einem gewissen Punkt anpassen. Bei menschlichen Wesen ist diese Kenntnis jedoch nicht genetisch, sondern kulturell bedingt und muss von Generation zu Generation übermittelt werden. Während die Nachahmung die Übermittlung eines beschränkten Grades von „Kultur“ erlaubt (Affen, die einen Stock benutzen, um zum Beispiel Termiten zu angeln), liegt es auf der Hand, dass die Übermittlung menschlicher (oder eigentlich proto-menschlicher) Kenntnisse etwas mehr als Nachahmung erfordert.
Man könnte auch behaupten, je mehr die Kultur die Genetik bei der Bestimmung unseres Verhaltens ersetzt, desto wichtiger wird die Übermittlung dessen, was wir die „spirituelle“ Kultur (Mythen, Rituale, die Kenntnis heiliger Plätze, etc.) nennen, für die Aufrechterhaltung des Gruppenzusammenhalts. Dies wiederum führt uns zur Verknüpfung der Sprachentwicklung mit einem anderen äußeren Merkmal, das in unserer Biologie verankert ist: die „frühe“ Menopause der Frauen, gefolgt von einer langen Periode der Unfruchtbarkeit, was ein weiteres Merkmal ist, das die menschlichen Frauen nicht mit ihren Primaten-Cousinen teilen.[22] [65] Wie konnte eine „frühe“ Menopause von der natürlichen Selektion favorisiert werden, obwohl sie offensichtlich das weibliche Reproduktionspotenzial einschränkt? Die wahrscheinlichste Hypothese ist wohl die, dass Frauen in der Menopause ihren Töchtern besser helfen können, das Überleben ihrer eigenen Enkelkinder und damit ihres eigenen genetischen Erbes sicherzustellen.[23] [65]
Die Probleme, die wir gerade angeschnitten haben, betreffen den Zeitraum, der von Blood Relations abgedeckt wird. Doch es gibt eine weitere Schwierigkeit, die den Zeitraum der bekannten Geschichte angeht. Es ist naheliegend, dass die primitiven Gesellschaften, von denen wir Kenntnis haben (und welche Darmangeat beschreibt), sich stark von den hypothetischen ersten menschlichen Gesellschaften Knights unterscheiden. Um nur das Beispiel von Australien zu nehmen, dessen Aboriginal-Gesellschaft eine der technisch primitivsten ist, die wir kennen: Die Hartnäckigkeit von Mythen und rituellen Praktiken, die der Menstruation große Bedeutung zumessen, geht Hand in Hand mit einer völligen Vorherrschaft der Männer über die Frauen. Wenn wir davon ausgehen, dass Knights Hypothese weitgehend korrekt ist – wie können wir dann erklären, was sich zu einer veritablen „männlichen Konterrevolution“ auswuchs? In seinem Kapitel 13 (S. 449) unterbreitet Knight eine Hypothese, um das zu erklären. Er behauptet, dass das Verschwinden der Megafauna – Arten wie der gigantische Wombat – und eine Zeit des trockenen Wetters am Ende des Pleistozän die Jagdmethoden durcheinanderbrachten und dem Überfluss ein Ende bereiteten, den er als materielle Vorbedingung für das Überleben des primitiven Kommunismus betrachtete. 1991 schrieb Knight, dass ein archäologischer Beweis seiner Hypothese noch aussteht. Seine eigenen Forschungen beschränken sich auf Australien. Auf jeden Fall hat es für uns den Anschein, dass dieses Problem ein weites Untersuchungsgebiet eröffnet, das es gestatten würde, die wahre Geschichte des längsten Zeitraums in der Existenz der Menschheit ins Auge zu fassen: von unseren Ursprüngen bis zur Erfindung der Landwirtschaft.[24] [65]
Die kommunistische Zukunft
Wie kann das Studium der menschlichen Ursprünge unsere Auffassung über eine künftige kommunistische Gesellschaft verdeutlichen? Darmangeat sagt uns, dass der Kapitalismus die erste menschliche Gesellschaft sei, die es gestatte, sich ein Ende der geschlechtlichen Arbeitsteilung und die Gleichheit der Frauen vorzustellen – eine Gleichheit, die heute in einigen wenigen Ländern Gesetz geworden sei, die aber nirgendwo eine faktische Gleichheit sei: „… auch wenn der Kapitalismus das Los der Frauen an sich weder verbessert noch verschlimmert hat, ist er dennoch das erste System, das es ermöglicht hat, die Frage ihrer Gleichheit mit Männern zu stellen; und obwohl er sich als unfähig erwiesen hat, diese Gleichheit Wirklichkeit werden zu lassen, hat er dennoch die Elemente zusammengeführt, die sie realisieren werden.“[25] [65]
Zwei Kritiken erscheinen uns angebracht zu sein: Die erste ist, dass die immense Bedeutung der Integration der Frauen in die Welt der Lohnarbeit ignoriert wird. Trotz allem hat der Kapitalismus den Arbeiterfrauen zum ersten Mal in der Geschichte der Klassengesellschaften eine ganz reale materielle Unabhängigkeit von den Männer geschenkt und somit die Möglichkeit, auf Augenhöhe mit den Männern am Kampf für die Befreiung des Proletariats und somit der Menschheit in ihrer Gesamtheit teilzunehmen.
Die zweite Kritik betrifft den eigentlichen Gleichheitsbegriff. Dieser Begriff ist mit dem Brandzeichen der bürgerlichen Ideologie versehen, eine Hinterlassenschaft des Kapitalismus, und nicht das Ziel einer kommunistischen Gesellschaft, die im Gegenteil die Unterschiede zwischen den Individuen anerkennt und – um Marx‘ Ausdruck zu benutzen – auf ihre Fahnen schreibt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“[26] [65] Nun, außerhalb des Gebiets der Science Fiction haben Frauen sowohl eine Fähigkeit als auch ein Bedürfnis, die bzw. das die Männer niemals haben werden: zu gebären.[27] [65] Ohne diese Fähigkeit hätte die Menschheit keine Zukunft, doch sie ist auch eine körperliche Funktion und daher ein Bedürfnis für Frauen.[28] [65] Eine kommunistische Gesellschaft muss daher jeder Frau, die es wünscht, die Möglichkeit zu geben, mit Freude zu gebären, im Vertrauen darauf, dass ihr Kind in der menschlichen Gemeinschaft willkommen geheißen wird.
Hier können wir womöglich eine Parallele zur evolutionistischen Vision ziehen, die Knight unterbreitet. Proto-Frauen stießen den Evolutionsprozess in Richtung Homo sapiens und symbolischer Kultur an, weil sie ihre Kinder nicht mehr allein aufziehen konnten: Sie mussten die Männer dazu bringen, der Kindesaufzucht und der Erziehung der Jungen materielle Unterstützung zukommen zu lassen. Auf diese Weise führten sie das Prinzip der Solidarität unter Frauen, die von ihren Kinder in Anspruch genommen werden, unter Männern, die von der Jagd in Beschlag genommen werden, und zwischen Frauen und Männern, die gemeinsam ihre gesellschaftliche Verantwortung teilen, in die menschliche Gesellschaft ein.
Heute sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der der Kapitalismus uns immer mehr auf den Status atomisierter Individuen reduziert, worunter Kinder aufziehende Frauen am meisten leiden. Nicht nur, dass die „Herrschaft“ der kapitalistischen Gesellschaft die Familie auf ihren kleinsten Ausdruck (Mutter, Vater, Kinder) reduziert, die allgemeine Desintegration des sozialen Lebens bedeutet darüber hinaus, dass immer mehr Frauen sich in der misslichen Lage befinden, ihre sehr jungen Kinder allein aufzuziehen, und die Notwendigkeit, Arbeit zu finden, distanziert sie häufig von ihren eigenen Müttern, Schwestern oder Tanten, die einst das natürliche Unterstützungsnetzwerk für Frauen mit kleinen Kindern waren. Die „Welt der Arbeit“ ist mitleidlos gegenüber Frauen mit Kindern. Sie sind gezwungen, ihre Säuglinge nach bestenfalls ein paar Monaten abzustillen (abhängig vom verfügbaren Schwangerschaftsurlaub, wenn überhaupt) und sie einem Kindermädchen anzuvertrauen, oder sind – wenn sie arbeitslos sind – vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten und gezwungen, sich mittels äußerst begrenzter Ressourcen um ihre Babys zu kümmern.
In einem gewissen Sinn befinden sich Arbeiterinnen in einer Lage, die vergleichbar ist mit der ihrer fernen Vorfahren - nur eine Revolution kann ihre Situation verbessern. So wie die „Revolution“ es nach Knights Hypothese Frauen erlaubte, sich der sozialen Unterstützung erst durch andere Frauen, dann durch die Männer beim Gebären und bei der Erziehung ihrer Kinder zu versichern, so muss auch die kommende kommunistische Revolution die Unterstützung der Frauen bei ihrer Schwangerschaft und die kollektive Erziehung der Kinder in den Mittelpunkt stellen. Nur eine Gesellschaft, die ihren Kindern und ihrer Jugend einen privilegierten Platz einräumt, kann den Anspruch erheben, eine hoffnungsvolle Zukunft anzubieten: Von diesem Standpunkt aus kompromittiert sich der Kapitalismus allein durch die Tatsache, dass ein wachsender Teil seiner Jugend als „überzählig“ betrachtet wird.
Jens
[1] [65]Editions Smolny, Toulouse 2009 und 2012. Wenn nicht anders festgestellt, sind die Zitate und Seitenangaben der ersten Edition entnommen.
[2] [65]Darmangeat stellt einige interessante Ideen über die gewachsene Bedeutung der physischen Kraft bei der Bestimmung der Geschlechterrollen nach der Erfindung der Landwirtschaft vor (das Pflügen zum Beispiel).
[3] [65]Darmangeat besteht zweifellos zu Recht darauf, dass die Beteiligung an gesellschaftlicher Produktion eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung für die Sicherstellung einer günstigen Umgebung für Frauen ist.
[4] [65]In dem Abschnitt „Die Familie“, MEW, Band 21, S. 68.
[5] [65]Bruce Trigger, Understanding early civilizations.
[6] [65]Knights Buch widmet ein Abschnitt der „männlichen Menstruation“ (S. 428). Ebenfalls verfügbar in PDF auf Knights Website.
[7] [65]„Der menschliche Geist hat seine Erfordernisse, von denen eines die Kohärenz ist“ (S. 319). Wir möchten hier nicht auf die Frage eingehen, woher diese Erfordernisse kommen und warum sie ihre besonderen Formen annehmen – Fragen, die Darmangeat unbeantwortet lässt.
[8] [65]Um eine leidenschaftliche, aber kritische Schilderung des Denkens von Lévi-Strauss zu erhalten, verweisen wir den Leser/die Leserin auf Knights Kapitel „Lévi-Strauss and ‚The Mind‘“.
[9] [65]C. Darmangeat, 2. Ausgabe, S. 214f.
[10] [65]Ebenda.
[11] [65]Merkwürdigerweise hebt Darmangeat selbst nur einige Seiten zuvor hervor, dass in bestimmten nordamerikanischen Indianergesellschaften unter bestimmten Bedingungen „Frauen alles tun konnten; sie meisterten die gesamte Bandbereite weiblicher und männlicher Aktivitäten“ (S. 314).
[12] [65]Siehe den Artikel über Patrick Torts L’Effet Darwin und Chris Knights Artikel über Solidarität und das egoistische Gen.
[13] [65]Vgl. „The great leap forward“ von Anthony Stigliani.
[14] [65]Bemerkenswerterweise ist das Wort für die Periode der Frauen in der deutschen, französischen, spanischen und englischen Sprache „die Regel“.
[15] [65]Dies ist ein Thema, das sich durch das gesamte Buch Darmangeats zieht. Siehe unter anderem das Beispiel der Huli in Neuguinea (S. 222, 2. Ausgabe).
[16] [65]Und besser noch: hat sich dabei verdient gemacht, die Theorie lesbar und zugänglich für den Laien zu machen.
[17] [65]Daher kommen wir, wenn Darmangeat uns erzählen will, dass Knights These „kein Wort über die Gründe verliert, warum es Frauen systematisch und vollkommen verboten wurde, zu jagen und Waffen zu bedienen“, nicht umhin, uns zu fragen, ob er das Buch bis zu seinem Schluss gelesen hat.
[18] [65]Siehe die Wikipedia-Artikel über Blombos Cave.
[19] [65]Siehe den Artikel in La Recherche: „Etonnants primitifs de Dmanisi“.
[20] [65]Siehe zum Beispiel Dunbar, The Human Story. Robin Dunbar erklärt die Evolution der Sprache mit dem Wachstum menschlicher Gruppen; Sprache erschien als eine weniger aufwändige Form der gegenseitigen Körperpflege, durch die unsere Primaten-Cousins ihre Freundschaften und Bündnisse aufrechterhalten. „Dunbars Zahl“ hat als die größte Zahl enger Beziehungen, die das menschliche Gehirn zu behalten in der Lage ist (ungefähr 150), Eingang in die anthropologische Theorie gefunden; Dunbar meint, dass dies die maximale Größe der ersten menschlichen Gruppen gewesen sei.
[21] [65]Die Hominini (der Zweig des evolutionären Stammbaums, zu dem die modernen Menschen gehören) trennte sich von den Panini (der Zweig, der Schimpansen und Bonobos umfasst) vor etwa sechs bis neun Millionen Jahren.
[22] [65]Vgl. „Menopause in non-human primates“, US-National Library of Medicine).
[23] [65]Siehe die Zusammenfassung der „Großmutter-Hypothese“.
[24] [65]Einiges ist bereits in dieser Richtung getan worden, in einem Land auf der anderen Seite der Erde, Australien, vom Anthropologen Lionel Sims in einem Artikel mit dem Titel „The ‚Solarisation‘ of the moon: manipulated knowledge at Stonehenge“, veröffentlicht in Cambridge Archaeological Journal, 16:2.
[25] [65]Darmangeat, ob.zit., S. 426.
[26] [65]Nicht umsonst schrieb Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm: „Das Recht kann seiner Natur nach nur in Anwendung von gleichem Maßstab bestehn; aber die ungleichen Individuen (und sie wären nicht verschiedene Individuen, wenn sie nicht ungleich wären) sind nur an gleichem Maßstab meßbar, soweit man sie unter einen gleichen Gesichtspunkt bringt, sie nur von einer bestimmten Seite faßt, z.B. im gegebnen Fall sie nur als Arbeiter betrachtet und weiter nichts in ihnen sieht, von allem andern absieht.“
[27] [65]Einer der wenigen originellen Science Fiction-Autoren heute, Iain M. Banks, hat eine pan-galaktische Gesellschaft („The Culture“) geschaffen, die praktisch kommunistisch ist und in der Menschen eine solche Kontrolle über ihre hormonellen Funktionen erlangt haben, dass sie fähig sind, beliebig das Geschlecht zu wechseln und somit auch zu gebären.
[28] [65]Was natürlich nicht bedeutet, dass alle Frauen Kinder in die Welt setzen wollen, und noch weniger, dass sie dazu gezwungen werden sollten.
Das abscheuliche Spektakel um die Ausstellung der Kinderleichen nach dem Giftgasangriff am 21. August am Rande Damaskus‘ hat die Führer der Welt, deren heuchlerische Reaktionen allein von ihren imperialistischen Interessen diktiert wurden, nicht wirklich bewegt. Der Einsatz von Giftgas auf beiden Seiten im Ersten Weltkrieg, die Freisetzung von chemischen Kampfstoffen in Vietnam und die Atombombe gegen Japan sind allesamt Beispiel dafür, dass unsere wunderbaren Demokratien nie gezögert hatten, Zuflucht bei den mörderischsten Waffen zu suchen. Die Regierungserklärungen sind umso heuchlerischer, waren doch die Bombardierung und Massakrierung der syrischen Bevölkerung, die über 100.000 Opfer seit Kriegsbeginn, die Flucht von Millionen Menschen vor dem Gemetzel bis heute keine „rote Linie“, was die Bourgeoisie angeht.
Es ist möglich, dass der Einsatz von Chemiewaffen eine syrisch-russische Provokation (Assad war im vergangenen Jahr mehrmals von Obama gewarnt worden, dass er diese „rote Linie“ nicht überschreiten dürfe) gegen rivalisierende Mächte, hauptsächlich die USA und Frankreich, war. Doch in jedem Fall war die „rote Linie“ nie mehr als ein mediengerechter Vorwand, um die „öffentliche Meinung“ auf eine eventuelle Militärintervention vorzubereiten. Angesichts der wachsenden Tragödie ist das Hin und Her zwischen etlichen Staaten nichts anderes als ein Gerangel um imperialistische Interessen, bei dem die Bevölkerung vor Ort keinerlei Bedeutung hat. Und es sind exakt die Beziehungen zwischen den rivalisierenden Mächten, die die Dauer des Konflikts und das grauenhafte Leiden der Zivilbevölkerung erklären. Nur zum Vergleich: andere Regimes, die, wie jenes in Libyen, vom „arabischen Frühling“ weggespült wurden, hielten nicht annähernd so lange, weil sie nicht im Fokus inter-imperialistischer Rivalitäten standen.
Russland gelang ein diplomatischer Coup, als es vorschlug, die Chemiewaffen Syriens unter „internationale Kontrolle“ zu stellen; dies löste hastige diplomatische Initiativen seitens seiner Rivalen aus, die jedoch nicht die Machtlosigkeit Letzterer und insbesondere der USA verbergen konnten. Doch wie immer diese jüngste Krise und die von den Regierungsministerien getroffenen Entscheidungen ausgehen und ob es eine direkte Militärintervention in Syrien geben wird oder nicht - wir sehen einen spektakulären Anstieg von kriegsähnlichen Spannungen vor dem Hintergrund zunehmenden Chaos‘, einer zunehmend unkontrollierbaren Lage, in der sich die bewaffneten Konflikte immer mehr verbreiten. Der Einsatz von Chemiewaffen bei etlichen Gelegenheiten, die Ausweitung des Konflikts auf den Libanon, die Präsenz aller Arten von Aasgeiern in der Region, von Katar und Saudi-Arabien bis zur Türkei und den Iran, dessen Verstrickungen in den Konflikt eine besondere Quelle der Besorgnis für Israel darstellen, sind alle ein Beleg dafür, dass der Konflikt bereits über die Grenzen Syriens geschwappt ist. Noch wichtiger ist die Präsenz der größeren imperialistischen Mächte; sie veranschaulicht die Stufe, die die imperialistischen Rivalitäten seit dem Ende des Kalten Krieges erreicht haben. So sehen wir zum ersten Mal seit 1989 eine größere politische Konfrontation zwischen den alten Blockführern USA und Russland. Obgleich sehr geschwächt durch die Auflösung des Ostblocks und der Sowjetunion, erlebt Russland ein Revival, nachdem es in den 1990er Jahren in Tschetschenien, Georgien und im Kaukasus eine Politik der verbrannten Erde betrieben hatte. Für Russland ist Syrien von vitaler Bedeutung, um seine Präsenz in der Region sicherzustellen, an seinen strategischen Verbindungen zum Iran zwecks Eindämmung des Einflusses der sunnitisch dominierten Republiken an seiner Südgrenze festzuhalten und einen Hafen im Mittelmeer aufrechtzuerhalten.
Das Ausmaß dieser Spannungen kann auch an der Tatsache abgelesen werden, dass China sich heute viel offener als in der Vergangenheit den USA entgegenstellt. Nachdem China während der Epoche der Blöcke dem russischen Einfluss entzogen und nach dem Deal mit Nixon bezüglich des Vietnam-Krieges vom amerikanischen Lager neutralisiert worden war, wird es nun zu einem Hauptkontrahenten, der die USA immer mehr Sorgen macht. Nach seinem kometenhaften Aufstieg auf wirtschaftlicher Ebene verschafft China auch seinen imperialistischen Interessen in Afrika, im Fernen Osten und dem Iran – einem Hauptziel, um seinen Zugang zu den Energiequellen sicherzustellen - Geltung. Als Spätankömmling ist China ein wichtiger Faktor bei der weiteren Destabilisierung der imperialistischen Beziehungen.
Die Stärkung dieser beiden Mächte war vor allem aufgrund der wachsenden offensichtlichen Schwächung und Isolation der USA ermöglicht worden, deren Versuche, die Rolle des Weltgendarmen zu spielen, in Afghanistan und im Irak völlig gescheitert sind. Wir bekommen eine Ahnung davon, wie schwierig die Dinge für die USA geworden sind, wenn man ihre „Intervention“ in Syrien mit ihrer Rolle im ersten Golfkrieg 1991 vergleicht. Indem sie Saddam Husseins Invasion in Kuwait als Vorwand dafür benutzt hatten, um ihre riesige militärische Überlegenheit zur Schau zu stellen, bildeten sie erfolgreich eine militärische „Koalition“, die eine Reihe von arabischen Ländern, aber auch die Hauptmitglieder des westlichen Blocks, die bereits versucht waren, sich nach der Auflösung des Ostblocks aus dem Griff der USA zu befreien, mit einbezog. Deutschland und Japan waren zwar militärisch nicht involviert, finanzierten aber das Abenteuer, während Großbritannien und Frankreich direkt zum Kampf „aufgerufen“ wurden. Gorbatschows marode UdSSR tat nichts, um Amerika im Weg zu stehen. Nur ein Jahrzehnt später, mit dem zweiten Golfkrieg, hatte es Amerika mit einer aktiven diplomatischen Gegenoffensive aus Deutschland, Frankreich und Russland zu tun. Und während sowohl bei der Invasion Afghanistans 2001 als auch bei der Invasion des Irak 2003 Amerika auf die loyale diplomatische und militärische Unterstützung durch Großbritanniens zählen konnte, war die Abtrünnigkeit Großbritanniens von der geplanten militärischen Intervention in Syrien der Schlüssel zur Entscheidung der Obama-Administration, die Intervention abzublasen und der diplomatischen Option zuzuhören, die von Moskau vorgestellt wurde. Die Abstimmung im Unterhaus gegen Camerons Ansinnen, eine militärische Intervention zu unterstützen, ist Zeugnis für die tiefe Spaltung in der britischen Bourgeoisie, die aus der Verwicklung des Landes im afghanischen und irakischen Schlamassel (1) herrührt, aber vor allem ist es eine Maßnahme , um den US-Einfluss zu schwächen. Die plötzliche Entdeckung, dass Frankreich, das weiterhin den Vorstoß zur Intervention unterstützte, Amerikas „ältester Verbündeter“ ist, sollte kein Anlass für die Illusion geben, dass Frankreich dabei ist, die Rolle des treuen Adjutanten zu übernehmen, die einst Großbritannien (ungeachtet seiner eigenen Ambitionen, nach einer unabhängigeren Rolle zu trachten)in den meisten imperialistischen Unternehmungen der USA seit Ende des Kalten Krieges gespielt hatte. Das Bündnis zwischen den USA und Frankreich ist schon aus amerikanischer Sicht von untergeordneter Bedeutung und somit nicht verlässlich. Wir können dem die diskreten Misstöne aus Deutschland hinzufügen, dessen stille Annäherung an Russland eine weitere Sorge für Washington darstellt.
Zurzeit des ersten Golfkriegs 1991 versprach Präsident Bush sen. eine Neue Weltordnung, mit den USA als Marshall, der die Dinge nett und friedlich gestaltet. Was wir derzeit sehen, ist eine imperialistische Massenschlägerei, die die Welt in die Barbarei und ins Chaos drängt.
Im Zusammenhang mit diesem neuen Schlachtfeld ist Syrien eine sehr wichtige strategische Trophäe. Das moderne Syrien entstand im 20. Jahrhundert mit dem Niedergang des osmanischen Reiches. Im Ersten Weltkrieg mobilisierte Großbritannien syrische Truppen, weil es versprach, dass dem Land die Unabhängigkeit gewährt werden sollte, sobald der Krieg gewonnen war. Das Ziel Großbritanniens war es natürlich, seine Kontrolle über die Region aufrechtzuerhalten. Doch bereits 1916, im Anschluss an das geheime Sykes-Picot-Abkommen, trat Großbritannien die Kontrolle über Syrien an Frankreich ab. Hauptziel dieser Übereinkunft war es, die Bestrebungen Deutschlands zu blockieren, das bereits mit dem Bau der Bagdad-Bahn beabsichtigte, „Konstantinopel und die militärischen Kleingebiete des türkischen Reiches in Kleinasien in unmittelbare Verbindung mit Syrien und den Provinzen am Euphrat und Tigris zu bringen“ (1). Heute ist Syrien wegen der Instabilität der traditionellen Seewege durch den Persischen Golf zu einer der Landwege für den Transport von Kohlenwasserstoff geworden. Sich durch einen Korridor an der Levante zum Mittelmeer (der auch für den Waffentransfer aus Russland genutzt wird) und im Osten gegenüber den ölproduzierenden Ländern öffnend, wird Syrien ein immer wichtigerer Faktor in der Politik dieser Region.
Die sich heute entwickelnden Spannungen sind zu einem großen Teil mit der historischen Bedeutung Syriens in der Region verknüpft. Sie werden auch angefeuert durch die Rolle, die Israel spielt, dessen Drohungen gegen Syrien und den Iran (3) eine weitere Quelle des Ungemachs für die großen imperialistischen Mächte sind. Regionalmächte wie Saudi-Arabien und Katar, die Hauptlieferanten für die Bewaffnung der „Rebellen“, sind tief verwickelt, während die Türkei danach strebt, ihre Interessen zu verteidigen, indem sie mit der Präsenz einer kurdischen Minderheit in Nordsyrien spielt.
Und es gibt auch eine Polarisierung rund um das schiitische Regime im Iran, das die strategische Erdölroute durch die Straße von Hormus kontrolliert. Dies ist aufs Engste verknüpft mit der Marinekonzentrierung in dem Gebiet, insbesondere der US-Flotte. Es erklärt auch das Festhalten des Iran an sein Atomprogramm, das Putin provokanterweise unterstützt, indem er zur „Hilfe beim Aufbau eines Kernkraftwerkes“ aufruft.
Bis jetzt ist das blutbesudelte Assad-Regime von allen imperialistischen Mächten als jemand angesehen worden, der eine gewisse Stabilität und Kalkulierbarkeit sicherstellte, als das geringere Übel. Heute gibt es, falls die syrische Opposition an die Spitze gelangt, keinen Zweifel daran, dass es eine Kettenreaktion geben würde, die zu einem beispiellosen Chaos und aller Arten von unkalkulierbaren Szenarien führen würde. Die Freie Syrische Armee ist ein wahres Flickwerk; es gibt keine wirklich vereinte Opposition. Dieses schwache politische Konglomerat ist trotz der diskreten Unterstützung der pro-amerikanischen und pro-europäischen Kräfte, denen eine Versorgung mit Waffen zugesichert wurde - ohne jegliche Gewähr, ihre Zirkulation zu kontrollieren -, von terroristischen Dschihadgruppen infiltriert oder flankiert worden, von denen viele von außerhalb Syriens kommen und die im eigenen Interesse handeln, wie die Warlords, die heute in Afrika wie Pilze aus dem Boden schießen. Es gibt so gut wie keine Möglichkeit für die Westmächte, sich auf eine reale Opposition zu verlassen, die eine Alternative zum Regime anbieten kann.
Dies ist ein breiteres Phänomen, das wir auch in all den anderen arabischen Ländern sehen können, die sich im Arabischen Frühling ähnlicher Ereignisse gegensahen: keine wirkliche bürgerliche Opposition, die in der Lage wäre, eine „demokratische Alternative“ und ein Minimum an Stabilität anzubieten. All diese Regimes waren nur dank der Macht der Armee in der Lage gewesen zu überleben, die versucht hatte, die zahllosen Clans der herrschenden Klasse zusammenzuhalten und das Auseinanderfallen der Gesellschaft zu verhindern. Wir sahen dies in Libyen und erst kürzlich in Ägypten, wo die Armee einen Staatsstreich gegen Mursi und die Muslimbruderschaft anzettelte. All dies ist der Ausdruck einer ganz realen Sackgasse, typisch für die kapitalistische Dekadenz und insbesondere ihrer finalen Phase des Zerfalls, wo alles, was in der Wirtschaftskrise angeboten werden kann, Armut, die rohe Gewalt der Armee, Repression und Blutvergießen ist.
Und diese Situation ist umso beunruhigender, nährt sie doch die religiösen Spaltungen, die in diesem Teil der Welt zu den schärfsten zählen: Spaltungen zwischen Christen und Muslimen, Schiiten und Sunniten, zwischen Muslimen und Juden, zwischen Muslimen und Drusen, etc. Ohne direkt an der Wurzel der Konflikte in der Region zu sitzen, vertiefen diese Risse den Hass und die Feindseligkeiten in einer Gesellschaft ohne Zukunft. Dies ist auch eine Region, die in der Vergangenheit von zahllosen Genoziden, wie den Völkermord an den Armeniern, von Kolonialmassakern geprägt wurde, welche ein Vermächtnis des Hasses hinterlassen haben, was seinerseits als Quelle neuer Massaker dient. Insbesondere Syrien befindet sich im Fokus dieser Spaltungen (Alawiten/Sunniten, Muslime/Christen, etc.); unter der Oberfläche des Krieges hat es mit dem Einströmen fanatischer Dschihadisten, einige von ihnen gestützt von Saudi-Arabien, zahllose Fälle von Pogromen gegen diese oder jene Gemeinschaft gegeben, was die Lage noch weiter verschlechterte.
Die Katastrophe ist umso ernster, als die USA, eine militärische Supermacht im Niedergang, die Speerspitze beim Abstieg ins Chaos sind. Sie haben sich vom Weltgendarmen zum pyromanischen Feuerwehrmann gewandelt. 2008, als Obama über Bush jun. triumphierte, geschah dies zu einem Gutteil aufgrund seines Images als Alternative zum unpopulären Kriegstreiber Bush. Doch nun hat sich der Friedensnobelpreisträger Obama selbst als nicht weniger kriegstreiberisch gezeigt, trotz seiner Talente als ein Politiker, etwas, was seinem Vorgänger abging. Obama verliert immer mehr seine Glaubwürdigkeit. Er hat es mit einer öffentlichen Meinung zu tun, die sich in wachsendem Maße gegen den Krieg sträubt, die immer mehr vom Vietnam-Syndrom erfasst wird, während er sich gleichzeitig einer unerträglichen Wirtschaftskrise gegenübersieht, die es immer schwieriger macht , Geld für militärische Kreuzzüge zu verschwenden. Für den Moment kann der Rückzieher der USA von einer Bestrafung des Assad-Regimes mit Militärschlägen unter Berufung auf die realen geostrategischen Schwierigkeiten erklärt werden, doch dies hat Washington dazu geführt, Zuflucht in neuen Verdrehungen zu suchen, wie die heuchlerische und lächerliche Unterscheidung zwischen „Chemiewaffen“ und „Waffen, die lediglich chemische Komponenten beinhalten“. Was für ein Unterschied!
Mit der wachsenden Anzahl von derlei Zwangslagen haben die Mystifikationen, die dazu dienten, die militärischen Kreuzzüge in den 1990er Jahren zu rechtfertigen – „sauberer Krieg“, „humanitäre Intervention“, etc. – ihre Wirkung verloren. Die USA sehen sich einem wirklichen Dilemma gegenüber, das ihre Glaubwürdigkeit bei den Verbündeten untergräbt, besonders bei Israel, das immer kritischer gegenüber den Amerikanern geworden ist. Das Dilemma ist: Entweder tun die USA nichts, was lediglich ihre Rivalen zu neuen Konfrontationen ermutigen kann; oder sie schlagen los, was nur die Feindschaft und die Ressentiments gegen sie steigern kann. Was sicher ist, ist, dass sie wie all die anderen imperialistischen Mächte nicht der Logik des Militarismus entkommen können. Letztendlich können sie sich nicht aus neuen militärischen Kampagnen heraushalten.
Die teuflische Spirale dieser militärischen Konflikte wirft einmal mehr ein Licht auf die Verantwortung des internationalen Proletariats. Selbst wenn es sich nicht einer Position befindet, in der es Einfluss auf die militärische Barbarei ausüben könnte, ist es dennoch die einzige historische Kraft, die dieser Barbarei durch seinen revolutionären Kampf ein Ende bereiten kann. Das Proletariat in Syrien ist angesichts der Ereignisse und der Tatsache, dass es vom offenen bewaffneten Konflikt überwältigt wurde, zu schwach, als dass es in der Lage sein könnte, auf den Krieg auf seinem eigenen Klassenterrain zu antworten. Wie wir bereits betont haben, „ist die Tatsache, dass die Manifestation des ‚Arabischen Frühlings‘ in Syrien nicht den geringsten Fortschritt für die unterdrückten und ausgebeuteten Massen gebracht hat, sondern in einen Krieg gemündet ist, der über 100.000 Tote hinterlassen hat, eine düstere Veranschaulichung für die Schwäche der Arbeiterklasse in diesem Land – der einzigen Kraft, die eine Barriere gegen die militärische Barbarei bilden kann. Und die Situation trifft auch - wenn auch in weniger tragischen Formen – auf die anderen arabischen Länder zu, wo der Sturz der alten Diktatoren in der Machtergreifung durch die rückständigsten Sektoren der Bourgeoisie, repräsentiert durch die Islamisten in Ägypten oder in der Türkei, oder in äußerstes Chaos, wie in Libyen, mündete.“ (4)
Heute bestätigt der der Ereignisse völlig die Perspektive, die Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre vorgestellt hatte:
„Friedrich Engels sagte einmal: Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei. Was bedeutet ein ‚Rückfall in die Barbarei‘ auf unserer Höhe der europäischen Zivilisation? Wir haben wohl alle die Worte bis jetzt gedankenlos gelesen und wiederholt, ohne ihren furchtbaren Ernst zu ahnen. Ein Blick um uns in diesem Augenblick zeigt, was ein Rückfall der bürgerlichen Gesellschaft in die Barbarei bedeutet. Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Vernichtung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortgang nehmen sollte. Wir stehen also heute, genau wie Friedrich Engels vor einem Menschenalter, vor vierzig Jahren, voraussagte, vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur, wie im alten Rom, Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof; oder Sieg des Sozialismus, d.h. der bewußten Kampfaktion des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus und seine Methode: den Krieg. Dies ist ein Dilemma der Weltgeschichte, ein Entweder-Oder, dessen Waagschalen zitternd schwanken vor dem Entschluß des klassenbewußten Proletariats. Die Zukunft der Kultur und der Menschheit hängt davon ab, ob das Proletariat sein revolutionäres Kampfschwert mit männlichem Entschluß in die Waagschale wirft.“
WH, September 2013
(1) Rohrbach, Der Krieg und die deutsche Politik, zitiert von Rosa Luxemburg in der Junius-Broschüre, Kapitel 4.
(2) Israel hat faktisch dem Iran wegen dessen Nuklearpolitik mehrere Ultimaten gestellt, während es sich noch im Streit mit den Syrern wegen der Golan-Höhen befindet.
Resolution über die internationale Lage, 20. Kongress der IKS
Im Anschluss an die Bundestagswahlen vom 22. September 2013 in Deutschland verhandelt nun die Bundeskanzlerin Angela Merkel, ihres Zeichens Vorsitzende der Christdemokraten, mit den Sozialdemokraten über die Bildung einer „Großen Koalition“. Die neue Regierung wird die dritte hintereinander sein, in der Merkel Bundeskanzlerin ist. Die erste war ebenfalls eine „Große Koalition“ mit der zweitgrößten Partei im Bundestag, die SPD. Die zweite war eine Koalition mit dem kleinen liberalen Partner, der FDP. Eines der Ergebnisse der jüngsten Wahlen war, dass Merkel ihren Koalitionspartner verloren hat. Zum ersten Mal seit der Gründung der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterten die Liberalen an der Fünfprozenthürde und zogen nicht in den Bundestag ein. Als diese Zeilen verfasst wurden, schien die Bildung einer Koalition der CDU/CSU mit der SPD der weitaus wahrscheinlichste Ausgang zu sein. Der Verlauf der Verhandlungen zwischen diesen beiden Parteien deutet bereits an, dass, obwohl die Christdemokraten einen viel größeren Anteil an den Parlamentssitzen besitzt, die neue Koalition mit der SPD, so sie denn zu Stande kommt, die „Handschrift der Sozialdemokraten“ tragen wird, wie die Medien bereits erklärt haben. Mit anderen Worten: das Programm der neuen Regierung wird nicht darin bestehen, die Arbeiterklasse unmittelbar und frontal zu attackieren, obgleich massive Angriffe auf die Dauer nicht ausbleiben werden.
Das bemerkenswerteste Resultat der jüngsten Wahlen war jedoch die Tatsache, dass die Kanzlerin und ihre Partei, die das Land bereits zwei Legislaturperioden lang regiert haben, solch einen Wahltriumph feiern konnten. In einem Land, das seit Kriegsende (bis auf eine Ausnahme) stets von Koalitionsregierungen regiert wurde, kam Merkel einer absoluten Mehrheit sehr nahe – für Deutschland eine Sensation. Dies ist umso bemerkenswerter, als in den meisten anderen Ländern Europas die wirtschaftliche Lage so ernst und die Notwendigkeit, die Bevölkerung zu attackieren, so akut ist, dass jede Regierung, ob links oder rechts, es riskiert, ihre Popularität oder gar ihre Glaubwürdigkeit rapide einzubüßen und somit bei den nächsten Wahlen prompt in die Opposition zurückgeschickt zu werden. Dies ist zumindest die Form, die das soziale Sicherheitsventil der kapitalistischen Demokratie gegenwärtig in Europa annimmt: Die Wut der Bevölkerung wird in einer „Protestwahl“ kanalisiert und neutralisiert, was für die „politische Klasse“ die Konsequenz hat, dass eine längere Kontinuität der jeweiligen Regierungsmannschaft immer unwahrscheinlicher wird. Ein dramatisches Beispiel dieser Entwicklung ist Frankreich, wo die linke Regierung von Francois Hollande, vor nicht allzu langer Zeit von den Medien als die neue Hoffnung für die arbeitende Bevölkerung gefeiert, nach nur einem Jahr im Amt ein Allzeit-Tief in der öffentlichen Gunst erreicht hat. Doch was wir in Deutschland sehen, ist eine entgegengesetzte Entwicklung, zumindest für den Moment. Die Frage ist: Wie kann man dies erklären?
Merkel profitiert von den Hinterlassenschaften der Schröder-Regierung
Das vielleicht wichtigste „Erfolgsgeheimnis“ für die anhaltende Stärke Angela Merkels an der Wahlurne liegt in der Tatsache begründet, dass es in ihrer Kanzlerschaft noch nicht notwendig war, die Bevölkerung massiv anzugreifen. Und einer der Gründe dafür ist, dass ihr Vorgänger, Kanzler Gerhard Schröder, und seine linke Koalition von SPD und Grünen dies bereits so erfolgreich taten, dass Merkel immer noch von ihren Früchten zehrt. Schröders so genannte „Agenda 2010“, die Anfang der Nuller Jahre in Gang gesetzt worden war, war ein riesiger Erfolg aus der Sicht des Kapitals. Mithilfe dieser Agenda gelang es, die allgemeinen Lohnkosten des Landes so radikal zu reduzieren, dass seine Hauptrivalen in Europa, wie Frankreich, in aller Öffentlichkeit gegen dieses „Lohndumping“ der führenden Wirtschaftsmacht des Kontinents protestierten. Es gelang ebenfalls, eine ohnehin beispiellose „Flexibilisierung“ der Arbeitskraft noch weiter zu intensivieren, insbesondere durch einen atemberaubenden Ausbau der „prekären Beschäftigungsverhältnisse“ nicht nur in den traditionellen Niedriglohnsektoren, sondern auch im Herzen der Industrie. Zum dritten (und dies war nicht die geringste Leistung Schröders) wurde all dies durch einen Angriff erreicht, der äußerst massiv, aber nicht allumfassend war. Mit anderen Worten, statt das Proletariat in seiner Gesamtheit anzugreifen, waren die Maßnahmen der Agenda dazu bestimmt, eine tiefe Spaltung innerhalb der Klasse zu bewirken, eine Spaltung zwischen den beschäftigten und unbeschäftigten Arbeiter/-Innen, zwischen Arbeiter/-Innen mit regulären Arbeitsverträgen und jenen ohne solche Verträge. In den Großbetrieben wurde ein wahrhaftiges Apartheidsystem zwischen den festangestellten und den auf Zeit angestellten Arbeiter/-Innen errichtet, die für denselben Job den halben oder gar nur ein Drittel des Lohnes der Festangestellten erhalten und denen es in einigen Fällen nicht einmal gestattet wird, die Firmenkantine aufzusuchen. Infolgedessen befand sich Merkel, während in vielen anderen europäischen Ländern solche massiven Angriffe ohne größere Vorausplanung unter den Hammerschlägen der so genannten Weltfinanzkrise ab 2008 durchgeführt werden mussten, in der komfortablen Situation, dass in Deutschland diese Maßnahmen bereits installiert sind und nun für das Kapital Früchte tragen.
Eine andere Besonderheit auf dieser Ebene besteht darin, dass die Angriffe in Deutschland nicht zum Beispiel von einer der berüchtigten neo-liberalen „Denkfabriken“ ausgeheckt wurden, sondern zuvorderst von den Gewerkschaften. Die „Agenda 2010“ wurde von einer Kommission ausgearbeitet, die von Peter Hartz, einem Freund Schröders im Volkswagen-Konzern, unter direkter Beteiligung des Betriebsrates von Volkswagen und der IG Metall, der mächtigsten Gewerkschaft in Europa, geleitet wurde, die (wie viele Arbeitgeber öffentlich zugegeben haben) mehr über erfolgreiches Management als die Manager verstehen. Kein Wunder, dass heute die Mehrheit der deutschen Bourgeoisie, einschließlich der Unternehmerverbände, darauf erpicht ist, dass die Sozialdemokraten (und mit ihnen die Gewerkschaften) mit Merkel zusammen eine Koalitionsregierung bilden. Und kein Wunder, dass sich Merkel nach dem Verlust ihres liberalen Koalitionspartners derzeit immer mehr von der Ideologie des Neo-Liberalismus distanziert und das Loblied auf das „gute alte“ deutsche Modell der angeblichen „sozialen Marktwirtschaft“ (wo die Gewerkschaften direkt daran beteiligt sind, das Land zu leiten) anstimmt und selbst die Ausweitung dieses „Modells“ auf den Rest Europas befürwortet.
Die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals
Ein weiterer Grund für diese „Erfolgsgeschichte“ Angela Merkels liegt in der ausgesprochenen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wenn dieser Wettbewerbsvorsprung allein auf dem oben erwähnten Lohndumping beruhte, würde er nun angesichts der drastischen Angriffe anderswo in Europa in jüngster Zeit dahinschmelzen. Doch in Wahrheit besitzt er eine viel breitere Grundlage in der ökonomischen Struktur des Landes selbst. Es besteht die Gefahr, dass Marxisten, konfrontiert mit der abstrakten Funktionsweise des Kapitals, sich von diesem abstrakten Charakter fesseln lassen und so dem Eindruck erliegen, dass die relative Stärke oder Schwäche eines nationalen Kapitals allein von abstrakten Kriterien wie die Entwicklung der organischen Zusammensetzung des Kapitals oder die Verschuldungsrate im Verhältnis zum BSP etc. abhängt. Dies führt zu einer rein schematischen Sichtweise der kapitalistischen Ökonomie, in der politische, historische, kulturelle, geographische, militärische und andere Faktoren aus dem Blickfeld verschwinden. Zum Beispiel, wenn man auf die Wachstumsraten oder auf das Schuldenniveau der USA schaut und es mit China vergleicht, kommt man unweigerlich zur Schlussfolgerung, dass Amerika das Rennen gegen seinen asiatischen Herausforderer bereits verloren hat und in einer Art Drittwelt-Status enden wird. Doch wird dabei übersehen, dass die USA noch immer das kapitalistische Paradies für innovative „Startups“ ist, dass es kein Zufall ist, dass das Zentrum der neuen Medien die Vereinigten Staaten sind und dass die politische Kultur eines Landes unter stalinistischer Leitung, wie China, es daran hindert, seinem Rivalen nachzueifern.
In ihrer Polemik gegen den Revisionisten Bernstein erklärte Rosa Luxemburg (in ihrem Buch „Reform oder Revolution“), dass die von Karl Marx entdeckten „Gesetze“, die eine wachsende organische Zusammensetzung und Zentralisierung des Kapitals betreffen, nicht das notwendige Verschwinden der mittelständischen Unternehmen bedeuten. Im Gegenteil, erklärt sie, bleiben solche kleineren Betriebe notwendigerweise das Zentrum der technischen Erneuerung, die sich im Mittelpunkt eines Wirtschaftssystems befinden, welches auf Konkurrenz und der Verpflichtung zur Akkumulation basiert. Deutschland ist kein Paradies für kapitalistische Startups wie die Vereinigten Staaten (allein das Schwergewicht seiner bürokratischen Traditionen verbietet dies). Doch es bleibt bis heute das Mekka des weltweiten Ingenieurswesens und der Maschinenbauindustrie. Diese Stärke beruht auf hoch spezialisierte, oftmals in Familienbesitz befindliche Firmen, die ihre Fertigkeiten von Generation zu Generation weiterreichen und – dank eines in der Welt einmaligen Ausbildungssystems – auf ein Reservoir hochqualifizierter Arbeitskräfte sowie auf Traditionen, die bis ins Mittelalter zurückreichen. In den vergangenen 20 Jahren sind diese kleinen und mittleren Maschinenbauunternehmen in einer koordinierten Operation zwischen den Unternehmerverbänden, der Regierung, den Banken und den Gewerkschaften in weltweit operierende Unternehmen umgewandelt worden, ohne zwangsläufig ihre Größe zu steigern. Doch ihre Operationsbasis bleibt Deutschland. Auch hier ist die Signatur der Gewerkschaften unverkennbar. Während einem Arbeitgeber es gleichgültig ist, ob die Profite aus einer Fabrik in Deutschland oder im Ausland kommen, solange es Profite gibt, ist das Denken der Gewerkschaften fast instinktiv nationalistisch, da es ihre vorrangige Aufgabe ist, die Arbeitskraft in Deutschland selbst im Interesse des Kapitals zu kontrollieren, und dies kann am besten getan werden, indem die Industrie und die Jobs „zuhause“ gehalten werden. Die IG Metall ist ein fanatischer Vertreter Deutschlands als Industriestandort („Standort Deutschland“).
Staatskapitalismus und der Unterschied zu 1929
All dies hilft bei der Erklärung, warum Deutschland zumindest derzeit besser als die meisten seiner Rivalen in der Lage ist, der fürchterlichen Vertiefung der Wirtschaftskrise des Kapitalismus seit 2008 zu widerstehen. Jedoch würde keiner dieser Vorteile viel helfen, wenn sich die Struktur der kapitalistischen Ökonomie seit den Tagen der fürchterlichen Depression, die 1929 begann und im Zweiten Weltkrieg endete, nicht radikal verändert hätte. Damals waren die Herzländer des Kapitalismus, die damals am höchsten entwickelten Länder Deutschland und die Vereinigten Staaten, als erste getroffen und am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen worden. Dies war kein Zufall. Die Krisen des dekadenten Kapitalismus sind nicht mehr Expansionskrisen, sie sind Krisen des Systems als solches, die sich in seiner Mitte entwickeln und natürlich die Zentren direkt heimsuchen. Doch im Gegensatz zu 1929 ist die Bourgeoisie heute nicht nur viel erfahrener, sie hat vor allen Dingen einen gigantischen staatskapitalistischen Apparat zur Verfügung, der Wirtschaftskrisen zwar nicht verhindern kann, der jedoch vermeiden kann, dass die Krise ihren natürlichen Verlauf nimmt. Hauptsächlich deshalb sind seit der Wiederkehr der offenen Krise der kapitalistischen Dekadenz Ende der 1960er Jahre die wirtschaftlich und politisch stärksten Staaten am besten in der Lage gewesen, der Krise zu widerstehen. Nichts von dem hindert die Krise sowohl daran, sich den historischen Zentren des Kapitalismus immer weiter anzunähern, als auch daran, diese Zentren viel ernster zu erfassen. Doch dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass es dort in naher Zukunft einen einseitigen ökonomischen Zusammenbruch wie in Deutschland oder den USA 1929 geben wird. Jedenfalls demonstriert das internationale und europäische Krisenmanagement der „Euro-Krise“ in den letzten Jahren deutlich, dass die staatskapitalistischen Mechanismen, die schlimmsten Auswirkungen auf die schwächeren Rivalen abzuwälzen, immer noch funktionieren. Sowohl die Immobilien- und Finanzkrise, die 2007/08 begann, als auch die Krise des Vertrauens in die gemeinsame europäische Währung, die ihr folgte, bedrohten direkt die Stabilität des deutschen und französischen Banken- und Finanzsektors. Das Hauptergebnis der verschiedenen europäischen Rettungsoperationen, all der Gelder, die so „generös“ Griechenland, Irland, Portugal, etc. geliehen wurden, war die Stützung der deutschen und französischen Interessen auf Kosten der schwächeren Rivalen, mit dem Nebeneffekt, dass die Arbeiter/-Innen jener Länder die Hauptlast dieser Angriffe tragen mussten. Und während die Gründe, die wir zu Beginn dieses Artikels angaben, um den Wahlerfolg von Merkel zu erklären, nicht ihr zuzuschreiben sind, waren es in dieser Frage sicherlich Merkel und ihr Finanzminister Schäuble, die die deutschen Interessen mit Zähnen und Klauen verteidigten, so dass die europäischen Partner häufig an den Rand der Verzweiflung getrieben wurden. Und hier wird klar, dass es hinter dem hohen Stimmenanteil für Merkel einen nationalistischen Impuls gibt, der sehr gefährlich für die Arbeiterklasse ist.
Die deutsche Bourgeoisie übernimmt Verantwortung
Es gibt objektive Gründe, die den Wahltriumph von Angela Merkel zu erklären helfen: der zumindest derzeit relativ erfolgreiche Widerstand Deutschlands gegen die Vertiefung der historischen Krise und der relative Erfolg Merkels jüngst bei der Verteidigung deutscher Interessen in Europa. Doch der wichtigste Einzelgrund für ihren Erfolg war, dass die gesamte deutsche Bourgeoisie ihren Erfolg wünschte und alles tat, ihn zu fördern. Die Gründe hierfür liegen nicht in Deutschland selbst, sondern in der Weltlage insgesamt, die immer bedrohlicher wird. Auf der ökonomischen Ebene sind die Krise der europäischen Ökonomie und das schwankende Vertrauen in den Euro alles andere als vorbei – das Schlimmste steht erst bevor. Daher ist das Phänomen von „Mutti Merkel“, der „weisen und fürsorglichen Mutter“ derzeit so wichtig. Laut einer beliebten Denkschule innerhalb der modernen bürgerlichen Wirtschafts-„Theorie“ ist die Ökonomie in hohem Grad eine Frage der „Psychologie“. Sie sagen „Ökonomie“ und meinen Kapitalismus. Sie sagen „Psychologie“ und meinen Religion, oder sollten wir sagen: Aberglauben? Im ersten Band des Kapital erklärt Marx, dass der Kapitalismus „bis zu einem wichtigen Ausmaß“ auf den Glauben in die magische Kraft von Personen und Objekten (Waren, Geld) basiert, denen rein eingebildete Fähigkeiten zugesprochen werden. Heute beruht das Vertrauen der internationalen Märkte in den Euro hauptsächlich auf den Glauben, dass die Einbeziehung „der Deutschen“ irgendwie eine Garantie dafür ist, dass alles gut werden wird. Mutti Merkel ist zu einem weltweiten Fetisch geworden. Das Problem der gemeinsamen europäischen Währung ist kein Randproblem, sondern absolut zentral, sowohl ökonomisch als auch politisch. Im Kapitalismus beruht das Vertrauen zwischen den Akteuren, ohne das eine Gesellschaft mit einem Minimum an Stabilität unmöglich wird, nicht mehr auf das gegenseitige Vertrauen zwischen den menschlichen Individuen, sondern nimmt die abstrakte Form des Geldvertrauens, des Vertrauens in die herrschende Währung an. Die deutsche Bourgeoisie weiß aus eigener Erfahrung mit der Hyperinflation 1923, dass der Kollaps einer Währung die Basis für Ausbrüche unkontrollierbarer Instabilität und des Irrsinns legt. Aber es gibt auch eine politische Dimension. Hier ist Berlin äußerst besorgt über die langfristige Entwicklung sozialer Unzufriedenheit in Europa und über die unmittelbare Lage in Frankreich. Sie ist alarmiert wegen der Unfähigkeit der Bourgeoisie auf der anderen Seite des Rheins, mit ihren wirtschaftlichen und politischen Problemen zu Rande zu kommen. Und sie macht sich Sorgen wegen der Aussichten auf gesellschaftlicher Unruhe in jenem Land, da die Arbeiterklasse in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten einen besonderen Respekt gegenüber dem französischen Proletariat entwickelt hat und dazu neigt, ihm die Führung des Kampfes in den Schoß zu legen.
In vollem Bewusstsein für ihre internationale Verantwortung hat die deutsche Bourgeoisie heute, mit den Resultaten der jüngsten Wahlen im Rücken, eine Regierung gewählt, die Stärke, Stabilität und Kontinuität verkörpert und symbolisiert und mit der sie hofft, sich den kommenden Stürmen erfolgreich zu stellen.
Weltrevolution 4. November 2013
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[38] https://www.mlwerke.de/me/me23/me23_741.htm#Kap_24_3
[39] https://www.unhcr.org/pages/49c3646c1d.html
[40] https://en.internationalism.org/print/book/export/html/8452#sdfootnote1anc
[41] https://en.internationalism.org/ir/113_pianist.html
[42] https://en.internationalism.org/print/book/export/html/8452#sdfootnote2anc
[43] https://en.internationalism.org/print/book/export/html/8452#sdfootnote3anc
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[48] https://en.internationalism.org/print/book/export/html/8452#sdfootnote7anc
[49] https://en.internationalism.org/tag/25/1838/adolf-eichmann
[50] https://en.internationalism.org/tag/25/1836/hannah-arendt
[51] https://en.internationalism.org/tag/25/1837/heinrich-bluecher
[52] https://en.internationalism.org/tag/4/360/fascism
[53] https://en.internationalism.org/tag/6/1839/eichmann-trial
[54] https://en.internationalism.org/tag/6/1841/hannah-arendt-and-banality-evil
[55] https://en.internationalism.org/tag/5/57/israel
[56] https://www.franceculture.fr/emission-la-fabrique-de-l-histoire-histoire-des-grands-proces-24-2013-05-07
[57] https://www.youtube.com/watch?v=7fwQv5h7Lq8
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