Die Zuspitzung der Wirtschaftskrise seit diesem Sommer 2011 lässt den Bankrott des Kapitalismus immer deutlicher erkennen. Das Kapital kann seinen finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, denn die endlose Verschuldung der letzten Jahrzehnte ist an ihre Grenzen gestoßen. Die ständige Neuaufnahme von Schulden hatte zum Ziel, eine Produktion abzusetzen, die immer mehr die Nachfrage überstieg. Da diese Überproduktion immer geringere Profitraten nach sich zog, haben die Kapitalisten unaufhörlich versucht, die Produktionskosten zu senken, d.h. die Lohnkosten zu kürzen – dies schloss sowohl die noch Beschäftigten als auch die Arbeitslosen und Rentner mit ein. Seit Ende der 1990er Jahre sind die Reallöhne der ArbeiterInnen und aller anderen Schichten mit niedrigen Einkommen in vielen entwickelten Ländern stagniert oder gesunken. Darüber hinaus konnten die Unternehmer jahrelang die Löhne durch die Verlagerung von Produktionsstandorten in « Schwellenländer » oder andere Niedriglohnländer senken (Dazu gehört, dass oft nur weniger Jahre später Werke wieder geschlossen werden - wie jetzt im Falle Nokia. 2004 war das Bochumer Nokia Werk nach Rumänien verlagert worden, bevor es 2011 wieder geschlossen wurde). Dies ermöglichte vorübergehend eine Erhöhung der Profite, denn die Löhne waren in diesen Ländern so niedrig, dass viele Beschäftigte nur in den Armenvierteln überleben konnten oder wie in China, in Mingong (Wohnkasernen auf Werksgelände) schlafen mussten.
Die Zuspitzung der Armut
Seit 2007 haben sich die Lebensbedingungen der entwickelten Länder in einem viel stärkeren Maß verschlechtert als früher. Überall steigt die Arbeitslosigkeit an, in einigen Ländern explodiert sie gar. In Griechenland ist die Arbeitslosigkeit nach dem ersten Sparprogramm vom April 2010 von 12% auf 16,5% der aktiven Bevölkerung gestiegen[1]. In Spanien, wo die Immobilienblase besonders heftig geplatzt ist, ist die Arbeitslosigkeit seit 2008 von 9% auf 21% angewachsen, damit sind mehr als 4.2 Mio. Menschen arbeitslos. Unter den Jugendlichen grassiert eine noch höhere Arbeitslosigkeit: 42% in Spanien, 33% in Griechenland; 25% durchschnittlich in den anderen Ländern, Schweden eingeschlossen, das uns heute als ein erfolgreiches Modell der Überwindung der Krise präsentiert wird.[2]
Meist haben die Jugendlichen keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, weil sie noch nie in Lohnarbeit standen. Deshalb hat sich in den letzten Jahren ein Phänomen entwickelt, wo die Jugendlichen sich keine eigene Wohnung mehr leisten können und bei ihren Eltern wohnen bleiben müssen.
Aber selbst wenn die Eltern noch eine Arbeit haben, kommen sie meistens kaum noch über die Runden. Oft können sie sich und ihre Kinder kaum ernähren. In Spanien kann man mit dem Mindestlohn von 748 Euro[3]nicht mal die Miete einer Einzimmerwohnung in einer Großstadt bezahlen, denn diese liegt im Durchschnitt bei ca. 600 Euro.
Wenn man arbeitslos ist, kann man die üblichen Mieten nicht mehr bezahlen, da z.B. in Spanien die Arbeitslosenzahlungen zwischen 492 und 1384 Euros variieren und insgesamt nur 24 Monate lang gezahlt werden. Deshalb ist man zum Zusammenwohnen gezwungen, aber selbst dann muss man in den großen Städten mindestens 250 Euro monatlich für Miete hinlegen. In Portugal wurde im Rahmen der letzten Sparmaßnahmen der 13. und 14. Monatslohn bei den Staatsangestellten abgeschafft, damit sinkt ihre Kaufkraft um 20%, während 20% der Bevölkerung ohnehin schon mit weniger als 450 Euro im Monat auskommen müssen.
In Griechenland über die Runden zu kommen, ist noch schwieriger. Während der Mindestlohn in etwa dem Spaniens entspricht, sind seit einem Jahr die Löhne um ca. 10% gesunken. Infolge des letzten Sparprogramms wurden ca. 300.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in technische Arbeitslosigkeit geschickt, zudem wurden die Einkommen der Staatsangestellten im Durchschnitt um 25% gesenkt (einige von ihnen mussten Kürzungen von bis zu 50% hinnehmen). Einkommen, die über 5000 Euro liegen, müssen jetzt versteuert werden[4]. Mit welchen Schwierigkeiten des Überlebens die Menschen in Griechenland zu kämpfen haben, wird anhand einer Zahl deutlich: Seit Anfang 2010 ist der Privatkonsum ca. 20% durchschnittlich zurückgegangen.[5]
Aber nicht nur auf dem alten Kontinent wird es immer schwerer über die Runden zu kommen. In den USA wurde im August 2011 berichtet, dass 45.7 Millionen von 311 Millionen Einwohnern zum Überleben dazu gezwungen sind, von staatlichen Institutionen[6]Lebensmittelgutscheine im Wert von 30 Dollar wöchentlich zu erbetteln. Der Umfang der Massenentlassungen nimmt zu. So hat zum Beispiel die Bank of America 30.000, Cisco 6500 Stellenstreichungen angekündigt. Und die Liste der Firmen, die Stellenabbau angekündigt haben, wird sowohl in den USA als auch in Europa immer länger.
Die Zusammenstöße während des letzten Sommers zwischen den Republikanern und Demokraten hinsichtlich der Anhebung der Schuldengrenzen in den USA sind bekannt. Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Parteien gewaltige Ausgabenkürzungen befürworten, wobei Zehntausende Stellen gestrichen werden sollen. Darüber hinaus sind in vielen Bundesstaaten die Kommunen so stark verschuldet, dass viele von ihnen zahlungsunfähig geworden sind und ihr Personal auf die Straße setzen müssen. So wurden in Minnesota 22.000 Beschäftige aufgefordert, zu Hause zu bleiben; seit dem 4. Juli wurde ihnen kein Lohn mehr bezahlt.[7] Die gleiche Geschichte passiert in Harrisburg, Hauptstadt des Bundesstaates Pennsylvania, und auch in Central Falls, in der Nähe von Boston.
Vor solchen Verhältnissen stehen immer mehr Menschen in den entwickelten Ländern. In Großbritannien sind aufgrund der Sparprogramme die Einkommen schon um 3% gefallen. In allen europäischen Staaten (mit Ausnahme von Deutschland im Augenblick) stehen gewaltige Einschnitte an. Aber je mehr solche Programme umgesetzt werden und je mehr die Kaufkraft sinkt und je mehr infolgedessen die Überproduktion steigt und die Profite fallen, desto dringender werden neue Sparprogramme. Der Teufelskreis bewirkt, dass immer größere Teile der Bevölkerung in immer größere Armut abrutschen.
Die Auflösung des gesellschaftlichen Lebens
Die Zahlungsunfähigkeit der Kommunen in den USA hat dazu geführt, dass eine Reihe von Dienstleistungen, vor allem viele im Gesundheitswesen eingestellt wurden. Das Geld fehlt, um die Verträge von vielen Krankenpflegern und Ärzten zu verlängern. Das bedeutet, dass der Bankrott des Kapitalismus neben dadurch ausgelösten Zunahme der Verarmung, dabei ist, die ‚normale Funktionsweise# der Gesellschaft zu blockieren. Ebenso wie in den USA haben die Krankenhäuser in Spanien in Barcelona wegen der Kürzungen im Gesundheitswesen beschlossen, die Einrichtungen der Notaufnahme und der Operationssäle stundenweise während der Woche zu schließen. Mit anderen Worten – wenn die Menschen der Stadt plötzlich erkranken oder ernsthaft verletzt werden, müssen sie wohl die Uhrzeit auswählen, wenn sie zur Notaufnahme gebracht werden!
Die Gesellschaft ist mittlerweile in Griechenland am meisten blockiert. Es wird berichtet, dass nunmehr viele Firmen geschlossen haben, weil sie ihren Beschäftigten keine Löhne mehr auszahlen können; Staatsangestellten oder Beschäftigte aus Betrieben im Umkreis des Staates erhalten seit Monaten nicht mehr ihre Löhne, in Schulen werden keine Schulbücher mehr ausgeliefert,[8] usw.
In dem Maße wie sich die Armut ausdehnt, spitzt sich ebenso die Desorganisierung der Institutionen und Betriebe, die für das normale Funktionieren der Gesellschaft notwendig sind, zu. Der Kapitalismus erweist sich jeden Tag als unfähiger, das Überleben der Menschheit sicherzustellen. Vitaz, 26.10.2011
[1] http ://lexpansion.lexpress.fr/economie/le-taux-de-chomage-officiel-atteint-16-5-engrece_266257.html
[5] http ://cib.natixis.com/flushdoc.aspx ?id=60259
[6] Le Monde 7-8 août 2011. Rund 20,5 Millionen Menschen liegen mit ihrem Einkommen 50 Prozent unter der offiziellen Armutsgrenze. Sie leben von weniger als 5.570 Dollar im Jahr, beziehungsweise als vierköpfige Familie von weniger als 11.157 Dollar. 6,7 Prozent ist der höchste Wert, den die Zensusbehörde seit Beginn der Erhebungen vor 35 Jahren ermittelt hat.
[8] http ://www.info-grece.com/agora.php [5] ?read,28,40283
Vorbemerkung: Der Artikel wurde geschrieben bevor die OccupyWallstreet-Bewegung in den USA anfing. Deshalb konnten wir deren Einschätzung in diesem Artikel nicht mit berücksichtigen. In der Zwischenzeit haben wir einen separaten Artikel dazu veröffentlicht,https://de.internationalism.org/node/2181 [8])
Im letzten Editorial unserer Internationalen Revue Nr. 146 (englische, französische, spanische Ausgabe) haben wir über die Kämpfe in Spanien berichtet[1]. Seitdem hat sich das Beispiel dieser Kämpfe weiter auf Griechenland und Israel ausgedehnt[2]. In diesem Artikel wollen wir die Lehren dieser Bewegung ziehen und die Perspektiven untersuchen, die sich aus dem Bankrott des Kapitalismus und der brutalen Angriffe gegen die Arbeiterklasse und die große Mehrzahl der Weltbevölkerung ergeben.
Um diese zu begreifen muss man kategorisch die immediatistische und empiristische Methode, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorherrscht, verwerfen. Diese untersucht nämlich jedes einzelne Ereignis isoliert, außerhalb des historischen Kontextes und durch eine Begrenzung auf das Land, in dem diese stattfinden. Diese photographische Herangehensweise ist eine Widerspiegelung des ideologischen Niedergangs der Kapitalistenklasse, denn „Das einzige, was diese Klasse der Gesellschaft insgesamt anbieten kann, besteht darin, von einem Tag zum nächsten, ohne Hoffnung auf Erfolg, dem unaufhaltsamen Zusammenbruch der kapitalistischen Produktionsweise zu widerstehen.“(Manifest der IKS, 1989)[3].
Eine Photographie kann uns eine glückliche, lächelnde Person zeigen, aber solch ein Photo kann auch einen anderen Eindruck verbergen, wenn dieselbe Person nur wenige Sekunden zuvor ein ängstliches, besorgtes Gesicht macht. Wir brauchen eine Methode zur Einschätzung einer sozialen Bewegung. Man kann sie nur verstehen, indem man sie geschichtlich einordnet und untersucht, auf welchem Hintergrund sie entstanden ist und auf welche zukünftige Entwicklung sie hinweist. Man muss solche Bewegungen in einem weltweiten Kontext einordnen und sie nicht in dem national begrenzten Rahmen sehen, in dem sie entstehen. Und vor allem, sie müssen in ihrer Dynamik begriffen werden, nicht als das, was sie zu einem gegebenen Zeitpunkt sind, sondern was sie aufgrund der Tendenzen, Kräfte und Perspektiven werden können, die sie beinhalten und die früher oder später an die Oberfläche dringen werden.
Ist die Arbeiterklasse dazu in der Lage, auf die Krise des Kapitalismus zu reagieren?
Wir haben zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen zweiteiligen Artikel « Warum hat die Arbeiterklasse den Kapitalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht überwunden? » veröffentlicht[4]. Wir haben in diesem Artikel daran erinnert, dass die kommunistische Revolution nicht automatisch eintreten wird und dass ihr Zustandekommen von dem Zusammenwirken zweier Faktoren abhängt, den objektiven und subjektiven. Der objektive Faktor ist durch die Dekadenz des Kapitalismus gegeben[5] und durch die Entwicklung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch offensichtlich wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch andere Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen[6]. Der subjektive Faktor hängt mit dem kollektiven und bewussten Handeln des Proletariats zusammen.
Der Artikel zeigt auf, dass die Arbeiterklasse die Herausforderungen der Geschichte hat vorübergehen lassen. Bei der ersten Herausforderung, im 1. Weltkrieg, scheiterte der Versuch einer Reaktion durch eine Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1917-23. Bei der zweiten Herausforderung – der großen Depression von 1929 – trat die Arbeiterklasse als autonome Klasse nicht in Erscheinung. Und bei der dritten – dem 2. Weltkrieg – war die Arbeiterklasse nicht nur abwesend, sondern sie glaubte gar, dass die Demokratie und der Wohlfahrtstaat, diese beiden von den Siegermächten verbreiteten Mythen, einen Sieg für sie bedeuteten. Als die Krise Ende der 1960er Jahre wieder aufbrach, „hatte das Proletariat sich der Herausforderung zwar gestellt, (…), aber gleichzeitig konnte man die Vielzahl von Hindernissen sehen, vor denen es steht und die bislang seinen Weg zur proletarischen Revolution behindert haben“[7]. Diese Bremsen wirkten erneut während eines neuen Ereignisses welthistorischer Bedeutung: dem Zusammenbruch der sogenannten ‘kommunistischen’ Regime 1989, bei denen sie nicht nur keine aktive Rolle spielte, sondern bei denen sie zur Zielscheibe einer gewaltigen antikommunistischen Kampagne wurde, welche einen Rückgang ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft auslöste.
Was wir als „die fünfte Herausforderung“ der Geschichte bezeichnen können, begann 2007. Die immer offener werdende Krise offenbart das praktisch endgültige Scheitern der Politik des Kapitalismus, seine unüberwindbare Wirtschaftskrise in den Griff zu kriegen. Im Sommer 2011 wurde offensichtlich, dass die gewaltigen Geldspritzen, die in die Wirtschaft gepumpt wurden, den Aderlass nicht aufhalten können und der Kapitalismus in eine große Depression hineinrutscht, deren Ausmaß viel schlimmer sein wird als die von 1929[8].
Aber in einer ersten Phase und trotz der Schläge, die das Proletariat einstecken musste, scheint das Proletariat erneut abwesend zu sein. Wir hatten solch eine Möglichkeit auf unserem 18. Internationalen Kongress (2009) ins Auge gefasst: „Doch zunächst werden es aller Voraussicht nach verzweifelte und vergleichsweise isolierte Kämpfe sein, auch wenn ihnen andere Teile der Arbeiterklasse ehrliche Sympathie entgegenbringen. Selbst wenn es also in der nächsten Zeit keine bedeutende Antwort der Arbeiterklasse auf die Angriffe gibt, dürfen wir nicht denken, dass sie aufgehört habe, für die Verteidigung ihrer Interessen zu kämpfen. Erst in einer zweiten Phase, wenn sie in der Lage sein wird, den Erpressungen der Bourgeoisie zu widerstehen, wenn sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass nur der vereinte und solidarische Kampf die brutalen Angriffe der herrschenden Klasse bremsen kann - namentlich wenn diese versuchen wird, die gewaltigen Budgetdefizite, die gegenwärtig durch die Rettungspläne zugunsten der Banken und durch die„Konjunkturprogramme" angehäuft werden, von allen ArbeiterInnen bezahlen zulassen -, erst dann werden sich Arbeiterkämpfe in größerem Ausmaß entwickeln können.“[9]
Die gegenwärtigen Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland deuten darauf hin, dass die Arbeiterklasse anfängt, sich dieser « fünften Herausforderung der Geschichte zu stellen ». Sie fängt damit an, sich darauf vorzubereiten, die Mittel zu entwickeln, um einen Sieg zu erlangen.[10]
In dem oben erwähnten Artikel haben wir hervorgehoben, dass die beiden Stützpfeiler, auf denen der Kapitalismus, zumindest in den zentralen Ländern, ruhte, um die Arbeiterklasse im Griff zu halten, die Demokratie und der sogenannte Wohlfahrtstaat waren. Die drei gegenwärtigen Bewegungen haben deutlich werden lassen, dass diese Stützpfeiler langsam infrage gestellt werden ; obwohl all dies noch sehr konfus geschieht, wird diese Infragestellung durch die katastrophale Entwicklung der Krise beschleunigt.
Die Infragestellung der Demokratie
Die Wut auf die Politiker im Allgemeinen und auf die Demokratie ist in den drei Bewegungen zum Vorschein getreten, wie auch die Empörung über die Tatsache, dass die Reichen und ihre politischen Anhängsel sich immer mehr bereichern und immer mehr bestechlich werden, während der Großteil der Bevölkerung wie eine Ware im Dienst der skandalösen Profite der ausbeutenden Minderheit gesehen wird ; eine Ware, die in den Mülleimer geworfen wird, sobald die « Geschäfte nicht gut laufen ». Auch die drastischen Sparprogramme wurden an den Pranger gestellt. Von diesen Programmen spricht niemand während der Wahlkämpfe, die aber zur Hauptbeschäftigung der Gewählten werden.
Es liegt auf der Hand, dass diese Gefühle und Haltungen nicht neu sind: Man hat zum Beispiel während der letzten 30 Jahre immer über die Politiker geschimpft. Und solche Gefühle können auch in Sackgassen gelenkt werden, wie es die Kräfte der herrschenden Klasse gegenüber diesen drei Bewegungen immer wieder versuchen, indem sie Werbung machen für „eine partizipierende Demokratie“, eine „Erneuerung der Demokratie“ usw.
Aber neu und besonders wichtig ist, dass diese Themen, welche, ob man es will oder nicht, die bürgerliche Demokratie, den bürgerlichen Staat und deren Herrschaftsapparat infrage stellen, zum Diskussionspunkt in den zahlreichenden Vollversammlungen werden. Man kann nicht Individuen vergleichen, die ihre Abscheu alleine, atomisiert, passiv und resigniert zum Ausdruck bringen, mit denen, die so etwas gemeinsam in den Versammlungen äußern. Ungeachtet aller Fehler, Verwirrungen, Sackgassen, die dort unvermeidlich zum Ausdruck kommen und mit der größten Ausdauer und Nachdruck bekämpft werden müssen, liegt der Kern der Sache eigentlich in der Tatsache, dass die Sachen offen zur Sprache gebracht werden. Dies stellt eine wichtige Politisierung der großen Massen dar, und auch das Prinzip einer Infragestellung dieser Demokratie, die dem Kapitalismus während des letzten Jahrhunderts so wertvolle Dienste geleistet hat.
Das Ende des sogenannten „Wohlfahrtstaats“
Nach dem 2. Weltkrieg baute der Kapitalismus das auf, was als „Wohlfahrtstaat“ bekannt wurde [11]. Dieser stellte eine der Hauptstützen der kapitalistischen Herrschaft während der letzten 70 Jahre dar. Er hat die Illusion geschaffen, der Kapitalismus habe die brutalsten Aspekte seiner Wirklichkeit überwunden: der Wohlfahrtstaat garantiere eine Sicherheit gegenüber der Arbeitslosigkeit, den Renten, der kostenlosen Gesundheitsversorgung und Bildung, Sozialwohnungen usw.
Dieser „Sozialstaat“, der die politische Demokratie ergänzt, ist in den letzten 25 Jahren schon stark zurückgebaut worden, um bald völlig zu verschwinden. In Griechenland, Spanien oder Israel (wo vor allem die Wohnungsnot die Leute zu Protesten angetrieben hat) stand die Angst vor der Abschaffung der sozialen Mindeststandards im Mittelpunkt der Mobilisierungen. Es liegt auf der Hand, dass die Herrschenden versucht haben, diese Proteste in „Reformen“ der Verfassung, der Verabschiedung von Gesetzen, die diese Leistungen „garantieren“ usw. umzuwandeln. Aber die Welle wachsender Unzufriedenheit wird dazu beitragen, all diese Schutzwälle, die die Arbeiterklasse zurückhalten sollen, zu untergraben.
Die Bewegung der Empörten – ein Höhepunkt von acht Jahren Kämpfen
Der Krebs des Pessimismus beherrscht die gegenwärtige Ideologie und dringt ebenfalls in die Arbeiterklasse und ihre revolutionären Minderheiten ein. Wie oben erwähnt hat die Arbeiterklasse alle ihre Herausforderungen, vor welche sie die Geschichte während eines Jahrhunderts kapitalistischen Niedergangs gestellt hat, nicht angenommen. Deshalb haben sich in ihren Reihen beängstigende Zweifel an ihrer eigenen Klassenidentität und ihrer Fähigkeiten breit gemacht, die so weit gehen, dass sogar bei Ausdrücken von Kampfbereitschaft einige den Begriff „Arbeiterklasse“ verwerfen[12]. Diese Skepsis ist umso stärker, da sie durch den Zerfall des Kapitalismus noch vergrößert wird[13]: Hoffnungslosigkeit, fehlende konkrete Projekte hinsichtlich der Zukunft begünstigen Zögern und Misstrauen gegenüber jeder Perspektive kollektiven Handelns.
Die Bewegungen in Spanien, Israel und Griechenland stellen ungeachtet all ihrer Schwächen einen Anfang wirksamer Mittel gegen das Krebsgeschwür breit gestreuter Skepsis dar. Allein das Auftreten von Kämpfen und die Kontinuität, die diese darstellen, sowie die darin zum Vorschein kommende Bewusstseinsentwicklung seit 2003 bewirkt dies[14].
Sie sind keine Bewegung, die wie ein Blitz aus heiterem Himmel erscheint, sondern eine langsame Kondensierung während der letzten acht Jahre von kleinen Wolken und Sprühregen, die jetzt eine neue Qualität erreicht haben.
Die Arbeiterklasse erholt sich seit 2003 von dem langen Zeitraum des Rückflusses ihres Bewusstseins und ihrer Kampfbereitschaft, die sie nach den Ereignissen von 1989 hatte einstecken müssen. Dieser Prozess entwickelt sich aber nur langsam, mit Widersprüchen und gewunden. Dies sieht man anhand:
- einer Reihe von ziemlich isolierten Kämpfen in verschiedenen Ländern sowohl im Zentrum als auch in der Peripherie, die von Beispielen geprägt sind, welche einen „Wegweiser für die Zukunft“ darstellen: die Suche nach Solidarität, Versuche der Selbstorganisierung, das Auftauchen von neuen Generationen, Nachdenken über die Zukunft;
- eine Entwicklung von internationalistischen Minderheiten, die eine revolutionäre Kohärenz suchen, sich viele Fragen stellen und Kontakt untereinander suchen, debattieren, Perspektiven aufzeigen…
2006 brachen zwei Bewegungen aus – der Kampf gegen den CPE in Frankreich[15] und der massive Streik der Beschäftigten in Vigo, Spanien, welche trotz der räumlichen Trennung voneinander, der unterschiedlichen Bedingungen oder der Altersunterschiede der Beteiligten ähnliche Züge aufwiesen : Vollversammlungen, Ausdehnung auf andere Bereiche, Massendemonstrationen… Es war wie ein erster Warnschuss, der aber folgenlos blieb [16].
Ein Jahr später gab es in Ägypten Keime eines Massenstreiks, der von einer großen Textilfabrik ausging. Anfang 2008 kam es in einer Reihe von Ländern, sowohl in der Peripherie als auch im Zentrum des Kapitalismus zu gleichzeitigen, aber voneinander isolierten Kämpfen. Schließlich traten andere Bewegungen hinzu, wie die sich in 33 Ländern entwickelnden Hungerrevolten im ersten Quartal 2008. In Ägypten wurden diese unterstützt und teilweise von der Arbeiterklasse getragen. Ende 2008 revoltierte die Arbeiterjugend in Griechenland, die von einem Teil der Arbeiterklasse Rückendeckung erhielt. Auch gab es Keime internationalistischer Reaktionen 2009 in Lindsey (Großbritannien) und eine explosive Streikwelle im Süden Chinas (im Juni).
Nach dem anfänglichen Zurückweichen des Proletariats gegenüber den ersten Auswirkungen der Krise fing das Proletariat wie erwähnt an, entschlossener zu kämpfen und 2010 wurde erneut Frankreich von einer massiven Protestbewegung gegen die Rentenreform erschüttert. In dieser Bewegung kam es zu ersten Versuchen der Bildung von branchenübergreifenden Vollversammlungen. Im Dezember protestierten die Jugendlichen in Großbritannien gegen die brutale Erhöhung der Studiengebühren. 2011 schließlich brachen in Ägypten und Tunesien die großen Sozialrevolten aus. Die Kämpfe der Arbeiterklasse schienen wieder an Fahrt zu gewinnen, um einen neuen Sprung nach vorne zu machen: die Bewegung der Empörten in Spanien, dann Griechenland und Israel.
Handelt es sich um eine Bewegung der Arbeiterklasse?
Diese drei Bewegungen können nur in dem eben erwähnten Zusammenhang begriffen werden. Sie sind wie ein erstes Teil in einem Puzzle, das all die Teile der letzten acht Jahre zusammenfasst. Aber die Skepsis bleibt weiterhin sehr stark und viele fragen sich: Kann man von einer Klassenbewegung der Arbeiterklasse sprechen, da diese nicht als solche auftritt und auch keine Streiks oder Versammlungen am Arbeitsplatz gemeldet wurden?
Die Bewegung nennt sich „die Empörten“, eine sehr treffende Bezeichnung aus der Sicht der Arbeiterklasse[17], aber dieser Begriff lässt nicht sofort deutlich werden, welche Kraft sie in sich birgt, da sie sich nicht direkt mit der Arbeiterklasse identifiziert. Zwei Faktoren lassen sie im Wesentlichen als eine Sozialrevolte erscheinen:
Der Verlust der Klassenidentität
Die Arbeiterklasse hat einen herben Rückschlag erlitten hinsichtlich ihres eigenen Identitätsgefühls : „Die ohrenbetäubende Kampagne der Bourgeoisie über das „Ende des Kommunismus", den „endgültigen Sieg des liberalen und demokratischen Kapitalismus" und das „Ende des Klassenkampfes", ja der Arbeiterklasse selbst haben dem Proletariat auf der Ebene des Bewusstseins und der Kampfbereitschaft einen herben Rückschlag versetzt. Dieser Rückschlag war nachhaltig und dauerte über zehn Jahre. Er hat eine ganze Generation von Arbeitern geprägt und Ratlosigkeit, ja selbst Demoralisierung ausgelöst. Im Gegenteil hatten diese Ereignisse ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit in der Arbeiterklasse hinterlassen, was das Selbstvertrauen und die Kampfbereitschaft weiter sinken ließ“ (17.Kongress der IKS, 2007, Resolution zur internationalen Situation).[18]
Dies erklärt zum Teil, weshalb die Teilnahme der Arbeiterklasse an diesen Bewegungen nicht im Vordergrund stand, sondern dass sich eher Arbeiter als Individuen beteiligten (Beschäftigte, Arbeitslose, Studenten, Rentner…), die nach einer Klärung suchen, sich gefühlsmäßig beteiligen, die aber nicht über die Kraft, den Zusammenhalt und die Klarheit verfügen, die man erlangt, wenn man kollektiv als Klasse handelt.
Aus diesem Identitätsverlust geht hervor, dass das Programm, die Theorie, die Traditionen, die Methoden des Proletariats von der großen Mehrheit der Arbeiter nicht als zu ihrer Klasse gehörig betrachtet werden. Sprache, Handlungsformen, Symbole – all das scheint bei der Bewegung der Empörten auf andere Quellen zurückzuführen zu sein. Dies ist eine gefährliche Schwäche, die geduldig bekämpft werden muss, damit es zu einer kritischen Wiederaneignung des theoretischen Erbes, der Erfahrung, der Traditionen der Arbeiterbewegung kommt, die diese während der letzten zwei Jahrhunderte erworben hat.
Die Anwesenheit von nicht-proletarischen Schichten
Unter den Empörten gibt es viele Mitglieder nicht-proletarischer Schichten, insbesondere eine immer stärker lohnabhängig werdende Mittelschicht. Wie wir in unserem Artikel zu Israel schrieben:
„Eine andere Methode besteht darin, sie als eine Bewegung des „Mittelstandes“ zu etikettieren. Es trifft zu, dass es sich, wie bei den anderen Bewegungen, hier um einen breiten sozialen Aufstand handelt, der die Unzufriedenheit vieler verschiedener Gesellschaftsschichten ausdrückt, vom kleinen Geschäftsmann bis zum Produktionsarbeiter, alle von ihnen von der Weltwirtschaftskrise, von der wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm und von der Verschärfung der Lebensbedingungen durch den unersättlichen Hunger der Kriegswirtschaft in einem Land wie Israel in Mitleidenschaft gezogen. Doch der „Mittelstand“ ist ein vager, alles und nichts sagender Begriff, der sich auf jedermann mit einer Ausbildung oder einem Job und – in Israel wie in Nordafrika, Spanien oder Griechenland – auf die wachsende Zahl von ausgebildeten jungen Menschen bezieht, die in die Reihen des Proletariats gedrängt werden und in schlecht bezahlten und unqualifizierten Jobs arbeiten, wenn sie denn welche finden.“ (Proteste in Israel: „Mubarak, Assad, Netanjahu“, IKSonline 2011)[19].
Obgleich die Bewegung als sehr vage und ungenau definiert erscheint, stellt dies ihren Klassencharakter nicht infrage, vor allem wenn wir die Entwicklung in ihrer Dynamik betrachten, d.h. im Hinblick auf die Zukunft, wie es die GenossInnen der TPTG gegenüber der Bewegung in Griechenland tun. „Was die Politiker aller Couleur bei dieser Bewegung der Versammlungen besorgt, sind die wachsende Wut und die Empörung der ArbeiterInnen (und der kleinbürgerlichen Schichten), und dass diese nicht mehr mittels der politischen Parteien und Gewerkschaften zum Ausdruck kommen. Sie sind also nicht mehr so kontrollierbar und es ist besonders gefährlich für das repräsentative System der politischen Parteienlandschaft und der Gewerkschaften im Allgemeinen[20].“
Die Arbeiterklasse ist in dieser Bewegung nicht als führende Kraft zu erkennen, auch gibt es keine spürbare Mobilisierung von den Arbeitsplätzen ausgehend. Man spürt vielmehr die Präsenz der Arbeiterklasse anhand der Dynamik des Suchens, der Klärung, der Vorbereitung des gesellschaftlichen Nährbodens, der Erkenntnis, dass wichtige Kämpfe auf uns zukommen. Darin steckt seine Bedeutung, auch wenn dies nur ein sehr kleiner, sehr unsicherer Schritt ist. Hinsichtlich Griechenlands meinen die GenossInnen von TPTG, dass die Bewegung „ein Ausdruck der Krise der Beziehungen zwischen den Klassen und der Politik im Allgemeinen darstellt. Kein anderer Kampf hat sich während der letzten Jahrzehnte so zweideutig und explosiv entwickelt“[21], und gegenüber Israel äußerte sich ein Journalist folgendermaßen : „Anders als in Syrien oder Libyen, wo Diktatoren ihre eigenen Bürger zu Hunderten abschlachten, war es in Israel nie die Unterdrückung, die die Gesellschaftsordnung zusammenhielt, soweit es die jüdische Gesellschaft betraf. Es war die Indoktrination – eine vorherrschende Ideologie, um einen Begriff zu verwenden, der von kritischen Theoretikern bevorzugt wird. Und es war diese kulturelle Ordnung, die in dieser Protestwelle Dellen abbekam. Erstmals erkannte der Kern des israelischen Mittelstandes – es ist zu früh, um einzuschätzen, wie groß diese Gruppe ist -, dass er kein Problem mit anderen Israelis oder mit den Arabern oder mit bestimmten Politikern hat, sondern mit der gesamten Gesellschaftsordnung, mit dem gesamten System. In diesem Sinn ist es ein einmaliges Ereignis in der Geschichte Israels.“ [22]
Die Merkmale zukünftiger Kämpfe
Aus dieser Sicht können wir die Merkmale dieser Kämpfe als mögliche Charakteristiken zukünftiger Kämpfe betrachten, welche diese jeweils kritisch aufgreifen und auf eine höhere Stufe stellen müssen:
- neue Generationen der Arbeiterklasse treten in den Kampf ein. Dabei gibt es aber im Vergleich zu der 1968er Bewegung einen wichtigen Unterschied: Während damals die Jugend meinte, man müsse wieder bei Null anfangen und die „Alten“ seien „besiegt und verbürgerlicht“, gibt es heute Ansätze für einen vereinten Kampf verschiedener Generationen der Arbeiterklasse.
- direkte Aktionen der Massen. Die Kämpfe haben sich auf die Straße ausgedehnt, Plätze sind besetzt worden. Die Ausgebeuteten sind dort direkt zusammengekommen, man konnte zusammenleben, diskutieren und handeln.
- Der Beginn einer Politisierung: ungeachtet der falschen Antworten, die heute und später gegeben werden, ist es wichtig, dass die großen Massen anfangen, sich direkt und aktiv mit den großen Fragen der Gesellschaft zu befassen. Das ist der Anfang ihrer Politisierung als Klasse.
- Die Versammlungen: Sie sind mit der proletarischen Tradition der Arbeiterräte von 1905 und 1917 in Russland verbunden, die sich während der Welle revolutionärer Kämpfe zwischen 1927-23 auf Deutschland und andere Länder ausdehnte. Sie sind eine Waffe für die Bildung der Einheit, der Entwicklung der Solidarität, der Fähigkeit zur Bewusstseinsentwicklung und der Entscheidungen der Arbeitermassen. Der in Spanien sehr populäre Slogan „Alle Macht den Versammlungen“ spiegelt die aufkeimende zentrale Reflektion über Fragen wie den Staat, Doppelmacht usw. wider.
- Die Debattenkultur: Die Klarheit, welche die Entschlossenheit und das Heldentum der proletarischen Massen inspiriert, kann nicht dekretiert werden. Genauso wenig ist sie das Ergebnis einer Indoktrinierung durch eine kleine Minderheit, die die Wahrheit „gepachtet“ hätte. Sie entsteht durch das Zusammenfließen von Erfahrung, dem Kampf und insbesondere der Debatten. Die Debattenkultur war bei diesen drei Bewegungen deutlich spürbar: alles wurde zur Diskussion gestellt. Alles was politisch, sozial, ökonomisch, menschlich ist, wurde durch diese gewaltigen improvisierten Agoras kritisch überprüft. Wie wir in der Einleitung zum Artikel der GenossInnen der TPTG aus Griechenland schrieben, ist dies von besonderer Bedeutung: „Die entschlossenen Bemühungen, um zur Entstehung dessen beizutragen, was die GenossInnen der TPTG „öffentlichen proletarischen Raum“ bezeichnen, welche es einer ständig wachsenden Zahl von Mitgliedern unserer Klasse ermöglichen wird, nicht nur den kapitalistischen Angriffen gegen unsere Lebensbedingungen entgegenzutreten, sondern auch die Theorien und Aktionen zu entfalten, die uns allen einen neue Art des Lebens ermöglichen“[23];
- die Herangehensweise an die Frage der Gewalt. „Seit jeher war das Proletariat der extremen Gewalt von Seiten der Bourgeoisie ausgesetzt, und im Falle einer versuchten Interessensverteidigung auch der Repression, sowohl im imperialistischen Krieg als auch durch die alltägliche Gewalt der Ausbeutung. Im Gegensatz zu den ausbeutenden Klassen ist das Proletariat keine gewalttätige Klasse von sich aus. Wenn auch das Proletariat Gewalt anwenden muss, und unter Umständen sehr entschlossen, so wird es ich nicht mit ihr identifizieren. Die notwendige Gewalt zum Umsturz des Kapitalismus muss in den Händen des Proletariats eine bewusste und organisierte Gewalt sein. Ihr muss ein Prozess des Bewusstseins und der Organisation anhand verschiedener Kämpfe gegen die Ausbeutung vorangehen.“ [24] Wie während der Bewegung der Studenten 2006 waren die Herrschenden mehrere Male geneigt gewesen, die Bewegung der Empörten (insbesondere in Spanien) in die Falle gewalttätiger Zusammenstöße mit der Polizei zu locken, als die Bewegung zerstreut und schwach war, um diese somit zu diskreditieren und deren Isolierung zu erleichtern. Diese Fallen konnten vermieden werden und ein aktives Nachdenken über die Frage der Gewalt hat eingesetzt.[25]
Schwächen und Verwirrungen, die bekämpft werden müssen
Wir wollen diese Bewegungen überhaupt nicht glorifizieren. Nichts ist der marxistischen Methode fremder als einen entschlossenen Kampf, so wichtig und reichhaltig er auch sein mag, als ein endgültiges, abgeschlossenes und monolithisches Modell darzustellen, das man wortwörtlich nachahmen könnte. Wir sind uns dessen Schwächen und Schwierigkeiten bewusst und sehen diese klar vor uns.
Die Anwesenheit eines „demokratischen Flügels“
Diese drängt auf die Verwirklichung einer « echten Demokratie ». Dieses Projekt wird von mehreren Richtungen vertreten, sogar von der Rechten in Griechenland. Es liegt auf der Hand, dass die Medien und Politiker sich auf diesen Flügel stützen, um die gesamte Bewegung dazu zu drängen, sich damit zu identifizieren.
Die Revolutionäre müssen energisch all die Verschleierungen, irreführenden Maßnahmen, die Scheinargumente dieser Tendenz bekämpfen. Warum gibt es aber noch eine starke Neigung, sich nach all den Jahren von Täuschungen, Irreführungen und Lügen von den Verlockungen der Demokratie verführen zu lassen? Man kann drei Gründe anführen. Der erste liegt in dem Gewicht der nicht-proletarischen Schichten, die sehr anfällig sind für die demokratischen und interklassischen Verschleierungen. Der zweite Grund liegt in der Macht der in der Arbeiterklasse noch sehr verbreiteten demokratischen Verwirrungen und Illusionen, die besonders unter den Jugendlichen noch stark sind, weil sie noch nicht über viel politische Erfahrung verfügen. Der dritte Grund liegt in dem Druck, den der gesellschaftliche und ideologische Zerfall des Kapitalismus ausübt, welche die Tendenz begünstigt, sich in ein Gebilde « über den Klassen und den Konflikten » zu flüchten, d.h. den Staat, der angeblich eine gewisse Ordnung, Gerechtigkeit und Vermittlung anbieten könne.
Aber es gibt noch einen tieferliegenden Grund, auf den wir hinweisen müssen. Im „18. Brumaire Louis Bonapartes“ stellte Marx fest: „Proletarische Revolutionen dagegen, (…) kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eigenen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen...“ (MEW 8, S. 118).[26] Heute deckt die ganze Entwicklung den Bankrott des Kapitalismus auf, die Notwendigkeit ihn zu überwinden und eine neue Gesellschaft zu errichten. Aber in einer Arbeiterklasse, die an ihren eigenen Fähigkeiten zweifelt und ihre Klassenidentität noch nicht wieder hergestellt hat, bringt dies jetzt und noch eine Zeitlang die Tendenz hervor, sich an morsche Äste zu klammern, an falsche « Reformen » und Hoffnung zu setzen auf eine „Demokratisierung“, selbst wenn man daran Zweifel hegt. All dies bietet der herrschenden Klasse noch einen Spielraum, bei dem sie Spaltung und Demoralisierung vorantreiben möchte, und es somit der Arbeiterklasse noch schwerer macht, dieses Selbstvertrauen in die eigenen Kräfte und ihre Klassenidentität zu entwickeln.
Das Gift des Apolitischen
Es handelt sich um eine alte Schwäche, unter der das Proletariat seit 1968 leidet und die ihren Ursprung in der gewaltigen Enttäuschung und der tiefen Skepsis hat, welche die stalinistische und sozialdemokratische Konterrevolution hervorgerufen hatten, wodurch das Gefühl entsteht, dass jede politische Option, auch diejenige, welche sich auf die Arbeiterklasse beruft, in ihrem Kern schon den Keim des Verrats und der Unterdrückung enthalte. Daraus schlagen die Kräfte der herrschenden Klasse Profit, welche durch die Vertuschung ihrer eigenen Identität und durch das Aufzwingen der Fiktion einer Intervention als « freie Bürger » in der Bewegung aktiv sind und dort die Kontrolle über die Versammlungen an sich reißen und die Bewegung von Innen her sabotieren wollen. Die GenossInnen der TPTG zeigen dies sehr klar auf: „Am Anfang herrschte ein Gemeinsinn bei den Anstrengungen der Selbstorganisierung der Besetzung des Platzes und offiziell wurden die politischen Parteien nicht geduldet. Aber die linken Gruppen und insbesondere diejenigen, die aus SYRIZA stammen (eine Koalition der radikalen Linken), beteiligten sich schnell an den Versammlungen des Syntagma und besetzten wichtige Stellungen in der Gruppe, die gebildet worden war, um die Besetzung des Syntagma-Platzes zu betreiben, insbesondere im „Unterstützungssekretariat“ und in der „Kommunikationsgruppe“. Diese beiden Gruppen sind am wichtigsten, weil sie die Tagesordnungen der Versammlungen festlegen wie auch die Durchführung der Diskussionen leiten. Man konnte beobachten, dass diese Leute ihre politisch Zugehörigkeit nicht an den Tag legten und dass sie als Einzelpersonen auftraten“. [27]
Die Gefahr des Nationalismus
Diese Gefahr ist in Griechenland und Israel größer. Wie die GenossInnen der TPTG bemerken, „herrscht der Nationalismus (insbesondere in seiner populistischen Form) vor; er wird gleichzeitig von den verschiedenen Cliquen der Extremen Rechten und den linken und linksextremen Parteien begünstigt. Selbst für viele Arbeiter und Kleinbürger, die von der Krise betroffen sind, aber keiner politischen Partei angehören, erscheint die nationale Identität als eine letzte imaginäre Zufluchtsstätte, während alles andere dabei ist zusammenzubrechen. Hinter den Slogans « gegen die Regierung, die sich ans Ausland verkauft hat“ oder „für das Wohl des Landes“, „die nationale Souveränität“, erscheint die Forderung einer „neuen Verfassung als magische und vereinigende Lösung“. [28]
Dieser Hinweis der GenossInnen ist sehr richtig und tiefsinnig. Der Identitätsverlust und das Vertrauen in die Arbeiterklasse in ihre eigenen Kräfte, der langsame Prozess des Kampfes der Arbeiter auf der ganzen Welt begünstigt die Tendenz, sich „an etwas Nationalem“ festzuklammern. Dies ist aber nur eine utopische Flucht vor einer feindseligen Welt, die voll von Unsicherheiten ist.
Die Folgen der Kürzungen im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich, das wahre Problem, das durch die Schwächung dieser Dienstleistungsbereiche entstanden ist, werden benutzt, um die Kämpfe um die nationalistischen Schranken der Forderung einer „guten Erziehung“ (denn sie würde uns auf dem Weltmarkt konkurrenzfähiger machen) und eines « Gesundheitswesens im Dienste aller Bürger » zu propagieren.
Die Angst und die Schwierigkeit, sich den Klassenkonfrontationen zu stellen
Deshalb wird die massive Mobilisierung der Arbeitslosen, der Prekären, der Arbeitslosenzentren usw. erschwert, was wiederum ein Zögern, Zweifel und eine Tendenz begünstigt, sich an « Versammlungen » festzuklammern, deren Teilnehmerzahl jeden Tag sinkt und deren « Einheit » in Wirklichkeit nur die in ihren Reihen aktiven bürgerlichen Kräfte begünstigt. Dadurch entsteht für die Herrschenden ein Spielraum, die damit alle möglichen Tricks zur Sabotage der Vollversammlungen von Innen heraus einsetzen können. Gerade dies prangern die GenossInnen der TPTG an : „Die Manipulation der großen Versammlung auf dem Syntagma-Platz (es gibt weitere in anderen Stadtvierteln Athens und anderen Städten) durch Mitglieder von Parteien oder von linken Organisationen, die aber nicht als solche auftreten, liegt auf der Hand und dies ist ein echtes Hindernis für die Ausrichtung der Kämpfe auf einer Klassenebene. Aber aufgrund der tiefgreifenden Legitimitätskrise des politischen Repräsentationssystems im Allgemeinen müssen diese auch ihre eigene politische Identität verbergen und ein – nicht immer erfolgreich gelungenes - Gleichgewicht behalten zwischen allgemeinen und abstrakten Reden über die ‘Selbstbestimmung’, die ‘direkte Demokratie’, ‘kollektives Handeln’, ‘Antirassismus’ und ‘sozialen Wandel’ usw. und andererseits den extremen Nationalismus und das räuberische Verhalten einiger einzelner Mitglieder der extremen Rechten bändigen, die sich an den Versammlungen auf dem Platz beteiligten“.[29]
Der Zukunft mit klarem Kopf entgegensehen
Während es auf der Hand liegt, dass „der Kapitalismus überwunden werden muss, wenn die Menschheit überleben will“,[30] ist die Arbeiterklasse noch lange nicht dazu in der Lage, dieses Urteil zu vollstrecken. Die Bewegung der Empörten stellt einen kleinen Schritt in dieser Richtung dar.
In dem oben erwähnten zweiteiligen Artikel erwähnten wir, dass „einer der Gründe, weshalb die Vorhersagen der Revolutionäre in der Vergangenheit hinsichtlich des Ausgangs der Revolution nicht verwirklicht wurden, darin liegt, dass sie die Stärke der herrschenden Klasse unterschätzt haben, insbesondere deren politische Schlauheit.[31] Und diese Fähigkeit der Herrschenden, ihre politische Gerissenheit gegen die Kämpfe einzusetzen, ist heute spürbarer als je zuvor. So wurden zum Beispiel die Bewegungen der Empörten dieser drei Länder woanders sehr stark ausgeblendet; und wenn sie erwähnt wurden, dann nur mit der Version, dass sie eine „demokratische Erneuerung“ anstreben. Ein anderes Beispiel : die britische Bourgeoisie konnten die Unzufriedenheit ausschlachten, um die vorhandene Wut in einer nihilistischen Revolte enden zu lassen, die dann wiederum als Vorwand eingesetzt wurde, um die Repression zu verstärken und einschüchternd gegenüber jeder Reaktion der Klasse aufzutreten. [32]
Die Bewegungen der Empörten stellten eine erste Stufe dar in dem Sinne, da sie Schritte unternahmen, damit die Arbeiterklasse ihr Selbstvertrauen entwickelt und ihre eigene Klassenidentität aufbaut, aber dieses Ziel ist bei weitem noch nicht erreicht worden, denn dazu ist die Entwicklung von massiven Kämpfen auf einem direkt proletarischen Boden erforderlich, bei dem deutlich wird, dass die Arbeiterklasse in der Lage ist, gegenüber der Sackgasse des Kapitalismus den nicht-ausbeutenden Schichten eine revolutionäre Alternative anzubieten.
Wir wissen nicht, wie diese Perspektive umgesetzt werden kann, und wir bleiben wachsam gegenüber den Fähigkeiten und Initiativen der Massen, wie die vom 15. Mai in Spanien. Wir sind uns sicher, dass die internationale Ausdehnung der Kämpfe eine entscheidende Rolle dabei spielen wird.
Die drei Bewegungen haben den Keim eines internationalistischen Bewusstseins gepflanzt : während der Bewegung der Empörten in Spanien sagte man, dass die Bewegung inspiriert wurde durch den Tahrir-Platz in Ägypten[33]; sie strebte eine internationale Ausdehnung der Kämpfe an, auch wenn dies in der größten Konfusion geschah. Die Bewegungen in Israel und Griechenland erklärten ausdrücklich, dass sie dem Beispiel der Bewegung der Empörten in Spanien folgten. Die Demonstranten in Israel trugen Spruchbänder wie „Mubarak, Assad, Netanjahu, alle gleich“, was nicht nur eine beginnende Bewusstwerdung über den Feind aufzeigt, sondern auch ein embryonales Bewusstsein darüber, dass ihr Kampf mit dem der Ausgebeuteten der anderen Länder geführt werden muss und nicht gegen sie, wie es der Rahmen der nationalen Verteidigung verlangt.[34] „In Jaffna trugen Dutzende von arabischen und jüdischen Protestlern Schilder, auf denen auf Hebräisch und Arabisch zu lesen war: „Araber und Juden wollen erschwingliche Wohnungen“ und „Jaffna will nicht Angebote nur für die Reichen“. (…) In der City von Akku wie auch in Ostjerusalem, wo es anhaltende Proteste sowohl von Juden als auch von Arabern gegen Wohnungsräumungen Letzterer im nahegelegenen Sheikh Jarrah gibt, wurden gemeinsame jüdische und arabische Zeltlager errichtet. In Tel Aviv wurden Kontakte zu den Bewohnern der Flüchtlingslager in den besetzten Gebieten geknüpft, die die Zeltstädte besuchten und sich an den Diskussionen mit den Protestierenden beteiligten“.[35] Die Bewegungen in Ägypten und Tunesien wie in Israel haben eine neue Lage entstehen lassen. Dies geschah in einem Teil der Welt, der wahrscheinlich Hauptschauplatz der weltweiten imperialistischen Zusammenstöße ist. Wie wir in unserem Artikel schrieben: „Die jüngste internationale Welle von Revolten gegen die kapitalistische Sparpolitik öffnet die Tür zu einer anderen Lösung: die Solidarität aller Ausgebeuteten über religiöse oder nationale Spaltungen hinweg; Klassenkampf in allen Ländern mit dem ultimativen Ziel einer weltweiten Revolution, die die Negation der nationalen Grenzen und Staaten sein wird. Ein oder zwei Jahre zuvor wäre eine solche Perspektive für die meisten völlig utopisch gewesen. Heute betrachtet eine wachsende Zahl von Menschen die globale Revolution als eine realistische Perspektive gegenüber der kollabierenden Ordnung des globalen Kapitals.“[36]
Die drei Bewegungen haben zur Herausbildung eines proletarischen Flügels beigetragen. Sowohl in Griechenland als in Spanien aber auch in Israel[37]entstehen „proletarische Flügel“ auf der Suche nach Selbstorganisierung, nach einem unnachgiebigen Kampf auf der Grundlage von Klassenpositionen und dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus. Die Probleme wie auch das Potenzial und die Perspektiven dieser großen Minderheit können im Rahmen dieses Artikels nicht aufgegriffen werden. Sicher ist, dass dies eine entscheidende Waffe für die Arbeiterklasse ist, mit der sie ihre zukünftigen Kämpfe vorbereiten wird. C.Mir., 23.9.2011
[1] Cf. https://fr.internationalism.org/node/4752 [9]. Da der Artikel diese Erfahrung im Einzelnen aufgriff, werden wir hier seinen Inhalt nicht wiederholen.
[2] Siehe die Artikel über diese Bewegungenhttps://fr.internationalism.org/node/4776 [10].
[3] „Kommunistische Revolution oder Zerstörung der Menschheit“, Manifest des 9. Internationalen Kongresses der IKS, 1991
[4] Cf. Revue internationale nos 103 [11] et 104 [11]. Internationale Revue Nr. 103, 104, , engl., franz., span. Ausgabe,
[5] Zur Debatte um dieses wesentliche Konzept der Dekadenz des Kapitalismus siehe u.a. Revue internationale no 146, "Pour les révolutionnaires, la Grande Dépression confirme l'obsolescence du capitalisme [12]".
[6] Revue internationale no 103, "A [11] l'aube [11] du [11] xxi [11]e [11] siècle, [11]pourquoi [11] le [11] prolétariat [11] n'a [11] pas [11] encore [11] renversé [11] le [11]capitalisme ? [11]" : „Die zweite Bedingung der proletarischen Revolution besteht in der Entfaltung einer offenen Krise der bürgerlichen Gesellschaft, womit offenbart wird, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse durch neue Produktionsverhältnisse ersetzt werden müssen.“
[7] Revue internationale no 104, "A [13] l'aube [13] du [13] xxi [13]e [13] siècle, [13]pourquoi [13] le [13] prolétariat [13] n'a [13] pas [13] encore [13] renversé [13] le [13]capitalisme ? II [13]".
[8] Weltrevolution Nr. 168: "Die Weltwirtschaftskrise: Ein mörderischer Sommer [14]"
[9] Cf. Revue internationale no 138, "Résolution [15] sur [15] la [15]situation [15] internationale [15]".
[10] "Da die Arbeiterklasse innerhalb des Kapitalismus über keine ökonomische Basis verfügt, besteht ihre eigentliche Stärke abgesehen von ihrer Zahl und ihrer Organisation in der Fähigkeit, sich über das Wesen, die Ziele und die Mittel ihres Kampfes bewusst zu werden“. Revue internationale no 103, ebenda,
[11] „Die Verstaatlichungen und eine Reihe von gesellschaftlichen Maßnahmen (wie eine größere Kontrolle des Staates im Gesundheitswesen) sind vollkommen kapitalistische Maßnahmen (...). Die Kapitalisten haben ein ureigenes Interesse daran, dass die Arbeiter in gutem gesundheitlichem Zustand sind. (...) Aber diese kapitalistischen Maßnahmen werden als ‘Errungenschaften der Arbeiter’ dargestellt.“ Revue internationale no 104, ebenda.
[12] Wir können hier nicht näher darauf eingehen, warum die Arbeiterklasse die revolutionäre Klasse der Gesellschaft ist und warum ihr Kampf die Zukunft für alle nicht-ausbeutenden Schichten darstellt, eine brennende Frage, wie wir später bei der Bewegung der Empörten sehen werden. Siehe dazu unsere Artikel in Internationale Revue Nr. 14 & 15 „Wer kann die Welt verändern“.
[13] Internationale Revue Nr. 13, "DER ZERFALL: LETZTE PHASE DER DEKADENZ DES KAPITALISMUS [16]"
[14] Siehe dazu die Artikel zur Analyse des Klassenkampfes in Internationale Revue.
[15] IKS Online 2006, "Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006" [17]
[16] Die herrschende Klasse versucht diese Ereignisse zu verheimlichen. Die nihilistischen Revolten in den Vorstädten im November 2005 in Frankreich sind viel bekannter, selbst im politisierten Milieu, als die bewusste Bewegung der Studenten fünf Monate später.
[17] Empörung bedeutet weder Resignation noch Hass. Gegen die unerträgliche Entwicklung des Kapitalismus spiegelt Resignation eine Passivität wider, eine Tendenz alles zu verwerfen, ohne zu wissen, wie man sich wehrt. Hass im Gegenzug bringt ein aktives Gefühl zum Ausdruck, denn die Ablehnung kann in Kampf umschlagen, aber es handelt sich um einen blinden Kampf, ohne Perspektiven und Reflektion, um eine Alterntive zu entwickeln, Hass ist rein zerstörerisch. Es fließen eine Reihe von individuellen Reaktionen zusammenfließen, abere nichts Kollektives kommt zustande. Die Empörung bringt die aktive Umwandung der Ablehnung zum Ausdruck, wobei man versucht bewusst zu kämpfen, eine Alternative zu entwickeln; sie ist also kollektiv und konstruktiv. „Die Empörung macht eine moralische Erneuerung nötig, einen kulturellen Wandel. Auch wenn manche Vorschläge ein wenig blauäugig oder seltsam erscheinen, sie spiegeln eine Begierde wider, die noch schüchtern und konfus zum Ausdruck kommt, „anders leben zu wollen". „Vom Tahrir-Platz zur Puerta del Sol“
[18] Cf. Revue internationale no 130, "Résolution [18] sur [18] la [18]situation [18] internationale [18]".
[19]Weltrevolution Nr. 168, "Proteste in Israel: „Mubarak, Assad, Netanjahu“ alle gleich [19]"
[20] ICC online, "Une [10] contribution [10] du [10] TPTG [10] sur [10] le [10]mouvement [10] des [10] 'Indignés' [10] en [10] Grèce [10]".
[21] Idem.
[22] "Révoltes sociales en Israël…", op.cit.
[23] "Une contribution du TPTG", op. cit.
[24] IKS Online 2006, "Thesen über die Studentenbewegung in Frankreich im Frühling 2006" [17]
[25] Cf CCI-on line, “Qu [20]’ [20]y [20] a-t-il [20] derrière [20] la [20] campagne [20]contre [20] les [20] "violents" [20] autour [20] des [20] incidents [20] de [20] Barcelone ? [20]".
[27] "Une contribution du TPTG…", op. cit. Cf. aussi ICC on-line, "'L'apolitisme' [22] est [22] une [22] mystification [22] dangereuse [22]pour [22] la [22] classe [22] ouvrière [22]".
[28] Idem.
[29] Idem.
[30] Mot d’ordre de la Troisième Internationale.
[31] Revue internationale no 104, op. cit.
[32] IKS Online, 2011 "Die Krawalle in Großbritannien und die Sackgasse des Kapitalismus [23]"
[33] Die „Plaza de Cataluña“ wurde in „Plaza Tahrir“ umgetauft, was nicht nur einen internationalistischen Willen zum Ausdruck bringt, sondern auch ein Hohn für den katalonischen Nationalismus, der meint, der Platz sei sein größtes Prunkstück.
[34] Ein Demonstrant wurde in einem Interview mit dem Nachrichtensender RT gefragt, ob die Proteste von den Ereignissen in den arabischen Ländern inspiriert worden seien. Er antwortete: „Das, was auf dem Tahrir-Platz passierte, hat einen großen Einfluss. Das heißt, wenn Menschen begreifen, dass sie die Macht haben, dass sie sich selbst organisieren können, brauchen sie keine Regierung mehr, die ihnen erzählt, was sie tun sollen. Sie können nun ihrerseits der Regierung klar machen, was sie wollen.
[35] Idem.
[36] Idem.
[37] In dieser Bewegung „haben einige offen vor der Gefahr gewarnt, dass die Regierung militärische Zusammenstöße oder gar einen neuen Krieg auslösen könnte, um eine „nationale Einheit“ herzustellen oder die Bewegung zu spalten“ (ebenda). Dies stellt eine gewisse Distanzierung gegenüber dem israelischen Staat und seiner nationalen Einheit im Dienste der Kriegswirtschaft und des Krieges dar.
Leser und Leserinnen haben gewiss die Ereignisse rund um die Occupy-Wall-Street-Bewegung verfolgt. Seit Mitte September halten Tausende von Leuten den Zuccotti Park in Manhattan besetzt, der nur einige Häuserblocks von der Wall Street entfernt liegt. Der Protest hat sich nun auf Hunderte von Städten in Nordamerika ausgedehnt. Zehntausende haben an Besetzungen, Demonstrationen und Vollversammlungen teilgenommen, welche einen Grad der Selbstorganisierung und direkten Beteiligung an politischen Aktivitäten enthalten, wie man sie in den USA jahrzehntelang nicht mehr erlebt hat. Ausgebeutete und erzürnte Menschen haben ihre Stimme erhoben und ihre Empörung gegen die Krankheiten des Kapitalismus zum Ausdruck gebracht. Auch der internationale Einfluss der Occupy-Wall-Street-Bewegung ist groß: In den meisten großen Zentren des Kapitalismus haben Proteste stattgefunden, deren Aufrufe und deren geäußerte Frustration ein Echo auf diejenigen in Europa und Nordafrika gewesen sind.
Die Perspektive für diese Bewegung ist ungewiss. Während viele Protestierende die Besetzungen zäh aufrecht erhalten, zeichnet sich aber klar ab, dass die anfängliche spontane Energie im Rückfluss ist und Vollversammlungen mehr und mehr ein passives Gefäß für die „Arbeitsgruppen“ und „Komitees“ werden, von denen viele offensichtlich von professionellen Aktivisten und Linken dominiert werden. Die Situation bleibt offen, doch wir denken, dass sie einen Punkt erreicht hat, an dem wir einige Einschätzungen über deren Gehalt machen können, sowie auch einige Stärken und Schwächen beschreiben können.
Die IKS konnte an diesen Ereignissen in New York teilnehmen, wo unsere Genossen und Sympathisanten oft in Zuccotti Park anwesend waren, mit Besetzern sprechen konnten und auch an Vollversammlungen teilnahmen. Sympathisanten der IKS aus anderen Orten haben uns ihre Erfahrungen aus den Städten, in denen sie leben, zukommen lassen. Eine angeregte Diskussion hat sich auf dem Forum unserer englischsprachigen Website entfaltet. Dieser Artikel soll ein Beitrag zu dieser Debatte sein, und wir laden alle Leser und Leserinnen dazu ein, daran teilzunehmen.
Wie reagieren gegenüber den Angriffen des Kapitalismus? Die Suche nach dem Klassenterrain
Es ist wichtig zu sehen, dass die gegenwärtige Occupy-Bewegung aufgrund derselben Probleme entstand wie die andern massiven sozialen Revolten, die sich im Verlaufe des Jahres 2011 abspielten. Bei den Bewegungen in Tunesien und Ägypten, beim Auftauchen der Bewegung der Empörten in Spanien, den Besetzungen in Israel und den Mobilisierungen gegen die Sparprogramme und die Gewerkschaftsmanöver in Wisconsin und anderen US-Staaten, zeigt sich die Frustration und die Verzweiflung der Arbeiterklasse, vor allem der jungen Generation, die hart von der Arbeitslosigkeit betroffen ist.[1]
Es gibt eine direkte Kontinuität zwischen der Occupy-Wall-Street-Bewegung und der wachsenden Bereitschaft der Arbeiterklasse, sich auf internationaler Ebene gegen die Angriffe des Kapitalismus zu wehren. Occupy Wall Street ist keinesfalls eine bürgerliche Kampagne, um vom Klassenkampf abzulenken oder ihn auf falsche Wege zu bringen. Ganz im Gegenteil ist sie die jüngste einer Serie von Bewegungen (oft durch den Gebrauch des Internets und anderer sozialer Medien außerhalb der Gewerkschaften und offiziellen Parteien organisiert), mit denen die Arbeiterklasse versucht, auf die massiven Angriffe zu antworten, unter denen sie in der heutigen historischen Krise des Kapitalismus leidet. Diese Bewegung ist als Zeichen dafür zu begrüßen, dass die Arbeiterklasse in Nordamerika nicht geschlagen ist und nicht mehr bereit ist, die ganze Last der Krise auf ihren Schultern zu tragen. Wir müssen uns aber der verschiedenen Tendenzen in dieser Bewegung bewusst sein und der Tatsache, dass es Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Teilen gibt. Die vorherrschende Tendenz vertritt stark reformistische Ansichten, die proletarischeren Teile haben es schwer, die Frage des Klassenkampfes innerhalb der Bewegung einzubringen.
Die Verteidigung der Souveränität der Vollversammlungen
Der vermutlich positivste Aspekt der Occupy-Wall-Street-Bewegung ist das Auftauchen von Vollversammlungen als souveränem Organ der Bewegung. Gegenüber den Mobilisierungen in Wisconsin stellt dies einen Schritt nach vorne dar. Trotz der anfänglichen Spontaneität war der Protest in Wisconsin schnell vom Gewerkschaftsapparat und der Linken innerhalb der Demokratischen Partei übernommen worden[2]. Das Auftauchen von Vollversammlungen in der Bewegung ist eine Kontinuität zu den Bewegungen in Spanien, Frankreich und anderswo und steht als Symbol der Fähigkeit der Arbeiterklasse, ihre Kämpfe selber in die Hand zu nehmen und von anderen Erfahrungen auf der Welt zu lernen. Die internationale Ausbreitung von Vollversammlungen als Kampfform sticht als eindrücklichstes Zeichen der gegenwärtigen Phase des Klassenkampfes hervor. Die Vollversammlungen sind zuallererst ein Versuch der Arbeiterklasse, ihre Autonomie zu verteidigen, indem sie die ganze Bewegung in den Prozess des Fällens von Entscheidungen einbezieht und dabei die breitestmögliche Diskussion innerhalb der Klasse sucht.
Doch trotz der Bedeutung dieser Bewegung bleibt klar, dass die Vollversammlungen der Occupy Wall Street nicht von großen Störungen und Manipulationen professioneller Aktivisten und Linker verschont blieben, welche im Wesentlichen die verschiedenen Arbeitsgruppen und Komitees beherrschten, die an sich gegenüber der Vollversammlung Rechenschaft ablegen müssten. Diese Situation hat für die Bewegung zur Schwierigkeit geführt, eine offene Diskussion zu führen und verhinderte eine echte Öffnung der Diskussion über die Besetzungen hinaus, hinein in die gesamte Arbeiterklasse. Die Bewegung 15M in Spanien war auch mit diesen Problemen konfrontiert.[3]
Zu Beginn der Besetzungen wurde als Antwort auf den Versuch der Medien, die Ziele und Forderungen der Bewegung zu orten, ein Pressekomitee gegründet, mit dem Ziel eine OCCUPY WALL STREET-Zeitung zu veröffentlichen. Wir waren in der Vollversammlung anwesend, als die erste Ausgabe dieser Zeitung – welche aber vom Pressekomitee schon gedruckt und den Medien zugestellt worden war – zur Diskussion kam. Die überwiegende Stimmung in der Vollversammlung war eine Empörung darüber, dass eine Zeitung gedruckt und verteilt worden war, deren Inhalt nicht den gemeinsamen Standpunkt der Bewegung ausdrückte, sondern vielmehr eine bestimmte Meinung repräsentierte. Es wurde der Entscheid gefällt, die Person welche für diesen Druck und die Verteilung verantwortlich war, aus dem Pressekomitee auszuschließen. Dieser Schritt stellte die Souveränität der Vollversammlung über die Komitees und Arbeitsgruppen wieder her. Im Sinne einer embryonalen Form des „Rechts auf sofortige Abwahl“ wurde der verantwortlichen Person sofort dieses Mandat entzogen.
An einer Vollversammlung einige Wochen später - am Vorabend der vom Bürgermeister Bloomberg angedrohten Zwangsräumung an die Besetzer des Zuccotti-Parks – fanden wir eine ganz andere Atmosphäre vor. Unter der drohenden Räumung fand die Vollversammlung kaum mehr zu einer gehaltvollen Diskussion. Die Vollversammlung übernahm ohne Diskussion die Vorschläge der Arbeitsgruppen und Komitees. Die einzige in der Vollversammlung erlaubte Diskussion drehte sich um den Vorschlag des Bürgermeisters von Manhattan, die Aufführungen der Trommler auf zwei Stunden pro Tag zu limitieren. Diese Vollversammlung stellte sich nicht mehr die Frage nach der Perspektive der Bewegung. Sie stellte sich auch nicht die Frage, wie man eine Strategie und Taktiken zur Ausdehnung der Bewegung formulieren könnte, um deren Begrenztheit oder gar deren isolierten Untergang im Zuccotti Park zu verhindern.
In dieser Vollversammlung machte einer unserer Genossen den Vorschlag, dass die Besetzer nach vorne blicken sollten, sich aus dem Park hinaus begeben und die Verbindung mit den Werktätigen in der Stadt suchen sollten - wo sie mit Bestimmtheit auf große Sympathien stoßen würden. Dem Genossen wurde entgegengehalten, sein Beitrag sei nicht im Rahmen der Diskussion über die Limitierung des Trommelns und die Zeitbeschränkung für Redebeiträge (von den Moderatoren willkürlich auf eine Minute gesetzt) sei überschritten. Eine andere Teilnehmerin machte den Vorschlag, Delegationen zu bilden, die in verschiedenen Hochschulen und an Universitäten vor Studenten sprechen sollten. Ihr Vorschlag wurde mit Zwischenrufen von Leuten verworfen, die kein Bedürfnis an der Ausdehnung der Bewegung zeigten und meinten, wenn die Studenten die Bewegung unterstützen wollten, dann sollten sie in den Zuccotti Park kommen.
Wie können wir uns diese Entwicklung erklären, dass Arbeitsgruppen, Komitees und Moderatoren schrittweise die Kontrolle über die Bewegung erlangen konnten?
Die Gefahr der „Abneigung gegen die Politik“
Die Occupy-Wall-Street-Bewegung zeichnete sich von Beginn an durch einen gewissen „anti-politischen“ Geist aus, der Diskussionen dämpfte und die Polarisierung unterschiedlicher Ideen und die Entwicklung von Klassenforderungen behinderte. Dies machte es für Linke, politische Größen und Politiker aller Couleur möglich, im Namen der Bewegung zu sprechen, und es erlaubte den Medien, die Bewegung als so etwas wie eine „linke Tea Party“ darzustellen.[4]
Die fast militante Zurückweisung der Occupy-Wall-Street-Bewegung, die Frage von Zielen und Forderungen aufzunehmen, was unserer Meinung nach eine generelle Zurückhaltung gegenüber der Fragestellung der Macht ausdrückt, ist für uns Revolutionäre etwas Schleierhaftes. Wie können wir dieses Phänomen verstehen, das auch in anderen Bewegungen präsent war? Was die Occupy-Wall-Street-Bewegung angeht, hat es in unseren Augen viel mit folgenden Faktoren zu tun.
Das noch existierende Gewicht der permanenten Kampagne der herrschenden Klasse über den „Tod des Kommunismus”
Auch wenn es stimmt, dass die Hauptkraft in dieser Bewegung die junge Generation von Lohnabhängigen darstellt und viele von ihnen nach dem Zusammenbruch des Stalinismus 1989 geboren wurden, existiert innerhalb der Arbeiterklasse weiterhin eine Angst, die Frage des Kommunismus aufzunehmen. Während Marx langsam als Kritiker des Kapitalismus rehabilitiert wird, gibt es weiterhin eine große Angst, mit einem System in Verbindung gebracht zu werden, von dem viele glauben, dass es „schon ausprobiert wurde und scheiterte“ und einer „wirklichen Demokratie“ komplett entgegengesetzt sei. Auch wenn an den Besetzungen viele Zitate von Marx über den unmenschlichen Kapitalismus zu sehen sind, so bleibt eine Konfusion darüber, womit der Kapitalismus ersetzt werden kann. Es ist sicher eine langfristige Perspektive die „Traumata der Vergangenheit“ zu überwinden, um damit Barrieren abzubrechen für die Suche nach dem wirklichen Inhalt des Kommunismus und eine Reflexion über eine zukünftige Gesellschaft zu führen.
Die Dominanz der jungen Generation
Diese Bewegung ist zu einem gewichtigen Teil von der jungen Generation Lohnabhängiger inspiriert. Aber auch ältere Lohnabhängige, die getroffen wurden von den massiven Entlassungen seit 2008 in den USA, sind in dieser Bewegung präsent. Soziologisch gesehen sind die treibenden Kräfte aber sicher Leute in Alter zwischen 20-30 Jahren. Meist sind sie gut ausgebildet, haben aber bisher in ihrem Leben nie einen sicheren Job gehabt. Sie sind meist voll konfrontiert mit der großen Langzeitarbeitslosigkeit, die in den USA heute herrscht. Nur wenige haben richtig lange Erfahrungen an Arbeitsplätzen gemacht, und daher ist ihre Identität nicht durch den Arbeitsplatz oder den Beruf geprägt. Während diese soziologischen Aspekte sie sehr offen macht für eine abstrakte Form der Solidarität, verfügen sie aber über wenig Erfahrung in Kämpfen zur Verteidigung der Arbeits- und Lebensbedingungen mittels spezifischer Forderungen und Ziele. Meist aus dem Produktionsprozess ausgeschlossen, bleibt ihnen vor allem ihre Würde als Menschen zu verteidigen. Die Notwendigkeit, spezifische Forderungen und Ziele aufzustellen, findet dabei nicht eine erste Priorität. In einer Welt, in der man keine wirkliche Zukunft sieht, ist es nicht erstaunlich, wenn die junge Generation Schwierigkeiten hat, wie sie den Kampf für eine andere Zukunft konkret gestalten soll. Dabei besteht aber die Gefahr, dass die Bewegung in die Falle des Zelebrierens der eigenen Besetzung laufen kann, wo die Besetzung an sich zu einer Gemeinschaft und oft einem Zuhause wird[5]. Ein anderer Aspekt der nicht ignoriert werden darf, ist das Gewicht des postmodernen politischen Diskurses, im besonderen bei denjenigen, die eine Universität absolviert haben, der ein großes Misstrauen oder gar eine Zurückweisung gegenüber der „traditionellen“ Klassenpolitik aufweist.
Wir sollten aber nicht allzu hohe Messlatten setzen. Nur schon die Existenz von Vollversammlungen ist ein großer Schritt nach vorne. Sie sind wunderbare Schulen, in denen die junge Generation ihre Erfahrungen sammeln kann und lernt, wie sie auch den linken Kräften des Kapitals entgegentreten muss. All das ist unabdingbar für zukünftige Kämpfe.
Die Eigenheiten der Situation in den USA
Die Occupy-Wall-Street-Bewegung blieb bisher hartnäckig im Rahmen der amerikanischen Politik und Geschichte gefangen. Es gibt leider nur sehr wenig Bezüge zur den internationalen Wurzeln der Krise oder zu anderen Bewegungen in anderen Ländern. Es gibt eine vorherrschende Auffassung innerhalb der Bewegung, dass die immensen Probleme, vor der die Welt heute steht, alle in der einen oder anderen Form mit dem unethischen Verhalten der Banker an der Wall Street erklärt werden können, welches von den politischen Parteien in den USA unterstützt und begünstigt wird. Die Deregulierung des Verhältnisses zwischen den Sparkassen und den Investmentbanken, die skrupellosen Leute welche eine Immobilienblase platzen lassen, der wachsende Einfluss der reichen Unternehmen auf den amerikanischen Staat, die immense Kluft zwischen dem reichsten Prozent der Bevölkerung und dem Rest, die Tatsache, dass die Wall Street auf Milliarden von Dollars an überschüssiger Liquidität sitzt, die sie nicht in die amerikanische Wirtschaft investieren will - all das bleiben die Hauptbeschwerden der Bewegung. Die Identifizierung des Hauptproblems im „unregulierten Finanzkapital“ hat Illusionen in einen „selbstlosen Charakter“ des US-Staates genährt.
Die anti-politische Ethik der Occupy-Wall-Street-Bewegung hat sie daran gehindert, einen Schritt weiter zu gehen und deshalb droht der Bewegung die Gefahr, in der Reproduzierung der Art der politischen Herrschaft zu münden, welche sie eigentlich zu Recht ablehnt. Dies sollte eine wichtige Lehre für zukünftige Bewegungen sein. Währen die Bewegung berechtigterweise all denen gegenüber skeptisch ist, die in ihrem Namen sprechen wollen, darf sich die Arbeiterklasse nicht vor offenen Diskussionen und der Konfrontation verschiedener Standpunkte scheuen. Der Prozess der Polarisierung, der Erarbeitung von konkreten Forderungen und Zielen – so schwer das manchmal auch ist – kann nicht umgangen werden, wenn die Bewegung vorwärtskommen will. Schlussendlich ist eine Bewegung, die dominiert wird von einem extremen Eklektizismus von Ideen wie: „alle Forderungen sind gleich wichtig“, dazu verurteil, dass nur die Forderungen vorangestellt werden, welche für die herrschende Klasse annehmbar sind. Das Ziel einer Regulierung des Kapitalismus, die Besteuerung der Reichen und die Befreiung des Wahlzirkus aus dem Würgegriff des Geldes, all das sind Ziele, die auch von vielen Teilen der herrschenden Klasse in den USA geteilt werden! Es ist kein Zufall wenn Obama sein Programm für neue Jobs mit Extrasteuern für Millionäre bezahlen will. Es besteht ein großes Risiko, dass die mächtigsten Fraktionen der herrschenden Klasse in den USA diese Bewegung für ihre internen Kämpfe missbrauchen, gerade um die rechtsstehenden Teile der herrschenden Klasse zu bekämpfen. Doch schlussendlich führt die totale Unfähigkeit der herrschenden Klasse, die tödliche Krise ihres Systems zu lösen, zum Ende all der Illusionen in den „American Dream“ und zu einem Albtraum des Daseins im Kapitalismus.
Die Arbeiterklasse kann der Menschheit eine Perspektive aufzeigen
Aufgrund all dieser Probleme und Schwächen müssen wir die wichtigsten Lehren erkennen, welche die Occupy-Wall-Street-Bewegung für die weitere Entwicklung des Klassenkampfes ergeben hat. Das Auftauchen von Vollversammlungen – vermutlich das erste Mal in den USA seit Jahrzehnten – ist ein großer Schritt vorwärts für die Arbeiterklasse, um ihren Kampf außerhalb der Fesseln der Gewerkschaften und der bürgerlichen Linken aufzunehmen. Doch wir müssen auch sehen, dass eine Bewegung, die auf sich zurückfällt, anstatt sich auf den Rest der Arbeiterklasse auszudehnen, dazu verdammt ist zu scheitern, und dass das Scheitern entweder aufgrund der Repression, der Demoralisierung oder allenfalls einer Einbindung in die Kampagnen der bürgerlichen Linken erfolgt. Heute sind wir an einem Punkt des Klassenkampfes, an dem die am wenigsten mit kollektiver Arbeit erfahrenen Teile der Klasse die kämpferischsten sind. Auf der anderen Seite sind die mit der größten Erfahrung in konkreten Verteidigungskämpfen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen sehr desorientiert und wissen nicht, wie sie sich wehren sollen gegen die Angriffe des Kapitalismus. Viele sind einfach froh, einen Job zu haben und beugen sich dem Druck auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen.
In den USA hat die permanente Kampagne der Rechten gegen die Gewerkschaften den Effekt einer gewissen Aufwertung des Images der Gewerkschaften in den Augen der Arbeiter, und das hat die Arbeiterklasse verwirrt[6]. Auch wenn Teile der Arbeiterklasse unter dem Banner der Gewerkschaften an der Occupy-Wall-Street-Bewegung teilgenommen haben, so haben in der Realität die Gewerkschaften immer versucht, ihre Mitglieder von den Besetzern zu trennen. Es war klar, dass unter dem Banner der Gewerkschaften ihre Mitglieder nur kamen, um die Besetzer zu unterstützen, doch ja nicht, um daran teilzunehmen! Es ist ein Merkmal des Kampfes der Arbeiterklasse, die Lebens- und Arbeitsbedingungen dort zu verteidigen, wo die Gesellschaft sich reproduziert, und dass dort auch die Organe entstehen, welche die Gesellschaft in eine Gesellschaft der freien Produzenten verwandeln können – die Arbeiterräte. Die Arbeiterklasse kann in ihrem Kampf für die Verteidigung ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen, die durch die Krise permanent verschlechtert werden, erkennen, dass der Kapitalismus keinerlei Perspektive anzubieten hat. Nur wenn die Menschheit zu einer Einheit findet, kann sie sich weiterentwickeln.
Wenn wir das sagen, spielen wir nicht die großen Schwierigkeiten herunter, welche die Arbeiterklasse hat, um das Klassenterrain zu finden und den Willen zu entwickeln, sich gegen die Angriffe zur Wehr zu setzten. Fürs Erste, so denken wir, bleibt die Occupy-Wall-Street-Bewegung auf dem rhetorischen Terrain der herrschenden Klasse haften - doch für die Zukunft zeigt sie einen Weg auf, wie die Arbeiterklasse ihre Kämpfe selber in die Hand nehmen kann.
19. Oktober 2011
Internationalism, Zeitung der Internationalen Kommunistischen Strömung IKS in den USA
[1] Siehe dazu die verschiedenen Artikel auf unserer Website zur Bewegung der „Empörten“.
[2] Im Gegensatz zu Wisconsin, wo für einen Moment die Perspektive eines Generalstreiks im Bundesstaat auftauchte, ist die Occupy-Wall-Street-Bewegung weniger eine „Massenmobilisierung“, sondern zeichnet sich eher durch einen harten Kern von Besetzern und solchen Leuten aus, die unregelmäßig daran teilnehmen.
[3] Siehe dazu unseren Artikel "Spanien: Bürgerbewegung Echte Demokratie jetzt! - staatliche Diktatur gegen Massenversammlungen [28]".
[4] Siehe Peter Beinhart, “Occupy Protests’ Seismic Effects [29]” als Beispiel dafür, wie sich bürgerliche Linke ausmalen, die Occupy-Wall-Street-Bewegung als Basisbewegung für die Präsidentschaft Obamas auszunutzen.
[5] Während der letzten Wochen haben die Medien über verschieden Fälle von jungen Leuten berichtet, die schlecht bezahlte Jobs gekündigt haben oder die Schule verließen, um an den Besetzungen teilzunehmen.
[6] Siehe dazu unseren Artikel über den Verizon-Streik
Links
[1] http://www.lejdd.fr/Election-presidentielle-2012/Actualite/Royal-gonfle-les-chiffres-du-chomage-des-jeunes-397587/
[2] http://www.lefigaro.fr/conjoncture/2011/10/13/04016-20111013ARTFIG00498-le-salaire-minimum-est-juge-trop-eleve-en-grece.php
[3] http://www.lepoint.fr/economie/grece-les-nouvelles-mesures-d-austerite-du-projet-de-loi-conteste-20-10-2011-1386811_28.php
[4] http://www.rfi.fr/ameriques/20110702-faillite-le-gouvernement-minnesota-cesse-activites
[5] http://www.info-grece.com/agora.php
[6] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/wirtschaftskrise-verarmung
[7] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/kollaps-wirtschaft-verarmung
[8] https://de.internationalism.org/node/2181
[9] https://fr.internationalism.org/node/4752
[10] https://fr.internationalism.org/node/4776
[11] https://fr.internationalism.org/rinte103/edito.htm
[12] https://fr.internationalism.org/rint146/pour_les_revolutionnaires_la_grande_depression_confirme_l_obsolescence_du_capitalisme.html
[13] https://fr.internationalism.org/rinte104/aube21
[14] https://de.internationalism.org/content/2171/die-weltwirtschaftskrise-ein-moerderischer-sommer
[15] https://fr.internationalism.org/rint138/resolution_sur_la_situation_internationale_18e_congres_du_cci_mai_2009.html
[16] https://de.internationalism.org/content/748/der-zerfall-die-letzte-phase-der-dekadenz-des-kapitalismus
[17] https://de.internationalism.org/content/876/thesen-ueber-die-studentenbewegung-frankreich-im-fruehling-2006
[18] https://fr.internationalism.org/rint130/17_congr%C3%A8s_du_cci_resolution_sur_la_situation_internationale.html
[19] https://de.internationalism.org/proteste_israel
[20] https://fr.internationalism.org/icconline/2011/dossier_special_indignes/quyatil_derriere_la_campagne_contre_les_violents_autour_des_incidents_de_barcelone.html
[21] https://www.marxists.org/francais/marx/works/1851/12/brum.htm
[22] https://fr.internationalism.org/icconline/dossier_special_indignes/l_apolitisme_est_une_mystification_dangereuse_pour_la_classe_ouvriere.html
[23] https://de.internationalism.org/node/2161
[24] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/griechenland
[25] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/israel
[26] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/bewegung-der-emporten
[27] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sozialproteste-spanien
[28] https://de.internationalism.org/content/2139/spanien-buergerbewegung-echte-demokratie-jetzt-staatliche-diktatur-gegen
[29] https://news.yahoo.com/occupy-protests-seismic-effect-062600703.html