Published on Internationale Kommunistische Strömung (https://de.internationalism.org)

Home > IKSonline - 2010s > IKSonline - 2012 > April 2012

April 2012

  • 798 reads

Die marxistische Analyse des Faschismus

  • 4126 reads

Der Text ist ein Auszug aus der Broschüre „Faschismus und Demokratie – zwei Erscheinungsweisen der Diktatur des Kapitals“

Der historische Beitrag der Strömungen der Kommunistischen Linken

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die meisten Kampfinstrumente, die die Arbeiterklasse in den Jahrzehnten zuvor entwickelt hatte, nutzlos geworden. Schlimmer noch, sie werden gegen die Arbeiterklasse eingesetzt und werden zu Waffen des Kapitals. Das ist zum Beispiel bei den Gewerkschaften, den großen Massenparteien, der Beteiligung an den Parlamentswahlen und der Verwendung des bürgerlichen Parlaments der Fall. Der Hintergrund ist, dass der Kapitalismus in eine völlig neue Entwicklungsstufe eingetreten ist: die seines Niedergangs. Der Erste Weltkrieg läutete diesen Bruch zwischen den beiden Phasen des Kapitalismus ein: “Die neue Epoche ist geboren! Die Epoche der Auflösung des Kapitalismus, seiner inneren Zersetzung. Die Epoche der kommunistischen Revolution des Proletariats“ (Richtlinien der Kommunistischen Internationale, 1. Kongress der Komintern, 6. März 1919) proklamierte die Kommunistische Internationale 1919.

Die Linken, welche aus der niedergehenden Kommunistischen Internationale hervorgegangen sind, und das Problem der Dekadenz des Kapitalismus

 „Dieser Lebensabschnitt des Kapitalismus zeichnet sich durch die Absorbierung der Gesellschaft durch den Staat aus. So hat die Legislative, die ursprünglich die gesellschaftlichen Interessen vertreten hatte, jegliches Gewicht zu Gunsten der Exekutive verloren, die nunmehr die Spitze der  staatlichen Hierarchie verkörpert. In dieser Periode verschmilzt die Politik mit der Ökonomie zu einem Ganzen, da der Staat die Hauptrolle  in der nationalen Wirtschaft und ihre tatsächliche Führung übernommen hat. Ob dies durch die schrittweise Integration wie in der Marktwirtschaft  westlicher Ausrichtung, oder durch eine plötzliche Umwälzung  wie in der verstaatlichten Wirtschaft  geschieht, der Staat ist in keinem Fall mehr das bloße ausführende Organ der Privatkapitalisten und Interessengruppen, sondern der kollektive Kapitalist, dem sich alle besonderen Interessen zu beugen haben. In seiner Eigenschaft als reelle Einheit des nationalen Kapitals verteidigt der Staat dessen Interessen sowohl nach innen als auch nach außen. Ebenso übernimmt er die Aufgabe,, die Ausbeutung und Unterwerfung der Arbeiterklasse sicherzustellen.“ (Internationale Revue, „Der Kampf des Proletariats in der dekadenten Phase des Kapitalismus“, in Gewerkschaftsbroschüre der IKS). 

Der demokratische, stalinistische oder faschistische kapitalistische Staat konkretisiert in verschiedenen Formen, die auf die unterschiedlichen Verhältnisse zurückzuführen sind, diese Entwicklung des Staats im Zeitalter der Dekadenz. Wenn diese demokratischen Institutionen aufrechterhalten werden, haben sie in Wirklichkeit ihre vorherige Funktion verloren und bestehen nur noch mit der Funktion, die Arbeiterklasse zu verschleiern. 

Die Folgen der opportunistischen Entartung der Kommunistischen Internationale

Die Gründung der Kommunistischen Internationale brachte diese Fähigkeit des Proletariats, sich gegen die kapitalistische Barbarei in den wichtigsten Ländern der Welt zu erheben und die politischen Notwendigkeiten der Revolution zu erfüllen, zum Ausdruck. Sie spiegelte den Fortschritt der revolutionären Bewegung hinsichtlich des Begreifens der Bedingungen der neuen Epoche wider, wie die Dokumente des 1. und 2. Weltkongresses aufzeigen. Der erste Kongress insbesondere war ein Kongress des Bruches mit der Sozialdemokratie, deren Verrat für die Mobilisierung des Proletariats für den imperialistischen Krieg verantwortlich war. Diese war die Speerspitze der bürgerlichen Offensive gegen die Revolution in Russland und Deutschland gewesen. Aber insgesamt blieb die Mehrheit der Revolutionäre weiterhin von dem Gewicht der Vergangenheit geprägt. Die Komintern stellte fest, dass die parlamentarischen Reformen jegliche praktische Bedeutung für die arbeitenden Klassen verloren haben.

Aber die Komintern war weiterhin für die Beteiligung an den Parlamentswahlen.  Schlimmer noch, der Rückfluss der internationalen revolutionären Welle ging einher mit der opportunistischen Entartung der Komintern und der ihr angehörigen Parteien, nachdem diese Parteien einige Jahre zuvor an der Spitze der Arbeiterklasse gestanden hatten. Schon auf dem 3. und 4. Weltkongress kam es zu Rückschritten  hinsichtlich einiger Fragen. Opportunistische Positionen wurden bezogen, die direkt zu einer Schwächung des Bewusstseins der internationalen Arbeiterklasse führten. Im Widerspruch zum 1. Weltkongress schlug der 3. Kongress mittels der Einheitsfrontpolitik Bündnisse mit der Sozialdemokratie vor, wodurch diese Organisation in den Augen der Arbeiterklasse rehabilitiert wurde, obwohl sie damals schon zum Räderwerk des bürgerlichen Staates gehörte. Die Folge dieser Entwicklung des Niedergangs war der Tod der Internationale für die Arbeiterklasse. 1927 wurde dann die These verabschiedet, in welcher die Möglichkeit des Sozialismus in einem Land verteidigt wurde. In den 1930er  Jahren wechselten die KPs in das Lager der Konterrevolution. Diese wurden nun wiederum zu Speerspitzen der herrschenden Klasse bei der Mobilisierung des Proletariats für den 2. Weltkrieg.

Es war also kein Zufall, dass die Mehrheit der Komintern in den 1920er Jahren eine fehlerhafte Analyse des Faschismus erstellte, als erste Anzeichen seines Aufstiegs in Italien beobachtet wurden.  Solche Fehler sind zurückzuführen auf ein unzureichendes Begreifen der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise in ihrem Niedergang. Darüber hinaus wurden sie begünstigt durch die opportunistische Entwicklung der Komintern, die auf den allgemeinen Rückfluss der revolutionären Welle zurückzuführen ist. Das äußerte sich insbesondere durch eine mangelnde Klarheit und Festigkeit bei der marxistischen Methode der Einschätzung der Realität. Dadurch konnten demokratische Illusionen aufblühen.

Der Prozess der Klärung durch die Linken, die dem proletarischen Lager treu geblieben sind

Als Reaktion auf die Entartung der Komintern und im Kampf dagegen entstand Anfang der 1920er Jahre eine neue Linke, die auch aus den Aktivitäten der marxistischen Strömungen hervorging, welche in Italien, Deutschland und den Niederlanden in Erscheinung getreten war. Diese Fraktionen, welche in den 1920er Jahren aus den Kommunistischen Parteien ausgeschlossen wurden, setzten den politischen Kampf fort, um die Kontinuität zwischen der Komintern und der "Partei von morgen" sicherzustellen, indem sie eine Bilanz der revolutionären Welle und ihrer Niederlage zogen. BILAN lautete der Name der Revue der Italienischen Fraktion der Kommunistischen Linken in den 1930er Jahren. Die Fraktion hatte sich Klärung zur Aufgabe gestellt; dies schloss natürlich auch die Analyse des Faschismus und des Antifaschismus ein, gegen die sie sich radikal stellte. Damit stand sie nicht nur im Gegensatz zu den degenerierenden stalinistischen Parteien, sondern auch im Gegensatz zum Trotzki der 1930er Jahre.

Aus unserer Sicht hat die Italienische Kommunistische Linke den wichtigsten Beitrag zu diesen Fragen geleistet, und deshalb geben wir absichtlich zahlreiche historische Dokumente als Beleg für ihre Analyse wider, die sie in ihrer Zeitschrift BILAN veröffentlichte. Wir beziehen uns auch auf Beiträge oder Analysen anderer Bestandteile der Arbeiterbewegung, Strömungen oder Leute, die der deutschen oder holländischen Linken angehörten.

Vertiefungen der Analyse des Faschismus folgten auch noch danach durch die Organisationen oder Strömungen, die diesen Fraktionen politisch oder organisatorisch nahe standen oder ihr angehörten. Wir erwähnen insbesondere Internationalisme (Zeitschrift der Kommunistischen Linken Frankreichs – GCF -, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre und Anfang der 1950er Jahre veröffentlicht wurde), die die Vorfahren der IKS waren. Internationalisme, das sich im Wesentlichen auf die Errungenschaften von BILAN bezog, verstand es jedoch, einige Beiträge der Deutsch-Holländischen Linken hinsichtlich der Frage des Staatskapitalismus zu verwerten. Wir werden ebenso auf die IKP – Kommunistisches Programm – eingehen, eine der beiden Organisationen, die 1953 aus einer Spaltung der 1947 gegründeten IKP entstanden (die andere Organisation war die PCInt – Partito Comunista Internazionalista Battaglia Comunista), insbesondere werden wir auf den wichtigen Artikel "Auschwitz oder das große Alibi" eingehen. 

So grundlegend die Beiträge der Linken Fraktionen auch waren (ohne diese würden die IKS und die anderen revolutionären Gruppen heute nicht bestehen), diese fanden auf verschiedenen Ebenen statt und waren von unterschiedlichem Wert. Unabhängig von den Stärken und Schwächen der Beiträge der Linken, ist es wichtig, sie alle als Bemühungen des Proletariats zu begreifen, das Bewusstsein über die Bedingungen des revolutionären Kampfes zur Überwindung des Kapitalismus zu entwickeln. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ein Teil einer unnachgiebigen Verteidigung des Klassenterrains des Proletariats waren. Es war ihr Verdienst, in den 1930er und 1940er Jahren unter sehr schwierigen Bedingungen die Fahne des proletarischen Internationalismus gegen die chauvinistische Hysterie der ehemaligen Arbeiterparteien sowohl auf theoretischer, praktischer und auf militante Weise hochzuhalten. 

Dies steht im Gegensatz zu dem "Beitrag" der trotzkistischen Bewegung. In den 1930er Jahren und bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs gehörte dieser dem proletarischen Lager an, das er bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht verraten hatte. Aber sobald der Krieg ausbrach und sobald er den proletarischen Internationalismus aufgab, schlug der Trotzkismus den gleichen Weg ein, den zuvor die Sozialdemokratie und der Stalinismus gegangen waren, welcher in das Lager der Bourgeoisie führte, indem die Arbeiter zur Unterstützung eines imperialistischen Lagers aufgerufen wurden - den der Verteidigung des russischen Staates. Bis zu diesem tragischen Zeitpunkt war sein Beitrag zum Begreifen des Faschismus und des Antifaschismus direkt verbunden mit seinem opportunistischen Werdegang: Er trug zur Desorientierung der Arbeiterklasse bei, indem diese dazu getrieben wurde, die antifaschistischen Losungen der stalinistischen und demokratischen Parteien zu unterstützen.

 Die Italienische Linke in den 1920er Jahren und der Aufstieg des Faschismus

Sobald die revolutionäre Welle Anfang der 1920er Jahre stagnierte und in einen Rückfluss eintrat, beobachtete man den Aufstieg faschistischer Bewegungen insbesondere in Italien. Dieser Teil des linken Flügels der Internationale, der zum damaligen Zeitpunkt die Mehrheit in der Italienischen Partei stellte und von Bordiga angeführt wurde, leistete einen grundlegenden Beitrag zur Analyse dieses neuen Phänomens und der Auswirkungen für die Arbeiterklasse und hinsichtlich der politischen Orientierungen der revolutionären Avantgarde. 

Der Faschismus ist keine Reaktion der feudalen Schichten

Die Analyse Bordigas entspricht der allgemeinen Charakterisierung des Zeitraums, welcher durch den Ersten Weltkrieg eröffnet wurde, die Dekadenz des Kapitalismus, und der Einschätzung der ersten revolutionären Welle durch die Kommunistische Internationale. Von diesem Rahmen ausgehend prangerte er die "neuen" Ideologien wie den Faschismus an, welche die Gesellschaft hervorbrachten.

„Zum Zeitpunkt ihres Niedergangs ist die herrschende Klasse unfähig geworden, einen Ausweg zu finden (d.h. nicht nur ein Schema der Geschichte, sondern auch eine Reihe von Handlungslinien). Um zu verhindern, dass andere Klassen ihre revolutionäre Aggressivität durchsetzen, findet sie nichts Besseres als der allgemeinen Skepsis zu verfallen, dieser charakteristischen Philosophie des Zeitraums des Niedergangs“ ( Bericht A. Bordigas über den Faschismus auf dem 4. Kongress der Kommunistischen Internationale, 16. November 1922, 2. Sitzung, Übersetzung IKS).

Bordiga zeigte darin auf, dass der Faschismus die notwendige Form der Beherrschung der Gesellschaft ist, welche die Bourgeoisie entwickelt, um den Tendenzen des Auseinanderbrechens der Gesellschaft entgegenzutreten. „Der Faschismus, der es nicht verstehen wird, die ökonomische Anarchie des kapitalistischen Systems zu überwinden, hat eine andere historische Aufgabe, die wir als den Kampf gegen die politische Anarchie, gegen die Anarchie der Organisation der bürgerlichen Klasse als politischer Partei bezeichnen können. Die Schichten der herrschenden Klasse Italiens haben traditionelle politische und parlamentarische Gruppierungen gebildet, die sich nicht auf fest organisierte Parteien stützen und die gegeneinander kämpfen und in ihren besonderen und lokalen Interessen einen Konkurrenzkampf führen, der unter den professionellen Politikern in den Couloirs des Parlaments zu allerlei Manövern führt. Die konterrevolutionäre Offensive der Bourgeoisie machte es notwendig, im sozialen Kampf und in der Regierungspolitik die Kräfte der herrschenden Klasse zu vereinen. Der Faschismus ist die Verwirklichung dieser Notwendigkeit. Indem er sich über alle traditionellen bürgerlichen Parteien stellt, beraubt er sie allmählich ihres Inhalts; er ersetzt sie in ihrer Tätigkeit und dank den Missgriffen der Proletarierbewegung gelingt es ihm, die politische Macht und das Menschenmaterial der Mittelklassen für seinen Plan zu verwerten.“ (ebenda).

Daran wird deutlich, dass sich Bordiga klar von den Einschätzungen absetzte, welche in der Komintern die Überhand gewinnen sollten, der zufolge der Faschismus eine Reaktion der feudalen Schichten wäre. Er wandte sich sogar sehr stark dagegen. „Die Gründung des Faschismus kann unserer Ansicht nach drei Hauptfaktoren zugeschrieben werden: 

Dem Staat, der Großbourgeoisie und den Mittelklassen. 

Der erste dieser Faktoren ist der Staat. Der Staatsapparat hat in Italien bei der Gründung des Faschismus eine wichtige Rolle gespielt.

Die Nachrichten über die aufeinanderfolgenden Krisen der bürgerlichen Regierung Italiens ließen den Glauben aufkommen, dass die italienische Bourgeoisie einen derart unbeständigen Staatsapparat habe, dass zu dessen Sturz ein einziger Handstreich genügen würde. Das stimmt keinesfalls. Die Bourgeoisie konnte die Faschistenorganisation gerade in dem Maße aufbauen, wie sich ihr Staatsapparat befestigte.“ Er fuhr fort: „Der erste Faktor ist also der Staat.

Der zweite Faktor des Faschismus ist, wie ich bereits gesagt habe, die Großbourgeoisie. Die Großkapitalisten der Industrie, des Bankwesens, des Handels, sowie die Großgrundbesitzer haben ein natürliches Interesse daran, dass eine Kampforganisation gegründet werde, die ihre Offensive gegen die Werktätigen unterstützt. 

Aber der dritte Faktor spielt in der Bildung der Faschistenmacht gleichfalls eine sehr wichtige Rolle. Um neben dem Staat eine illegale reaktionäre Organisation zu schaffen, musste man andere Elemente anwerben, als jene, die die hohe herrschende Klasse unter ihren sozialen Elementen aufweisen konnte.“ (ebenda)

Die Sozialdemokratie – Wegbereiter des Faschismus 

Solch eine Analyse, die die historische Rolle des Faschismus sehr hellsichtig erfasst, ist nicht zu trennen von der Einschätzung der Rolle der linken Parteien einerseits, welche endgültig in den Dienst der Bourgeoisie getreten waren und deren Vorgehen gegen die Entwicklung des Klassenkampfes gerichtet ist, und andererseits der Einrichtung der Demokratie im Dienste der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Ordnung. Hinsichtlich dieser beiden Fragen vertrat Bordiga ebenso eine andere Auffassung als die in der Komintern vorherrschende. Aus seiner Sicht wurden die linken Parteien, welche die Arbeiterklasse verraten hatten, und nicht der Faschismus als Speerspitze bei der Offensive gegen die Arbeiterklasse eingesetzt. Bordiga zeigte anhand zweier Beispiele klar auf, wie die Bourgeoisie sich jeweils hauptsächlich auf die linken Parteien stützte und nicht so sehr auf die Faschisten.  „Während der unmittelbar auf den Krieg folgenden Periode macht der Staatsapparat eine Krise durch. Die offenkundige Ursache dieser Krise ist die Demobilisierung; sämtliche Elemente, die bis dahin am Krieg beteiligt waren, werden jetzt auf einmal auf den Arbeitsmarkt geworfen, und in diesem kritischen Augenblick soll sich die Staatsmaschine, die bis dahin mit der Herbeischaffung aller Hilfsmittel gegen den äußeren Feind beschäftigt war, in einen Apparat der Verteidigung der Macht gegen die innere Revolution verwandeln. Es war dies für die Bourgeoisie ein ungeheures Problem. Sie konnte dieses Problem weder von technischen, noch vom militärischen Standpunkte aus durch einen offenen Kampf gegen das Proletariat lösen: sie musste es vom politischen Standpunkt aus tun.

In dieser Periode entstehen die ersten linken Regierungen nach dem Krieg; in dieser Periode kommt die politische Richtung Nitis und Giolittis zur Herrschaft. (…)

Nitti war es, der die »Guardia Regia«, d. h. »die Königliche Garde« schuf, eine Organisation, die nicht gerade polizeilicher Natur war, sondern einen ganz neuen militärischen Charakter trug.“ (ebenda). 

Während der Bewegung der Fabrikbesetzungen 1921 „begriff der Staat, dass ein Frontalangriff seinerseits ziemlich unangebracht gewesen wäre, dass stattdessen ein reformistisches Manöver ein guter Schachzug war, und dass man wieder Scheinzugeständnisse machen konnte. Mit dem Gesetzesvorschlag zur Arbeiterkontrolle gelang es Giolitti, die Arbeiterführer dazu zu bewegen, die Betriebe zu räumen.“ Bordiga erläuterte dann, warum der Faschismus nicht frontal gegen die Arbeiter eingesetzt werden konnte, um diese zu schlagen. „In den Großstädten kann der Kampf gegen die Arbeiterklasse nicht mit der sofortigen Anwendung der Gewalt einsetzen. Die städtischen Arbeiterbilden im allgemeinen große Gruppen; sie können sich mit einer gewissen Leichtigkeit in großen Massen versammeln und einen ernsten Widerstand leisten. Vor allem zwang man daher dem Proletariat gewerkschaftliche Kämpfe auf, die zu ungünstigen Ergebnissen führten, weil die wirtschaftliche Krise sich im akutesten Zustande befand. Die Arbeitslosigkeit nahm ununterbrochen zu.“ 

Nachdem die Bewegung der Fabrikbesetzungen 1921 besiegt worden war, wurde die Arbeiterklasse in Italien immer mehr verwirrt; dadurch wurde es für den italienischen Staat leichter, die Arbeiter zu unterdrücken. Erst ab dieser Phase traten die faschistischen Banden, welche vom Staat dirigiert wurden, auf den Plan und beteiligten sich aktiv und massiv an der Repression. 

Der Faschismus war eine Notwendigkeit des Kapitals gegenüber der gesamten Gesellschaft

Im Gegensatz zu einer Sichtweise, die von der Linken des Kapitals in den 1930er Jahren und auch heute noch verbreitet wird, demzufolge der Faschismus die besondere Aufgabe habe, die Arbeiterbewegung zu schwächen und sie im Zaum zu halten, indem er die angeblichen demokratischen Grundrechte in der Gesellschaft angreife, war die Position Bordigas sehr klar. Er meinte,  dass der Faschismus für die Bourgeoisie eine zwingende Notwendigkeit gegenüber der gesamten Gesellschaft war.

„Die Regierungsmaßnahmen des Faschismus zeigten, dass diese im Dienst des linken Flügels der Bourgeoisie, des Industrie- Finanz- und Handelskapitals standen, und dass ihre Macht gegen die Interessen der anderen Klassen gerichtet ist“ (ebenda).

Als er 1922 in Italien die Macht übernahm, musste der Faschismus nicht nur all den zentrifugalen Kräften innerhalb der Gesellschaft gegenübertreten, sondern auch der Arbeiterklasse, welche zum damaligen Zeitpunkt schon geschwächt, aber noch nicht vollständig niedergeschlagen war. Dies erfolgte erst später in den 1930er Jahren. Deshalb musste er die demokratischen Verschleierungen aufrechterhalten. „Der Faschismus ist nicht eine Tendenz der bürgerlichen Rechten, die sich auf die Aristokratie, die Geistlichkeit, die hohen Zivil- und Militärbeamten stützt und die Demokratie der bürgerlichen Regierung und

der konstitutionellen Monarchie durch die despotische Monarchie ersetzen will. Der Faschismus verkörpert den gegenrevolutionären Kampf aller verbündeten bürgerlichen Elemente, und darum ist es für ihn keineswegs unbedingt notwendig, die demokratischen Institutionen zu zerstören. Von unserem marxistischen Gesichtspunkte aus braucht dieser Umstand

keineswegs als paradox angesehen zu werden, denn wir wissen, dass das demokratische System nur eine Zusammenfassung lügnerischer Garantien darstellt, hinter denen sich der Kampf der herrschenden Klasse gegen das Proletariat verbirgt.“ Nichts wies damals darauf hin, dass der Faschismus später dazu übergehen würde, die Demokratie über Bord zu werfen.

„Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung beweisen, dass diese nicht beabsichtigt, die Grundlagen der traditionellen Institutionen in Italien zu ändern.

Ich behaupte selbstverständlich nicht, dass die Lage für die proletarische und sozialistische Bewegung günstig sei, wenn ich auch voraussage, dass der Faschismus liberal und demokratisch sein wird.“

Tatsächlich war der Faschismus Anfang der 1920er Jahre nur der Keim einer Tendenz, die in ihrer diktatorischen Form erst in den 1930er Jahren in Deutschland und Italien ihren Höhepunkt erreichen konnte, nachdem die Arbeiterklasse geschlagen war.

Gegen die Einheitsfront mit der Sozialdemokratie 

Dank ihrer Unnachgiebigkeit gegenüber all den Fraktionen der Bourgeoisie wurden Bordiga und der linke Flügel nicht in den Strudel des Opportunismus hineingerissen, in den die Dritte Internationale aufgrund ihrer Taktik der Einheitsfront geraten war, welche sich für die Arbeiterbewegung als sehr katastrophal auswirken sollte. Diese Festigkeit der Prinzipien und die klare Analyse ermöglichten ihnen, eine sehr hellsichtige Warnung auszusprechen, die sich rückblickend als sehr richtig erwies. Sie warnten vor der opportunistischen Versuchung der antifaschistischen Front. “Wir wissen, dass das internationale Kapital sich nur freuen kann über die Taten des Faschismus in Italien, über den Terror, den er dort gegen Arbeiter und Bauernschaft ausübt. Für den Kampf gegen den Faschismus können wir einzig und allein auf die revolutionäre proletarische Internationale zählen. Es handelt sich um eine Frage des Klassenkampfes. Wir wenden uns nicht an die demokratischen Parteien der anderen Länder, an die Vereinigungen von Dummköpfen und Heuchlern, wie die “Liga für die Menschenrechte”; denn wir wollen nicht die Illusion erwecken, dass es sich bei ihnen um etwas vom Faschismus wesentlich Verschiedenes handelt, oder dass die Bourgeoisie der anderen Länder nicht imstande wäre, ihrer Arbeiterschaft dieselben Verfolgungen zu bereiten und dieselben Gräueltaten zu vollbringen wie der Faschismus in Italien.” Protokoll des V. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale, S. 751, 23. Sitzung, Der Faschismus, 2.07.1924, Bericht Bordigas zum Faschismus auf dem 5. Kongress der Kommunistischen Internationale)

Die Deutsch-Holländische Linke 

Dieser Strömung gelang es, eine große theoretische Klarheit hinsichtlich der Fragen des Eintritts des Kapitalismus in seine Niedergangsphase zu erreichen, die manchmal noch größer war als die der Italienischen Linken. Dies trifft insbesondere hinsichtlich der Rolle des Parlamentarismus und der Wahlen zu, welche die Arbeiterklasse nicht mehr zu ihren Gunsten benutzen kann, weil sie zu Waffen der Bourgeoisie geworden sind. Im Gegensatz zur Italienischen Linken waren sie dazu in der Lage, die Gewerkschaften als in den bürgerlichen Staat integrierte Organe zu erkennen, die zur Aufgabe haben, die Arbeiterklasse zu kontrollieren. Zu all diesen Fragen erhoben sie offen  ihre Stimme gegen die Fehler der Komintern und Lenins. Aber Ende der 1920er bzw. in den 1930er Jahren vertraten sie eine zutiefst irrige Auffassung hinsichtlich des Scheiterns der Russischen Revolution. Diese wurde von einigen Teilen der Rätekommunisten gar als eine bürgerliche Revolution eingeschätzt. Diese gingen davon aus, dass das Scheitern der Revolution nicht auf das Abflauen der weltweiten revolutionären Welle zurückzuführen war, sondern auf "bürgerliche" Auffassungen, die von der bolschewistischen Partei und Lenin vertreten wurden, die zum Beispiel für die Notwendigkeit der revolutionären Partei eintraten.

Die Deutsche Linke 

Der Faschismus, Ausgeburt des dekadenten Kapitalismus und der Wirtschaftskrise

Ein Beitrag von A. Lehmann, Mitglied der deutschen KAZ (Kommunistische Arbeiter-Zeitung), die aus der KAPD (Kommunistische Arbeiterpartei Deutschland) hervorgegangen war, zeigt den Grad theoretischer Klarheit, den die Deutsche Linke seinerzeit gegenüber der Frage des Faschismus erreicht hatte. Dieser hatte aus seiner Sicht seine Wurzeln im niedergehenden Kapitalismus und der zugespitzten Wirtschaftskrise: „Die Möglichkeit einer ständig wach­senden Akkumulation des Kapitals, die sich in der Anfangsphase geboten hatte, fand ein Ende, als die Konkurrenz zwischen den nationalen Kapitalien sich immer mehr ver­schärfte - aufgrund des Mangels an neuen Märkten, die für die kapitalistische Expan­sion hätten erobert werden müssen. Diese durch die Einschränkung der Absatzmärkte hervorgerufenen Rivalitäten führten zum Ersten Weltkrieg (...) Die verschie­denen Schichten des Kapitalismus verloren ihren besonderen Charakter (finanziellen, industriellen usw.) und wurden in einem wachsenden, gleichartigen Interessenblock aufgesogen.(…) In solch einer Struktur bestand die Notwendigkeit eines Parlaments für den Ka­pitalismus nicht mehr, welches zunächst noch als eine Fassade für die Diktatur des Mo­nopolkapitals überleben konnte.“ (aus einem Artikel, veröffentlicht in Nr. 11 „Die Massen“, November 1933), eine Monatszeitung links von der französischen Sozialdemokratie, wiederveröffentlicht von der IKS in Internationale Revue Nr.2)

Aber diese Analyse hatte trotzdem einige Schwächen, denn sie zogen die Schlussfolgerungen, dass der Faschismus sich schnell ausdehnen würde.  „Aber die Verschärfung der Weltkrise, die Unmöglichkeit, neue Märkte zu eröffnen, ließen jegliches Interesse der Bourgeoisie, die Fassade des Parlamentarismus aufrecht­zuerhalten, verblassen. Die direkte und offene Diktatur des Monopolkapitals wurde zu einer Notwendigkeit für die Bourgeoisie selber. Das faschistische System entpuppte sich als die best angepasste Regierungs­form für die Bedürfnisse des Monopolkapi­tals. Seine Wirtschaftsorganisation ist am besten in der Lage, eine Lösung für die internen Widersprüche innerhalb der Bour­geoisie anzubieten, während ihr politischer Inhalt es der Bourgeoisie ermöglicht, sich auf eine neue Basis zu stützen, die somit den Reformismus ersetzt, der mehr und mehr unfähig geworden ist, die Illusionen in den Massen aufrechtzuerhalten.“(ebenda). 

So erkannten sie nicht die besonderen Bedingungen, die zum Aufstieg des Faschismus in Italien und Deutschland beigetragen haben, die aber in anderen Industriestaaten nicht vorhanden waren. Einerseits handelte es sich um die besonders brutale Niederlage, welche die Arbeiterklasse in Italien und Deutschland nach einem großen Arbeiterkampf hatte hinnehmen müssen, und andererseits die Notwendigkeit, dass die herrschende Klasse dieser Länder, die im Ersten Weltkrieg besiegt worden war, neue Initiativen ergreifen musste, um eine bewaffnete Neuaufteilung des imperialistischen Kuchens vorzubereiten.

Schließlich stellten sie auch den Unterschied zwischen den Strömungen der Kommunistischen Linken und dem Trotzkismus oder den linken Strömungen der Bourgeoisie heraus. Sie zeigten auf, dass der Klassengegensatz innerhalb der Gesellschaft nicht zwischen Faschismus und Demokratie verläuft, sondern zwischen Proletariat und Kapitalismus. „Aber obgleich die Arbeiterklasse sich nicht stark durch die faschistische Demago­gie verseuchen ließ, war sie dennoch unfä­hig, die Entwicklung der Nationalsozialis­tischen Partei zu verhindern. Es gelang ihr nicht, die Bildung eines Blocks der re­aktionären Klassen aufzulösen. Die großen Arbeiterparteien versuchten ohne Erfolg, diese oder jene offene Divergenz zwischen dem Monopolkapital und dem Nationalsozialis­mus auszunützen. Vor allem verstand die Ar­beiterklasse nicht, dass der wirkliche Wi­derspruch nicht zwischen Demokratie und Faschismus lag, sondern zwischen Faschis­mus und proletarischer Revolution. Deshalb war es der Mangel an revolutionärer Fähig­keit seitens des Proletariats, der somit die politische Entwicklung und den Aufstieg Hitlers erlaubte.“ (ebenda).

Aber eine große Schwäche dieses Beitrags war, dass er die Gefahr des Antifaschismus nicht klar erkannte. Insbesondere hinsichtlich dieses letzten Aspektes war die Italienische Linke sehr viel klarer und konsequenter. Sie zeigte den Graben zwischen dem proletarischen Lager und allen Fraktionen der Bourgeoisie auf. 

Pannekoek

Eine Klassenanalyse des Faschismus und des Stalinismus 

Anton Pannekoek, eine große Persönlichkeit der Arbeiterbewegung und einer der Führer des linken Flügels der Sozialdemokratie, beteiligte sich an allen Kämpfen gegen die Ausdrücke des Opportunismus in der 2. Internationale. Während des 1. Weltkriegs gehörte er neben Lenin und Rosa Luxemburg zu den Internationalisten der ersten Stunde, insbesondere als die sozialdemokratischen Parteien das Proletariat verraten und zum Burgfrieden mit den Ausbeutern aufgerufen hatten. Obgleich er während des 2. Weltkriegs noch Internationalist geblieben war, gelang es ihm nicht den gleichen Beitrag zu leisten wie zur Zeit des 1. Weltkriegs.

Noch bevor der Krieg zu Ende ging, entwickelte er eine bemerkenswerte Klarheit über die Mittel, welche die herrschende Klasse einsetzte, um die Wiederholung einer zweiten revolutionären Erhebung zu verhindern (auch wenn seine Formulierungen eine große Überschätzung der Leichtigkeit zum Ausdruck bringen, mit der die proletarische Erhebung in Deutschland 1918 erfolgte): “Das Ziel der nationalsozialistischen Diktatur, die Eroberung der Weltmacht, macht es allerdings wahrscheinlich, dass sie in dem Krieg, den sie entfesselt hat, zerstört wird. Dann wird sie Europa ruiniert und verheert, in Chaos versunken und verarmt zurücklassen; den an die Herstellung von Kriegsgerät angepassten Produktionsapparat völlig abgenutzt, Boden und Arbeitskraft ausgelaugt, Rohstoffe erschöpft, Städte und Fabriken in Trümmern liegend, die Wirtschaftsquellen des Kontinents verschwendet und vernichtet. Dann wird, anders als 1918, die politische Macht nicht automatisch der Arbeiterklasse in die Hand fallen; die Siegermächte werden es nicht zulassen, ihre ganze Macht wird dazu herhalten, sie unten zu halten” (A. Pannekoek, Arbeiterräte, S. 183, 2008) 

Genau wie Bordiga vor ihm meinte Pannekoek, dass der Faschismus nicht ein Ergebnis des Aufstiegs reaktionärer Klassen der Gesellschaften, sondern der Bedürfnisse des Kapitals war. "Als Produkt eines hochentwickelten Kapitalismus verfügt der neue Despotismus über alle Kraftquellen der modernen Bourgeoisie, über alle verfeinerten Methoden moderner Technik und Organisation. Er ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt; kein Rückfall in alte rohe Barbarei, sondern Fortschritt zu einer höheren, raffinierteren Barbarei.” (ebenda, S.163).

Im Gegensatz zu Lehmann beging Pannekoek nicht den Fehler zu denken, dass der Faschismus die universelle Herrschaftsform des Kapitalismus sei. „Während in einigen Ländern faschistische Diktaturen entstehen können, sind die Bedingungen für das Aufkommen derselben in anderen Ländern nicht vorhanden“.  Er erkannte, dass besondere Bedingungen seinen Aufstieg ermöglicht hatten: “Oft wird gesagt, der Faschismus sei die eigentliche politische Lehre des Großkapitals. Das ist jedoch nicht wahr:  Amerika zeigt, dass sich seine ungestörte Macht besser mit einer politischen Demokratie sichern lässt. Wo aber das Großkapital in seinem  Kampf um den Aufstieg zur Weltmacht gegen einen stärken Feind nicht aufkommen kann, oder wo es sich im Inneren von einer rebellischen Arbeiterklasse bedroht fühlt, muss zu kräftigeren und gewalttätigeren Herrschaftsformen übergegangen werden. Der Faschismus ist die Politik des Großkapitals in Bedrängnis.” (S. 162) 

Er verdeutlichte die Tendenz zum Staatskapitalismus, der als Garant des ökonomischen und sozialen Zusammenhaltes gegenüber den Widersprüchen der Gesellschaft auftrat, welche diese erschüttern. Aus seiner Sicht waren alle Regime, ob faschistisch oder demokratisch, von solchen Merkmalen geprägt. „Die Regierungen, selbst die demokratisch maskierten, werden immer mehr dazu gezwungen sein, in die Produktion einzugreifen. Solange das Kapital Macht hat und Angst, werden despotisch geführte Regierungen als gefährliche Gegner der Arbeiterklasse aufkommen.“ (ebenda, S. 182).

Der Staat in Russland 1917, eine falsche Analyse ihn als einen Ausdruck der Tendenz zum Faschismus zu sehen

Pannekoek verstand auch das Ausmaß des Staatskapitalismus, zu dem auch der stalinistische Staat gehörte, welcher aus der Konterrevolution in Russland entstanden war.

„Bei näherer Betrachtung der inneren Zusammenhänge können wir sehen, dass nicht nur der Kommunismus durch sein Vorbild einer Staatsdiktatur, sondern auch die Sozialdemokratie dem Nationalsozialismus den Weg bereitet haben. (…) Als erstes die Idee des Staatssozialismus, der bewussten geplanten Organisation der gesamten Produktion durch die staatliche Zentralgewalt. Natürlich hatte man dabei an den demokratischen Staat als dem Organ der Arbeiter gedacht. Doch vor der Kraft der Wirklichkeit zählen keine Absichten. Ein Organ, das über die Produktion das Sagen hat, hat das Sagen über die Gesellschaft, über die Produzenten, trotz aller Bestimmungen, die versuchen, es zu einem untergeordneten Organ zumachen, und daraus entwickeln sich dann zwangsläufig eine herrschende Klasse oder Gruppe“ (ebenda, S. 180). 

Bei dieser Charakterisierung bezog sich Pannekoek richtigerweise auf die Analyse, der zufolge Russland damals überhaupt nichts mit Kommunismus zu tun hatte. Genauso wenig war der russische Staat proletarisch; stattdessen entsprach dieser einer besonderen Form, welche der Staatskapitalismus in diesem Land angenommen hatte (3). Dieser Abschnitt und die anderen Arbeiten Pannekoeks zeigen, dass er ein wirkliches Problem intuitiv richtig spürte. BILAN, das dieses Problem viel tiefergreifend behandelte, meinte dazu, dass der Staat, welcher nach der Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse entstand, nicht proletarisch war, sondern die Klassenantagonismen verkörperte, die noch innerhalb der Gesellschaft fortbestanden, solange die kapitalistischen Verhältnisse auf der Welt noch vorherrschten. Zur Zeit der weltweiten Welle von revolutionären Kämpfen verteidigte  die gesamte Arbeiterbewegung, die noch unter dem Einfluss alter sozialdemokratischer Auffassungen hinsichtlich der Frage der Übernahme der Macht stand, die falsche Analyse, der zufolge die Diktatur des Proletariats mit dem Staat der Übergangsperiode gleichgestellt wurde(4). Aber im Gegensatz zur Meinung Pannekoeks ist dieser Fehler der Arbeiterbewegung – welcher korrigiert worden wäre, wenn sich die Revolution international ausgedehnt hätte- nicht die tiefer greifende Ursache für das Scheitern der revolutionären Welle. Diese Frage konnte damals in der Hitze des Feuers nicht geklärt werden, weil das internationale Kräfteverhältnis zwischen den Klassen sich für das Proletariat sehr ungünstig entwickelt hatte, und die russische Bastion damit zu ihrem Niedergang und zur Isolierung verurteilt war.

Eine irrige Auffassung der russischen Revolution, welche die Analyse der Ursachen des Faschismus verfälschte 

Pannekoek verwarf somit diese Methode der Analyse; stattdessen suchte er einen Ursprung der Tendenz zum Staatskapitalismus und damit des Faschismus in den 'Mängeln 'der Arbeiterbewegung selbst. „Die von der Sozialdemokratie für die Arbeiter ausgegebenen Schlagworte, Ziele und Methoden wurden vom Nationalsozialismus übernommen und im Sinne des Kapitals angewandt. (….) Das „Führerprinzip“ wurde nicht vom Nationalsozialismus erfunden; unter dem demokratischen äußeren Schein verborgen, bildete es sich in der Sozialdemokratie aus. Der Nationalsozialismus erklärte es offen zur neuen Grundlage der gesellschaftlichen Beziehungen und zog alle Konsequenzen daraus“ (ebenda S. 180).

Hier kann man den Rückschritt des großen Revolutionärs ermessen, dem es gegenüber dem Faschismus nicht gelang, die Methode der konsequenten Revolutionäre – und damit seiner früheren eigenen Methode – anzuwenden, um das Phänomen des Verrats der Sozialdemokratie und die Niederlage der russischen Revolution zu erklären. Genau wie es heute in großem Maße die bürgerliche Propaganda betreibt, schmiss Pannekoek den Kommunismus mit dem Stalinismus in einen Topf. Er identifizierte die Partei der proletarischen Revolution, die Bolschewistische Partei Lenins mit Stalin und der Konterrevolution. Er ging sogar so weit, zwischen der Partei Marx' und Engels und der Noskes und Scheidemanns eine ähnliche Übereinstimmung zu sehen. Im Gegensatz zu der Methode, welche die Abgrenzung zwischen bürgerlichen und proletarischen Lager hinsichtlich wesentlicher Fragen wie dem Internationalismus und der Verteidigung der Revolution gegenüber allen Fraktionen der Bourgeoisie in den Mittelpunkt stellte, konzentrierte sich Pannekoek auf wesentliche aber zweitrangige Schwächen wie zum Beispiel den Führerkult in der Sozialdemokratie unter dem Einfluss der herrschenden Ideologie. Ihm zufolge bestand das Problem nicht mehr in einer notwendigen Abgrenzung zwischen Organisationen des Proletariats, die ins Lager des Klassenfeindes übergewechselt waren, und den neuen, aufzubauenden, sondern in der Verwerfung jeglicher politischen Partei, die  ihrem Wesen nach notwendigerweise bürgerlich sei. Dies ist einer der Gründe, weshalb er wie Lehmann nicht dazu in der Lage war, klar die Umrisse des gesamten Klassengegners aufzuzeigen, egal wie er sich gebärdet, ob stalinistisch, demokratisch oder faschistisch. Seine viel schwächere Anprangerung der Demokratie hinderte ihn auch daran, auf die Wichtigkeit der Verschleierungskraft des Antifaschismus in der Arbeiterklasse hinzuweisen.

Eine Analyse, die die arbeiterfeindliche Rolle der Sozialdemokratie abschwächt

Es hat sich herausgestellt, dass die stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien seit ihrem Wechsel auf die Seite der Konterrevolution die inbrünstigsten Verteidiger staatskapitalistischer Maßnahmen waren. Aber das Verhältnis, das Pannekoek zwischen Faschismus und Sozialdemokratie darstellt, ist falsch. Zunächst ist der Faschismus nicht das Ergebnis des Stalinismus oder des demokratischen Staatskapitalismus, sondern alle drei sind Ausdrücke der Tendenz zum Staatskapitalismus. Zudem besteht das Hauptproblem in dem schwerwiegenden Fehler einer Analyse, die den Kern des wirklichen Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Faschismus und den ehemaligen Parteien der Arbeiterklasse, welche die Seite gewechselt haben, ausblendet: die Niederschlagung der Arbeiterklasse durch den linken Flügel des Kapitals, welche den Weg zum Faschismus bereitet.

Deshalb trägt leider Pannekoek nicht zur Stärkung des Proletariats bei, auch wenn er sagt, dass die Sozialdemokratie dem Faschismus den Weg bereitet habe: „Wie konnte es geschehen, dass eine Arbeiterklasse wie die deutsche, die zur Blütezeit der Sozialdemokratie anscheinend so mächtig war und beinahe kurz davor zu stehen schien, die Welt zu erobern, so vollends hilflos wurde? Selbst für diejenigen, die den Niedergang und inneren Verfall des Sozialismus erkannt hatten, kam seine leichtfertige und kampflose Aufgabe und die völlige Vernichtung seiner imposanten Struktur überraschend. In gewisser Hinsicht kann allerdings behauptet werden, dass der Nationalsozialismus der reguläre Nachfahre der Sozialdemokratie ist“ (ebenda, S. 180). 

In dieser Schrift unterlässt Pannekoek nicht nur die wesentliche Entblößung der Rolle der Linken des Kapitals und ordnet indirekt der Revolution in Russland eine den Faschismus fördernde Rolle zu. Aufgrund seiner irrigen Analysen hat er direkt zur Verbreitung von Konfusionen in der Arbeiterklasse beigetragen, die damals durch solche Konfusionen noch mehr geschwächt wurde. 

Die Kommunistische Linke Italiens (GCI) BILAN 

BILAN setzte direkt die zuvor von der Italienischen Linken in den 1920er Jahren geleistete Arbeit fort. Daraus sind die meisten ihrer Mitglieder hervorgegangen. Die GCI konnte sich auf einen soliden programmatischen Rahmen für ihre Analysen und politischen Orientierungen stützen. Je mehr sich die Lage entwickelte und aufgrund ihrer Anstrengungen zur politischen Vertiefung konnte sie diesen Rahmen auch erweitern (5). Dadurch konnte sie "Kurs halten" zu einer Zeit, als die revolutionären Minderheiten immer mehr gegen den Strom schwammen und die entscheidenden Bataillone des Proletariats nach der Niederlage der revolutionären Welle für die Verteidigung des nationalen Kapitals eingespannt wurden. 

Der für die Revolution ungünstige Kurs und der Kampf gegen die Einheitsfront 

Anfang der 1930er Jahre wurde sich BILAN des geänderten Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen bewusst. Es verstand die neuen kurz- und mittelfristigen Perspektiven, die nicht mehr auf eine Machtergreifung durch die Arbeiterklasse hinausliefen, sondern im imperialistischen Krieg bestanden. Diese Vorgehensweise erlaubte ihr zu verhindern, dass die opportunistischen Fehler der Kommunistischen Internationale wiederholt wurden, welche insbesondere eine Politik der Einheitsfront mit den sozialdemokratischen Parteien befürwortete, um einen Einfluss auf die Massen zu bewirken, die sich immer mehr von der Revolution abwandten. So setzte BILAN den Kampf Bordigas gegen diese katastrophale Politik fort, welche der Trotzkismus und seine Anhänger betrieben. Aus trotzkistischer Sicht bestanden in den 1930er Jahren noch viele revolutionäre Möglichkeiten, die eine fähige revolutionäre Führung erfolgreich umsetzen könnte. Damals war BILAN die einzige Gruppe, die den Kampf gegen solch eine Orientierung systematisch und militant fortsetzte: 

"Nach den ersten Niederlagen änderten sich nur die unmittelbaren Ziele dieses Kampfes: 1917-20 ging es um Forderungen des unmittelbaren Kampfes um die Macht. 1921 konkretisierten sich diese Forderungen um die unmittelbaren Forderungen. Dabei wurde aufgezeigt, es sei  unvermeidbar, dass sie sich in Richtung Machtergreifung entwickelten.

Wir wissen, dass die Komintern 1921-22 dieses zentrale Problem ganz anders stellte. Sie setzte sich zum Ziel, um jeden Preis die Massen an die kommunistischen Parteien zu binden. Da ihr dies nicht mit den gleichen politischen Positionen und Methoden wie in der Zeit von 1918-1920 gelingen konnte, weil sich die Lage geändert hatte, sah sie sich gezwungen, ihre Positionen und Methoden ganz wesentlich zu ändern und somit neue Niederlagen herbeizuführen. Das Problem der Einheitsfront, welches seinerzeit in unterschiedlicher Gestalt auftauchte und auch das Problem der Machtübernahme anders stellte (Thüringen, Sachsen), war eine Folge der geschichtlich zutiefst ungünstigen Umstände. Diese schlecht gelöste Frage untergrub zutiefst die Grundlage der revolutionären Politik, auf welcher die Komintern gegründet worden war.

Im Allgemeinen wird das Problem der Einheitsfront folgendermaßen gestellt: in einem ungünstigen Zeitraum erhält das Programm, das von den Sozialisten propagiert wird, eine revolutionäre Tragweite. Der Sozialist verkündet das Programm nur mit dem Ziel, die Massen zu täuschen und mit der Absicht, niemals Bewegungen um sein Programm zu verwirklichen. Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, die Sozialdemokraten in einen Hinterhalt zu locken, d.h. ein Abkommen auf der Grundlage von Forderungen zu schließen, die von den Reformisten gestellt werden, denn aufgrund deren Entblößung kann nur die Bewegung der Massen in Richtung Kommunismus folgen“ (Bilan, Nr. 6, April 1934, Die Probleme der Einheitsfront).

Auch wenn die ungünstigen Umstände vorübergehend den Kampf um die Macht unmöglich machen, ist dies kein Grund zur Verwerfung der Prinzipien und des Zusammengehens mit dem Feind. "Man muss zunächst hervorheben, die ungünstigen Bedingungen bedeuten, dass die Frage der Macht nicht als ein realistisches Ziel des Arbeiterkampfes angesehen werden kann.  Aber diese Umstände bedeuten keine Ablehnung der zuvor von der kommunistischen Partei vertretenen Position, dass die Machtfrage nur durch den Aufstand gelöst werden kann, und dass die einzig richtige Position des Proletariats gegenüber dem Staat  die seiner Zerstörung sein kann. Zur Verwirklichung seiner Aufgaben kann die Arbeiterklasse sich nur auf die kommunistische Partei stützen. Gegen diese und die Massen an ihrer Seite werden sich die Kräfte des Kapitalismus zusammenschmieden, von der extremen Rechten bis hin zur extremen Linken (Austromarxisten)." (Bilan, Nr. 6, Die Probleme der Einheitsfront)

Obwohl der Kampf für die Revolution kurz- und mittelfristig nicht mehr auf der Tagesordnung steht, bedeutet dies nicht, dass die Arbeiterklasse nicht mehr kämpfen müsste. Aber das Ausmaß ihrer Kämpfe beschränkt sich notwendigerweise auf die Verteidigung gegen die ökonomischen Angriffe des Kapitals. Jede künstliche Abkürzung zum revolutionären Kampf (z.B. das trotzkistische Minimalprogramm) führt notwendigerweise zum Opportunismus und spielt dem Feind in die Hände. Die Trotzkisten haben diesen Weg mit ihrer Politik des "Entrismus" in die Sozialdemokratie und ihrer Politik während des Spanienkriegs der "kritischen" Unterstützung der POUM eingeschlagen, welche sich an der bürgerlichen Regierung der Generalitat Kataloniens beteiligte.

Die Entblößung der sozialistischen Parteien als Speerspitze der arbeiterfeindlichen Offensiven der Herrschenden

Wie die stalinistischen Parteien kaschiert der Trotzkismus gegenüber der Arbeiterklasse das arbeiterfeindliche Wesen der sozialistischen Parteien, aber vor allem die besondere Rolle, welche sie im Dienste des kapitalistischen Staates gegen die Arbeiterklasse spielen.  Indem Bilan systematisch all die Lehren aus den Ereignissen seit dem 1. Weltkrieg zog, zeigte die Gruppe auf eine systematische und vertiefte Weise den Verrat dieser Parteien und deren Eingliederung in den kapitalistischen Staat auf. Besonders hob sie hervor:

-Sie spielten eine entscheidende Rolle bei der Niederlage der Arbeiterklasse und dienten dem Faschismus als Steigbügelhalter. Auch wenn sie später von dem Faschismus verfolgt wurden, wäscht sie das nicht von ihren Schandtaten rein, die sie gegen die Arbeiterklasse begangen haben; und vor allem ändert das nichts an ihrem Klassenwesen, das gegen die Arbeiterklasse gerichtet ist. "Greift der Faschismus auf eine faschistische Organisationsform der Gesellschaft zurück; hält der Faschismus Einzug? Dies bedeutet aber nicht, dass das demokratische Programm der Sozialisten, welches sich schon als eine mächtige Waffe der Konterrevolution herausgestellt hat, sich ändert: Die Ereignisse in Italien, Deutschland, Österreich bewiesen dies nachdrücklich. Und dieses gleiche Programm, welches den Kapitalismus in den früheren revolutionären Erhebungen des Proletariats gerettet hat, wird weiterhin seine reaktionäre Funktion in der neuen, jetzt beginnenden Phase des Kapitalismus behalten. Wenn die Herrschenden sich auf die Faschisten stützen, werden sie die Hilfe der sozialistischen Parteien benötigen, um die Regierungen Hitlers, Mussolinis und Dollfuss an die Macht zu bringen, damit diese ihre Angriffe gegen das Proletariat durchsetzen. Und die italienischen, deutschen und österreichischen Sozialisten werden erneut zur Stelle sein, um eine für die Herrschenden unersetzliche Funktion zu erfüllen. Ob sie später verboten oder verfolgt werden, ändert überhaupt nichts an ihrer Rolle. Seit jeher haben die Marxisten verstanden, dass die kapitalistische Gesellschaft von Widersprüchen geprägt ist, und dass diese auf Profit gestützte Gesellschaft nur zu einem Todeskampf zwischen den einzelnen Kapitalisten, den Konzernen, den Staaten führen kann; und dass die politische Organisation des Kapitalismus einen Kampf zwischen den verschiedenen Parteien beinhaltet. Aber den Marxisten ist nie in den Sinn gekommen zu meinen, dass die durch ihren Gegner niedergeworfenen Kapitalisten, die von den neuen Herren geschlagenen oder niedergemetzelten Parteien einen Ausgangspunkt für den revolutionären Kampf des Proletariats darstellen." (Bilan, Nr. 6, Die Probleme der Einheitsfront)

Sie passten sich den Bedingungen an, indem sie die Illusion verbreiteten, die Sache des Proletariats zu vertreten, um es besser zu täuschen. "Ebenso wenig wie die Klassen sind die Parteien ein Ausdruck des Programms, welches sie verkünden, in Wirklichkeit sie sind ein Ausdruck der Stellung, die sie innerhalb der Gesellschaft innehaben. Die sozialistische Partei ist ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Regimes und sie erfüllt ihre Rolle, auch wenn sie ihr Programm ändert. Die Änderungen des Programms ändern keineswegs ihre Funktion, sondern im Gegenteil sie stellen eine notwendige Änderung dar, um ihre Rolle weiterhin ausüben zu können. Wenn sie zu einer Anhängern der Sowjets wird, wie 1920, dann weil sie sich dessen bewusst war, dass sie nur so die Verteidigung des bürgerlichen Regimes übernehmen konnte. Als sie in die Sowjetregierung Ungarns eintrat, tat sie dies, weil sie sich so gewissermaßen verschanzen konnte, um ihrer historischen Aufgabe nachzugehen. Unter ungünstigen oder gar sehr ungünstigen und faschistischen Bedingungen stellte das Programm der sozialistischen Partei, das keinesfalls den Interessen der Revolution diente, nur eine zusätzliche Unterstützung des Kapitalismus, des Sieges des Faschismus und dessen Machterhaltung dar. Die Sozialisten behaupten, diese oder jene Errungenschaft der Arbeiter schützen zu wollen; wir sind aber davon überzeugt, dass sie dies gar nicht wollen, sondern dass sie dies nur proklamieren, um die Arbeiter zu täuschen." (BILAN, Nr. 6, Die Probleme der Volksfront)

Die Lehren aus der Niederlage ziehen 

Die geschichtlichen Bedingungen waren damals sehr komplex. Mehrere Faktoren spielten eine Rolle: der Beginn des Niedergangs des Kapitalismus, die weltweite Welle von revolutionären Kämpfen und ihr Scheitern sowie der Beginn des Kurses hin zum Krieg. Im Hinblick auf den Krieg entfaltete die herrschende Klasse eine politische Offensive gegen das Proletariat, welche vom Staat in die Hand genommen wurde. Der demokratische Staat agierte einmal mit Verschleierungen, dann mit Repression, während der faschistische und der stalinistische Staat hauptsächlich mit Terror regierten. Alle Anstrengungen müssen unternommen werden, um die neuen Bedingungen zu begreifen, denn davon hängt es ab, ob unsere Interventionen in der Klasse und die Lehren, die wir den zukünftigen Generationen von Revolutionären übermitteln, richtig sind.  Aus Ablehnung des Immediatismus und des vorherrschenden unpolitischen Verhaltens, die jegliches politisches Nachdenken verhindern und den Boden bereiten für politische Theorien und Orientierungen, welche den Klasseninteressen des Proletariats entgegengestellt sind, begriff die Italienische Linke, dass es notwendig war, eine theoretische Analyse der damaligen historischen Bedingungen zu erstellen: "(…) Es ist wesentlich – oder zumindest war dies vorher so -, dass man, bevor man einen Kampf der Klasse aufnimmt, die Ziele, für die man kämpft, klären muss, sowie die Mittel und die Kräfte der Klasse, auf die man sich bei diesem Kampf stützen kann. Dies sind keine "theoretischen" Überlegungen; damit meinen wir, dass sie nicht all der überstürzten Kritik der blasierten Leute ausgesetzt sein soll, deren Praxis in der Regel darin besteht, ohne jede theoretische Klarheit in den Bewegungen herum zu fuschen, und somit mit allen möglichen Leuten ohne irgendwelches Programm zusammenzuarbeiten, solange es irgendeine "Aktion" gibt. Wir meinen natürlich, dass solche Aktionen nicht einfach auf ein launisches Verhalten oder auf den jeweiligen guten Willen Einzelner zurückzuführen sind, sondern ein Ergebnis der Lage selbst sind. Darüber hinaus ist die theoretische Arbeit für die Aktion wichtig, damit die Arbeiterklasse von neuen Niederlagen verschont bleibt. Man muss sehen, wie viel Verachtung  dadurch gegenüber der theoretischen Arbeit gezeigt wird, denn in Wirklichkeit geht es immer darum, klamm heimlich proletarische Positionen durch Auffassungen des Klassenfeindes zu ersetzen. Die der Sozialdemokratie sollen ins revolutionäre Milieu vordringen, wobei man gleichzeitig unbedingt auf Aktionen abzielt, die aufzeigen sollen, dass man in einem Wettlauf mit dem Faschismus steht." (BILAN; Nr.7, Der Antifaschismus- eine irreführende Ausrichtung") Diese von BILAN propagierte Vorgehensweise steht im Gegensatz zu der des Antifaschismus, "der keine politischen Kriterien mit berücksichtigt. Denn dieser setzt sich zum Ziel, all diejenigen zusammenzubringen, die von dem Angriff der Faschisten bedroht sind, indem ein "Verband der Bedrohten" gebildet wird" (BILAN; Nr. 7, Der Antifaschismus  eine irreführende Ausrichtung).

Der Faschismus – ein Ausdruck des Staatskapitalismus, der durch die Niederlage der Arbeiterklasse möglich geworden ist 

 Aus der Sicht BILANs wie für die KP Italiens vor der Verdrängung Bordigas aus der Parteiführung war der Faschismus nichts anderes als Kapitalismus, welcher sich an die ökonomischen und politischen Notwendigkeiten angepasst hatte, die ein energisches Eingreifen des Staates erforderlich machten, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. "Die Erfahrung zeigt, dass die Wandlung des Kapitalismus zum Faschismus nicht vom Willen einiger Gruppen der bürgerlichen Klasse abhängt, sondern von Notwendigkeiten, die auf eine ganze historische Periode zurückzuführen sind und die besonderen Eigenarten der Lage bestimmter Staaten, die gegenüber der Krise und dem Todeskampf des bürgerlichen Regimes weniger widerstandsfähig sind. Die Sozialdemokratie, die die gleiche Richtung eingeschlagen hat wie die liberalen und demokratischen Kräfte, ruft ebenso die Arbeiter dazu auf, sich hauptsächlich an den Staat zu wenden, damit dieser die faschistischen Gruppierungen zwingt, die Legalität zu respektieren, mit dem Ziel sie zu bewaffnen oder sie gar aufzulösen. Diese drei politischen Strömungen ziehen am gleichen Strang. Die Wurzel liegt darin, dass der Kapitalismus dem Faschismus zum Triumph verhelfen muss, dort wo der kapitalistische Staat das Ziel verfolgt, den Faschismus zu fördern, um ihn zu der neuen Organisationsform der kapitalistischen Gesellschaft zu machen" (BILAN; Der Antifaschismus, eine irreführende Ausrichtung).

Das Beispiel Deutschlands beweist es klar. Durch den Versailler Vertrag reingelegt und in Ermangelung kolonialer Märkte, wurde Deutschland dazu gezwungen, erneut in einen imperialistischen Kampf um die Aufteilung der Welt einzutreten. Die tiefgreifende physische Niederlage des Proletariats in Deutschland ließ die Aufrechterhaltung der demokratischen Maske überflüssig werden und ermöglichte die Errichtung totalitärer Herrschaftsformen.

Die Fortentwicklung der Lage im Vergleich zu den Verhältnissen zur Zeit Bordigas Anfang der 1920er Jahre, als Mussolini die Macht übernahm, ermöglichte es BILAN die Bedingungen für den Aufstieg des Faschismus zur Macht genauer zu präzisieren. "Dieser ist auf einer doppelten Grundlage entstanden: aufgrund der Niederlage der Arbeiterklasse und der Erfordernisse einer durch die Wirtschaftskrise völlig zerrütteten  Wirtschaft“ (Bilan, Nr. 16, März 1935, „Die Niederwerfung der Arbeiterklasse in Deutschland und der Aufstieg des Faschismus“).

Die Demokratie schafft die Vorbedingungen für den Faschismus und mobilisiert das Proletariat für den Krieg 

Als Speerspitze der Verteidigung des Kapitalismus hat die Sozialdemokratie, indem sie der Arbeiterklasse eine Reihe von Niederlagen beifügte, solch eine Herrschaftsform möglich gemacht, die den Bedürfnissen des nationalen Kapitals voll entsprach. "Was vor allem die Herrschaft des Faschismus herbeiführte, war die Bedrohung, die in der Zeit nach dem Krieg das Proletariat darstellte. Gegen diese Gefahr konnte sich der Kapitalismus dank der Sozialdemokratie wehren, aber dies erforderte eine politische Struktur, die der notwendigen disziplinierenden Konzentration auf wirtschaftlicher Ebene entsprach (…) Der deutsche Kapitalismus, der jämmerlich zusammenbrach, konnte nach 1919 nicht auf den Faschismus zurückgreifen, zudem das Proletariat noch eine bedrohliche Gefahr darstellte. Deshalb kämpften die Fraktionen des Kapitalismus gegen den Kapp-Putsch wie übrigens auch die Alliierten, die den Wert der unschätzbaren Hilfe der Sozialverräter erkannt hatten“ (BILAN Nr. 10, August 1934, "Die Ereignisse des 30. Juni in Deutschland").

Der gleichen Logik folgend unterstrich BILAN die Ergänzung und den Unterschied zwischen den beiden Herrschaftsformen des Kapitals – Demokratie und Faschismus – hinsichtlich der Art der Kontrolle über die Arbeiterklasse, wodurch die völlige Unterwerfung unter die Interessen des nationalen Kapitals ermöglicht wurde: "Zwischen Demokratie, dem größten Prunkstück, Weimar, und dem Faschismus, trat kein echter Gegensatz zutage: die eine ermöglichte die Niederschlagung der revolutionären Gefahr; sie zerstreute und schwächte das Proletariat, trübte sein Bewusstsein; der andere, wurde am Ende dieser Entwicklung die eiserne kapitalistische Ferse, der sein  ganzes Wirken sowie die rigide hergestellte Einheit der kapitalistischen Gesellschaft auf der Grundlage der Erstickung jeder proletarischen Bedrohung stützte." (BILAN; Nr. 10, August 1934; "Die Ereignisse des 30. Juni 1934 in Deutschland").  "…die demokratische Herrschaft ist in vieler Hinsicht diejenige, die sich am meisten an die Bedürfnisse der Aufrechterhaltung ihrer Privilegien (d.h. des Bürgertums) anpasst, denn sie dringt viel geschickter als der Faschismus in die Köpfe der Arbeiter ein. Sie greift diese von Innen an, während der Faschismus eine Reifung innerhalb der Klasse gewalttätig niederschlägt, weil es dem Kapitalismus nicht gelingt, diese aufzulösen" (BILAN, Nr. 22, August 1935, "Die Probleme der Lage in Frankreich").

"Unter dem Zeichen der Volksfront ist die "Demokratie" zum gleichen Ergebnis gekommen wie der "Faschismus": Die Niederschlagung des französischen Proletariats und ihr Verschwinden von der Bühne der Weltgeschichte. Infolge einer tiefgreifenden, weltweiten Niederlage besteht das Proletariat vorübergehend nicht mehr als Klasse" (BILAN; Nr. 29, März-April 1936; "Die Niederschlagung des französischen Proletariats und die daraus hervorgehenden internationalen Lehren").

Der Faschismus schließt die Niederlage des Proletariats ab

Wie Bordiga deutlich gezeigt hatte, übernimmt der Faschismus eine Rolle gegenüber der gesamten Gesellschaft, indem er eine entsprechende Organisationsform zur beschleunigten Vorbereitung des Krieges schafft. Gegenüber der Arbeiterklasse drückt sich dies aus durch "das Bedürfnis eines Herrschaftsapparates aus, welcher nicht nur die Widerstandsbewegungen oder die Revolten der Unterdrückten niederschlägt, sondern auch einen Apparat schafft, dem es gelingt, die Arbeiter für den Krieg zu mobilisieren" (BILAN, Nr. 10, August 1934, "Die Ereignisse des 30. Juni in Deutschland"). Gegenüber einer Arbeiterklasse, die ihre Fähigkeit zu revolutionären Kämpfen unter Beweis gestellt hatte, musste die herrschende Klasse in der Tat möglichst viele Mittel einsetzen, um dessen Bewusstwerdung und mögliche Erhebung während des imperialistischen Krieges zu verhindern, trotz der physischen und ideologischen Niederlage, die sie schon erlitten hatte. "Die Gewalt hatte nur nach der Machtübernahme der Faschisten einen Sinn - dies ge­schah nicht als eine Reaktion auf einen proletari­schen Angriff, sondern nur um ihn vorzubeugen.“ (Bilan Nr.16, 1935 „Die Niederschlagung der Arbeiterklasse in Deutschland und der Aufstieg des Faschismus“) Der Faschismus musste diese Aufgabe übernehmen, die Niederlage des Proletariats zu vollenden, da er die Staatsführung übernommen hatte. 

Die Vorstellung eines nicht-kapitalistischen Wesens des Faschismus im Dienste der antifaschistischen Verschleierungen 

Alle Verfechter des Antifaschismus und der "demokratischen Freiheiten" berufen sich auf das angeblich unterschiedliche Wesen des Kapitalismus – je nachdem ob dieser faschistisch, totalitär oder demokratisch sei. Dagegen wandte sich BILAN:

„Wenn wir andererseits wiederum untersuchen, woher die Idee des Antifaschismus stammt – zumindest in ihren programmatischen Aussagen –, kann man sehen, dass sie auf eine Trennung zwischen Faschismus und Kapitalismus zurückgeht. Es stimmt, wenn man zu dieser Frage einen Sozialisten, einen Zentristen oder einen leninistischen Bolschewik befragt, werden sie alle behaupten, dass der Faschismus eigentlich Kapitalismus ist. Aber der Sozialist wird meinen: „Es ist unser Interesse, die Verfassung und die Republik zu verteidigen, um den Sozialismus vorzubereiten.“ Der Zentrist wird aussagen, dass man den Zusammenschluss der kämpfenden Klasse leichter um den Antifaschismus herstellen kann als um den Kampf gegen den Kapitalismus. Der leninistische Bolschewik wiederum wird behaupten, es gebe keine bessere Grundlage für den Zusammenschluss und den Kampf als die Verteidigung der demokratischen Institutionen, welche der Kapitalismus nicht mehr der Arbeiterklasse sicherstellen kann. Somit kann die allgemeine Behauptung, „Der Faschismus bedeutet Kapitalismus“ zu politischen Schlussfolgerungen führen, die darauf zurückzuführen sind, dass Faschismus und Kapitalismus losgelöst voneinander gesehen werden“ (Bilan, Nr.7,,Antifaschismus – eine irreführende Ausrichtung“).

Das Proletariat wählt nicht die Herrschaftsform, der es unterworfen wird

Alle Teile der Herrschenden arbeiten auf die Verstärkung des Staatskapitalismus hin, egal welche Form diese Verstärkung annimmt – ob die stalinistische, faschistische oder demokratische. Die Umsetzung dieser Tendenz hängt nicht vom Willen bestimmter Teile der Herrschenden zu einem gegeben Zeitpunkt ab, sondern von historischen Bedingungen. Keiner der Ausdrücke des Staatskapitalismus stellt ein "geringeres Übel" für die Arbeiterklasse dar, denn die Arbeiterklasse verfügt über keine Macht in der Gesellschaft (im Zeitraum des Niedergangs des Proletariats), um den historischen Kurs hin zu der einen oder anderen Form zu beeinflussen. BILAN hinterfragt diejenigen, die die entgegengesetzte These vertreten: Wenn die Arbeiterklasse über solch eine politische Macht innerhalb der Gesellschaft verfügte, warum sollte sie diese dann nicht einsetzen zugunsten einer eigenen politischen Macht? Wenn man die falsche Wahl zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen verwirft, heißt das überhaupt nicht indifferent gegenüber den Klasseninteressen der Arbeiterklasse zu sein. Und wenn die herrschende Klasse sich entschließt, auf die Sozialdemokratie an der Regierung zurückzugreifen, setzt sie eine Trumpfkarte gegen die Arbeiterklasse ein.

"Man wirft uns vor, dass es uns gleichgültig sei, ob es eine rechte, linke oder faschistische Regierung gebe. Aber gegenüber dieser Frage wollen wir ein für allemal das folgende Problem aufwerfen: In Anbetracht der Änderungen der Lage nach dem Weltkrieg, stellt da nicht die Position, welche unsere Kritiker vom Proletariat verlangen, nämlich zwischen den am wenigsten schlechten Organisationsformen des kapitalistischen Staates zu wählen, die gleiche Position dar, welche von Bernstein vertreten wurde, welcher das Proletariat dazu aufrief, die beste Form des kapitalistischen Staates umzusetzen? Vielleicht antwortet man, es werde vom Proletariat nicht verlangt, die Sache der Regierung zu unterstützen, welche aus proletarischer Sicht als die beste Herrschaftsform angesehen werden könnte, sondern man wolle einfach die Positionen des Proletariats dadurch stärken, indem man dem Kapitalismus eine demokratische Herrschaftsform aufzwinge. In diesem Fall würde man nur die Sprache ändern, der Inhalt bliebe gleich. Wenn das Proletariat tatsächlich in der Lage wäre, der Bourgeoisie eine Regierungsform aufzuzwingen, warum sollte es sich dann auf ein solches Ziel beschränken, anstatt die zentralen Forderungen für die Zerstörung des kapitalistischen Staates vorzubringen. Andererseits wenn seine Kraft noch nicht für die Auslösung eines Aufstandes ausreicht, bedeutet die Orientierung des Proletariats hin zu einer demokratischen Regierung nicht, es anzuspornen zu einem Sieg über den Feind?

Das Problem besteht aber bestimmt nicht darin, wie es die Anhänger der "besten Wahl" sehen:  das Proletariat hat seine Lösung des Problems des Staates. Und es hat keine Macht, keine Initiative hinsichtlich der Lösungen, die der Kapitalismus für das Problem seiner Macht bietet. Es liegt auf der Hand, dass man logischerweise mehr sehr schwache bürgerliche Regierungen finden kann, welche die Entwicklung des revolutionären Kampfes des Proletariats erleichtern werden. Aber es liegt vor allem auf der Hand, dass der Kapitalismus nur dann linke oder linksradikale Regierungen bilden wird, wenn diese unter den gegebenen Bedingungen  der besten Form seiner Verteidigung entsprechen.  1971-21 kam die Sozialdemokratie an die Regierung, welche die bürgerlichen Interessen verteidigte und sie war die einzige Formation, welche eine Niederschlagung des Proletariats ermöglichte. Wenn man davon ausgeht, dass eine rechte Regierung direkt die Massen hin zum Aufstand orientiert hätte, hätten die Marxisten die Machtübernahme solch einer reaktionären  Regierung befürworten sollen? Wir stellen diese Hypothese auf, um zu beweisen, dass es keine Formel einer "besseren oder schlechteren Regierung", die für das Proletariat allgemeingültig wäre, geben kann. Diese Begriffe dienen nur dem Kapitalismus in bestimmten Lagen. Die Arbeiterklasse hat dagegen zur Aufgabe, sich auf der Grundlage von Klassenpositionen zusammenzuschließen, um den Kapitalismus in all seinen Formen zu bekämpfen, sei es in seiner faschistischen, demokratischen oder sozialdemokratischen Gestalt" (BILAN, Nr. 7, "BILAN;  Antifaschismus Nr. 7, Eine irreführende Ausrichtung" ).

Die Alternative Faschismus / Antifaschismus dient ausschließlich der kapitalistischen Herrschaft

Der Faschismus ist nicht der einzige Ausdruck der Tendenz zum Staatskapitalismus. Angetrieben durch die Notwendigkeit der Kriegsvorbereitungen, beeinflusste dieser alle Staaten, aber diese Tendenz kam je nach den Umständen in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck. “Wir können heute zum Beispiel feststellen, dass sich nach 14 Jahren Faschismus in Italien nach der  Zuspitzung der inter-imperialistischen Spannungen, die faschistische Bewegung kaum weiter ausbreitet, und dass sich dagegen der Gang der Ereignisse, welche zum Krieg führten, unter dem Schild  des Antifaschismus in Frankreich abspielt oder der Abwesenheit eines jeglichen Nährbodens für den Faschismus und den Antifaschismus in England, eines der wohlhabendsten Kolonialreiche. Die Erfahrung zeigt jeden Tag, dass die unterschiedlichen diktatorischen oder faschistischen   und liberalen oder demokratischen Regime an der Front der zwischenstaatlichen Kämpfe das Dilemma "Diktatur-Demokratie" entstehen lassen. Dies wurde schließlich zur Fahne, unter der später die Arbeitermassen für das weltweite Abschlachten mobilisiert wurden" (Bilan, Nr. 22, August-September 1935, Bericht zur Lage in Italien).

Die Mobilisierung der Arbeiterklasse für die antifaschistischen Fronten bedeutete natürlich ihre Mobilisierung für den imperialistischen Krieg. Diese Perspektive bahnte sich während der 1930er Jahre durch eine Reihe von Verzichten des Proletariats auf seine Klassenforderungen im ökonomischen Kampf unter dem Einfluss der verschiedenen antifaschistischen und demokratischen Komponenten der Bourgeoisie an: "In den letzten Monaten sind eine Reihe von Programmen und Plänen entwickelt  und antifaschistische Organisationen in die Welt gesetzt worden, aber das hat keinesfalls Doumergue daran gehindert, die Renten massiv zu kürzen und somit ein Signal zu setzen für Lohnkürzungen, die der französische Kapitalismus überall durchdrücken will. Wenn auch nur ein Hundertstel der Aktivitäten, die um die Frage des Antifaschismus entfaltet wurden, auf die Bildung einer festen Front der Arbeiterklasse für die Auslösung eines Generalstreiks zur Verteidigung unmittelbarer Forderungen verwandt worden wären, ist es ganz klar, dass die Repressionsdrohungen nicht hätten umgesetzt werden können und die Arbeiter, sobald sie sich auf der Grundlage ihrer Klasseninteressen zusammengefunden hätten, wieder Selbstvertrauen gefasst hätten. Damit hätte eine Wende herbeigeführt werden können, in der wieder die Machtfrage hätte gestellt werden können, und zwar in der einzigen Form, in der sie für die Arbeiterklasse gestellt werden kann: Diktatur des Proletariats (…) Eine konkrete Position des Problems zeigt, dass die Formel des Antifaschismus nur Verwirrung stiftet und die sichere Niederlage der Arbeiterklasse vorbereitet" (BILAN, Nr. 7, Der Antifaschismus – Eine irreführende Ausrichtung" ).

Gegenüber der vorherrschenden Verwirrung stand BILAN vor der Aufgabe der Wiederherstellung des Marxismus, um so einen Kampf gegen die demokratischen Illusionen zu führen.

 „Aber hier handelt es sich um den Bereich marxistischer Kritik, der die Unterdrückung der Klasse hinter der demokratischen und liberalen Fassade aufdeckt, und der gerade Marx zu der Schlussfolgerung führte, dass das Synonym von "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" tatsächlich "Infanterie, Kavallerie und Artillerie" lautet“ (Bilan, Nr. 13, Faschismus, Demokratie, Kommunismus). Im gleichen Artikel erinnert Bilan an die Grundlagen des Marxismus hinsichtlich der Demokratie. „Am Ende des Weges des Klassenkampfes steht nicht das System der reinen Demokratie, denn das Grundlagenprinzip der kommunistischen Gesellschaft ist die Abwesenheit einer staatlichen, die Gesellschaft führenden Macht, während die Demokratie sich gerade darauf stützt. In ihrer liberalsten Erscheinung versucht sie immer die Ausgebeuteten zu verleumden, sie anzugreifen, die es wagen, ihre Interessen mit Hilfe ihrer Organisation zu vertreten, anstatt weiterhin den demokratischen Institutionen unterworfen zu bleiben, die nur dazu geschaffen wurden, um die Klassenausbeutung aufrechtzuhalten.“ Bilan erklärte „warum die Verteidigung der Demokratie in Italien - wie auch in Deutschland - letztendlich nur eine notwendige Bedingung für den Sieg des Faschismus war. Denn was unrichtigerweise "faschistischer Staatsstreich" genannt wird, ist schließlich ein mehr oder weniger friedlicher Machtwechsel zwischen einer demokratischen und einer neuen faschistischen Regierung.“ Es zieht daraus die Schlussfolgerung: „Das zu lösende Problem ist nicht die Zuordnung für das Proletariat von x-möglichen politischen Positionen für jeden möglichen Gegensatz in den verschiedenen Situationen, indem man es an dieses oder jenes Monopol oder den Staat bindet, die sich jeweils gegenüberstehen. Nein, das Proletariat muss seine organische Unabhängigkeit gegenüber jedem politischen und ökonomischen Ausdruck der Welt des Klassenfeindes bewahren“ (ebenda).

Daraus folgte klar, dass die Alternative Faschismus / Antifaschismus für das Proletariat eine falsche Alternative ist, die dazu dient, es von seinem Klassenterrain abzubringen. „Das Dilemma Faschismus-Antifaschismus wirkt ausschließlich zugunsten der Interessen des Feindes, und der Antifaschismus, die Demokratie betäuben die Arbeiter. (…) Diese Waffe des Antifaschismus lässt die Arbeiter blind werden, damit sie nicht mehr ihr eigenes Feld und den Weg ihrer Klasse sehen“. (ebenda) 

Die revolutionären Organisationen seit dem 2. Weltkrieg

In diesem Teil beschränken wir uns auf die Organisationen, die ihren Ursprung in der Italienischen Linken haben, und wir lassen dabei absichtlich die rätekommunistischen Strömungen außer Acht, da ihre militanten Aktivitäten und ihre Veröffentlichungen zum hier behandelten Thema trotz allem relativ zweitrangig waren. Diese Organisationen gehören zwei Flügeln der Kommunistischen Linken Italiens an: dem Flügel, der aus der in Italien 1943 entstandenen PCI hervorgegangen ist, und dem Flügel, der aus der Kommunistischen Linken Frankreichs hervorging, welcher die opportunistischen Grundlagen bei der Bildung der PCI nicht akzeptierte. Der erste Flügel, der sich nicht direkt auf BILAN beruft und einige der Beiträge von BILAN verwirft, brachte nach einer Spaltung 1952 verschiedene bordigistische Organisationen hervor, und andererseits die PCInt Battaglia Comunista. Der zweite Flügel, die Kommunistische Linke Frankreichs, die mehr unter dem Namen ihrer Zeitschrift Internationalisme bekannt ist, und die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre bis Anfang der 1950er Jahre aktiv war, war der Vorfahre der IKS.

Diese beiden Komponenten berufen sich auf das Erbe Bordigas und BILANs hinsichtlich der Analyse des Faschismus und der falschen Alternative Faschismus/Antifaschismus. Aber sie zeigten nicht die gleiche Unnachgiebigkeit gegenüber Gruppen oder Leuten, die sich während des 2. Weltkriegs am “antifaschistischen Kampf” in unterschiedlichem Maße beteiligt hatten, und sich am Ende des Krieges weiter auf die Kommunistische Linke beriefen  und von denen sich einige (Vercesi) gar an der Gründung der IKP-Italiens beteiligten. Darüber hinaus gelang es diesen beiden Komponenten nicht, ihren Analyserahmen an die Lage, die durch 1968 angebrochen war, auf die gleiche Weise anzupassen. Seitdem besteht die Perspektive in der Entwicklung des Klassenkampfes; die Übernahme der Macht durch den Faschismus steht nicht mehr auf der Tagesordnung, solange der Kurs hin zu verstärkten Klassenzusammenstößen andauert. Die Entblößung der faschistischen Gefahr, wie sie heute von den Bürgerlichen an die Wand gemalt wird, muss mit dieser Perspektive vor Augen erfolgen und nicht der der Wiederholung der 30er Jahre. Aber während es im Gegensatz zu den 30er Jahren der herrschenden Klasse heute nicht möglich ist, das Proletariat für einen imperialistischen Krieg zu mobilisieren, erfüllen die gegenwärtigen Kampagnen gegen die “faschistische Gefahr” eine arbeiterfeindliche Rolle, denn sie sollen die demokratische Verschleierung verstärken. 

Internationalisme 

Die Wachsamkeit Internationalismes bei der Verteidigung des politischen Erbes, das von Bilan überliefert wurde, wird anhand des ‚Falls Vercesi‘ deutlich. Trotz seiner fehlerhaften Theoretisierungen hinsichtlich des Wesens des imperialistischen Krieges (6) hatte dieser Militant zuvor entschlossen den Antifaschismus als ein Instrument der Mobilisierung des Faschismus für den imperialistischen Krieg angeprangert. Aber während des 2. Weltkrieges beteiligte er sich am Antifaschistischen Komitee Brüssels, ohne davon die Italienische Fraktion, der er weiter angehörte, zu unterrichten. Nachdem diese davon erfahren hatte, schloss sie diesen am 20. Januar 1945 aus ihren Reihen aus. Man könnte dabei stehen bleiben, die ganze Angelegenheit des Verrats Vercesis zu bedauern, wenn dieser sich nicht nach dem Krieg an der Gründung der IKP beteiligt und sein gleichzeitiges Engagement auf Seiten der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie zu begründen versucht hätte. Diese Rechtfertigung stellt aber eine Infragestellung der Grundlagen der internationalistischen Position Bilans dar. Im Juni 1945 stellte sich Internationalisme entschlossen gegen solch eine Begründung: “Der Trotzkismus berief sich später auf die Dritte Internationale, um dann der sozialistischen Partei und den Parteien der Zweiten Internationale beizutreten. Die stalinistischen Parteien beriefen sich auf Lenins frühere Position gegen den Krieg, nur um den Krieg heute zu unterstützen. Die Anarchisten beriefen sich auf Bakunin bei ihrer Verwerfung der staatlichen Repression, wobei sie gleichzeitig ihre Unterstützung des kapitalistischen spanischen Staates und dessen Repression gegen die Arbeiter 1936 rechtfertigten. Vercesi machte keine Ausnahme; er ‚bestätigte‘ seine frühere Position gegen den Antifaschismus, um den heutigen Antifaschismus zu bekräftigen. Schauen wir, was er schreibt: “Ich bestätige also, dass es richtig war kundzutun, dass die indirekte Taktik, die in der antifaschistischen Formel zum Ausdruck kam, zu einem Prinzipienbruch führte. Der Krieg bewies dies.  Heute bestätigt sich dies erneut, wenn wir gegenüber dem kapitalistischen Staat, welcher unfähig ist den Faschismus und die Faschisten zu liquidieren, die gewalttätige Opposition des Proletariats gegen die Faschisten und den Faschismus fordern, und auf den Zusammenprall zwischen dem Proletariat und dem kapitalistischen Staat hinarbeiten. ”Damit die vielen Worte nicht verhindern, dass der Leser den Kern der Debatte aus den Augen verliert, möchten wir hervorheben, dass es nicht darum geht, ob man den gewalttätigen Widerstand des Proletariats gegen den Faschismus fordert. Damals wie heute forderten  und fordern wir weiter den Widerstand des Proletariats gegen den Faschismus. Die Frage ist, wie, mit welcher Methode, auf welcher Grundlage muss dieser Aufruf erfolgen? Soll dieser Widerstand auf der Grundlage des Klassenkampfes, mit einer Klassenperspektive, auf unabhängigem Klassenboden, unabhängig von allen politischen und organisatorischen Gebilden des Kapitalismus geleistet werden, oder soll dies durch Zusammenarbeit mit den Gruppen geschehen, die mit dem Faschismus aufgrund ihres Klassencharakters verbunden sind? D.h. durch antifaschistische Komitees, in dem diejenigen zusammengeschlossen werden, die dem Faschismus den Weg bereitet haben? Nur darum dreht sich die Debatte, und das ganze Geschwafel um die Aufforderung des Kampfes gegen den Faschismus vernebelt nur die ganze Frage” (Internationalisme, Nr. 4, Der Neo-Antifaschismus, Juni 1945).

Während Internationalisme nichts Spezifisches zur Bereicherung der Analyse Bilans zur Frage des Faschismus und Antifaschismus beitrug, leistete es jedoch einen wesentlichen Beitrag zur Verstärkung der theoretischen Grundlagen dieser Analyse und seiner Beziehung zum Staatskapitalismus. Internationalisme, das die Grundlagen der Analyse des kapitalistischen Wesens Russlands vertiefte, unterstrich insbesondere: “Man kann die Tendenz nicht leugnen, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln immer mehr beschränkt wird; dies ist in immer mehr Ländern zu beobachten. Diese Tendenz konkretisiert sich in der Bildung eines Staatskapitalismus, welcher die Hauptbranchen  der Produktion und des Wirtschaftslebens insgesamt verwaltet. Der Staatskapitalismus ist kein Anhängsel einer Fraktion der Bourgeoisie oder einer besonderen Schule. Er hat sich sowohl im demokratischen Amerika wie in Hitler-Deutschland und im von der Labour-Partei regierten England wie im ‚sowjetischen‘ Russland niedergelassen” (Internationalisme, Nr. 10. Die russische Erfahrung). 

Der Bordigismus

Dank des programmatischen Rahmens, der von der Italienischen Linken geerbt wurde, veröffentlichte die IKP 1960 in ihrer Zeitschrift Programme Communiste Nr. 11 den wichtigen Artikel "Auschwitz oder das große Alibi", der seitdem als Broschüre veröffentlicht wurde.

Dieser Artikel wendet ausgezeichnet den Marxismus auf die Analyse des Holocausts während des 2. Weltkriegs an und entlarvt die ideologische Ausbeutung der Todeslager durch die Demokratie und die Siegermächte des 2. Weltkriegs.  Es ist kein Zufall, dass dieser Artikel auf dem Höhepunkt der jüngsten antifaschistischen Kampagnen der Demokratien (7) die Angriffe der Herrschenden auf sich gezogen hat. Die demokratischen und linksextremen Fraktionen haben die Aufgabe übernommen, diesen Text mittels Verleumdungen und Lügen zu zerreißen. Denn der Text prangert die "Heuchelei der Bourgeoisie an, die uns glauben machen wollen, dass Rassismus und Antisemitismus für die Leiden und die Massaker verantwortlich seien, die insbesondere den Tod von sechs Millionen Jugend im 2. Weltkrieg verursacht haben. Der Text legt die wirklichen Wurzeln für die Auslöschung der Juden bloß. Diese Wurzeln können nicht im Bereich der ‚Ideen‘ gefunden werden, sondern in der Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaft selbst und der gesellschaftlichen Widersprüche, die dieser hervorbringt. Er verdeutlicht ebenso, „während der deutsche Staat der Henker der Juden war, in Wirklichkeit alle bürgerlichen Staaten mitverantwortlich sind für deren Tod, über den sie jetzt Krokodilstränen vergießen.“ (siehe unseren Artikel „Antinegationistische Kampagnen – ein Angriff gegen die Kommunistische Linke“).  

So aufschlussreich dieser Artikel auch ist und obwohl im Allgemeinen die Analysen der IKP zur Frage des Faschismus und des Antifaschismus richtig sind, sind diese dennoch von einigen Schwächen geprägt, die wir erwähnen wollen. Der folgende Auszug aus einem Flugblatt der IKP („Auschwitz oder das große Alibi: was wir leugnen und was wir bekräftigen"), das zur Verteidigung ihrer Broschüre gegen die Angriffe der Bourgeoisie verfasst wurde, belegt dies: "8) Wir leugnen,  dass man gegen den Faschismus kämpfen kann, indem man die Aufrechterhaltung einer idealisierten Demokratie fordert. Wir verneinen auch, dass man gegen die Monopole kämpfen könne, indem man für die freie Konkurrenz plädiert. Wir bekräftigen, dass ein 'wirklicher Kampf' gegen den Faschismus verlangt, dass man einen wirklichen Kampf gegen den Kapitalismus führt. Wir behaupten sogar, dass die antifaschistische Propaganda nur auf der Grundlage einer ernsthaften antikapitalistischen Propaganda betrieben werden kann.

9) Wir leugnen, dass wichtige Fraktionen der Bourgeoisie wirksam gegen den Faschismus kämpfen können. Wir bekräftigen, wenn die Lage es erforderlich macht, schließen sich die ausschlaggebenden Zentren des Großkapitals dem Faschismus an. Sie ziehen dabei eine große Mehrheit Bürgerlicher und Kleinbürger auf ihre Seite.

10) Wir verneinen, dass große antifaschistische Fronten sich ernsthaft dem Aufstieg des Faschismus entgegenstellen. Wir sagen, dass diese in Wirklichkeit einen wirksamen antifaschistischen Kampf verhindern: Die Geschichte und Theorie – wie die gegenwärtige Polemik es belegt – unter dem Vorwand, dass man die Einheit aufrechterhalte und die "Front" nicht aufbrechen wolle, untersagt den radikalsten Leuten noch nicht mal auf Propagandaebene einen konsequenten anti-kapitalistischen Kampf zu führen."

Ungeachtet all der Einschränkungen, die im Kampf gegen den Faschismus entstehen, lassen diese Zeilen, aus einer Perspektive der Arbeiterklasse gesehen, den Weg offen für die Möglichkeit und Notwendigkeit eines solchen Kampfes. Auch ist damit die Idee verbunden, dass der Faschismus heute für die Arbeiterklasse eine Gefahr bedeutet. So verstärkt die IKP, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Glaubwürdigkeit der Kampagnen der Herrschenden, welche vor der faschistischen Gefahr warnen. Aber wie wir aufgezeigt haben, stehen wir heute nicht vor der Gefahr des Faschismus, sondern die Hauptgefahr für die Arbeiterklasse besteht darin, dass sie sich für die Verteidigung der Demokratie einspannen lässt. Wenn in den Kampagnen zur Verteidigung der Demokratie, die vor allem von den linken und extrem-linken Parteien des Kapitals getragen werden, vor der extremen Rechten als einer tödlichen Gefahr für die Arbeiterklasse gewarnt wird, soll damit das wahre Gesicht der Demokratie vertuscht werden. Die rechten und extrem-rechten Parteien sind natürlich offen gegen die Arbeiterklasse eingestellt. Aber die Linken und Extrem-Linken Gruppen handeln viel verdeckter und eigentlich wirksamer gegen die Arbeiterklasse, dadurch werden sie für die Arbeiterklasse viel gefährlicher. Die KPs und SPs sind schon als Henker der Arbeiterklasse aufgetreten. Sie werden dies erneut tun, genau so wie die extreme Linke, wenn die Bedingungen dafür vorhanden sind. 

Diese Schwächen der Intervention der IKP sind nicht auf eine unvollkommene theoretische Analyse zurückzuführen, sondern auf eine Tendenz, die von der Linken in Italien verwendeten Parolen schematisch zu übertragen, als diese zu Beginn der 1920er Jahre mit dem Faschismus an der Macht konfrontiert war. Auf dem damaligen Hintergrund, der sich von der heutigen Lage stark unterscheidet, hatten diese Parolen gegen den Faschismus eine andere Bedeutung, da sie der Mobilisierung gegen eine an der Macht befindliche Partei dienten, welche die Staatsgeschäfte führte. Damit waren diese gegen die Macht und die kapitalistische Gesellschaft insgesamt gerichtet.

(Fußnoten)

1) Man muss feststellen, dass dieser Absatz im Gegensatz zu den späteren Theoretisierungen und der programmatischen Positionen der bordigistischen Anhänger Bordiga zur Zeit der revolutionären Welle die Idee nicht verwarf, dass der Kapitalismus in seine Niedergangsphase eingetreten war.

2)       Zu denjenigen, die die Analyse vertraten, dass der Faschismus ein Ausdruck einer reaktionären Bewegung war, gehörte auch Gramsci, aus dessen Sicht der Faschismus ein Ausdruck der rückständigen Bauernschichten Süditaliens war. Die Wirklichkeit bestätigte die Analyse Bordigas insbesondere hinsichtlich der Tatsache, dass der Faschismus wie auch die Demokratie dazu in der Lage seien, die Produktivkräfte zu entwickeln.

(3) Die totalitäre und karikaturale Form, welche der Staatskapitalismus in der UdSSR annahm, ist durch die besonderen historischen Bedingungen zu erklären, unter denen er entstanden ist. Die Bourgeoisie in Russland, welche sich im Rahmen der inneren Entartung der Revolution bildete, ging nicht aus der alten zaristischen Bourgeoisie hervor, die durch das Proletariat 1917 abgeschafft worden war, sondern aus der parasitären Bürokratie des Staatsapparates, mit der sich die Bolschewistische Partei unter der Führung Stalins immer mehr vermischte. Es war die Bürokratie des Partei-Staates, welche die Kontrolle dieser Wirtschaft durch die Eliminierung Ende der 1920er Jahre aller Teile, die eine Privatbourgeoisie hätten bilden können, und mit der sie sich verbündet hatte, übernahm, um die Verwaltung der Volkswirtschaft sicherzustellen (Landbesitzer und Spekulanten des NEP).

(4) Die Position der IKS ist, dass die Arbeiterklasse ihre Unabhängigkeit als Klasse gegenüber diesem Halbstaat bewahren muss, der mit der Entfaltung der Weltrevolution absterben muss, und der wie jeder Staat von seinem Wesen her konservativ ist. In ihren Räten organisiert, muss die Arbeiterklasse auch die Aufgabe der Umwandlung der Gesellschaft anpacken, mittels der Diktatur über die ganze Gesellschaft und den Staat selbst.

(5) Wie wir in der Einleitung zu dieser Broschüre gesagt haben, stellte sich Bilan die Aufgabe, die Lehren aus der ersten Welle revolutionärer Kämpfe und ihrem Scheitern als Vorbedingung für den Sieg einer zukünftigen proletarischen Erhebung zu ziehen. Aber die Klarheit hinsichtlich der wesentlichen Frage des Zeitraums entstand nicht spontan und unmittelbar, sondern dank eines kollektiven Nachdenkens und der Gegenüberstellung dieser Analyse mit der Wirklichkeit. So benutzte Bilan damals noch Formulierungen wie die UdSSR als "Arbeiterstaat" und von den kommunistischen Parteien als "zentristischen" Parteien. Erst im 2. Weltkrieg entwickelte die Italienische Linke eine umfassendere  Analyse des kapitalistischen Wesens der UdSSR und der stalinistischen Parteien.  Aber das hinderte die Revolutionäre schon in den 1930er Jahren nicht daran, die Stalinisten rücksichtslos und energisch als die Kräfte zu entblößen, "die für die Konsolidierung der kapitalistischen Welt insgesamt wirken", und somit "ein Element beim Sieg der Faschisten" sind. Dieses Hinterherhinken Bilans gegenüber der Lage kann durch die Tatsache erklärt werden, dass die Gruppe noch geprägt war von den Verwirrungen, die mit der großen Verbundenheit der Revolutionäre mit dieser einzigartigen Erfahrung zusammenhing.

Aber aus der Sicht Bilans hat Russland mehr als das Wirken des Kapitals in den anderen Teilen der Welt die entscheidende Rolle bei dem Sieg der Konterrevolution gespielt: "Die Rolle Russlands hat mehr dazu beigetragen, die Idee der proletarischen Revolution und des proletarischen Staates zu Grabe zu tragen als die furchtbare Repression durch den Kapitalismus" (Bilan, Nr. 17, April 1935, Von der Pariser Kommune zur russischen Kommune.)

(6) Am Vorabend des Krieges beteiligte er sich 1937 an der politischen Entwaffnung der Fraktion durch seine Theorie, der zufolge der Weltkrieg nicht mehr auf der Tagesordnung der Geschichte stünde, die lokalen Kriege hätten zur Folge, dass der Ausbruch des Weltkrieges hinausgeschoben würde. Dieser gleichen Theorie zufolge besteht die Funktion des Krieges nicht mehr in der Neuaufteilung des Weltmarktes, sondern in der Massakrierung der Arbeiterklasse.

(7) Auszug aus der Einleitung zur Wiederveröffentlichung des Artikels in Form einer Broschüre als Beilage zur Zeitung „Le Prolétaire“ der Internationalen Kommunistischen Partei (Programme communiste).

(8) siehe unseren Artikel: "Antinegationistische Kampagnen: ein Angriff gegen die Kommunistische Linke"…

Leute: 

  • Pannekoek [1]
  • Bordiga [2]

Politische Strömungen und Verweise: 

  • Bordigismus [3]

Historische Ereignisse: 

  • Faschismus [4]
  • Antifaschismus [5]
  • Negationismus [6]

Entwicklung des proletarischen <br>Bewusstseins und der Organisation: 

  • Italienische Linke [7]

Theoretische Fragen: 

  • Internationalismus [8]

Erbe der kommunistischen Linke: 

  • Die "Einheitsfront" [9]

Die Dramen von Toulouse und Montauban - Symptome der barbarischen Agonie des Systems

  • 2301 reads

Die Morde vom 11., 15.  und 19. März  in Toulouse und Montauban und deren Folgen sind ein schlagender Beweis der Barbarei, in welche die gegenwärtige Gesellschaft versinkt.

Den Aussagen von Präsident Sarkozy zufolge war Mohamed Merah, der junge Mann aus Toulouse,  welcher diese Verbrechen beging und schließlich von der RAID erschossen wurde, ein „Monster“.  Diese Aussage wirft zumindest zwei Fragen auf: 

Was ist ein „Monster“?

Wie konnte die Gesellschaft solch ein „Monster“ hervorbringen?

Die „guten“ und „schlechten“  Monster

Wenn jemand, der kaltblütig unschuldige Menschen ermordet - in diesem Fall handelte es sich gar um Unbekannte - , zu einem „Monster“ wird, dann müsste die ganze Welt von „Monstern“ regiert werden, da ein Großteil der Staatschefs der Welt solche Verbrechen begangen hat. Das trifft nicht nur auf ein paar „blutigen Diktatoren“ zu  wie damals Stalin oder Hitler oder Gaddafi oder Assad in der jüngsten Zeit. Was soll man von Winston Churchill, dem „großen Führer“ im 2. Weltkrieg halten, der die Bombardierungen der deutschen Städte wie Hamburg im Sommer 1943 und Dresden vom 13-15. Februar 1945 befahl, bei denen Zehntausende, ja Hunderttausende zivile Opfer zu beklagen waren, darunter 50% Frauen und 12% Kinder? Wie steht es um Harry Truman, Präsident der “großen US-Demokratie”, der den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 befahl, bei denen mehrere Hunderttausend Zivilisten als Opfer zu beklagen waren, auch wiederum in der Hauptzahl Frauen und Kinder? Diese Getöteten waren keine „Kollateralschäden“ von Kriegshandlungen, die gegen militärische Ziele gerichtet waren. Diese Bombardierungen zielten ausdrücklich auf Zivilisten, insbesondere im Falle Deutschlands auf diejenigen, die in den Wohnvierteln lebten. Heute rechtfertigen die Staatschefs ständig die Bombardierungen der Zivilbevölkerung im Irak, Afghanistan, Gaza und vielen anderen Gebieten.

Um die politischen und militärischen Führer „freizusprechen“, hört man immer wieder, dass all diese Verbrechen der unvermeidliche Preis seien, den man zahlen müsse, um den Krieg gegen die „Kräfte des Bösen“ zu gewinnen. Selbst Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung werden so gerechtfertigt: Diese Vergeltungsmaßnahmen sollen den Feind „demoralisieren“ und „abschrecken“. Genau das hat auch Mohamed Merah behauptet, wenn man den Aussagen der Polizisten folgt, die mit diesem vor dessen Erschießung gesprochen haben:  Indem er die Soldaten angriff, wollte er seine „Brüder in Afghanistan“ rächen; durch den Angriff auf die Kinder einer jüdischen Schule wollte er die „Kinder des Gaza-Streifens“ rächen, die Zielscheibe der israelischen Bombardierungen geworden waren.

Aber was Mohamed Merah vielleicht zu einem “Monster” werden ließ, ist dass er selbst den Abzug der Waffe bedient  hat, die ihn niederstreckte? Meistens stehen die Führer, die Massaker befehlen, nicht im direkten Kontakt mit ihren Opfern: Churchill hat nicht selbst die Bomben auf die deutschen Städte abgeworfen, und er hatte keine Gelegenheit gehabt, die Frauen und Kinder sterben zu sehen, die von den Bombenteppichen getroffen wurden. Aber trifft das nicht auch auf Hitler und Stalin zu, die zurecht als gemeine Verbrecher angesehen wurden? Die Soldaten, die vor Ort unbewaffnete Zivilisten töten, entweder auf Befehl oder aus eigenem Hass, werden selten als „Monster“ angesehen. Ziemlich oft erhalten diese gar Auszeichnungen und werden häufig als „Helden“ geehrt.

Ob Staatsführer oder einfache Staatsbürger, die für den Krieg rekrutiert wurden, die “Monster” sind in dieser Gesellschaft im Überfluss vorhanden. Sie sind vor allem das Ergebnis einer Gesellschaft, deren Wesen monströs ist. Der tragische Lebensweg Mohamed Merahs führt dies deutlich vor Augen.

Wie man zu einem „Monster“ wird

Mohamed Merah stammte aus dem maghrebinischen Arbeitermilieu. Seine Mutter hatte ihn als alleinstehende Frau erziehen müssen. In der Schule war er gescheitert; mit dem Gesetz war er mehrfach in Konflikt geraten. Als Minderjähriger hatte er sich mehrere kleinere Vorstrafen wegen Gewalttaten eingehandelt, für die er mit Gefängnis bestraft wurde. Mehrfach war er arbeitslos. Seine Versuche, in die Armee aufgenommen zu werden, schlugen aufgrund seines Vorstrafenregisters fehl. In der gleichen Zeit näherte er sich dem radikalen Islamismus; dabei wurde er scheinbar durch seinen älteren Bruder beeinflusst.

Dies ist ein klassischer Werdegang vieler Jugendlicher heute. Es stimmt zwar, dass nicht all diese Jugendlichen zu Mördern werden. Mohamed Merah war besonders zerbrechlich, wie sein Selbstmordversuch während seines Gefängnisaufenthaltes bezeugt sowie seine Zeit in psychiatrischer Behandlung. Aber es ist aufschlussreich – wie die Versuche im Internet bezeugen, ihm nachträglich Ruhm zu verleihen – dass Mohamed Merah jetzt schon als „Held“ von vielen Jugendlichen aus den Vorstädten betrachtet wird, genau wie die Terroristen, die sich mit Bomben am ihrem Körper in Israel, im Irak oder in London auf öffentlichen Plätzen in die Luft sprengen lassen. Das Abgleiten in den extremistischen und gewalttätigen Islam betrifft vor allem Länder mit großer muslimischer Bevölkerung, wo dies gar massenhafte Ausmaße annehmen kann wie zum Beispiel der Erfolg der Hamas im Gaza-Streifen belegt. Wenn es um Jugendliche geht, die in Frankreich geboren wurden (oder in anderen Ländern Europas), ist dies meistens auf die gleiche Ursache zurückzuführen: Die Revolte gegen die Ungerechtigkeit, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl ausgegrenzt zu werden. Die „Terroristen“ des Gaza-Streifens werden unter Jugendlichen rekrutiert, die seit Jahrzehnten in der Misere und Arbeitslosigkeit leben, und die die Kolonisierung durch den Staat Israel erlebt haben und weiterhin regelmäßig Bombenangriffe durch den israelischen Staat erleiden, ohne Hoffnung auf „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes“. (Karl Marx, Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, 1844, MEW, Bd. 1, S. 378-379. )irgendeine Verbesserung ihrer Lage.

In Anbetracht einer unhaltbaren Lage heute und der Perspektivlosigkeit der Zukunft sehen die Menschen keinen anderen Trost und Hoffnung als die Flucht in die Religion, welche ihnen das Paradies nach dem Tod verspricht. Indem sie Irrationales anbieten (da sie sich auf den Glauben und nicht auf ein rationelles Denken stützen), sind die Religionen ein fruchtbarer Nährboden für den Fanatismus, d.h. die radikale Verwerfung der Vernunft. Wenn dann noch die Komponente des „heiligen Krieges“ gegen die „Ungläubigen“ hinzukommt als ein Mittel, den Zugang zum Paradies zu erhalten, (wie im Falle des Islams und des Christentums) und zudem noch Elend und Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung zum Alltag gehören, sind sie zu einer ‚himmlischen‘ Rechtfertigung der Gewalt, des Terrorismus und der Massaker bereit.

 Im Herbst 2005 hat die Welle von gewaltsamen Ausschreitungen in den französischen Vororten diese Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit der Jugendlichen zum Ausdruck gebracht, die immer mehr in der Massenarbeitslosigkeit hängenbleiben, insbesondere sind davon die Jugendlichen aus dem Maghreb und der Subsahara getroffen.  Sie sind doppelt „bestraft“: neben der Ausgrenzung durch die Arbeitslosigkeit und der Ausgrenzung aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Namens. Bei gleichem Bildungsstand oder Ausbildungsstand werden Josef oder Marie mehr Chancen haben, eine Arbeit zu finden als Jussuf oder Mariam, vor allem falls Letztere noch ein Kopftuch trägt, wie es seine Familie verlangt.

Auf diesem Hintergrund kann der Rückzug in “Gemeinschaften”, von denen die Soziologen sprechen, die Lage nur noch verschlimmern; wobei durch die Religion nur noch alles zementiert wird. Die internationale Lage spitzt das Ganze noch einmal zu, da Fremdenhass und Rassenhass noch zunehmen, wenn zum Beispiel der Staat Israel (damit die Juden) als „Feindbild“ schlechthin angesehen wird.

Die Wurzeln der Judenfeindlichkeit

Den Informationen der Polizei zufolge hat sich Mohamed Merah am 19. März in eine jüdische Schule „zurückgezogen“, weil er keinen Soldaten gefunden hatte, den er abknallen konnte.  In der jüdischen Schule tötete er schließlich drei Kinder und einen Lehrer. Dieses barbarische Verbrechen ist nur der Höhepunkt einer sehr judenfeindlichen Entwicklung unter vielen Muslimen. Aber die Judenfeindlichkeit ist eigentlich keine historische Besonderheit des Islams, im Gegenteil. Im Mittelalter war die Lage der Juden in den vom Islam dominierten Ländern besser als in den vom Christentum beherrschten Ländern. Im christlichen Westen wurden die Juden (denen man vorwarf, „Mörder“ Jesus zu sein) als die Sündenböcke für die Hungersnöte, die Epidemien oder die politischen Schwierigkeiten angesehen, während die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Juden und den Muslimen sich gleichzeitig in den arabisch-muslimischen Ländern verbesserten. In Cordoba, der Hauptstadt (des muslimischen) Andalusiens übten die Juden wichtige Posten im Bereich der Diplomatie oder im Bildungswesen als Universitätsgelehrte aus. In Spanien waren die ersten massiven Judenverfolgungen das Werk der „katholischen Könige“, die die Jagd auf die Juden und die Muslime im Jahr der Eroberung Amerikas 1492 anzettelten. Später lebten die Juden im süd-östlichen Mittelmeerraum viel besser als in den christlichen Ländern (ob unter den Katholiken oder den Orthodoxen). Das Wort „Getto“ ist italienischen Ursprungs (15. Jahrhundert), das Wort „Pogrom“ ist russischen Ursprungs (19. Jahrhundert).  Der Zionismus nahm in Europa in Anbetracht der Pogrome im Osten und der antisemitischen Welle der Dreyfuß-Affäre in Frankreich seinen Auftrieb -  und nicht aufgrund der Entwicklung im Maghreb oder im Mittleren Osten. Diese nationalistische Ideologie, die am Ende des 19. Jahrhunderts aufblühte, trat für die Rückkehr der Juden und die Schaffung eines religiösen Staates auf dem Gebiet Palästinas ein, auf dem nunmehr hauptsächlich Muslime lebten. Die Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ in Palästina nach dem 1. Weltkrieg unter britischem Mandat, wo in den 1930er Jahren viele Opfer der Naziverfolgungen Zuflucht suchen, leitete den Beginn des ständigen Interessenkonfliktes zwischen Juden und Muslimen ein. Aber vor allem die Schaffung 1948 des Staates Israel, das Hunderttausende Überlebende der Shoah aufnehmen sollte, die alles verloren hatten, sollte die Feindseligkeit zwischen Muslimen und Juden ständig anfachen, insbesondere nachdem mehr als 750.000 Araber vertrieben wurden.

Die verschiedenen Kriege zwischen Israel und den arabischen Staaten, die Errichtung von Kolonien in den besetzten Gebieten durch Israel erschweren nur die Lösung und sind Wasser auf die Propagandamühlen der Regierungen der Region, die in der israelischen Siedlungspolitik einen willkommenen Vorwand finden, um die Wut der Bevölkerung über ihre Armut und Unterdrückung abzulenken. Das Gleiche trifft auf die rhetorischen oder bewaffneten Kreuzzüge der USA und ihrer westlichen Verbündeten und Israel gegen muslimische Länder (Irak, Iran, Afghanistan) im Namen des Kampfes gegen den „islamischen Terrorismus“ zu. Aus der barbarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, mitten im Zentrum einer strategisch und wirtschaftlich Schlüsselregion entstanden, sind der israelische Staat und seine Politik dazu gezwungen, die Spannungen im Nahen und Mittleren Osten und der Hass der Juden unter den Muslimen weiter anzufachen.

Welche Perspektiven?

Mohamed Merah ist tot; sein Körper wurde von Schüssen durchsiebt, aber die Ursachen für seinen tragischen Werdegang sind damit nicht verschwunden. Mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise eines dahinsiechenden kapitalistischen Systems, mit dem unaufhaltsamen Ansteigen der Arbeitslosigkeit, der Prekarisierung und der Ausgrenzung, insbesondere unter den Jugendlichen,  werden die Hoffnungslosigkeit, der Hass und der religiöse Fanatismus noch weiter zunehmen. Die kleinen Gangster der Drogenbanden oder des „Jihad“ werden damit über noch mehr Kanonenfutter verfügen. Das einzige Gegengewicht gegen dieses Versinken in der Barbarei liegt in der massiven und bewussten Entfaltung der Arbeiterkämpfe, die den Jugendlichen eine wirkliches Identitätsgefühl vermitteln können – eine Klassenidentität, eine wahre Gemeinschaft der Ausgebeuteten und nicht der „Gläubigen“.  Diese wahre Solidarität kann sich im Kampf gegen die Ausbeutung unter den Beschäftigten und Arbeitslosen aller Rassen, Nationalitäten und Religionen entwickeln. Dann wird man erkennen, dass nicht die Juden aus der Welt geschafft werden müssen, sondern der Kapitalismus. Nur diese Arbeiterkämpfe werden den Nahen und Mittleren Osten aus dem ständigen Krieg herausführen können, wenn die jüdischen und muslimischen ArbeiterInnen, wenn die ArbeiterInnen auf jeder Seite der „Mauer der Schande“ verstehen, dass sie solidarisch vorgehen müssen gegen ihre Ausbeutung. Die Arbeiterkämpfe müssen dann immer deutlicher werden lassen, dass die einzige Perspektive, die die Menschheit aus der Barbarei führen kann, die Überwindung des Kapitalismus und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft ist.   Fabienne, 29. 3. 2012

Aktuelles und Laufendes: 

  • Morde Toulouse [10]
  • Montauban [11]

Leute: 

  • Mohamed Merah [12]

Kommentare

  • 1730 reads

In letzter Zeit häufen sich Kommentare, die offen rassistisch sind, religiösen Hass verbreiten und zu nationalistischen Kriegen aufrufen. Auch Vorwürfe, Verleumdungen und persönliche Unterstellungen haben auf diesem Kommentarforum nichts zu suchen.   Von jetzt an werden wir unverzüglich alle diese Kommentare löschen, die sich nicht an die Regeln dieses Kommentarforums halten, welche wir schon veröffentlicht haben.  Wer sich am Kommentarforum beteiligen will, muss sich vorher als Nutzer anmelden.

Marxismus und Verschwörungstheorien

  • 3107 reads

Eine der Vorstellungen, die kürzlich bei einem Treffen der Occupy-Bewegung in London geäußert wurde, ist, dass die herrschende Klasse die gegenwärtige ökonomische Krise bewusst herbeigeführt habe, um ihre eigene Macht zu bewahren. Solche Vorstellungen sind nichts Neues; Verschwörungstheorien gibt es, seit es Regierungen und Klassengesellschaften gibt, auch wenn sie sich in Umfang und Plausibilität erheblich unterscheiden. Selbst in der Antike gab es sie, etwa wenn zeitgenössische Historiker Nero beschuldigten, den Brand von Rom selber verursacht zu haben.

In der Neuzeit, mit dem Aufstieg der Rothschild-Dynastie im internationalen Bankwesen und der Rolle, die sie bei der Finanzierung der Engländer in den Napoleonischen Kriegen spielte, hat die Idee, dass die Bankeliten ökonomische Krisen und Kriege zu ihren eigenen Zwecken herbeiführen, immer wieder Gehör gefunden.

Heutzutage, in einer Zeit, in der die Massen versuchen, die ökonomischen Katastrophe zu verstehen, die die Gesellschaft bis in ihre Grundfesten erschüttert, wenden sich viele Verschwörungstheorien zu, wenn sie die Ursachen der gegenwärtigen Situation zu verstehen versuchen.

Solche Vorstellungen sind nicht mehr die Domäne von “verrückten” Extremisten. So haben etwa Befragungen gezeigt, dass Verschwörungstheorien über den 11. September in der US-amerikanischen Bevölkerung weit verbreitet sind. Eine Studie von 2004 belegt, dass 49% der Bewohner New Yorks glaubten, dass Teile der US-Regierung im Voraus über die drohenden Angriffen informiert waren und sie geschehen ließen.

Wir von der IKS wurden auch beschuldigt, Verschwörungstheoretiker zu sein, weil wir die These des “Machiavellismus” der herrschenden Klasse vertreten. Wir sind jedoch überzeugt, dass es einen  grundlegenden Unterschied gibt zwischen einer marxistischen Analyse der politischen Verhältnisse und den ideologischen Versatzstücken, auf denen zahlreiche Verschwörungstheorien beruhen. Das versuchen wir, in diesem Artikel darzulegen.

Wirkliche Verschwörungen....

Eine weitere historisch frühe Verschwörungstheorie hat den sogenannten Gunpowder Plot von 1605 zum Gegenstand. Damals versuchten britische Katholiken, während der Parlamentseröffnung am 5. November den protestantischen König von England, Jakob I., seine Familie, die Regierung und alle Parlamentarier zu töten. Es wird angenommen, dass Lord Salisbury an dieser Verschwörung entweder federführend beteiligt gewesen war oder aber,  nachdem er davon Kenntnis erhielt, die Verschwörer gewähren ließ, um um ein hartes Vorgehen gegen Katholiken in England zu rechtfertigen. Ein solches Vorgehen unter „falscher Flagge“ -  verdeckte Operationen, die bewusst so aussehen, als seien sie von einer feindlichen Gruppe oder Macht geplant, und deshalb als Legitimation für ein Vorgehen gegen sie herhalten können -  ist ein Leitmotiv in zahlreichen Verschwörungstheorien.

Die meisten “Falsche Flagge”-Theorien fallen in den Bereich der Verschwörungstheorien, den man noch am ehesten als plausibel bezeichnen könnte.  Ihre Plausibilität erhalten sie dadurch, dass es in der Tat zahlreiche historisch belegte Operationen unter falscher Flagge gab. So etwa:

- der angebliche Überfall auf den Sender Gleiwitz: 1939 rechtfertigte Deutschland den Einmarsch in Polen durch den Angriff einer Gruppe polnischer Soldaten auf eine deutsche Radiostation. Tatsächlich wurde diese Aktion von SS-Kommandos in polnischer Uniform ausgeführt;

- die Operation Susannah: sie war ein Versuch der israelischen Sicherheitskräfte, Bomben in verschiedenen Hotels in Ägypten zu platzieren, für die dann islamische Extremisten oder Kommunisten verantwortlich gemacht werden würden. Die Operation Susannah ist auch als Lavon-Affäre bekannt, da der israelische Verteidigungsmister Pinhas Lavon nach Bekanntwerden des Plans zurücktreten musste;

- die so genannte Operation Northwoods: diese Operation wurde vom Stabschef der Kennedy-Administration vorgeschlagen. Im Rahmen dieser Operation sollten terroristische Anschläge in den USA verübt werden, um ein militärisches Vorgehen gegen Kuba zu rechtfertigen. Auch wenn Northwoods nie in die Tat umgesetzt wurde, zeigt es jedoch deutlich, dass diese Art von Operationen ernsthaft in den obersten Rängen des Staates diskutiert wurde.

Weitere Beispiele für historisch belegte Verschwörungen:

- Der Ebert Gröner Pakt war eine geheimes Abkommen zwischen Friedrich Ebert, dem Vorsitzenden der SPD, und Wilhelm Gröner, dem Oberbefehlshaber der Reichswehr, im Jahr 1918 während der Deutschen Novemberrevolution. Dabei sorgte die regierende SPD  für die Legitimation, indem sie behauptete, im Namen der Arbeiter zu handeln, während die Rechte in Gestalt der brutalen Freikorps, aus denen später die SA und SS hervorgingen, für militärische Schlagkraft sorgte.

- Die Propaganda Due (P2) Loge war ein Staat im Staate, die Unterstützer in der gesamten italienischen herrschenden Klasse hatte. Es wird vermutet, dass sie sowohl Verbindungen zur Mafia als auch zum Vatikan hatte und italienische Politiker, Geschäftsleute und Funktionäre des Staates ebenso wie Vertreter der Polizei und der Sicherheitsapparate ihr angehörten. P2 wurde 1981 im Rahmen der Untersuchungen des Zusammenbruchs der Banko Ambrosiano aufgedeckt. Ihr werden enge Kontakte zur dubiosen Operation Gladio nachgesagt.

- Die Operation Gladio selber wurde ursprünglich von der NATO als militärische Widerstandsorganisation ins Leben gerufen für den Fall, dass die Sowjetunion in Europa einmarschierte oder eine kommunistische Regierung in einem europäischen Staat an die Macht käme. Eng verbunden mit dem rechten Flügel der Bourgeoisie und dem organisierten Verbrechen, sollten diese Strukturen versuchen, das politische und gesellschaftliche Leben unter einem neuen Regime durch Subversion und Terror zu erschüttern.  Außerdem wurde Gladio und P2 vielfach eine Beteiligung an terroristischen Anschlägen im Italien der Nachkriegszeit nachgesagt. Obwohl sich Gladio in erster Linie auf Italien konzentrierte, existierten ähnliche Netzwerke überall in Europa, die auch unter dem Sammelbegriff Gladio gefasst werden.

Man kann also festhalten, dass einige Verschwörungen eine historisch gesicherte Tatsache sind. Allerdings bedeutet das natürlich nicht, dass jedes bedeutende Ereignis durch eine Verschwörung zustande kam; es bedeutet jedoch auch nicht, dass wir naiv jede Vorstellung von bürgerlichen Intrigen als bloße Verschwörungstheorie wegwischen können.

… und eingebildete Verschwörungen

Es versteht sich von selbst, dass, auch wenn es nachgewiesenermaßen Verschwörungen gab und andere zumindest Plausibilität besitzen, zahlreiche Verschwörungstheorien existieren, die über keinerlei empirische Grundlage verfügen. Diese zeichnen sich in der Regel durch einige wiederkehrende Eigenschaften aus.

- Die Welt wird beherrscht von einer geheimen Gruppe von Juden, Freimaurern oder Bankern (die üblicherweise Juden sind) oder sogar Außerirdischen.

- Alle Ereignisse von weltweiter Bedeutung sind das Ergebnis der Machenschaften dieser Clique.

- Ironischerweise haben solche Verschwörungstheorien oft Ihren Ursprung in staatlichen Organen oder werden zumindest von diesen weiter verbreitet. Die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ etwa, angeblich das Protokoll eines Treffens der jüdischen Führer der Welt, die beabsichtigten, die Weltherrschaft an sich zu reißen, sind eigentlich eine Fälschung, die von der zaristischen Geheimpolizei, der Okhrana verfasst wurde. Schon seit langem sind Juden immer wieder der Verschwörung beschuldigt worden. Selbst das Wort „Kabale“, ein altertümlicher Begriff für “Intrige”, ist hervorgegangen aus „Kabbala“, also einer Form des jüdischen Mystizismus. Viele moderne Verschwörungstheorien sind die ideologischen Nachfolger desselben Vorurteils, das in den „Protokollen“ zum Ausdruck kommt - auch solche, bei denen es sich nicht um die offen antisemitischen Hirngespinste der extremen Rechten  handelt. Moderne Verschwörungstheoretiker werden eher über “internationale Banker” und eine “globale Elite” reden als über das “internationale Judentum”, aber die grundlegenden ideologischen Strukturen dieser Auffassung sind dieselben. Schließlich speist sich der  überwiegende Teil des Ressentiments gegen Juden aus ihrer angeblichen Herrschaft über das Bankensystem sowie aus der Tatsache, dass sie eine sichtbare Minderheit sind, die angeblich andere Loyalitäten hat als die zur Krone oder zur Nation. Diese Art von Verschwörungstheorien hängen daher auch eng mit nationalistischen Einstellungen zusammen. Am Rande sei deshalb bemerkt, dass linke Weltanschauungen, die eigentlich Nationalismus und Rassismus ablehnen, vor solchen Einflüssen nicht gefeit sind – die  Ideologie der Globalisierungsgegner etwa beruht auf der Vorstellung, der Nationalstaat werde durch globale Kapitalisten unterhöhlt und ausgebeutet. Die grundlegende Übereinstimmung dieser Argumentation linker Globalisierungskritiker mit der paranoiden Ideologie des Nationalsozialismus ist offenkundig.

Auch Kommunisten waren schon immer beliebte Zielscheibe für Verschwörungstheorien. In den USA wurden die Protokolle der Weisen von Zion im Jahre 1919 durch den “Public Ledger” in Philadelphia wiederveröffentlicht. In dieser “rote Bibel” genannten Ausgabe wurden der Einfachheit halber alle Hinweise auf  Juden mit “Bolschewisten” ersetzt. Mit Verweise auf Karl Marx‘ jüdische Herkunft haben Antisemiten schon immer Kommunisten mit Juden gleichgesetzt und daher war es nur natürlich, dass die Russische Revolution als das Machwerk der jüdischen Weltverschwörung wahrgenommen wurde. Die große Menge an Literatur, die zu diesem Thema geschrieben wurde, ist an sich schon eine eigene wissenschaftliche Abhandlung wert, jedoch kann man auch so mit Sicherheit sagen, dass die wohlbekannte totale Identifikation von “Juden” mit “Bolschewisten” durch den Nationalsozialismus nur die logische Konsequenz dieser verschwörungstheoretischen Gedankenwelt ist.

Während die meisten die paranoiden Fantasien der Rechten als das erkennen können, was sie sind,  ist es jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass der Mainstream bürgerlicher Geschichtsschreibung beispielsweise die Russische Revolution auf verschwörungstheoretische Weise analysiert: So wird die bewusste Tat der Massen in der Revolution durch diese Geschichtsschreibung auf einen Staatsstreich der Bolschewisten reduziert. Wieder sehen wir, dass Verschwörungstheorien und der Mainstream bürgerlichen Denkens trotz ihrer behaupteten Differenz einander ähnlicher sind, als ihre Vertreter es sich eingestehen würden - auch wenn der Verschwörungstheoretiker bestimmte Aspekte bürgerlichen Denkens bis zur Absurdität verzerrt.

Die Bedeutung von Verschwörungstheorien

Offiziell will die Bourgeoise nichts mit Verschwörungstheorien zu tun haben. Schon der Begriff als solcher ist abwertend gemeint und impliziert, dass keine ernstzunehmende Person glauben könne, in demokratischen Staaten gebe es Verschwörungen. Dass das jedoch nicht den Tatsachen entspricht, haben wir oben in aller Kürze dargestellt. Mehr noch, die eigene Sicht der Bourgeoisie auf die Geschichte - eine Chronik konstanter Rivalität zwischen Banden,  die die Kontrolle über den Staat an sich reißen wollen,  Manipulation der Massen etc. - ist verschwörungstheoretisch.

Verschwörungstheorien, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen zum Sündenbock machen, sind Ausdruck des dem Kapitalismus innewohnenden Rassismus, insofern haben sie häufig eher einen spontanen, unsystematischen Charakter. Aber sie werden auch absichtsvoll vom Staat eingesetzt, um dessen Vorgehen gegen bestimmte Gruppen zu rechtfertigen. So wurden zum Beispiel die gehässigen Lügen, die über Juden in Umlauf gebracht wurden, immer wieder als Rechtfertigung für Pogrome benutzt.

In ähnlicher Weise wurden Verschwörungstheorien über Kommunisten benutzt, um nach der Russischen Revolution die Gegenrevolution in Russland und im Ausland zu mobilisieren. Die „Rote Angst“ („Red Scares“) etwa wurde in den USA bewusst angefacht, um für die politischen Ziele des amerikanischen Staates Unterstützung zu gewinnen. Damit wurde zunächst das Ziel verfolgt, die politischen Organe der Arbeiterklasse aus dem Weg zu räumen. Diese ideologische Offensive war nicht auf Kommunisten, Anarchisten, und Gewerkschafter (besonders die IWW) begrenzt, vielmehr wurden Streikende aller Arten  regelmäßig als eine Gefahr für die  Gesellschaft gebrandmarkt. Damit war die „Rote Angst“  Teil der Gegenrevolution, mit der man die revolutionäre Welle zu brechen suchte.  

In der zweiten Phase der “Roten Angst”,  während des berüchtigten “McCarthyismus”, richteten sich die politischen Zielsetzungen vor allem auf die imperialistische Rivalität zwischen den USA und ihrem russischen Gegner, während die  soziale Dimension von vergleichsweise geringerer Bedeutung war.  Nachdem mehrere russische Spionageringe aufgedeckt worden waren,  war die herrschende Klasse in den USA besorgt über die Anziehungskraft, die die stalinistische Ideologie auf die Arbeiterklasse ausübte.

Wenn der Staat also Verschwörungstheorien aktiv verbreitet, was ist dann von Verschwörungstheorien zu halten, die sich, wie etwa die 9/11 Truth-Bewegung, gegen staatliches Handeln richten? In gewisser Weise spiegeln diese Bewegungen das extreme Misstrauen wider, dass das Kleinbürgertum gegen den Staat und das Großkapital hegt. Es ist kein Zufall, dass der Ausgangspunkt zahlreicher moderner Verschwörungstheorien bei den rechten Libertären in den Vereinigten Staaten zu finden ist. Auf den ersten Blick scheinen diese Verschwörungstheorien den Mythos des demokratischen Staates sogar in Frage zu stellen. Tatsächlich aber tragen sie dazu bei, diesen Mythos am Leben zu erhalten, weil sie  - und gerade darin sind sie Ausdruck der historischen Machtlosigkeit des Kleinbürgertums – keine wirkliche Alternative zur bürgerlichen Demokratie benennen können. Stattdessen bleibt ihnen die traurige Rolle, vom Staat zu fordern, er müsse seinem Ideal entsprechen und „demokratischer Ausdruck des Volkes“ sein. Der Präsidentschaftskandidat John Buchanan etwa trat 2004 mit einem Truther Programm an, während sich die radikaleren Vertreter dieser Strömung der Sinnlosigkeit eines solchen Unterfangens bewusst sind und sich mit Waffenlagern in die Berge zurückziehen, um dort auf die Apokalypse zu warten.  

Diese paranoideren Varianten verschwörungstheoretischen Denkens erfüllen jedoch noch eine weitere Funktion:  Sie verhindern jede ernsthafte Diskussion über die Funktionsweise der bürgerlichen Klasse, weil jeder Versuch in diese Richtung unweigerlich dafür sorgt, dass man den UFO-Spinnern mit ihren unappetitlichen Verbindungen zu Rechtsextremen und religiösen Fundamentalisten zugerechnet wird.

Auch wenn, wie wir gesehen haben, die grundlegenden Themen von Verschwörungstheorien an sich nichts Neues sind, zeigt sich an ihren modernen Erscheinungsformen doch ein typisches Kennzeichen des sich zersetzenden Kapitalismus, nämlich die Tendenz der bürgerlichen Ideologie, mehr und mehr irrationale Züge anzunehmen. Teilweise lässt sich diese Ausbreitung von Paranoia auch als Reaktion auf das augenscheinlich immer größere Chaos des Kapitalismus verstehen; insofern ist es  kein Zufall, dass es enge Verbindungen zum Aufkommen von New Age und religiösen Fundamentalismus gibt. David Icke zum Beispiel, ein klassischer Repräsentant des New Age, redet von außerirdischen Eidechsen, die heimlich die Welt beherrschen, während chiliastische Christen glauben, sie lebten in einer durch die Offenbarung des Johannes vorherbestimmten Ära, in der die Ankunft des Antichristen mit einer totalitären „Neuen Weltordnung“ einhergeht. Fast 20% der US-amerikanischen Christen (etwa 16% der US-Bevölkerung) glauben, dass Jesus in ihrer Lebenszeit zurückkehren wird (3). Hal Lindseys Alter Planet Erde - Wohin?, eines der frühesten populären Bücher über die „Endzeit“, wurde bis 1990 trotz seiner offenkundig falschen Vorhersagen mehr als 28 Millionen Mal verkauft. Ein fiktionaler Bericht über die Apokalypse, die Left Behind-Serie wurde millionenfach verkauft, 1998 belegten die ersten vier Bände die vier Spitzenplätze der  New York Times Bestseller-Liste.

Dergleichen legt nahe, dass solche Theorien einen wachsenden Einfluss auf Kultur und Politik des Mainstreams besitzen. Ohne Zweifel hat die  „Endzeit“-Ideologie einen Einfluss der auf den rechten Flügel der herrschenden Klasse in den USA; auch der Erfolg der Fernsehserie „Akte X“ zeigt, wie weit verbreitet und populär mittlerweile UFO-Verschwörungstheorien sind.

Marxismus und verschwörungstheoretisches Denken

Aber sind Marxisten (oder wenigstens die IKS) nicht auch Verschwörungstheoretiker? Wie oben erwähnt, vertreten wir die These, dass die herrschende Klasse durchaus fähig ist, komplexe  Verschwörungen zu organisieren, um ihre politischen Zwecke durchzusetzen. Einige historische Beispiele haben wir am Anfang des Artikels aufgeführt. Wir können auch eine „Elite“ benennen (die Klasse der Kapitalisten nämlich), die alle politische und ökonomische Macht in ihren Händen hat. Oberflächlich betrachtet sieht es also so aus, als ob wir den Mustern der Verschwörungstheorie folgen würden.

Weil wir Marxisten sind, kann man von uns erwarten, dass wir uns einer materialistischen Theorie verpflichtet fühlen und Vorstellungen ablehnen, die darauf gegründet sind, dass wir alle am Rande des Armageddon lebten oder außerirdische Eidechsen heimlich den Planeten kontrollieren. Aber warum zum Beispiel kritisieren wir dann die Idee, dass eine geheime globale Elite (die doch schließlich aus Kapitalisten besteht) die gesamte Welt kontrolliert, Kriege und Krisen herbeiführt,  um ihre Zwecke durchzusetzen?

Der Grund hierfür liegt in unserer Einsicht, wie der Kapitalismus funktioniert. Während Verschwörungstheoretiker über Eidechsen, Banker, die Bilderberg-Gruppe, etc. schimpfen mögen, kleben sie doch an einer der wirkungsmächtigsten Illusionen, die die Bourgeoise zu bieten hat: die Idee, dass irgendwer irgendwo die Kontrolle hat. Es scheint einfacher, eine große Verschwörung für den Horror des niedergehenden und zerfallenden Kapitalismus verantwortlich zu machen, als verstehen zu wollen, was für eine Tragödie er in Wahrheit ist: eine Gesellschaft, in der der Menschheit, sogar der herrschenden Klasse ihr eigenes ökonomisches und gesellschaftliches Handeln als etwas Fremdes jenseits ihrer Kontrolle gegenüber steht.

Die Gesetze des Kapitalismus funktionieren unabhängig vom Willen des Kapitalisten, egal wie verzweifelt sie (für gewöhnlich vermittelt durch den Staat) versuchen, sie zu kontrollieren. Die gegenwärtige Krise beispielsweise ist nicht das Resultat der Machenschaften irgendeiner globalen Elite – im Gegenteil, die Tendenz zur Krise entzieht sich trotz all ihrer Machenschaften mehr und mehr ihrer Kontrolle. Während es mit Sicherheit richtig ist, dass diese oder jene Fraktion der Bourgeoise versuchen wird, eine Krise oder einen Krieg vom Zaun zu brechen, um ihre Zwecke zu verfolgen(4), ist es wichtig, daran zu erinnern, dass sich diese Zwecke für gewöhnlich gegen eine der anderen Fraktionen der Bourgeoise richten.

Die Klasse der Kapitalisten basiert auf dem Prinzip der Konkurrenz, einem Mechanismus, dem der Kapitalismus als Ganzes nicht entkommen kann. Die Konkurrenz ist tief in den ökonomischen Prozessen des Kapitalismus verankert und kann nicht durch einen Willkürakt aufgehoben werden. Dieses Moment drückt sich im gesellschaftlichen und politischen Leben der herrschenden Klasse in der Bildung von Cliquen aus, in der Konkurrenz zwischen Individuen, Unternehmen, Nationalstaaten wie auch als  Allianz zwischen Nationalstaaten. Zwar gibt es Tendenzen, die der Konkurrenz entgegenwirken, etwa Verstaatlichung oder Monopolbildung etc. Diese verschärfen sich in der Epoche der Dekadenz, aber diese können niemals den Mechanismus der Konkurrenz völlig aufheben, sondern verschieben ihn lediglich auf eine höhere Ebene.  Konkurrenz zwischen Firmen entwickelt sich zur Konkurrenz zwischen Staaten, freier Handel wird dem Merkantilismus geopfert, Kriege um Märkte und natürliche Ressourcen werden geführt und tendieren mehr und mehr zu globalen Flächenbränden, also Weltkriegen. Dieser Machiavellismus der Bourgeoise ist daher ein Produkt des entfremdeten Bewusstseins der herrschenden Klasse selber, die Konkurrenz aller gegen alle bietet der Bourgeoisie keinen anderen Ausweg aus den grundlegenden Widersprüchen in ihren ökonomischen, ideologischen, oder politischen Leben.

Trotz aller Konkurrenz findet sich die Bourgeoise jedoch während revolutionären Perioden zur Einheit zusammen, wenn die herrschende Klasse gezwungen ist, sich mit der Gefahr einer bewussten, organisierten Arbeiterklasse auseinanderzusetzen. Der oben erwähnte Ebert-Gröner Pakt ist ein Beispiel für die Intrigen, derer die Bourgeoisie in einer solchen Situation fähig ist. Gleichzeitig zeigt sich jedoch am fehlgeschlagenen Kapp-Putsch, wie schwierig es für die herrschende Klasse ist, diese Einheit in solch einer kritischen Situation dauerhaft aufrechtzuerhalten.

Für Marxisten folgt daraus, dass die Bourgeoise niemals eine dauerhafte Einheit erreichen kann, die es ihr ermöglichen würde, völlige Kontrolle über die Entwicklung der Gesellschaft auszuüben. Verschwörungstheorien der Art, wie sie hier diskutiert wurden, eröffnen  deshalb auch weder eine Einsicht in die gegenwärtige historische Krise der kapitalistischen Gesellschaft, noch beinhalten sie irgendein Programm, um diese zu überwinden. Nichtsdestoweniger können wir heutzutage damit rechnen, dass mit der Ausweitung der systemischen Krise bei gleichzeitig nur schwach ausgebildetem Klassenbewusstsein auch das verschwörungstheoretische Denken an Zulauf gewinnen wird. Daher dürfen Kommunisten die Anhänger solcher Auffassungen nicht als Irre abtun, sondern müssen ihnen entschieden entgegentreten und den reaktionären Gehalt dieser Ideologien bloßstellen, ohne dabei den genuin machiavellistischen Charakter der herrschenden Klasse zu leugnen.

Indem der der Klassenkampf an Dynamik gewinnt und sich das Proletariat einmal mehr seiner eigenen Macht bewusst wird, wird es solch Verschwörungstheorien zugunsten seiner eigenen historischen Methode aufgeben: Marxismus.

Ishamael 8/1/12

[1] [13]news.bbc.co.uk/onthisday/hi/dates/stories/may/26/newsid_4396000/4396893.stm [14]

[2] [15] Mit Kommunismus war in diesem Kontext offenkundig der Stalinismus des Ostblocks gemeint, auch wenn es auf  jede linke Partei zutreffen konnte, die sich dem US-Imperialismus widersetzte. Natürlich war keine dieser Bewegungen eine wirklich  kommunistische oder im Interesse der Arbeiterklasse, aber ähnliche Methoden würden ohne Frage gegen jede wahre Bewegung der Arbeiterklasse eingesetzt werden.

[3] [16] pewforum.org/uploadedfiles/Topics/Beliefs_and_Practices/religion-politics-06.pdf.

[4] [17] Die Asienkrise in den späten 90ern etwa wurde drastisch verschärft durch die US-Bourgeoise, die ihre Dominanz in der Region auszubauen versuchte.  Aber die Situation geriet außer Kontrolle und bedrohte die gesamte Weltwirtschaft mit ernsthaften Konsequenzen für die US-Wirtschaft.

Vadim Riga: „ARME IRRE“ - Vom Klassencharakter des psychischen Elends

  • 3661 reads

Wir haben von V. Riga nachfolgenden Beitrag erhalten, den wir hier gerne veröffentlichen. Wir bedanken uns für diesen Beitrag und würden uns freuen über Reaktionen der Leser/Innen.  (die IKS).

„Die Hemmung, die das Denken, die Vitalität, das Leben auf der Stufe der sinnlichen Gewissheit erfährt, äußert sich in Krankheitssymptomen.“

(Sozialistisches Patienten Kollektiv)[1]

„Denken heißt ins Labyrinth eintreten, einen Irrgarten erstehen lassen. Denken heißt sich in den Gängen verlieren, die es nur deshalb gibt, weil wir sie unablässig graben.“

(C. Castoriadis)[2]

„Denken ist etwas, was auf Schwierigkeiten folgt und dem Handeln voraus geht“

(B. Brecht)[3]

 Notwehr

 Ein tragisches Ereignis brachte vergangenes Jahr exemplarisch das Verhältnis der deutschen Gesellschaft gegenüber ihrer psychischen Verelendung erneut auf den Punkt:

Am 24. August 2011 wurde die 53 jährige, 1.60 m kleine und ca. 40 kg. leichte  Andrea H. in ihrem Zimmer, im 8. Stock eines Hochhauses im Berliner „Märkischen-Viertel“, in einer von einem sozialen Dienst betreuten Wohngemeinschaft, von einem Polizisten erschossen. Andrea wehrte sich mit verzweifeltem Körpereinsatz gegen die Zwangseinweisung in eine psychiatrische Einrichtung. Andrea war einer Aufforderung zu einer Amtsanhörung bzgl. Ihrer behördlich angeordneten Einweisung nicht nachgekommen. Vermutlich ahnte sie deshalb schon, was ihr eigentlich bevorstehen sollte, als der Sozialpsychiatrische-Dienst (SpD), nebst Amtshilfe in Form einer Streifenwagenbesatzung, vor ihrer Tür stand. Dass sie schließlich über den Haufen geschossen werden würde, damit hat Andrea jedoch mit Sicherheit nicht gerechnet. Dies ist indes kein Einzelfall!

Andrea schloss sich zunächst in ihr Zimmer ein und redete mit den Polizisten durch die geschlossene Tür. Plötzlich öffnete sie diese unvermittelt und fuchtelte in panischer Angst mit einem Messer herum. Dabei wurde ein Beamter am Unterarm verletzt. Die Polizisten versprühten eine Ladung Pfefferspray gegen Andrea, woraufhin sie zurück in ihr Zimmer flüchtete und die Tür wieder verschloss. Die Beamten forderten derweil Verstärkung an und bekamen diese bald darauf von der 23. Einsatzhundertschaft der Berliner Bereitschaftspolizei. Etwa 20 Beamte in vollem Wichs standen schließlich in und vor Andreas Wohnung, um die Tür zu ihrem Zimmer mit einer Ramme aufzubrechen. Die Agenten des SpD waren offenbar bereits kaltgestellt worden. Jedenfalls dachte niemand zu diesem Zeitpunkt noch an deeskalierende Maßnahmen. Stattdessen wurde das ganze Spektakel zu einem Exempel des staatlichen Gewaltmonopols. Andrea wusste sich in dieser Situation anscheinend nicht mehr anders zu helfen, als erneut mit dem Messer in der Hand aus ihrem Zimmer auszubrechen. Der Einsatzleiter, der sich, wie seine Kollegen, hinter einem mit Sicherheit stichfesten Schutzschild verborgen hielt, zog seine Pistole und streckte Andrea mit einem Schuss in die Leber nieder. Sie verblutete, noch bevor der Rettungsdienst zu ihr durchdringen konnte.

Fasst man div. Zeitungsberichte dieser Tage zusammen, dann muss sich die Tragödie so oder sehr ähnlich abgespielt haben.[4] Bodo Pfalzgraf, Berliner Landesvorsitzender der Polizeigewerkschaft kommentiert: „Wer mit einem Messer Polizisten angreift, muss damit rechnen, erschossen zu werden. Allein die Tatsache, dass es eine geistig verwirrte Person war, rechtfertigt nicht, dass sich der Polizist hätte erstechen lassen müssen.“ Ein obligatorisches Ermittlungsverfahren gegen den Todesschützen wurde zwar eingeleitet. Doch schon nach zwei Tagen, am 26. 8., stellte sich der Sprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, den Fragen der Presse mit folgenden Worten: „Nach dem Stand der Ermittlungen kann man vorsichtig sagen, dass der Schuss aus einer Nothilfesituation heraus abgegeben wurde.“ Der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wieland (Die Grünen) meldet daraufhin „Aufklärungsbedarf“ an: „Die eingesetzten Beamten hätten gewusst, dass die Frau ein Messer hatte. Somit seien sie nicht unvorbereitet gewesen. Geklärt werde müsse auch, warum der Schütze nicht auf die Arme oder Beine gezielt habe, um die Frau kampfunfähig zu machen.“ Aber Herr Wieland: Hinter einem Schild verschanzt, sind derart gezielte Schüsse nun mal nicht möglich! Wieland bilanziert schließlich lakonisch: „Man muss sagen, der Einsatz ist gründlich danebengegangen“ – wovon aus Sicht der Polizei allerdings kaum die Rede sein kann. Weitere Reaktionen der politischen Kaste sind mir nicht bekannt. Knapp zwei Wochen nach dem Todesschuss vermeldet der Berliner „Tagesspiegel“ dann auch erwartungsgemäß, dass die Ermittlungen gegen den Todesschützen eingestellt wurden.

Die naheliegende Auffassung, dass Andrea H. sich ihrerseits in einer Notwehrsituation befunden haben könnte, wurde in keiner Zeitung zur Debatte gestellt. Die eigentlich eher geringe empathische Anstrengung, die dafür hätte aufgebracht werden müssen, ist von den Schreibern der bürgerlichen Presse offenbar genauso wenig zu erwarten, wie von einem Abgeordneten der Grünen. Noch viel weniger zu erwarten ist die rhetorische Frage: ob die Polizei sich z. B. im Falle einer Vorführung zwecks Zwangseinweisung ebenso verhalten hätte, wenn es sich um eine ähnlich von Panik erfasste Person in den eigenen vier Wänden einer Villa in Frohnau gehandelt hätte? Wohl kaum. Und wenn doch, dann wäre das Echo der Politik und der Justiz vermutlich anders ausgefallen und die Gewerkschaft der Polizei hätte sich schweigepflichtbewusst zurückgehalten. Wahn kommt auch in den besten Familien vor, aber Angehörige solcher Familien werden meistens auch bestens versorgt. Von daher ist es eigentlich auszuschließen, dass ein unangemeldeter SpD plus Polizei weiter als bis zur Gartenpforte kommen würde. Das sei den Betroffenen aus solchen Gesellschaftsschichten von Herzen gegönnt! Leiden diese doch wie alle anderen Betroffenen letztlich auch unter der gleichen Symptomatik der Entfremdung, welche der Verwirrung und dem Wahn von jeher stets Vorschub leistet.

Begreift man Verwirrung und Wahn als etwas (auch im anthropologischen Sinne) durch und durch Menschliches, und daran besteht für mich kein Zweifel, dann ist anzunehmen, dass (auch) der Todesschütze sich in einer akuten emotionalen Notsituation empfunden haben muss. In dem Moment nämlich, als er sich selbst - in Andrea spiegelnd - gewahr wurde. In dem also die Macht ihrer Wut aus Angst sich unmittelbar und unausweichlich mit seinen eigenen Ängsten kreuzte. Was in ihm scheinbar eine heftige Phobie auslöste. Andrea hat ihn schlicht verwirrt und Angst eingejagt. Angst vor dem Wahn. Wahnsinnige Angst. Dieser Angst begegnete er wehrhaft. Anders hat er es nicht gelernt. Die Wendung seiner eigenen Not in Notwehr gegen Andreas Angst musste, weil diese nicht begriffen werden konnte und nicht begriffen werden soll, im Nachhinein als professionelles Handeln rationalisiert und legitimiert werden. Wir sehen hier auf beiden Seiten das Zusammenspiel aus real begründeter und irrationaler (phobischer) Angst, die in der unmittelbaren Begegnung der beiden Protagonisten zwischen ihnen scheinbar eine paranoide Situation erzeugte, welche schnell einer Eigendynamik folgte. Die durch die abstrakten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse hervorgebrachten destruktiven Elemente, die dieser Dynamik voraus- und mit ihr einhergehen, trennen die gemeinsam produzierte Angst, die doch nur aus der konkreten Begegnung zwischen Andrea und ihrem Todesschützen zu verstehen wäre, von deren konkreten Verhältnis zueinander künstlich ab. Das Symptom – Paranoia – kann so dem Kontext entrissen und Andrea einseitig zugeschrieben werden. Damit wird zugleich dem Todesschützen zugestanden, sich dieses Symptoms einseitig entledigen zu dürfen. Das wird jedoch nicht restlos funktionieren. Es wird hier etwas zur Vordertür hinaus befördert, was mit Sicherheit durch die Hintertür zurück kommen wird. Der Todesschütze bleibt (nachhaltig) traumatisiert. Es ist davon auszugehen, dass seine Phobie gegen Verwirrung und Wahn sich vorerst weiter manifestieren wird. Die Legitimation seiner Handlung von Staatswegen kann seine Verwirrung evtl. aufheben. Nicht aber seine Phobie!

Um das Herrschaftsverhältnis, welches sich in dieser Tragödie mit aller Macht gezeigt hat, auf den Begriff bringen zu können, ist ein gewisses Maß an Empathie gegenüber dem Todesschützen unabdingbar – Sympathie jedoch nicht. Das meint: Empörung gegen die Schergen des Staates ist nachvollziehbar und berechtigt. Es wird jedoch Andrea und allen anderen Opfern staatlicher Willkür kaum gerecht, bei der Empörung stehen zu bleiben. Polizeischergen bei jedem solcher Anlässe bloß als „Schweine“ zu betiteln, sie derart zu entmenschlichen und ihnen damit zugleich ihre Verantwortung als handelnde Subjekte zu nehmen, dabei letztlich unsere eigene Verantwortung, nämlich den Dingen auf den Grund zu gehen, gleich mit zu entsorgen, kann nicht unsere Sache sein. 

Zuschreibungen

Dem tödlichen Spektakel ging vermutlich eine psychiatrische Diagnose voraus. Folgt man der Etymologie, dann leiten sich die Begriffe Diagnose / Diagnostik von griech. dia-gnosis = unterscheidende Erkenntnis ab. Dem wiederum liegt dia-gi-gnoskein = durch und durch erkennen (=durchschauen) zugrunde.[5] Mit peinlicher Unterscheidung hat eine psychiatrische Diagnose oft tun, mit Erkenntnis seltener. Von einem „durch und durch erkennen“ der diagnostizierten Person kann schon gleich gar nicht die Rede sein. Im Falle des SpD schon deshalb nicht, da bereits das Anbahnen einer Beziehung zu der Person, die erkannt werden soll, was die Voraussetzung dafür wäre, überhaupt erst mal einen Erkenntnisprozess auf den Weg zu bringen, im Arbeitsauftrag solch einer Behörde nicht vorgesehen ist.[6] Deshalb bliebe der SpD in seiner Bürokratie selbst dann noch befangen, wenn die gegenwärtig offiziellen Diagnosekriterien der Psychiatrie (ICD-10, DSM)[7] tatsächlich zu mehr zu gebrauchen wären als dafür, die bürokratischen Erfordernisse des „Gesundheitssystems“ zu bedienen. Eben deshalb, weil die dort beschäftigten Psychiater und Psychologen wie eine Art „Taskforce“ operieren und ihr Klientel nur selten, manchmal gar nicht zu Gesicht bekommen, bevor sie solch einen vorgezogenen Vollzugsbefehl für einen Polizeieinsatz unterschreiben. Das alles kann die Zunft jedoch kaum davon abhalten, ihre Urteile über Menschen zu fällen, die sie kaum oder gar nicht kennt. Und die, wie wir gesehen haben, im schlimmsten Fall, wenn auch ungewollt so doch keinesfalls unvermeidlich, zu Todesurteilen werden können. Insofern besteht die tatsächliche Bedeutung der Diagnose darin, „dass sie, sozial gesehen, der Dolch ist, der ins Herz der Gnosis getrieben wird. Die Diagnose ist der Mord an der Möglichkeit, den anderen Menschen kennenzulernen, ein Mord, verwirklicht durch die Verdrängung der Realität dieses Menschen in die Vorhölle einer sozialen Pseudo-Objektivität.“[8]

Das Lieblingsblatt der Deutschen mit humanistischer Bildung im gymnasialen Oberstufenbereich, „Die Zeit“, spricht von ca. 200.000 Zwangseinweisungen jährlich. „Eine mittlere Kleinstadt landet so nahezu unbemerkt in den geschlossenen Abteilungen der Psychiatrien.“[9] Etwa die Hälfte dieser Zwangseinweisungen wird nach dem Betreuungsgesetz (PsychKG) durchgeführt.[10] Das heißt konkret, das Betreuer, meist Sozialarbeiter oder Ehrenamtliche, die noch nicht einmal dazu befugt wären, eine Diagnose zu stellen, nach eigenem Gutdünken eine Zwangseinweisung beim örtlichen Amtsgericht bewirken können. Die Gerichte stimmen, laut einer NRW-Statistik, in rund 99 Prozent der Fälle umstandslos zu.[11] Als Grundlage für die Entscheidungen der Richter dienen dann meist ältere, teilweise Jahre zurückliegende Diagnosen. Diese Verfahrensweise ist folglich pure Willkür. Ein paar Zeilen weiter offenbart uns die „Zeit“ dann noch den Klassencharakter dieser Gerichtsbarkeit. „Es gibt aufgrund der Zahlen aus dem NRW-Gesundheitsministerium ein Ranking für betroffene Menschen: Männliche Großstädter, alte und behinderte Menschen und Personen aus niedrigen sozialen Schichten werden häufiger eingewiesen als etwa Vermögende. Auch eine Studie der Universität Siegen aus dem Jahr 2006 weist auf subjektiv motivierte Einweisungen hin: So würden manisch-depressive Chefs eher als cholerisch eingestuft, wohingegen arme Menschen mit denselben Symptomen schneller als psychisch krank eingeschätzt würden.“[12] Auch der Bundesverband der Berufsbetreuer (BdB) steht Zwangseinweisungen gelegentlich kritisch gegenüber. Klaus Förter-Vondey, Vorsitzender des BdB: „…besser geschulte Betreuer würden dramatisch weniger Zwangseinweisungen veranlassen… Anfänger würden häufig aus Angst zu schnell einliefern lassen, viele ehrenamtliche Betreuer hätten keinen blassen Schimmer, mit welchen Erkrankungen sie es zu tun hätten."[13] Das „Deutsche Ärzteblatt“ berichtet im Dezember 2011 von einer drastischen Zunahme der Zwangseinweisungen und erklärt diese mit einer weitreichenden Lockerung der Vorschriften im PsychKG. Demnach dürften bei „Eilbedürftigkeit“ seither die Betreuer sofort einweisen lassen und müssen sich die richterliche Genehmigung erst hinterher besorgen. Die Bedeutungslosigkeit bzw. die auf den bloßen Zweck der Kassenabrechnung reduzierte Bedeutung einer Diagnose wird so mit aller Deutlichkeit bestätigt. Zugleich wird deutlich, wie wirkmächtig einmal ausgeschriebene Diagnosen sein können. Selbst dann, wenn deren Erstellung lange zurückliegt und für keinen amtlichen „Experten“ mehr nachvollziehbar ist, wie es konkret um den Diagnostizierten bestellt ist. Immerhin kommt es nicht selten vor, dass Verantwortliche in den psychiatrischen Anstalten viele Zwangseingewiesene nach relativ kurzer Zeit wieder nach Hause schicken, wenn zu offensichtlich ist, dass die Betreuer hier mehr ihren eigenen Ängsten folgten anstatt denen der Betroffenen. 

Vergegenwärtigt man sich die Geschichte der Psychiatrie, wie sie z. B. von Dörner[14] oder Foucault[15] beschrieben wurde, stellt sich heraus, dass Zugang und Haltung der Gesellschaft gegenüber ihrem psychischen Elend im Allgemeinen und den davon betroffenen Individuen im Besonderen einem stetigen Wandlungsprozess unterliegen, welcher durch die Geschichte der politischen Ökonomie und deren jeweiligem Zeitgeist weitgehend determiniert ist.[16] Erscheinungsformen, sprich: Symptome der Verwirrung, des Wahns oder extremer Gefühlszustände, werden nach den jeweiligen Erfordernissen der gesellschaftlichen Verhältnisse (Produktionsprozess, politischer und ideologischer Überbau) beschrieben, gedeutet und, wenn nötig, wieder umgedeutet. Dementsprechend kann man in beinahe jeder neuen Auflage der offiziellen Diagnosemanuale jeweils Neues entdecken. Was sie trotz der politischen Brisanz, die sich dahinter verbirgt, jedoch nicht spannender macht.

Die politische Brisanz solcher Manuale lässt sich u. a. daran ablesen, dass z. B. Homosexualität als Erscheinungsbild einer „psychischen Störung“ aus den psychiatrischen Manualen herausgenommen werden musste (DSM,1973), nachdem die Emanzipationsbewegungen sowie mutige Aufstände von Menschen mit homosexuellen Neigungen in den Industriemetropolen der 1960er und 1970er Jahre dafür Sorge trugen, dass sich in einem darauf folgenden, breiten gesellschaftliche Diskurs das Konstrukt von der Homosexualität nachhaltig veränderte. Eine kritisch-wissenschaftliche Einschätzung, dass es sich bei der Homosexualität nicht um eine „psychische Störung“ sondern vielmehr um eine „physisch-emotionale Neigung“ handelt, war zu diesem Zeitpunkt längst erbracht. Bereits Freud vertrat vorsichtig die Ansicht, dass eine dem menschlichem Wesen immanente Bi-Sexualität bestehe, die sich „naturwüchsig“ in die eine oder andere Richtung entwickeln kann. Die umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten von Magnus Hischfeld und anderen renommierten Psychologen und Medizinern diesbezüglich waren dem Forschungsbetrieb, auch in Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkrieges, seit Jahrzehnten wieder zugänglich. Es war nicht eine „neue wissenschaftliche Erkenntnis“ bzw. die Zurkenntnisnahme wissenschaftlicher Untersuchungen, welche die Zuschreibungen in den Diagnosemanualen gegen Homosexuelle zu Fall brachte, sondern ein politischer Kampf! Der „Christopher-Street-Day“ ist, so betrachtet, auch als ein Etappensieg gegen die Gewalt der Psychiatrie zu feiern.    

Die Diagnose eines Psychiaters oder Psychologen beschreibt Symptome und fasst Symptome zusammen. Bei „ausreichender Symptomverdichtung“ (vereinfachtes Beispiel: 5 von 10 der beobachteten Symptome stimmen mit den vorgegebenen Beschreibungen des jeweiligen Manuals überein) hat der Diagnostiker das Recht, seiner Diagnose einen Namen und seinen Diagnostizierten eine Zuschreibung zu verpassen. Derart simpel entsteht die Konstruktion einer Psychose und eines Psychotikers. Oder einer Depression und einer Depressiven… ohne dass heute irgendein „Experte“ wirklich weiß, was eine Psychose, Depression usw. für das betroffene Individuum bedeutet, wie sie sich entwickelt hat und wie sie erlebt und empfunden wird. Ob sie sich einmalig, vorübergehend oder latent entwickelt und wovon dieser Entwicklungsprozess jeweils individuell abhängig ist. Diagnosen beschreiben alles Mögliche - aber sie erklären nichts!

Durch den Abgleich eigener, mehr oder weniger oberflächlicher Beobachtungen mit den Vorgaben aus medizinischen Manualen stellte der SpD in Berlin, gemäß seiner Gewohnheiten, vermutlich auch bei Andrea so eine Symptomverdichtung fest. Was im gegebenen Kontext dazu führen musste, dass Andrea als Gefahr für sich selbst und ihre Umwelt (zu der selbstredend auch diese Diagnostiker gehören) wahrgenommen, eingeschätzt und festgeschrieben wurde. Die panischen, möglicherweise paranoiden Reaktionen von Andrea im Angesicht einer für sie bedrohlichen Ansammlung martialisch gekleideter, bewaffneter Männer gaben dann nur noch eine weitere Rechtfertigung für die vorangegangene Diagnose ab. Wie immer die Diagnose auch im Einzelnen gelautet haben mag: die reale Bedrohung für Andrea wurde darin jedenfalls vorsorglich ausgeklammert.

Eine Diagnostizierung des Todesschützen wurde hingegen von niemand verlangt. Genauso wenig wie eine selbstkritische Reflexion in den Reihen des SpD. Warum auch? Eine tröstende Supervision wird das angeknackste Selbst, den der Tod von Andrea möglicherweise bei den einen oder anderen Berufsbetreuer und der Kollegen des SpD hinterlassen hat, schon irgendwie richten. Wären Letztere allerdings im Nachherein von ihrer diagnostischen Zuschreibung auch nur minimal abgewichen, hätte ihnen das mit Sicherheit mächtigen Ärger eingebracht. Da der akademisch ausgebildete Helfer als solcher selbstverständlich bzw. seinem Selbstverständnis nach nicht als Bauernopfer vorgeführt werden will, wird er tunlichst seine Zuschreibungen rechtfertigen. Insgeheim erahnt der unglückliche Helfer natürlich die Funktion seiner Diagnosen als alltägliches Produkt des Verblendungszusammenhanges zur Aufrechterhaltung eines vom realen Wahn des Sachzwangs dirigierten Gesellschaftsystems.[17]

Die Manuale für Diagnosekriterien liefern die Orientierungslinie für das eigentlich absurde Unterfangen, Subjekte zu objektivieren. Sie werden quasi jährlich erneuert. Das heißt, dass der jeweilige Inhalt dieser Manuale dem jeweiligen Zeitgeist, der herrschenden Meinung ausgesetzt ist. Was hier ohne Umschweife als Meinung über die Beherrschten zum Ausdruck kommt. Die Beschreibungen der jeweiligen Symptome werden von Auflage zu Auflage ständig erweitert, modifiziert, umgeschrieben, neu geordnet. Den ganzen Aufriss nennt man dann wissenschaftlichen Fortschritt.

Das letzte Jahrzehnt bescherte uns u. a. eine geradezu inflationär angewandte Zuschreibung für aufmüpfige Kinder in Form eines diagnostizierten „Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität“ (ADS/H). Mit verheerenden Auswirkungen für die betroffenen Kinder, von denen es in psychiatrischen Einrichtungen mittlerweile, im wahrsten Sinne des Wortes, nur so wimmelt. Wobei die Bezeichnung „Aufmerksamkeitsdefizit“ an sich schon verräterisch ist. Oder denken wir an das im Volksmund sog. Burn-Out-Syndrom für ausgelaugte, erschöpfte Lohnabhängige. Oder das seit einigen Jahren stark in Mode gekommene, mittlerweile allgegenwärtige „Borderline-Syndrom“ als Beschreibung für alle möglichen Menschen, die der geneigte Sozialarbeiter oder Psychologe nicht mehr oder noch nicht als „Schizophrene“ oder „Manisch-Depressive“ einordnen kann. Über die er aber dennoch glaubt zu wissen, dass diese sog. „Schwarz-Weiß-Denker“ in ihrer Persönlichkeit irgendwie gespalten sind. Und zwar offenbar ganz im Gegensatz zur Mehrheit der Gesellschaft (?). Derart wird das eigene dualistische und mechanische Denkschema, welches man bei professionellen Helfern nicht gerade selten antrifft, als Empfindung und Gedanke des Betroffenen uminterpretiert. Solche Vorgänge bezeichnete Freud einst als Projektionen. Also als Abwehrmechanismus – in diesem Falle des neurotischen Helfers gegenüber dem Objekt seiner Profession.

Dieser Psychomainstream hängt, neben der üblichen Erklärungsnot der Psychiatrie gegenüber jedem (epidemisch) auftretenden, unerwünschten Verhaltensmuster in der Gesellschaft,  nachweislich auch mit dem Warenangebot der Pharmaindustrie zusammen. (Siehe weiter unten). Die permanente Ausdifferenzierung von Diagnosekriterien entspricht der und bedingt die Angebotsdiversifikation auf dem Pharmamarkt und umgekehrt. Derart dem Marktgeschehen unterworfen und dem warenförmigen Charakter menschlicher Beziehungen im Kapitalismus angeglichen, sagen die Diagnosekriterien weder etwas über die gesellschaftliche Dimension psychischer Verelendung, noch über die Einzigartigkeit der von diesem Elend konkret betroffenen Individuen etwas aus. Sie sind zur bloßen Berechnungsgrundlage für das „Gesundheitssystem“ und zum Designkriterium für die  Pharmaindustrie heruntergekommen. Nicht mehr und nicht weniger.

Durch denkfaule und zugleich pflichtbewusste professionelle Helfer bekommt die Diagnostik schließlich den ihr zustehenden Fetischcharakter eingeräumt. Die Funktion eines Fetischs besteht darin, hier waren sich Freud und Marx mit Hegel einig, sich weitgehend unbemerkt zwischen wirkliche, lebendige menschlichen Beziehungen zu stellen. Mit dem alleinigen Zweck ein Abhängigkeits- bzw. Herrschaftsverhältnis in den Beziehungen zu verleugnen und/oder zu verdrängen. In diesem Fall konkret das Beziehungsverhältnis zwischen professionellen Helfern und ihrer Klientel. Das erkannte in den 1970er Jahren, nach langjähriger eigener Praxis, schließlich auch der Psychiater D. Cooper: „Die von der Psychiatrie verübte Gewalt lässt sich nur aufgrund ihres fundamentalen Dogmas verstehen: wenn du nicht verstehst, was ein anderer tut, dann diagnostiziere ihn!“[18]

 Berechnungen

 Das Bundesministerium für Gesundheit vermeldete im ersten Halbjahr 2009, nach Ausrufung der Finanzkrise, euphorisch einen historischen Rekordtiefstand der offiziellen Krankenstand-Statistik seit ihrer Einführung im Jahr 1970.[19]

Besagte Statistik wurde eingeführt in einer Zeit, in der die Arbeitsmoral in den Industriegesellschaften einen bemerkenswerten Zerfallsprozess durchleben musste. Rebellische (in erster Linie) jugendliche Proletarisierte denunzierten seinerzeit den kapitalistischen Arbeitsalltag in ihren Debatten und Aktionen offen als Zumutung. Als vergeblichen Kraftaufwand, verschwendete und enteignete Lebenszeit.  „Wer will noch arbeiten?“ So oder ähnlich titelten Newsweek, Times, Spiegel, Zeit und diverse andere Meinungsmacher in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Dieser weltweite politische Aufbruch, der vor keinem Thema Halt zu machen schien und nicht zuletzt auch die psychische Verelendung im Kapitalismus thematisierte, lässt sich kaum erschließen, wenn die dem zugrundeliegende Dynamik aus massenhaft wahrgenommener Entfremdung im Arbeitsalltag nicht zur Kenntnis genommen wird. Ein Text wie „Das Recht auf Faulheit“ (Paul Lafarge) wurde in dieser Zeit, beinahe Hundert Jahre nach seiner Ersterscheinung, einer der weitverbreitesten innerhalb der rebellischen Jugend Europas. „Ne travaillez jamais“ (arbeitet nie) wurde zu einer der zentralen Losungen im Kampf gegen die „kapitalistische Zwangsarbeit“ während des Pariser Mai `68. „Die Kämpfe in ihren unterschiedlichen Formen liefen in einem einzigen Punkt zusammen, und dieser Punkt war die Wiederaneignung der Zeit.“[20] Eine dieser vielen Widerstandsformen, die den Zweck der unmittelbaren „Wiederaneignung der Zeit“ dienten, kam zweifellos darin zum Ausdruck, dass das „Blaumachen“ unter den jungen Rebellen umso mehr um sich griff, je mehr das als Schuldgefühl verinnerlichte Pflichtbewusstsein gegenüber den Käufern ihrer Arbeitskraft vor ihrem neuen Selbstbewusstsein zurückwich. Das „Blaumachen“ war und ist nichts anderes als die (individuelle) Weigerung, sich durch entfremdete Arbeit (psychisch) krank machen zu lassen. Und die „Blaumacher“ wussten das seinerzeit!

Dieses den Sachzwängen des Kapitals zweifellos entgegenlaufende Verhalten musste vom Staat erfasst werden, um dem Spuk angemessen begegnen zu können. In der bürgerlichen Sozialwissenschaft erschöpft sich das Erfassen eines gesellschaftlichen Phänomens oftmals im Erstellen einer Statistik. Hier meldet sich die Krämerlogik, die vor allem eines, nämlich eine Berechnungsgrundlage braucht. Vor diesem Hintergrund wurde schließlich 1970 das Erstellen einer jährlichen Krankenstand-Statistik in Auftrag gegeben.

Dies und die darauf folgenden moralischen Kampagnen der bürgerlichen Medien gegen den Verfall der Arbeitsmoral insbesondere der Jugend brachten indes kaum den erhofften Erfolg. Der Krankenstand, also der Arbeitsausfall durch Krankmeldungen, stieg zum Leidwesen der Herrschenden vorerst noch ständig weiter an. Nicht die Klagen der bürgerlichen Medien gegen die schwindende Arbeitsmoral, sondern die steigende Arbeitslosigkeit wirkte sich schließlich zugunsten wieder sinkender Arbeitsausfälle auf Grund von Krankheit (bzw. Krankheitsvorbeugung) aus. Während sich die Zahl der Erwerbslosen zwischen 1975 und 1995 in etwa verzehnfachte, sank die Zahl der krankheitsbedingten Arbeitsausfälle in den Betrieben in diesem Zeitraum kontinuierlich, um sich während der 80er Jahre – beinahe analog zu den Arbeitslosenstatistiken - allmählich auf einen Durchschnittswert einzupendeln. Die Bourgeoisie glaubte, dank ihrer Techniken zur Abwälzung der Krise auf die Lohnabhängigen endlich wieder eine einigermaßen verlässliche Berechnungsgrundlage für ihr “Humankapital“ in der Hand zu haben. Die Angst der Lohnabhängigen vor dem Erwerbsverlust sowie ihre zunehmende Vereinzelung nach dem allgemeinen Rückfluss der Klassenkämpfe und Jugendrevolten führten die Klasse auch zurück in die Vernachlässigung ihrer vitalen Interessen. Wozu zweifellos auch der Erhalt der Gesundheit gehört.

Ab 2005, etwa zeitgleich mit der Einführung der Hartz-Gesetze und der ersten Phase des Umbaus im Gesundheitssystem zum Nachteil der abhängig Beschäftigten unter Rot-Grün, sanken die krankheitsbedingten Arbeitsausfälle nochmals erheblich, um dann im ersten Quartal 2009, kurz nach der öffentliche Bekanntgabe der Finanzkrise, auf den vom Statistischen-Bundesamt so betitelten „historischen Tiefstand“ zu fallen. Die Bourgeoisie ließ es sich nicht nehmen, diese für sie so erfreuliche Nachricht durch ihre Medien lauthals hinausposaunen zu lassen. 

Die Krankenkassen hielten jedoch schon bald besorgt dagegen. So wussten die Betriebskrankenkassen (BKK) ab Mitte Dezember 2009 zu berichten, dass die krankheitsbedingten Fehlzeiten „trotz Wirtschaftskrise“ (sic!) wieder kontinuierlich ansteigen würden. Von Januar bis Oktober 2009 habe der Krankenstand bei 4,0 Prozent gelegen - im Vorjahreszeitraum seien es 3,8 Prozent gewesen. Ebenso die AOK: Die bei den Ortskrankenkassen versicherten Arbeitnehmer waren im zweiten Quartal 2009 im Durchschnitt an 17 Kalendertagen krankgeschrieben. Im Jahr zuvor waren es noch 16,3 Tage gewesen. Demnach stieg die Zahl der krankheitsbedingten Ausfalltage um 3,2 Prozent und ist seither weiter steigend. Das hatte u.a. zur Folge, dass der Druck des Kapitals auf die politische Kaste weiter anstieg, so dass diese bis auf weiteres aufgefordert bleibt, das „Gesundheitssystem“ an die aktuellen Bedürfnisse des Kapitals anzupassen.

Verantwortlich für den steigenden Krankenstand seien laut AOK, bei der immerhin 9,7 Millionen Arbeitnehmer versichert sind, vor allem die „Zunahme psychischer Erkrankungen“. Die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seien in den letzten 15 Jahren um stattliche 80% angestiegen. Im Vergleich zu anderen Erkrankungen sind psychische Erkrankungen zudem in der Regel mit langen Arbeitsausfällen verbunden. Letzteres bestätigen alle Krankenkassen. Ein Bericht der „International Labour Organisation“ (ILO), einer Organisation, die sich mit Arbeitsbedingungen weltweit auseinandersetzt und den Vereinten Nationen unterstellt ist, fasst verschiedene Untersuchungen zum Zustand der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zusammen, die in Deutschland, Finnland, Großbritannien, Polen und den USA durchgeführt wurden. In diesen Ländern habe demnach die Belastung durch Stress sowie das Auftreten von Depressionen deutlich zugenommen. Jeder zehnte Arbeitnehmer sei bereits davon betroffen. Nach dem Herzinfarkt, so die ILO, ist Depression mittlerweile zur weltweit zweithäufigsten Krankheit unter denen geworden, die zur vollständigen Arbeitsunfähigkeit führen können. In Deutschland gehen die zuvor an erster Stelle rangierenden arbeitsbedingten Erkrankungen durch Unfälle oder Umweltbelastungen (Lärm, extreme Temperaturen usw.) in erheblichem Maße zurück,[21] während Arbeitsausfälle in Folge von Überbelastung, Zeitdruck, Stress aufgrund allgemeiner Personalpolitik fast ebenso zunehmen. Vor allem die zunehmend geforderte Flexibilität führe, laut einer Studie von Betriebsärzten, wegen der „Ergebnisorientierung“, also der Orientierung auf kurzfristige Profitmaximierung, des „Verschwimmens der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben“, der allgemeinen „Überbelastung durch Mehrarbeit“ sowie der „Unvorhersehbarkeit“ der Arbeitsanforderungen zu psychischen Belastungen. Deutsche Betriebsärzte warnen daher ebenfalls vor einer weiter ansteigenden Zahl psychischer Erkrankungen im Arbeitsalltag: „Der Strukturwandel in der Arbeitswelt hat dazu geführt, dass heute in vielen Betrieben Zeitdruck, Zwang zu schnellen Entscheidungen und zwischenmenschliche Probleme wesentliche Belastungsschwerpunkte darstellen." So der Präsident des Verbandes Deutscher Betriebs -und Werksärzte, Wolfgang Panter, auf einer Tagung in Lübeck. Dies führe zunehmend zu arbeitsbedingten psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Darunter fallen neben den offensichtlichen Symptomen psychischer Belastung auch diverse Hautkrankheiten sowie diverse Erkrankungen innerer Organe, die in besonderem Maße als stressanfällig gelten (Magen, Nieren, Herz etc.). Die Betriebsärztevereinigung sieht aufgrund ihrer Recherchen „besonderen Handlungsbedarf in der Zeitarbeitsbranche“, so der Arbeitsmediziner, denn dort sei die Gefährdung durch psychische Belastungen besonders hoch. Zugleich umfasst die Zeitarbeitsbranche immer mehr Berufe und dehnt sich dank der Hartz-Gesetze unaufhörlich weiter aus. Wie kürzlich der Öffentlichkeit bekannt wurde, sind bereits mehr als 8 Millionen Lohnabhängige in Deutschland in Zeitarbeitsfirmen oder in anderen prekären Arbeitsverhältnissen eingebunden.

„Stress, mangelnde Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte, wenig Anerkennung und Wertschätzung, hohe Leistungsbereitschaft, Verantwortungsübernahme und starke Identifizierung mit dem Betrieb“, so die o.g. ILO-Studie aus dem Jahre 2010 weiter, führe „zum wachsenden Problem des Burnouts“, der mittlerweile in allen Berufen auftrete. Als Folge des Burnouts kommt es vielfach zu Depressionen, unter der laut ILO mindestens 6% aller deutschen Arbeitnehmer leiden - also zwischen zwei und drei Millionen. Die ILO weiter: „Depressionen treten heute in Deutschland zehnmal häufiger auf als noch vor 40 Jahren“ (…also während der Zeit der Revolten!). Zudem sind die davon Betroffenen immer jünger! Eine Firma, die mehr als 1000 Angestellte hat, könne laut ILO davon ausgehen, dass 200 bis 300 von ihnen jährlich Depressionen, Angstkrankheiten oder andere psychisch bedingte Krankheiten erleiden. Der ILO-Bericht geht weiter davon aus, dass derzeit 20% aller arbeitenden Menschen weltweit psychisch erkrankt sind und dass in Bälde über 300 Millionen Menschen an Depressionen leiden werden. Jetzt schon würden aufgrund von Depressionen jährlich weltweit ca. 800.000 Menschen Suizid begehen. Depressionen und Angststörungen sind zusammengenommen, nach Angaben des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen, mittlerweile die vierthäufigste Krankheit am Arbeitsplatz und zugleich der Hauptgrund für vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf geworden. Auch seitens der Rentenversicherungsträger wird darauf verwiesen, dass bereits ein Drittel aller Rentenanträge, die vor Eintritt in das reguläre Rentenalter gestellt werden, wegen Berufsunfähigkeit aufgrund von psychischen Erkrankungen genehmigt werden müssen. Damit werden die Studien der Krankenkassen und der ILO nochmals unterstrichen.

Die BKK beklagt des Weiteren eine besondere Gefährdung spezieller Personengruppen: „Arbeitslose weisen die steilsten Steigerungsraten bei psychischen Krankheiten auf: Sie haben im Vergleich zu den Beschäftigten fast viermal so lange Krankheitszeiten durch seelische Leiden; allein in den letzten drei Jahren verdoppelten sich ihre psychisch verursachten Krankheitstage. Bei beschäftigten Frauen sind Telefonistinnen, Krankenpflegerinnen und Sozialarbeiterinnen, bei den Männern Schienenfahrzeugführer und Fahrbetriebsregler wie auch Krankenpfleger besonders betroffen.“ In einigen Branchen sind psychisch bedingte Krankheiten dramatisch im Vormarsch. So vor allem in sog. helfenden und pflegenden Berufen (Pflegepersonal, Sozialarbeit usw.). Das macht deutlich, wie nahe diese Kollegen und Kolleginnen dem Schicksal ihrer Klienten sind. Es führt jedoch nur selten dazu, dass die künstliche Trennung zwischen ihnen - professionelle Distanz“ genannt -[22]   überwunden werden kann.  Der Anteil der betroffenen Frauen in diesen Berufsgruppen liegt übrigens bei deutlich mehr als 60%.

Durchschnittlich fallen die Kolleginnen aus helfenden und pflegenden Berufen mittlerweile mehr als dreimal so oft aus dem Arbeitsprozess aus als aufgrund anderer Krankheiten. Innerhalb dieser Berufsgruppen rangieren die Arbeitsausfälle wegen psychischer Belastungen deshalb unbestritten auf Platz 1 der Krankenstand-Statistik. Als Gründe werden von den Betroffenen selbst meistens ein vergiftetes Betriebsklima, erhöhter Leistungsdruck, die Vermischung von Privat- und Berufsleben mit ständiger Erreichbarkeit (durch die neuen Medien) und Rufbereitschaft angegeben. Hinzu kommt eine krisenbedingte zunehmende Angst um den Arbeitsplatz. Alle Studien gehen deshalb auch von einer mehr oder minder hohen Dunkelziffer an psychischen Erkrankungen aus.

Demnach wäre der statistisch wahrscheinlichste Fall einer psychischen Erkrankung derzeit: die depressive, erwerbstätige, alleinstehende Frau (Mutter), die über eine Zeitarbeitsfirma in der Pflegebranche beschäftig ist.

Der Sprecher des psychologischen Dienstes der DAK, Frank Meiners, redet ebenfalls deutlich von „Job-Angst, Arbeitsverdichtung und wachsenden Konkurrenzdruck“, worauf die Versicherten offenbar immer mehr mit psychischen Erkrankungen reagieren. Psychische Krankheiten sind laut DAK besonders in den Metropolen auf dem Vormarsch. Dabei seien in den vergangenen Jahren Berlin und Hamburg Spitzenreiter gewesen. Der DAK-Gesundheitsreport ergab zudem, dass auch ihre Versicherte aus dem Bereich Gesundheitswesen aufgrund psychischer Krankheiten mit 210 Fehltagen pro 100 Versicherte vorne liegen. „Als Folge der Krise sei eine weitere Zunahme der psychischen Erkrankungen zu erwarten“, so auch Matt Muijen vom Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zahlreiche Studien belegen laut Muijen, dass ein Zusammenhang zwischen „ökonomischer Krise und einer epidemischen Verbreitung“ psychischer Erkrankungen statistisch nachweisbar sei. Und nach einer Studie des „Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit/Indigo“ können zwei Drittel der psychisch Erkrankten langfristig nicht mehr am Arbeitsmarkt Fuß fassen. Von den Menschen mit schweren Depressionen sei nur noch jeder Zehnte im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt. Noch dramatischer wird allgemein der soziale Abstieg für Menschen mit psychotischen Episoden  eingeschätzt.

Die begründete, existenzielle Angst vor einem krisenbedingten Verlust des Arbeitsplatzes, die in allen o. g.  Studien als häufige Bedingung für eine psychische Erkrankung dargestellt wird, führt durch das Ausleben dieser Angst (Symptombildung) bei manchem schließlich zum tatsächlichen Verlust des Arbeitsplatzes. Dieser Vorgang wird von einigen Psychologen dann als Prozess einer „self-fulfilling prophecy” mystifiziert – sprich: Einkommensverlust aufgrund von negativen Gedanken. Ein blanker Zynismus, der die Ursachen von psychischen Leiden bloß im „Innenleben“ der betroffenen Individuen selbst vermuten kann und will und sie deshalb pseudowissenschaftlich verklären muss.

Mit der Zunahme an psychischen Erkrankungen geht, wie kaum anders zu erwarten, zugleich ein weltweiter Aufschwung in der Pharmaindustrie einher. Laut der internationalen Markforschungsorganisation „IMS-Health“ „…ist der Umsatz der Arzneimittel gegen psychische Krankheiten und Beschwerden weiterhin steigend. Antipsychotika (Neuroleptika) und Antidepressiva kommen zusammen bereits auf einen Weltmarktanteil von über 6%.“ Das bedeutet derzeit immerhin einen durchschnittlichen Jahresumsatz von ca. 40 Milliarden €. Bereits im 4. Quartal des Krisenjahres 2008 berichtet die BKK dementsprechend: „Allein in den letzten drei Jahren (ab 2005 – Einführung der Hartz-Gesetze) haben sich die Verordnungen von Psychopharmaka für Beschäftigte wie Arbeitslose etwa verdoppelt.“

Mit dem Milliardengewinn der Pharmaindustrie geht eine weitere Milliardenverschuldung des staatlichen „Gesundheitssystems“ einher. So gesehen, bezahlen die noch „gesunden“ Arbeitnehmer für den Profit der Pharmaindustrie, um sich dann im eigenen Krankheitsfall mit immer miserabler organisierter Versorgung abfinden zu müssen. Laut Berechnungen des Statistischen Bundesamts liegen die „Krankheitskosten durch psychische Störungen“ bei mittlerweile mehr als 30 Milliarden € jährlich. Eine Kostensteigerung von mehr als 30% (seit Hartz). Hieran ist auch abzulesen, warum der Umbau des Gesundheitssystems, wie kaum ein anderes Projekt der politischen Kaste, begleitet ist von Widersprüchen, Parteirivalitäten, Verzögerungstaktiken und Skandalen. Hier wird die Rivalität zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen offen ausgetragen, und es wird allzu deutlich, welche der parlamentarischen Parteien jeweils welche Kapitalfraktion vertritt bzw. sich von deren Lobby schmieren lässt.[23]

Das Dilemma mit der Krankheit besteht für die Herrschenden vor allem in der Tatsache, dass sie die an ihren Arbeits- und Lebensbedingungen Erkrankten alimentieren lassen müssen, anstatt sich durch die Verfügungsgewalt über deren Arbeitskraft und Lebenzzeit alimentieren zu lassen. Wie kaum anders zu erwarten, wird deshalb jeder in dieser Beziehung zustande kommende „Kompromiss“ beim Umbau des Gesundheitssystems nie etwas anderes sein können als eine weitere Abwälzungstechnik der anfallenden Kosten auf die Erkrankten sowie auf die noch „gesunden“ Lohnabhängigen. Derart gibt die Krise des „Gesundheitssystems“ ein gutes Bild ab von der allgemeinen ökonomischen und politischen Krise des Kapitals. Die Herrschenden einigen sich darauf, die Krise abzuwälzen, was letztlich immer nur ein Aufschub und keine Überwindung der Krise sein kann. Dieser Aufschub produziert folglich zugleich die nächste, gewaltigere Krise. Gesellschaftlich und also auch bei den Individuen.

Die von Psychiatern gerne als „vulnerabel“ bezeichneten, psychisch erkrankten Menschen, diejenigen also, die diesen Abwälzungsprozess (unbewusst, weil vereinzelt) wahrnehmen, bevor die breite Masse der Betroffenen das kann, werden unter diesen Bedingungen zu Symptomträgern eines kranken Systems. Die objektive Krise des ökonomischen Systems drückt sich bei den Individuen als psychische Krise vereinzelter Subjekte aus. Diese verweigern sich durch Erkrankung den Anforderungen an das „Humankapital“ – und damit leider auch an sich selbst. Sie wirken eben dadurch als Subjekt, in dem sie versuchen, sich dem Zugriff durch das Kapital zu entziehen. Wenngleich oftmals unbewusst und daher mit der falschen Begründung versehen, so doch meistens aus dem richtigen Grund. In ihrer Vereinzelung leider vergeblich und meistens mit verheerenden Folgen für sich selbst. Auch dafür steht der tragische Tod von Andrea H.

Zweck der Erstellung von Statistiken ist es, Vergleiche zu ziehen. Im Falle von Krankenstandstatistiken u. a. auch den Vergleich zwischen pflichtversicherten und privatversicherten Patienten. Also zwischen eher wohlhabenden Erkrankten und solchen die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Es würde nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn das Ergebnis eines solchen Vergleichs nicht darin bestünde, dass im Durchschnitt Erstere seltener erkranken und schneller genesen als Letztere. Die Aussagen der diversen o. g. Statistiken lassen daran auch keinen Zweifel aufkommen. Krankheit, insbesondere psychische Krankheit, ist mithin im Kapitalismus in mehrfacher Hinsicht mit einem Klassencharakter belegt. Ebenso deren Behandlung und somit auch die Genesungsaussichten der Betroffenen. Das liegt nicht bloß an dem, was augenscheinlich ist, nämlich die Möglichkeit einer besseren Versorgung und die allgemein günstigeren Lebensumstände, welche wohlhabende Patienten den Armen in der Gesellschaft voraushaben, sondern auch an dem weniger sichtbaren subjektiven Zugang vieler armer Patienten zur „ihrer“ Krankheit.

Lohnabhängige bekommen Krankheit vom Arzt bescheinigt als (diagnostisch belegte) Arbeitsunfähigkeit. Indes ist hinreichend bekannt, dass Ärzte sich immer schwerer damit tun, den Pflichtversicherten ihre Arbeitsunfähigkeit zu bestätigen. Auch über diese Tatsache gibt die offizielle Krankenstand-Statistik Auskunft. Das hängt u. a. damit zusammen, dass die den Kassen verpflichteten Ärzte von seiten ihrer Brötchengeber in den letzten Jahren immer mehr Druck und finanzielle Einschränkungen ihrer Behandlungsmöglichkeiten erfahren mussten. Die Abwälzungstechnik der Bourgeoisie besteht hier, wie auch sonst oft üblich, zunächst im Druck auf das Kleinbürgertum (die in diesem Fall als niedergelassene Ärzte und Apotheker in Erscheinung treten), die diesen Druck dann wiederum an die Betroffenen aus den sog. unteren gesellschaftlichen Schichten weiterleiten. In Bezug auf psychische Krankheiten kommt hinzu, dass Ärzte daran ohnehin nicht gerade viel verdienen können. Sie können z.B. bei offensichtlich psychisch bedingten Erkrankungen keinen Einsatz von aufwendigen technischen Apparaten abrechnen, haben selten Laboruntersuchungen zu leisten und das Verordnen von Medikamenten für Menschen mit geringem Einkommen ist nach den neuen Bestimmungen auch nicht mehr besonders erschwinglich für die Ärzte. Wohl aber weiterhin für die Pharmaindustrie! Die ambulante Behandlung psychisch Kranker ist zudem fast vollständig in die Hände von im Vergleich mit den Medizinern geringer besoldeten Psychologen übergegangen, die den niedergelassenen Ärzten (hier Psychiatern und Neurologen) deshalb als Konkurrenten gegenüberstehen und die ihrerseits wieder von den Kassen angehalten werden, ein bestimmtes Stundenkontingent für die Behandlung nicht zu überschreiten. Auf bedürftige Lohnabhängige in den Metropolen kommt zudem mittlerweile eine durchschnittliche Wartezeit von 6 Monaten und mehr für eine ambulante psychotherapeutische Behandlung zu.

Zu diesen allgemeinen Erschwernissen, die in der Struktur des „Gesundheitssystems“ ihre unmittelbare Ursache haben, kommt hinzu, dass die große Mehrheit der lohnabhängigen Patienten die ideologischen Botschaften dieses Systems weitestgehend verinnerlicht und in allgemeine Verhaltensrituale umgesetzt hat: Sie gehen in der Regel eben nicht dann zum Arzt, wenn sie sich als krank empfinden, sich nicht wohl fühlen, sondern erst dann, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, arbeiten zu gehen! Dieses Verhaltensmuster setzt sich in der Regel selbst dann noch fort, wenn die Betroffenen überhaupt keinen Arbeitsplatz mehr haben. Krankheiten werden in den Schichten mit niedrigen Einkommen daher meist viel zu spät erkannt und behandelt. Was die Genesung zusätzlich erschwert. Als Erklärung für die Ärzteschaft dient dann die als selbstverständlich vorausgesetzte „Bildungsferne“ der unteren Gesellschaftschichten, um diese dann mit oberflächlichen Aufklärungsbroschüren, vulgärer Psychomagazine und sinnentleerter Lebensberatungsliteratur zu überschwemmen.

Im Falle einer psychischen Erkrankung, die ohnehin meist sehr spät als solche von den Betroffenen wahrgenommen wird und zudem nach wie vor äußerst schambesetzt ist, nimmt die Wechselwirkung zwischen zunehmendem Mangel an Versorgungsangeboten und dem an seine Funktion für das Kapital gebundenen Empfinden und Bewusstsein der betroffenen Lohnabhängigen mittlerweile die verheerenden Ausmaße an, die in der Krankenstand-Statistik zunehmend als negative Bilanz auftauchen.

Nach der Psychologisierung des Alltags, vermittelt und potenziert durch Werbung und Ratgeber-Literatur, welche die Psychologie in den letzten Jahrzehnten umfangreich und nachhaltig vulgarisiert haben und diese mittlerweile als eine Art „Volksreligion“ präsentieren, folgt nun die zunehmende Psychiatrisierung ihrer Konsumenten. Die als Fluchtversuch aus der eigenen Entfremdung angelegte psychische Krise wird in dem Moment, wenn die persönliche mit einer gesellschaftlichen Krise zusammenfällt, zur Falle, in der die Individuen in zunehmende soziale Isolation geraten. Der ökonomische und soziale Abstieg wird unter dieser Voraussetzung für die meisten Betroffenen unausweichlich.

Ausbreitung

Jeder Wahn ist ansteckend bzw. sozial übertragbar. Über die Übertragungswege weiß die psychologische und psychiatrische Zunft allerdings nicht sehr viel zu sagen. Jedenfalls nicht genug, um verständlich zu machen, warum der Wahn hier ausbricht und dort nicht. Oder besser, warum er hier auf unerwünschte und dort auf angepasste Art ausbricht. Man kann jedoch davon ausgehen, dass sich hinter jedem Wahn, jeder Verwirrung und jedweden psychischem Elend jeweils zwischenmenschliche Ereignisse verbergen. Frei nach Marx wäre der Wahn, als grundsätzliche Möglichkeit menschlicher Tätigkeit verstanden, nicht ein dem einzelnen Individuum innerwohnendes Abstraktum, sondern in seiner Wirklichkeit nur als ein verinnerlichtes Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen.[24] Im gegenwärtigen kulturellen und politischen Umgang mit dem Wahn und allem, was sonst als „psychische Störung“ wahrgenommen wird, zeigt sich das Elend menschlicher Beziehungen und Verhältnisse im Kapitalismus und der verzweifelte Versuch von Individuen, diesem Elend von Episode zu Episode auszuweichen. Und es gibt jede Menge gute Gründe und jede Menge Möglichkeiten für das Individuum, sich der Weltfremdheit hinzugeben.

Als Erscheinung/Symptom unbefriedigender, dem menschlichem Begehren entgegenwirkender Beziehungen und Verhältnisse müsste jeder Ausdruck psychischem Elends aus all den genannten Gründen zum Untersuchungsgegenstand einer die Psychologie ergänzenden, kritischen Anthropologie, einer Kulturkritik und, last but not least,  einer Kritik der politischen Ökonomie werden, um einem Verständnis vom Leid der Betroffenen sowie der zunehmenden Ausdehnung des psychischen Elends wenigstens ansatzweise näher kommen zu können.

Bei allen Erscheinungsformen, ob als Depression, Manie, Paranoia, Autismus… handelt es sich lediglich um den krisenhaft auf die Spitze getriebenen Widerspruch zwischen Empfindungen und Gedanken, der seinem (anthropologischem) Möglichkeiten nach allen Menschen gemein ist und aus den Antagonismen des ihren Beziehungen zueinander determinierenden, krisenhaften Gesellschaftssystems entspringt. Krisen, die die Gemüter zum Äußersten treiben, markieren die Geschichte der Menschheit ebenso wie die Geschichten der einzelnen Individuen. Aber  „die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen… Die in der menschlichen Geschichte – dem Entstehungsakt der menschlichen Gesellschaft – werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, wenn auch in entfremdeter Gestalt wird, die wahre anthropologische Natur ist.“[25] 

Das psychische Elend, was demnach weniger ein Elend der Psyche, des psychischen Apparates, wie Freud sich ausdrückt, ist, als vielmehr das Elend einer durch und durch warenförmigen Gesellschaft, wird von uns allen geteilt. Wir verstehen es jedoch, ganz diesem Verhältnis entsprechend, alle Anteile des Gemeinwesens unterschiedlich und in Konkurrenz zueinander zu verteilen, bis schließlich dieses ebenso verteilte psychische Elend uns selbst voneinander trennt. Je mehr die Beschleunigung der Produktivität die Teilung der Arbeit (= die Proletarisierung der Welt) vorantreibt, desto mehr entfremdet sich der Mensch als bloße Abteilung von dieser Welt und damit von sich selbst. So ist die Entfremdung uns zur Natur geworden. Und genau das sehen wir im Spiegel in der Hand des Narren: Das eigene Fremde. Die Weltfremdheit des Narren ist aber zugleich auch seine eigene Selbstfremdheit. Der Narr wirkt deshalb paradox, weil die Wirklichkeit paradox ist. Der Narr verhält sich in Bezug zu den kulturellen Normen absurd, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Normen hervorbringen, absurd sind. Darum wurden und werden Narren interniert!

Dass Symptome, die jeweils unter „psychische Erkrankung“ zusammengefasst werden, zeitweise epidemischen Charakter annehmen, ist ein Phänomen, welches die Klassengesellschaften immer begleitet hat und stets in Situationen gesellschaftlicher Umbrüche verstärkt zum Vorschein kommt. Das ist hinreichend historisch belegt.[26] Psychische Krankheiten treten jedoch stets episodisch in Erscheinung, auch dann wenn sie als chronisch wahrgenommen und diagnostiziert werden. Kein Mensch ist somit durchgehend psychisch krank - oder alle sind es! So wie beim einzelnen, individuellen verhält es sich auch beim epidemischen, also massenhaften Auftreten von gleichen Symptomen. Es handelt sich immer um Episoden in Folge von persönlichen Krisen, welche dann, in Zeiten gesellschaftlicher Krisen, auffällig mehr Menschen treffen. Was wir heute als psychische Verelendung wahrnehmen und deuten, steht mithin im Zusammenhang mit der allgemeinen Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft. Z. B. als das Ergebnis ihres Zerfalls. Oder auch bloß als Ergebnis der Ohnmacht, welche die Individuen täglich produzieren, indem sie die Macht des Kapitals produzieren. Die Geschichte der psychischen Verelendung ist mithin die Geschichte von Symptom tragenden Subjekten in einer von ihnen selbst mit gestalteten, krankmachenden sozialer Umgebung.

Wunschdenken

Zu guter Letzt: Ein gesellschaftskritisches Milieu ohne einen kritischen Begriff von der Psychologie und ohne eine realistische Einschätzung der psychischen Möglichkeiten und Grenzen ihre Subjekte bleibt zum Selbstverschleiß verurteilt. Das beweist die alltägliche Praxis im Ringen um Emanzipation, in der oftmals ausgerechnet die Genussfähigkeit durch falsche Moral und unheilvolle Strukturen vieler dieser Milieus gefesselt bleibt. „So versinkt die Welt des Genusses in den Niederungen des Unbewussten. Später werden die Psychoanalytiker, die Entdecker absichtlich versunkener Kontinente, Strandräuber spielen; sie werden die Objekte der Begierde und des Abscheus an die Oberfläche bringen und sie ihren Eigentümern wiederverkaufen, die häufig nichts mehr damit anzufangen wissen...“[27]  Es ist an der Zeit, dass wir uns dem psychischen Elend in der Gesellschaft, welches nicht zuletzt auch unser eigenes ist, wieder praktisch und theoretisch nähern. Dabei wird es nicht darauf ankommen, sich die Errungenschaften der „Anti-Psychiatrie-Bewegung“ der 1970er Jahre bloß wiederanzueignen und deren Praxis zu reproduzieren. Vielmehr sollten diese Errungenschaften in einem neuen (Selbst-)Verständnis aufgehoben werden. Es kann dabei nicht, wie in der Vergangenheit oft falsch verstanden, um die Psychologisierung der Politik gehen,[28] sondern nur um die Politisierung der Psychologie!

März 2012 

[1] SPK: „Aus der Krankheit eine Waffe machen“, München 1972, S. 51

[2] Cornelius Castoriadis, „Durchs Labyrinth – Seele, Vernunft, Gesellschaft“, Frankfurt a. M., 1981 (Paris 1978), S. 7

[3] Me-Ti, Buch der Wendungen

[4] Siehe: „Tagesspiegel“, „taz“, „Berliner Morgenpost“, „Berliner Zeitung“, Berliner Kurier“ … u.a.m.

[5] Siehe „DUDEN  7 -  Herkunftswörterbuch“.

[6] Wer den Sozialpsychiatrischen Dienst in Metropolen kennt, also auch dessen strukturelle Einschränkung als Behörde zur Kenntnis nimmt, der weiß, dass die Ärzte und Psychologen dieser Dienststellen nur  oberflächlich Denken und Handeln können und sollen, da mittels dieser Behördenstruktur jede echte (therapeutische) Beziehung zum Klienten ungewollt und ausgeschlossen ist.

[7] ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. DSM: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders

[8] David Cooper, „Der Tod der Familie“, Reinbeck bei Hamburg, 1972, S. 46

[9] „Zeit-Online“ August 2011

[10] Nach Paragraf 1906 im Bundesgesetzbuch kann ein betreuter Mensch zwangseingewiesen werden, wenn die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen Schaden zufügt. Oder aber weil eine medizinische Untersuchung notwendig ist, deren Notwendigkeit er aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht erkennen kann. Welche Untersuchungen dies umfasst, führt das Gesetz nicht aus. 

[11] „Zeit-Online“ August 2011

[12] ebenda

[13] ebenda

[14] Siehe: Klaus Dörner, „Bürger und Irre“, Frankfurt a. M., 1969

[15] Siehe: Michel Foucault, „Wahnsinn und Gesellschaft“, Frankfurt a. M., 1969 (Paris 1961)

[16] Laut Dörner, Foucault u. a. Psychiatriehistorikern geht die eigentliche Geschichte der Psychiatrie, also der massenhaften Internierung von „Verwirrten und Wahnsinnigen“,  einher mit der „Aufklärung“, also mit der Hervorhebung  der „Vernunft“ als Leitfaden für den bürgerlichen Lebenswandel. Für alles, was der bürgerlichen Gesellschaft fortan als irrational erschien, wurde „Behandlungsbedarf“ angemeldet.

[17] Es kann voraus gesetzt werden, dass wenigstens die populären Schriften von Fromm, Dörner, Schmidtbauer u. a. diesen professionellen Helfern aus  unbeschwerten Tagen ihres „nonkonformistischen“ Studentenlebens noch hinlänglich bekannt sind.

[18] David Cooper, „Die Sprache der Verrücktheit“, Berlin 1978, S. 89

[19] Alle folgenden Zahlen stammen aus den Krankenstandstatistiken der jeweils angegebenen Jahre.

[20] „We must try“ Interview mit Antoni Negri, in der “taz” vom 9/10 Mai 2009, Seite 23

[21] U.a. ein Ergebnis der zunehmenden Aufhebung, bzw. Verlagerung der industriellen Produktion aus Deutschland seit Mitte der 70er Jahre.

[22] Von einer „professionellen Nähe“, welche eine therapeutische Beziehung bzw. eine pflegerische oder soziale Arbeit ja keineswegs in Frage stellt, wird in der beruflichen Praxis und während des Studiums nicht gesprochen. Die Terminologie der Branche ist stets auf Distanz und Trennung fokussiert. Das hat auch damit zu tun, dass die eigene Nähe zum Symptom erahnt wird. Die Sachzwänge des „Gesundheitssystems“ zwingen den KollegInnen allerdings diesen (selbst)verleugnenden Selbstschutz auf, um ihre Arbeitskraft im Sinne des Systems optimal nutzbar machen zu können. Mit zweifelhaftem Erfolg, wie man sieht. 

[23] Röslers Vorschläge zur Gesundheitsreform mussten immer wieder scheitern. Seine Partei, die FDP, deren Klientel eher beim Kleinbürgertum, also bei den niedergelassenen Ärzten und Apothekern zu finden ist, geriet in Widerspruch zum Koalitionspartner CDU, bei dem offensichtlich eine starke Lobby der Pharmaindustrie am Wirken ist. Beide zusammen stießen zudem auf den Widerstand der Opposition, vor allem der SPD, die sich traditionell dem Staatshaushalt und der „Volkswirtschaft“, also dem Gesamtkapital, verpflichtet fühlt. Ein ähnliches Dilemma spielt sich derzeit in den USA ab, wo sich die krisengeschüttelte Privatwirtschaft ein Gefecht nach dem nächsten liefert gegen den „ideellen Gesamtkapitalismus“, vertreten durch Obama. Der Kampf um die „Gesundheitsreform“ ist in den meisten Industrienationen mittlerweile zum Symbol der Rivalitäten der verschiedenen Kapitalfraktionen geworden, die jeweils darum bemüht sind, ihr Konzept zur Krisenbewältigung gegenüber dem Rivalen durchzusetzen.        

[24] „…das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum, in seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Karl Marx: Thesen über Feuerbach

[25] Ebenda

[26] Vergl. : Michel Focault „Wahnsinn und Gesellschaft“, Klaus Dörner „Bürger und Irre“ u.a.m.

[27] Raoul Vaneigem in: „An die Lebenden – Eine Streitschrift gegen die Welt der Ökonomie.

[28] …Das erledigt schon täglich die Entpolitisierungsmaschine der bürgerlichen Psychotechniker, zu denen mittlerweile nicht nur die schlechtesten Aussteiger aus den sozialen Bewegungen der 60er, 70er und 80er Jahre gehören.   

Aktuelles und Laufendes: 

  • psychisches Elend [18]
  • Sozialpsychiatrische-Dienst (SpD) [19]

Source URL:https://de.internationalism.org/en/node/2650

Links
[1] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/pannekoek [2] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/bordiga [3] https://de.internationalism.org/en/tag/politische-stromungen-und-verweise/bordigismus [4] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/faschismus [5] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/antifaschismus [6] https://de.internationalism.org/en/tag/historische-ereignisse/negationismus [7] https://de.internationalism.org/en/tag/entwicklung-des-proletarischen-bewusstseins-und-der-organisation/italienische-linke [8] https://de.internationalism.org/en/tag/3/44/internationalismus [9] https://de.internationalism.org/en/tag/2/32/die-einheitsfront [10] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/morde-toulouse [11] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/montauban [12] https://de.internationalism.org/en/tag/leute/mohamed-merah [13] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref1 [14] http://news.bbc.co.uk/onthisday/hi/dates/stories/may/26/newsid_4396000/4396893.stm [15] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref2 [16] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref3 [17] https://en.internationalism.org/icconline/201201/4641/marxism-and-conspiracy-theories#_ftnref4 [18] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/psychisches-elend [19] https://de.internationalism.org/en/tag/aktuelles-und-laufendes/sozialpsychiatrische-dienst-spd